Kurz&knapp besprochen

Bild: (c) Michael Flötotto
Bild: (c) Michael Flötotto

Felix Timmermans: „Pallieter“ (1916)

„Melke den Tag!“ – das ist das Lebensmotto des flämischen Bauern Pallieter. Ein Genussmensch, ein Tagmelker, ein Springinsfeld, der mit sich und der Natur im Einklang lebt. Mit diesem Buch – mehr eine Anekdotensammlung als ein Roman – schuf der flämische Autor Felix Timmermans (1886 – 1947) ein Manifest des Vitalismus: Der krisenhaften Erfahrung der Welt (1. Weltkrieg) wird die Verehrung der Natur entgegengesetzt. Pallieter lebt als Bauer ganz im Einklang mit sich und seiner Umgebung. Die Anekdoten begleiten ihn durch die Jahreszeiten, Festivitäten, Schlemmereien (es wird gegessen und getrunken bis zum Platzen), bei der Brautwerbung bis zum Ehestand. „Philosoph sein is nich schreiben, sondern leben!“ postuliert der lebenspralle Bauer.
Als „schönstes, liebenswertestes Gedicht naiv fröhlicher Lebensbejahung“ bezeichnete es Hermann Hesse. Heute wirkt es wie aus der Zeit gefallen. Und im vollen Ernst kann man das Buch eigentlich auch nicht mehr lesen. Höchstens bei allerschönstem Wetter im Flandernland.

Hier geht es zur Seite der Felix Timmermans-Gesellschaft:
http://www.felix-timmermans.de/


Natalia Ginzburg: „Familienlexikon“ (1963)

Es sind bestimmte Geschichten, Anekdoten, Sätze, die eine Familienlegende umreißen. „Diese Sätze sind die Grundlage unserer familiären Einheit, die solange wir leben fortbestehen wird, indem sie an den verschiedensten Punkten der Erde wieder neu entsteht, wenn eines von uns sagt: Verehrter Herr Lipmann, und sogleich wird in unserem Chor wieder die ungeduldige Stimme meines Vaters erklingen: Nun hört endlich auf mit dieser Geschichte! Hundertmal schon habe ich sie gehört!“
Von solchen Geschichten erzählt Natalia Ginzburg (1916 – 1991) in diesem sehr persönlichen Buch. Schrieb sie sonst in ihren Werken von der Einsamkeit des Einzelnen, so steht in „Familienlexikon“ die enge Verbundenheit ihrer Familie im Mittelpunkt: Trotz eigenwilliger Charaktere hält der Familienverbund zusammen, als seine Existenz im Turin der 30er- und 40er-Jahre durch den Faschismus zunehmend bedroht wird. Liebevoll portraitiert Ginzburg die skurrilen Individuen ihrer Familie, die sich auch in Zeiten existentieller Not zu helfen weiß. Das Buch endet mit Erzählungen aus dem Widerstand und den ersten Ehejahren mit Leone Ginzburg, der an den Folgen der Folter durch die Nazis starb und ist damit auch ein wichtiges Dokument italienischer Zeitgeschichte.

Natalia Ginzburg beim Wagenbach Verlag:
https://www.wagenbach.de/autoren/autor/43-natalia-ginzburg.html


Arnon Grünberg alias Marek van der Jagt: „Monogam“ (2002)

Zunächst veröffentlichte der niederländische Starautor Arnon Grünberg seinen dünnen (inhaltlich wie vom Umfang her) Roman unter dem van der Jagt-Pseudonym, ein Buch, das er ebenso wie „Amour fou“ seinem Alter Ego zuschrieb. „Monogam“ kommt in Form eines autobiographischen Geständnisses daher - das Spiel mit den Identitäten ist aber auch schon das Witzigste, was sich über diese Geschichte sagen lässt. Ein verklemmter, verschüchterter junger Mann, geplagt von einer dominanten Mutter, beschließt eines Tages, ein Don Juan zu werden. Die zum Teil slapstickartig überspitzten Szenen bei der Jagd nach allem Weiblichen (und beim vorhersehbaren Scheitern) lösten bei mir weder einen Humorknopf auf noch brachten die erotischen Ausflüge irgendein Knistern auf die Seiten. Gelesen und gleich wieder vergessen.

Ein Verriss in der FAZ:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ich-werde-nie-mehr-alleine-sein-1105688.html


Abe Kobo: „Die Frau in den Dünen“ (1962)

Der Lehrer Jumpei Niki, verheiratet, ein regelmäßiges Leben führend, ein Rationalist durch und durch, findet sich nach einem Ausflug an die Küste in einer „Sandhöhle“ in einem kleinen Dorf gefangen. Von den verarmten Dorfbewohnern gezwungen, wird es zu seiner Aufgabe, ein Haus, das halb im Sand verweht ist, vor dem Einsturz zu retten: Ein täglicher Sisyphuskampf gegen den Sand, gegen die Natur. Alle Gewissheiten, alle Überzeugungen, die Niki zuvor hatte, geraten ins Wanken – im Sandloch ist der Mensch gezwungen, alles für sicher gehaltene Wissen zu prüfen. Am Ende eröffnet sich jedoch ein Fluchtweg – doch Jumpei Niki entscheidet sich gegen die Rückkehr in sein altes Leben…
Mit dem Roman, der spürbar von den Existentialisten beeinflusst ist, und dessen Verfilmung 1964 wurde Abe Kobo (1924 – 1993) weltberühmt als „japanischer Kafka“. Aber auch ohne solche Bezüge – die literarische Verwandtschaft zu Kafka wird ja häufig bei Autoren surrealer Geschichten angeführt – ist der Roman ein fesselndes Drama darüber, wie ein Mensch selbst unter widrigsten Umständen versucht, dem Leben Haltung abzuringen.


Bergmann, Michel: „Weinhebers Koffer“ (2015).

Eindringlich, berührend, leise, spannend: Dies alles ist der schmale Roman „Weinhebers Koffer“. Ein junger Berliner Filmemacher ersteht bei einem Trödler einen gebrauchten Lederkoffer, findet eine Visitenkarte und geht der Geschichte seines Vorbesitzers nach: Ein jüdischer Schriftsteller aus Berlin, der 1939 nach Palästina fliehen will. Der Koffer kommt dort an, der Mann nicht. Der Ich-Erzähler lüftet bei seiner Spurensuche, die ihn bis Israel führt, das Geheimnis…
Bergmann verknüpft in diesem knapp 140 Seiten starken Band nicht nur gekonnt verschiedene Erzählebenen und Stile, sondern schafft auch den erzählerischen Bogen von der Zeit des Nationalsozialismus bis zu den heutigen Nahost-Konflikten.
Zur Autorenseite: http://michel-bergmann.de/ 


Böll, Heinrich: „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955).

Bei Kiepenheuer&Witsch wurde 2015 das Buch in der wunderbaren Aufmachung der Erstausgabe von 1958 wiederaufgelegt: »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen« von Heinrich Böll.  Wenn jüngere Leser heute Böll ein wenig vorschnell in eine etwas angestaubte Ecke schieben und über seinen Moralismus die Nase rümpfen – dann kennen sie diese Satiren des Literaturnobelpreisträgers wahrscheinlich noch nicht. Unter anderem enthalten ist im gesammelten Schweigen die Erzählung »Nicht nur zur Weihnachtszeit«, ein tröstliches Stück Literatur für all jene, die meinen, ihre Familienweihnachtsfeiern mit der lieben Verwandtschaft seien schon besonders enervierend. Schlimm geht’s immer. Aber Heinrich Böll, der gute Mensch vom Rhein, zeigt auch in seinen kleinen, bissigen Texten, dass er ein großer Menschenkenner und Menschenfreund war.

Ein Beitrag für den Kiepenheuer&Witsch Adventskalender 2015.


Boyne, John: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ (2006).

Wenn ich ein Kinder- oder Jugendbuch zum Themenkomplex Holocaust und Nationalsozialismus empfehlen würde, dann wäre es dieses. Der irische Schriftsteller erzählt aus der Sicht des neunjährigen Brunos vom Leben und Leiden im Lager. Erst allmählich erklärt es sich dem Leser, dass der Junge der Sohn des Lagerkommandanten ist. Bruno findet sich nur schwer in dieser neuen Welt zurecht, in der die Familie mit der Versetzung des Vaters ankommt. Doch das Kind spürt, dass in dieser Welt vieles nicht in Ordnung ist - erst recht, als es sich mit einem anderen Jungen „auf der falschen Seite des Zaunes“ anfreundet. Eine traurige, ergreifende Erzählung, die ohne Schockeffekte auskommt. Und die mit Recht mehrfach ausgezeichnet wurde - ein empfehlenswertes Buch sowohl für junge als auch erwachsene Leser.

Das Buch erschien in deutscher Übersetzung beim S. Fischer Verlag.


Brentano von, Bernard: „Theodor Chindler“ (1936).

Fast wie die Buddenbrooks, aber politisch: Das sind die Chindlers. Der „Roman einer deutschen Familie“, so der Untertitel des 1936 zunächst nur in der Schweiz erschienenen Buches, beginnt mit der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg und endet mit der Novemberrevolution. Anhand des politischen Hintergrundes zeigt Bernard von Brentano anhand der Familie Chindler die Orientierungslosigkeit des Bürgertums – gefangen in einer alten Ordnung, konservativ, anfällig für nationalistische Strömungen, im Grunde überfordert. Von Brentano (1901 – 1964), ein Hitler-Gegner, dessen Bücher von den Nazis verbrannt wurden, hat mit dieser auf zwei Teile angelegten Familiensaga – den geplanten dritten Band  konnte er nicht mehr schreiben – einen fesselnden und bleibenden Roman geschrieben: Manches liest sich einfach wieder hochaktuell.

Eine ausführliche Rezension findet sich bei Norman Weiss: https://notizhefte.wordpress.com/2016/06/17/brentano-theodor-chindler/


Capote, Truman: „Wo die Welt anfängt“ (2015).

„Die Sonne sank schon am scharlachrot gestreiften Himmel, und die Hitze stieg trocken und pulsierend vom Erdbeben auf.“ Schon die ersten Sätze lassen erahnen, dass da einer mehr will, als bloße Stilübungen zu abzulegen. Und tatsächlich wurde Capote nicht nur durch PR-Gags, sondern vor allem durch sein grandioses Talent sowie viel Disziplin & Übung zum Meister.
Schon an der High School saß er täglich an der Schreibmaschine - die ersten short stories, spät entdeckt, 2015 in deutscher Übersetzung erschienen: Noch nicht ausgereift, aber beachtlich für einen so jungen Mann.


Hacks, Peter: „Heile Welt“ (2003).

Ein bißchen „heile Welt“ und Liebe: Danach sehnt man sich manches Mal an grauen Tagen und in unruhigen Zeiten. Doch einfache Rezepte lieferte Peter Hacks (1928 - 2003) nicht. Der Begründer der „sozialistischen Klassik“: Ein Streitbarer, Umstrittener, Strittiger, auch Reizfigur. Aber doch auch ein Sprachkünstler, den es zu lesen lohnt. Im vorliegenden Band finden sich 36 Liebesgedichte, ergänzt durch Illustrationen des Berliner Thomas J. Richter.

Der Eulenspiegel Verlag veröffentlichte unter „Heile Welt“ die Liebesgedichte von Peter Hacks. Mehr über den Lyriker und Dramatiker, auch seine politischen Gedichte finden sich auf der Seite der Peter-Hacks-Gesellschaft.


Hasler, Eveline: „Mit dem letzten Schiff“ (2013).

Unter den in Frankreich, Spanien, Portugal und anderen Küstenländern gestrandeten Exilanten während des Zweiten Weltkrieges waren zahlreiche bedeutende Künstler, Intellektuelle und natürlich auch politische Gegner des Nazi-Regimes. Die „Grand Lady“ des historischen Romans, die Schweizerin Eveline Hasler, nimmt sich in diesem Buch eines besonderen Menschen an: Varian Fry, der im Auftrag des Emergency Rescue Committees versuchte – auch gegen den Widerstand einiger Landsleute – möglichst vielen der Prominenten zur Flucht in die USA zu verhelfen. Von Marseille aus gelingt es ihm, teils unter abenteuerlichen und lebensgefährlichen Umständen, Franz Werfel und dessen Frau Alma, Heinrich und Nelly Mann, Golo Mann, Lion Feuchtwanger und dessen Gattin, sowie zahllose weitere Menschen (schätzungsweise an die 2000) zu retten.
Das Buch ist packend erzählt, wenn auch manchmal eine Spur zu melodramatisch und ein wenig oberflächlich – aber es weckt auf jeden Fall das Interesse, weiter zu recherchieren. Eine ausführlich-kritische Rezension dazu veröffentlichte bereits Anna auf ihrem Blog „buchpost“ sowie eine Besprechung des autobiographischen Werkes von Varian Fry, „Auslieferung auf Verlangen“.

Eine moralische Frage, die übrigens Erich Maria Remarque in seinem Exilroman „Die Nacht von Lissabon“ aufwirft, streift Eveline Hasler nicht (bzw. kann es auch nicht im Rahmen dieses Buches): Ist es in Zeiten der Barbarei gerechtfertigt, Unterschiede zu machen? Das heißt: Warum bemühte man sich darum, die Künstler und Intellektuellen zu retten, ließ die namenslosen Exilanten jedoch in ihrem Elend zurück? Eine Frage, die mich beim Lesen anhaltend beschäftigte.


Huysmans, Joris-Karl: „Gegen den Strich“ (1884).

Im Vergleich zu Floressas Des Esseintes, dem Helden dieses Romans aus dem Jahre 1884, ist Dorian Gray ein bodenständiger Pragmatiker. Mir ging dieses Vorzeigewerk der literarischen Dekadenz jedoch eher gegen den Strich: Lebende Schildkröten mit Goldrücken, seitenweise Dekorfragen, luxuriöse Langeweile - dafür muss man die Nerven erst mal haben.
Aus den Verlagsangaben: „Floressas Des Esseintes flieht vor der Grobheit und Banalität der Zeitgenossen ins Exil seines Landhauses, wo das Schlafzimmer als Mönchszelle gestaltet, seine Dienerin als Nonne verkleidet ist. Alles Natürliche, der Außenwelt Zugehörige wird konsequent ferngehalten, aus Kunst und Künstlichem schafft er sich sein eigenes Paradies.  Die Tage verrinnen in ausschweifenden Phantasien über symbolistische Gemälde und Literatur, Schwelgereien in Farben und Düften, Träumen, die ihm die Wirklichkeit ersetzen; nach immer morbideren Sinnesreizen verlangt es Des Esseintes.“


Inoue, Yasushi: „Liebe“, Drei Erzählungen (2000).

Drei Paare, drei Varianten der Liebe. Zwei, die eine über Nacht erwachende Zuneigung buchstäblich am Leben hält, am Suizid hindert. Einer, der aus seinem Liebestraum abrupt erwacht. Und die Liebe eines älteren, in seinem Geiz fast schon skurrilen Paares. Ganz dezent, beinahe schon nüchtern erzählt. Doch der Japaner Yashushi Inoue (1927-1991), der in Deutschland vor allem mit seinem Roman „Die Eiswand“ bekannt wurde, betrachtet seine ungewöhnlichen Liebespaare mit einem leisen, weisen Humor. Also nichts für Romantiker. Aber etwas für jene, die „alltägliche“ Geschichten von der Liebe lesen mögen. Die drei frühen Erzählungen, entstanden um 1950, 2000 ins Deutsche übersetzt, bilden einen guten Einstieg in das Werk des Autoren, das bei Suhrkamp erscheint.


Inoue, Yasushi: „Die Eiswand“ (1957)

Zwei Männer, eine Frau, der Berg: Klassische Ingredienzien des „Bergsteigerromans“, den Yasushi Inoue mit „Die Eiswand“ in die japanische Literatur einführte. Ein packendes Drama, beinahe schon ein Kriminalroman, das jedoch vor allem als Folie dafür dient, um grundlegende Probleme der japanischen Nachkriegs-Gesellschaft aufzuzeigen: Die Akteure sind Teil einer modernen Wirtschaftswelt, aber zugleich einem jahrhundertealten Moralkodex verpflichtet, der bei persönlichem Versagen die Selbsttötung beinahe aufoktroyiert. In nüchterner Sprache zeichnet Inoue den Weg eines Mannes nach, der bei einem Bergunfall seinen besten Freund verliert. Das Geschehen wird öffentlich diskutiert. Uozu Kyota sieht sich jedoch nicht nur den Spekulationen der Zeitungen ausgesetzt, sondern erfährt auch von einer Liebesaffäre des Verstorbenen zu einer verheirateten Frau, in die er sich ebenfalls verliebt – einen Ausweg aus dieser Situation scheint es kaum zu geben.
Aus dem Klappentext: „Was in einer emanzipierten Umwelt weder Verlegenheit noch Unruhe hervorrufen könnte, bekommt innerhalb der starren, konventionellen Gesetze Japans anderes Gewicht.“

Zum Buch „Die Eiswand“ beim Verlag hier: http://www.suhrkamp.de/buecher/die_eiswand-yasushi_inoue_37051.html


Greene, Graham: „Heirate nie in Monte Carlo“ (1955).

Ich kannte Graham Greene bislang getragen („Die Kraft und die Herrlichkeit“), sehr spannend („Der dritte Mann“), düster („Das Schlachtfeld des Lebens „). Mit diesem Buch erlebte ich ihn erstmals überwiegend heiter: Eine kurze Erzählung, das Sprichwort „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“ variierend. Ein kleiner Buchhalter mitsamt seiner Braut wird durch eine Laune seines Chefs nach Monte Carlo verfrachtet - um dort zu ehelichen. Die noch junge Ehe zerbricht jedoch beinahe an den Gefahren des Glückspiels.


Kawabata, Yasunari: „Kyoto oder Die jungen Liebenden“ (1962)

Unter den hierzulande bekannten Schriftstellern Japans des 20./21. Jahrhunderts - Inoue, Õe bis hin zu deren „Enkel“ Murakami - erscheint mir Yasunari Kawabata als der „japanischste“. Die ins Deutsche übersetzten Bücher des ersten japanischen Literaturnobelpreisträgers gibt es nur antiquarisch - schade, denn gerade dieser Schriftsteller führt poetisch-leise in die Traditionen des Landes ein, schreibt an der Schnittstelle von Geschichte und Moderne entlang. Und zeigt damit vielleicht gerade das auf, was uns Europäern dieses Land immer noch so rätselhaft macht. In dem 1962 veröffentlichten Roman „Kyoto oder Die jungen Liebenden in der alten Kaiserstadt“ tritt dies eindrücklich zutage: Chiëko, die behütete Tochter eines Stoffgroßhändlers, ein Findelkind, stößt durch Zufall auf ihre Zwillingsschwester - und geht den Spuren ihrer Herkunft nach. Zugleich leidet die väterliche Firma unter der aus den USA kommenden Industrialisierung, das alte Handwerk verschwindet - und eine Vernunftheirat der jungen Frau, einer „Anna Karenina“ der japanischen Literatur, bahnt sich an. Kyoto dient als Kulisse, um am Verlauf der Jahreszeiten und den damit verbundenen traditionellen Festen aufzuzeigen, wie auch die Symbiose von Mensch und Natur unter dem Einfluss westlicher Kultur immer mehr schwankt. Ein feiner, melancholischer Roman des Nobelpreisträgers - die Würdigung durch das Komitee findet sich hier.


 

Moravia, Alberto: „La Noia“ (1960).

Als dieser Roman von Alberto Moravia 1960 erschien, wurde ihm die Schilderung von Pornografie vorgeworfen. Darüber kann man heute nur noch müde lächeln.
Aber durchaus nicht lächerlich ist es, wie Moravia die Hohlheit eines bestimmten Typus Mensch beschreibt. Der Protagonist aus gutem Hause verfällt aus Lebensüberdruss und Langeweile einer jungen Frau, die sich ihm gegenüber indifferent, fast schon mechanisch puppenhaft verhält. Kraftvolle literarische Beschreibung einer amour fou.
Moravias Bücher erscheinen in deutscher Sprache beim Italien-Spezialisten, dem Wagenbach Verlag.


Ōe, Kenzaburō: „Der stumme Schrei“ (1967).

Der Zwiespalt, in dem sich eine Gesellschaft befindet, die teils noch von fast archaischen Traditionen geprägt, teils von der Moderne überfordert ist: Das ist eines der Grundthemen der Romane des japanischen Literatur-Nobelpreisträgers. Ōe (geb. 1935), der Romanistik studiert hatte, ist in seinem Schreiben deutlich von Sartre beeinflusst. In „Der stumme Schrei“ ist ein abgelegenes Dorf Schauplatz dieses Aufeinanderprallens von Geschichte und Moderne. Im Kampf gegen einen Supermarkt-Tycoon erwecken die Brüder Nedokoro alte Riten zum Leben – bis hin zur Selbsttötung, ein häufiges Motiv in der japanischen Literatur. Düster, niederdrückend, schonungslos, wortgewaltig: So „meißelt Ōe das Archaische aus dem großen Stein der Welt“ urteilte die „Saarbrücker Zeitung“ über seine Romane.

Das Buch beim Fischer Verlag: „Der stumme Schrei“

 

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

10 thoughts on “Kurz&knapp besprochen

  1. Liebe Birgit,
    Danke nochmal für den Hinweis auf die „Bretonische Verhältnisse“, ich habe mir das ungekürzte Hörbuch gerade online in der Bücherei ausgeliehen und freue mich auf den Genuss.
    Beim Schreiben des Blogbeitrags von unserem gemeinsamen Spaziergang ist mir dein Hinweis wieder eingefallen!
    Einen schönen Tag in Berlin wünscht dir Susanne

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  2. Da ist viel zu heben. Nur zweierlei ebenso kurz einmal angeführt: von Timmerman hat mein Frl. Schneefeld regelmäßig „St.Nikolaus in Not“ auf der Bühne bespielt (inkl. Schokobrunnen) und die „Pfaueninsel“ hatte ich auch mal besprochen (finden Sie einmal, wenn Sie wollen) und durchflaniert. Beinahe -Faulheit, du bist so mächtig- wären wir da heute mal wieder hin. Das Buch ist ein mir sehr liebgewordenes.

    Freundlichst
    Ihr Herr Hund

    Gefällt 2 Personen

    1. Ja, ich bin nur mit der Form nicht glücklich - wenn sich das alles in einem Beitrag bündelt, steht da irgendwann: Lesezeit 1377 Minuten. Und das ist dann nicht mehr kurz & knapp. Mal überlegen, wie ich das mache…vielleicht ein kurz&knapp nur für die Japaner? Dann bespreche ich auch einen Murakami. Da reichen drei Worte 🙂

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