Erzählungen

Isaak Babel: Sämtliche Erzählungen.

Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig

Am 15. Mai 1939 verhaftete die russische Geheimpolizei den Schriftsteller und Publizisten Isaak Babel in seiner Villa im Schriftstellerdorf Predelkino. Es waren die Tage des grossen Terrors, der nationalen Säuberungsaktionen, denen Millionen unschuldiger Menschen zum Opfer vielen. Babel wurde Spionage und Verschwörung gegen das Stalin-Regime vorgeworfen. Er verschwand vom Erdboden, so wie seine Bücher aus allen Buchhandlungen. Auf diese Weise wurde der Schriftsteller Isaak Babel ausgewischt, als hätte es ihn nie gegeben. Er lebte nur noch in den Erinnerungen seiner Leser, Freunde und Familienmitglieder, die noch Jahre später im Ungewissen waren über das, was mit ihm nach seiner Verhaftung geschah.

Die Wahrheit über Babels Schicksal wurde erst zu Beginn der Neunziger Jahre enthüllt, als unter Michail Gorbatschow die KGB-Archive der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Als Babel am 26. Januar 1940 der Prozeß gemacht wurde, widerrief er ein zuvor unter Folter gemachtes Geständnis, Mitglied einer terroristischen, anti-sowjetischen Organisation zu sein. Der Prozeß dauerte nur 20 Minuten, das Urteil stand schon vorher fest: Todesstrafe durch Erschiessung. Die Exekution fand am frühen Morgen des folgenden Tages statt. Babels Leichnam wurde in ein Massengrab geworfen, er wurde nur 45 Jahre alt.

In seinen Erzählungen der “Reiterarmee” verarbeitet der russische Schriftsteller seine Erfahrungen, die er während des Russisch-Polnischen Krieges 1920/21 als Korrespondent gemacht hatte. Er war dort in der Propagandaabteilung der sogenannten “Reiterarmee” eingesetzt, einer Kosakentruppe, deren Leitung General Budjonny übernommen hatte. Die kurzen und eindringlichen Texte, die Babel während dieser Zeit verfaßte, beschrieben jedoch nicht die Leistungen der glorreichen Roten Armee, sondern warfen ein dunkles Licht auf die brutale Kehrseite des Krieges. Die Rolle der Reiterarmee beschreibt er als die einer plündernden und mordenden Horde, die sich im Oktober 1920 geschlagen zurückziehen mußte. Das passte so gar nicht in die offizielle sowjetische Geschichtsideologie.

Babels Interesse gilt dem Schicksal einzelner Menschen, die er jeweils kurz und präzise nachzeichnet. Neben diesen einfühlsamen Porträts stehen unvermittelt die Beschreibungen der Grausamkeiten der Reitertruppe Budjonnys. Die Sprache, in der diese Erzählungen verfasst sind, ist unverkennbar. Babel hat geschafft, was nur wenigen Autoren vorbehalten ist: eine eigene, unverwechselbare Sprache zu finden. Sie ist einerseits knapp und präzise, neigt andererseits zu außergewöhnlichen, expressiven Bildern, so dass die Grenze zum Lyrischen oftmals überschritten scheint.

Besonders aufmerksam registriert Babel das Schicksal der im Kriegsgebiet lebenden Juden und die zahlreichen Pogrome, die sowohl von russischer als auch von polnischer Seite begangen wurden. Aus seinen Tagebuchnotizen von 1920 wird deutlich, daß seine Sympathie eindeutig bei den verfolgten Juden lag, denen er sich zugehörig fühlte. Ihre Welt erinnerte ihn an das Ghetto von Odessa, wo er selbst als Sohn einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Er wuchs mit Thora und Talmud auf, aber führte seit Jahren ein assimiliertes Leben. In der Reiterarmee von Budjonny hielt er seine jüdische Identität verborgen und nahm das Pseudonym Kirill Vasiljevitsj Ljoetov an. Die Welt der russischen Juden ist auch das Thema anderer Erzählungen. So sind die Schurken in den “Erzählungen aus Odessa” nicht mehr die russischen Antisemiten, sondern die Juden selbst. Sie spielen im jüdischen Ghetto der Stadt, das von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Räuberhauptmann Benja Krik, die mordsüchtige Madame Schneeweis, der schatzreiche Geschäftsmann Anderthalb-Jude und Manka, die Mutter der jüdischen Banditen sind zu unvergesslichen literarischen Persönlichkeiten geworden.

Babels schönste Geschichte steht in den Erzählungen des titelgebenden Erzählbündels “Mein Taubenschlag”. Diese spielt während eines Pogroms in dem Städtchen Nikolajev, wo Babel selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte. Protagonist ist ein jüdischer Junge, der 1905 zum Gymnasium zugelassen wird, eine ungeheure Ehre, da in einer Klasse mit 40 Schülern nur 2 Juden erlaubt sind. Als die Liste mit den Schülern der neuen Schulklasse öffentlich gemacht wird, können die Eltern ihr Glück nicht fassen und pilgern zum Aushang dieser Liste, selbst “Großvater” Schojl, ein Großonkel des Jungen, geht mit. Zur Belohnung hat Schojl dem Jungen einen Taubenschlag gezimmert. Bis jetzt herrscht Harmonie, Babel beschreibt das Leben der Familie als eine Idylle voller Wärme und bescheidenem Wohlstand, der mit der Zulassung ans Gymnasium bekrönt wird. Aber plötzlich schlägt alles ins Gegenteil um und man erkennt, daß das Glück nur von kurzer Dauer war. Als der Junge auf dem Markt Tauben für seinen Verschlag kaufen will, bricht in der Stadt ein Pogrom aus. Die Idylle endet in einem Albtraum. Geschäfte werden geplündert und der Junge sieht zu, daß er hier wegkommt. Dann sieht er einen ihm bekannten Invaliden, der das gestohlene Eigentum der Juden aufkauft. Der Junge fragt den Invaliden, ob er Schojl gesehen hat. Der Invalide antwortet nicht, aber entreißt dem Jungen seinen Korb mit Tauben. Er greift nach der schönsten Taube und schlägt diese dem Jungen so großer Wucht ins Gesicht, daß die Eingeweide der Taube an seinen Wangen herabgleiten. “Ausrotten muß man eure Saat” ruft er dem flüchtenden Jungen noch nach. Als er nach Hause kommt, sieht er dort seinen ermordeten Großonkel liegen, verhöhnt mit einem Fisch in Mund und Hosenstall. Auf nicht einmal 12 Seiten weiß Babel eine geschundene Welt zu beschreiben, die den Leser bis ins Mark trifft.

Nicht alle Erzählungen lassen sich bequem konsumieren. Eine genaue und mehrmalige Lektüre ist manchmal erforderlich. Wählt man eine den Erzählungen angemessene Lesegeschwindigkeit, wird man bald entdecken, wie kunstvoll dieser Zyklus komponiert ist. Die einzelnen, scheinbar unverbundenen Geschichten werden sowohl durch sprachliche als auch durch inhaltliche Motive eng zusammengehalten.

Unter dem Titel “Mein Taubenschlag” sind nun sämtliche Erzählungen von Isaac Babel beim Hanser Verlag erschienen. Allerdings liegt das erzählerische Gesamtwerk übrigens mit der Hanser-Ausgabe nicht zum ersten Mal auf Deutsch vor, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension vom 28. November 2014 schreibt. Wohl aber in neuer Übersetzung, unter anderem von Peter Urban, der bereits mit vorzüglichen Übersetzungen anderer russischer Autoren auf sich aufmerksam gemacht hat. Ich bleibe bei meiner Ausgabe der Anderen Bibliothek aus dem Jahre 1987, in bester Ausstattung und ebenfalls vollständig.

Isaak Babel: “Mein Taubenschlag”, Sämtliche Erzählungen, Hanser-Verlag 2014, 864 Seiten, 39,90 Euro. Link zur Verlagsseite: http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/isaak-babel-mein-taubenschlag/978-3-446-24345-3/

TRIO 25: So haben Sie mehr Freude am Verkehr!

DSC01014Sorry. Hier geht`s jetzt nicht um Sex. Sondern um etwas eigentlich völlig Unerotisches - Bahnfahren. Doch wenn literarische Leute wie Dieter Hildebrandt, Peter Bichsel und Klaus Wagenbach Hand anlegen, dann wird sogar die deutsche Eisenbahn irgendwie sexy.

Drei Buchtipps für die Kurzweil in der DB, Straßenbahn und im U-Bahn-Verkehr:

Peter Bichsel - der Passionierte

Peter Bichsel ist ein leidenschaftlicher Bahnfahrer. Er schreibt und träumt sogar von Fahrten, die er niemals unternimmt. Sicher die beste Methode, um die Konfrontation mit der gegenwärtigen Bahnrealität zu vermeiden: Keine Streiks, keine Verspätungen, kein unterirdischer Service. Der Meister der Kurzgeschichte hat seiner Passion ein eigenes Insel-Buch gewidmet: “Eisenbahnfahren” der logische Titel.

bichsel“Da steigt also einer in den Zug. Er heißt Müller, ein einfacher Name, aber auch den kann man so betonen, daß man nicht einfach irgendein Müller ist, sondern eben Müller.« Ist es denn nötig, daß ich mit diesem Herrn Müller mitfahre, fragt sich Peter Bichsel, und schon sind wir Leser dabei im Zug und mit dem Autor im vollen Abteil, zweite Klasse, Raucher, beobachten, notieren, denken mit ihm nach, sehen den Reisenden zu und steigen so rasch nicht mehr aus, denn das Fahren im Zug ist für Peter Bichsel etwas wirklich Wichtiges. Hier entstehen viele seiner Geschichten, Entwürfe für Kolumnen, Einmischungen, Zwischenrufe, und ganz wie nebenbei präzisiert er seine Philosophie des Reisens mit dem Zug: »Die Kunst des Eisenbahnfahrens ist die Kunst des Wartens, und darin liegt der eigentliche Zeitgewinn, daß man Zürich nicht zu erreichen hat, sondern zu erwarten.« In Eisenbahnfahren sind einige der schönsten Geschichten Peter Bichsels von unterwegs versammelt”, so Herausgeber Rainer Weiss. Noch mehr über den Eisenbahnfahrer aus der Schweiz: http://saetzeundschaetze.com/2013/09/17/gnusch-im-fadechorbli-oder-haikus-in-prosa-peter-bichsel/

Dieter Hildebrandt - Der Genervte:

“Wenn man sich das einmal überlegt: Die Engländer haben mit Bomben und Granaten versucht, die deutschen Züge zum Stillstand zu bringen. Es ist ihnen nicht gelungen. Geschafft hat das erst die Deutsche Bahn.”

Der vor einem Jahr verstorbene Kabarettist war selbst im hohen Alter noch einer, der Lesereisen liebte - und war demnach viel mit der Bahn unterwegs. Eine echte Hassliebe, wie aus diesem Interview in “Der Zeit” hervorgeht: http://www.zeit.de/2011/51/Interview-Hildebrandt.
Von Leben und Leiden in der Bahn erzählte er in seinem Buch “Ausgebucht”:

Klaus Wagenbach - Der Unterschütterliche:

wagenbachIm Klappentext des erst jüngst erschienenen Wagenbach-Taschenbuches “Störungen im Betriebsablauf” steht über den Herausgeber zu lesen: “Klaus Wagenbach, 1930 geboren, lebt als Altverleger in Italien und im Berliner Nahverkehr.” Kontrastreicher kann das Leben als Pensionär wohl kaum sein. Doch der durch seine jahrelange Zugehörigkeit zur Toskana-Fraktion mit echt italienischem Lebensgefühl ausgestattete Buchmacher macht sich eben auch das öffentliche Verkehrswesen schön.

“Der Herausgeber ist leidenschaftlicher Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs. Am liebsten ist ihm die U-Bahn. Wie schön ist es, unterirdisch gefahren zu werden, während oben alles rennet, rettet, flüchtet! Man muß keine Verkehrsregeln beachten, Attraktionen vor dem Fenster gibt es nicht, und mit etwas Glück hat sich der Sitznachbar mit zahlreichen elektronischen Geräten selbst kaltgestellt.”

Und noch besser ist das, wenn man gute Lektüre zur Hand hat. Beispielsweise Kürzestgeschichten, die  zwischen ein, zwei und drei Stationen unterhalten können. Der Clou dabei: Die Mikroerzählungen sind nach Länge angeordnet - so kann man sich je nach Pendelzeit die passenden Kapitel aussuchen. Natürlich ist auch Peter Bichsel vertreten, aber ebenso namhafte Autoren wie Heinrich Böll, Gisela Elsner, Christoph Hein, Brigitte Kronauer, Urs Widmer und viele, viele weitere…

Noch mehr zur “Freiheit des Verlegers”: http://saetzeundschaetze.com/2013/09/22/frei-und-listig-klaus-wagenbach-der-anarchistische-verleger/

TRIO 19: Friedenauer Presse-Drucke und andere bibliophile Kleinigkeiten

Appetithappen 1:

Widerstand zwecklos: Wenn in meiner Buchhandlung eine neue Ausgabe eines Hefts aus der Reihe Friedenauer Presse-DRUCKE ausliegt, dann muss ich beinahe schon zwanghaft kaufen. Diese Edition des Verlags, der 2013 sein fünfzigjähriges Bestehen feierte, punktet bei mir in mehrfacher Hinsicht.
Die Ausstattung: Überwiegend noch in Bleisatz gesetzt - da hüpft das Herz der Buchdrucker-Tochter -, mit Fadenheftung, schön gestalteten Umschlägen sind die Hefte Zeugnisse guter Handwerkskunst, liebevoll und ordentlich gemachte kleine Schmuckstücke.
Die Autoren: Huysmans, Gertrude Stein, Ambrose Bierce, Robert Louis Stevenson, Joachim Ringelnatz, Daniil Charms, Denis Diderot, Erwin Panofsky…Klassiker und Klassiker der Moderne.
Die Inhalte: Bierce schreibt über schräge Sichten und die Luftspiegelung, Stevenson empört sich über scheinheilige Geistliche, Max Frisch schildert seine Eindrücke von Bertolt Brecht, Ringelnatz schickt Briefe an Muschelkalk, Karl Kraus steht Rosa Luxemburg zur Seite. Neben Erzählungen, Gedichten und kurzen Prosastücken werden in den Friedenauer Presse-DRUCKEN immer wieder literarische Kostbarkeiten veröffentlicht. So Essays, Briefe, Unveröffentlichtes und Vergessenes, die jedoch weit mehr sind als unterhaltsames oder ergänzendes Beiwerk, wenn man sich von Haus aus mit einigen der Autoren beschäftigt - die Hefte sind optisch, haptisch und inhaltlich kleine Juwelen für Bibliophile.

Zum Verlag: http://www.friedenauer-presse.de/

Appetithappen 2:

Erst unlängst vorgestellt - die “petits fours” der Büchergilde

Appetithappen 3:

Literatur für die Tasche - Textlichter und Quickies.

Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner (2).

“Denkbilder” nannte Walter Benjamin die kurzen Prosatexte einiger seiner Kollegen, darunter vor allem die Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht. So sind die Keuner-Geschichten: Kurz, knapp, scharf, kühl, zuweilen aber auch leicht zynisch oder mit hintergründigem Humor. Aber immer mit einem Widerhaken ausgestattet, der uns über das zunächst leicht anmutende Frage-Antwort-Spiel stolpern lässt, zum Denken zwingt.

Walter Benjamin vermutete hinter dem Denker einen “Keiner”, eine eigentlich eigenschaftslose Figur. Als Mann beinahe ohne Eigenschaften beschrieb ihn auch Benjamin Henrichs 1979 in der ZEIT:
“Herr. K. ist ein Mann ohne Gesicht. Ohne Alter, ohne Beruf, ohne Biographie. Man könnte ihn für ein Phantom halten, zeigte er, der Mann ohne Eigenschaften und ohne Unterleib, nicht eine höchst vitale Regung: er denkt. Herr K. ist Denker – dies ist sein einziger Beruf und seine einzige Wollust.”

Dabei war sicher beiden auch bewußt, dass es sich doch letzthin um ein Alter Ego des Schriftstellers Brecht handelte, der in den Parabeln in Kürze das zum Ausdruck zu bringen vermochte, was auch die Fragestellungen seiner Dramen und Gedichte umriß:
Erst kommt das Denken, dann vielleicht auch eine Moral.

So ist es naheliegend, dass bei der allerersten (so die Angabe des Suhrkamp Verlages) Adaption einiger der Keuner-Geschichten als Graphic Novel beziehungsweise Comic der Herr Keuner dem echten BB optisch doch stark ähnelt: Mit runder Brille, rundem Kopf, skeptischen Mundwinkeln. Solchermaßen ausgestattet schickt Comic-Künstler Ulf K. den Herrn Keuner auf dessen kontemplativen Spaziergänge durch die Welt.

Nüchtern, sachlich, reduziert: Die Illustrationen des Künstlers und Illustrators unterstreichen das messerscharfe analytische Denken des Herrn Keuners aufs Beste. Nicht nur die bekannteren Geschichten - unter anderem “Wenn Herr Keuner einen Menschen liebte” oder auch “Massnahmen gegen die Gewalt” - werden in den rund 35 Comics interpretiert, sondern auch einige, die man nicht so häufig zitiert sieht. Und: Ulf K. hat zudem einige eigene kleine Sentenzen im Keuner-Stil eingeflochten, durchaus bemerkenswert. Eine Kostprobe: “Recht sprechen”.

“Ach Keuner, unsere Richter sind bestechlich.”
“Leider ist es nicht einmal so. Sie sind unbestechlich. Nicht mit der größten Geldsumme könnte man sie bestechen,…Recht zu sprechen!”

Ulf K. hat die Brechtschen “Denkbilder” in Bilder umgesetzt, die das Denken des BB auf den Punkt bringen - keine Ablenkungen, keine Ausschweifungen, nüchterne Illustration und nüchterne Prosa, Bilder, die zum Denken bringen…Und weil man Geschichten vom Herrn Keuner eigentlich regelmäßig lesen sollte, ist diese gezeichnete Variante als weitere Ergänzung meiner Brecht-Bücher durchaus willkommen.

Hier geht es zur Verlagsseite mit weiteren Angaben zum Buch.

Mit Illustrationen der Keuner-Geschichten beschäftigen sich zudem Augsburger Grafikstudenten bei einem Projekt: http://saetzeundschaetze.com/2014/02/24/bertolt-brecht-geschichten-vom-herrn-keuner/

George Saunders: Zehnter Dezember (2014).

„Wenn man Geschichte studierte, Kulturgeschichte, dann kam einem die eigene Epoche kleinlich vor. Es gab verschiedene Theorien der Einwilligung. In biblischen Zeiten konnte ein König über ein Feld reiten und sagen: Die da. Und dann wurde sie zu ihm gebracht. Und sie wurden ordentlich vermählt, und wenn sie einem Sohn das Leben schenkte, super, holt die Wimpel raus, die behalt ich. Ob sie in jener ersten Nacht drauf stand? Wahrscheinlich nicht. Ob sie zitterte wie Espenlaub? Egal.“
Aus: „Sprung zum Sieg“ in „Zehnter Dezember“, George Saunders, 2014, Luchterhand Literaturverlag, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 272 Seiten, ISBN: 978-3-630-87427-2

Unschlüssig, unschlüssig, unschlüssig. „Zehnter Dezember“ von George Saunders wurde mit Lorbeeren überkränzt. 2013 in den USA erschienen, rief es das New York Magazine zum Buch des Jahres auf, nannte Saunders „einen Autor, der schreibt wie ein Heiliger“.
Der Amerikaner, 1958 geboren, nach mehreren anderen Jobs wie viele seiner Zunft in den USA über das Literaturstudium zum Autoren geworden, macht nun mit diesem Erzählband auch hierzulande Furore. Zehn unheilige Geschichten, selig machen sie nicht.
Dies in doppelter Hinsicht: Saunders malt die eigene und die kommende Epoche nicht kleinlich, sondern schwarz. Tiefschwarz. Die zehn Erzählungen sind in den USA der nahen Zukunft angesiedelt, dystopisch könnte man sie nennen. Da werden Menschen medikamentösen-chemischen Experimenten unterworfen, die sie zu Sexgier und Mordlust treiben. Frauen aus Dritt-Welt-Ländern hängen als Dekosklavinnen in Gärten, wie missbrauchte Blumenblüten. Funcenter, Freizeitparks, in denen Mittelalter nachgelebt wird – bis hin zum Raubrittertum des Besitzers, der Angestellte versklavt und vergewaltigt. Von wegen fortgeschrittene Praxis der Einwilligung.

Daneben aus der amerikanischen Gegenwart Bekanntes und Vertrautes: Traumatisierte Kriegsveteranen, McDonald`s und Butterfinger, Luxusautos und Schrottwagen, Luxusimmobilien und Enteignungen im Vorstadt-Ghetto. Saunders zeichnet ein düsteres Bild von der Lage seiner Nation, von der Weiterentwicklung seines Landes: Konsumversessen, konsumabhängig lassen die Menschen sich scheinbar willenlos steuern. Bis zu ihrem Niedergang. Ein Vater, der sich ruiniert, um den Kindern genau das bieten zu können, was die Nachbarn haben. Ein Sohn, der sich demütigen lässt im Ritterkostüm, um die Eltern – krank, aber ohne Versicherung – über die Runden zu bringen. Eine Alte, die nach 15 Jahren vor die Türe gesetzt wird.

Wenig Hoffnung kommt da auf, vor allem beim Blick in die Zukunft – die Menschen instrumentalisiert, entwürdigt, Menschenrechte ein Relikt aus der Vergangenheit. Dass Saunders damit in das Herzen einer bestimmten amerikanischen Leserschaft oder auch den Zeitgeist trifft, verwundert nicht.Obama als Hoffnungsträger hat rasch jeden Glanz verloren, die Zweiklassengesellschaft driftet brutal auseinander, anhaltende Kriegseinsätze, der fragwürdige Umgang mit Kriegsgefangenen, der fragwürdige Umgang mit den inneren Bürgerrechten, NSA und Überwachung, undsoweiterundsofort: All das wirft die Frage auf, wohin das Land steuert. Und Saunders greift diese Themen auf, packt in seine Geschichten diese Ängste und Verunsicherungen. Deutlich wird dies insbesondere dort, wo er die Klassen aufeinanderprallen lässt – beispielsweise in „Welpe“, als eine begüterte, behütende Mutter in einem White-Trash-Haushalt landet, um für ihre Kids einen Hund zu besorgen. Es endet tragisch – nicht für jene, die das Geld haben. Oder in „Die Semplica-Girl-Tagebücher“, dem Bericht eines Vaters, der nur das Beste will – was in dieser Welt immer auch das Teuerste ist.

Trotz der Schwarzmalerei: Saunders setzt auf den Menschen, den einzelnen Menschen, der Hero wird für eine Stunde, einen Tag. Den pummeligen Jungen, der einen Selbstmörder rettet. Den Nachbarsjungen, der eine Vergewaltigung oder Schlimmeres verhindert. Den Kollegen, der Unrecht nicht hinnehmen will. Wenn diese Erzählungen eine geheime Botschaft ausstrahlen, dann diese – dass manche inneren Werte, manche Vorstellungen von „Recht/Unrecht Gut/Böse“ nicht auszumerzen sind.

Allein seligmachend ist dies jedoch nicht. Unschlüssigkeit rief/ruft beim mir die Sprache/Stil hervor. Wer sich hier über den gehäuften Einsatz von „/“ in den letzten Zeilen/Sätzen wundert – eine der stilistischen Eigenheiten des Mr. Saunders. Ein Rezensent bemerkte, der letzte Erzählband des Amerikaners sei so postmodern gewesen, dass er wiederum beinahe unlesbar sei. Deshalb sei man beinahe glücklich, nun „Zehnter Dezember“ in den Händen zu halten. Eine Qualitätsaussage ist dies für mich nicht. Der „////“-„Tick“ – und hier stimme ich mit Günter Keil überein – ist ein Merkmal einer „allzu lässigen, um Unkonventionalität bemühten Prosa“.
Maren Wulf schreibt: „Mal ist der Ton knapp, beinahe schon karg, ein anderes Mal von unbändiger Lust am Fabulieren gekennzeichnet. Immer wieder umgangssprachlich, aber nicht flach. Temporeich.“ D`accord. Damit schon. Aber leider: Angereichert durch zu viele Manierismen.

„Greenway-Mädel: Quasi zauberhaft hier.
Drinnen Leslie Torrini zu Besuch (!). Das = Hammer. Leslie war noch nie solo hier. Sagt, ihr gefällt, dass unsere SGs nah am Teich hängen und sich drin spiegeln. Ruft zu Hause an und sagt, sie will Teich haben. Leslies Mutter nennt Leslie verwöhntes Balg und sagt, kein Teich. Das = großer Treffer für Lilly.“

Das = Beispiel für sprachlichen Manierismus. Leserin sagt, muss nicht sein. Geschichtenimmanente Verstörungsmomente stärker (!) ohne Ablenkung durch postmoderne Spielerei. Geschichten auch so gut oder Leserin verwöhntes Balg?

Hier geht es zur Verlagsseite inklusive Leseprobe: http://www.randomhouse.de/Buch/Zehnter-Dezember-Stories/George-Saunders/e441654.rhd

Joseph Roth - Kranke Menschheit

“Kopf? Eine heikle Angelegenheit. Je schiefer ein Kopf sitzt, desto fester ist sein Träger überzeugt, dass alle anderen Köpfe schief sind und er seinen eigenen hoch und gerade trägt.”

Quelle: “Kranke Menschheit”, undatierte Erzählung, in: “Joseph Roth - Die Erzählungen”, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2008.

Diese frühe Erzählung, vermutlich um 1919 entstanden, entwickelt in wenigen Zügen die Geschichte eines Mannes in der Aufnahmestation einer Nervenheilanstalt.
In Rückblenden wird nur wenig Skizzenhaftes über diesen Heinrich Reinegg angedeutet - offensichtlich ein Mensch, der vom Krieg und den damit zusammenhängenden Erlebnissen schwer traumatisiert ist. Zunächst erscheint Reinegg wie ein Spaziergänger, ein zufälliger Besucher in der Klinik. Auch im Wartezimmer verwischen sich die Grenzen zwischen “drinnen” und “draußen”, lässt Roth den Leser zeitweise im Unklaren: Werden die Patienten wegen körperlicher Gebrechen behandelt oder hat ihre Seele gelitten? Und was ist unter “Normalität” zu verstehen? Was bedeutet Menschsein und wo gehört man hin? Für Heinrich Reinegg klärt sich diese Frage - scheinbar - mit der Aufnahme in die Klinik, der letzte Satz der Erzählung lautet:

“Es ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort, wohin ich gehöre.”

Joseph Roth selbst musste sich in seinem Leben gezwungenermaßen immer wieder mit diesen Fragen nach der “Normalität” auseinandersetzen. So war sein Vater psychisch erkrankt, seine Ehefrau Friederike Reichler litt an Schizophrenie (sie wurde 1940 Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms) und Roth selbst war ein schwerer Trinker, eine Erkrankung, die heute in einer psychiatrischen Klinik behandelt würde. Auch seine Lebensumstände - immer wieder entwurzelt und heimatlos, ständig in materieller Not - trugen nicht zu seiner seelischen Beständigkeit bei.

Klein, aber fein: Literatur für die Tasche. Quickies + Textlichter.

Es gibt Kurzstreckenleser und Sehrlangsamleser, Zwischendurchleser, Pausenfüllerleser und Wenigaberintensivleser. Für diese ist ein optimales Lesewerk eventuell nicht unbedingt Prousts Suche nach der verlorenen Zeit. Weil Zeit ist kostbar, das Leben kurz, und der Roman zuuuuuuuuuu lang. Dann besser zu Erzählungen, Kurzerzählungen und Kürzesterzählungen greifen. Literatur im Taschenformat muss jedoch deshalb längst nicht Comic-Charakter mit wenig ganzen Sätzen und viel Erikativen haben. Zwei Beispiele für handliche und lesbare Taschenformatliteratur flatterten mir jüngst ins Haus.

Textlichter: So nennt der Verlag Edition Atelier mit Sitz in Wien, der sich vor allem zeitgenössischer österreichischer Literatur, widmet eine spezielle Reihe innerhalb seines Verlagsprogrammes. “Junge Literatur, in einem handlichen Format, für daheim oder unterwegs”: Ganz unterhaltsame Taschenpockets, die man beispielsweise bei einem Nachmittag am See oder beim Sonntagspicknick im Park goutieren kann. Zudem schön schräge Texte.
Wer mehr über den Verlag erfahren möchte, der orientiere sich hier:
http://www.editionatelier.at/
Und für die Textlichter wurde eine eigene WordPress-Seite eingerichtet: http://textlicht.wordpress.com/

Literatur-Quickies: Praktisch, quadratisch, gut, so kommen die Erzählungen daher, die der Hamburger Literatur Quickie Verlag, gegründet 2009, vertreibt. In der Reihe mit immerhin schon 70 Kurzgeschichten sind etliche namhafte Autoren, wie Friedrich Ani und Ulrike Draesner zu finden, aber auch zahlreiche jüngere Vertreter der schreibenden Zunft, die mit der einen oder anderen Veröffentlichung schon auf sich aufmerksam gemacht haben. Schade nur, dass der “Lesemittelhändler Ihres Vertrauens” den Lesestoff an das Bloggervolk verteilt, während die dazugehörige Internetseite “Unter Konstruktion” ist. Reinschauen kann man ja trotzdem mal: http://www.literatur-quickie.de/html/main.html

Annette Pehnt: Lexikon der Angst (2013).

„Mit dem Engel hat er schon Erfahrungen gemacht, als er noch ein Kind war. Er spielte so vor sich hin, gerade mal vier oder fünf, mit dem Krempel, den seine Eltern ihm gekauft hatten, da erschien ihm ein Engel, der kein Blatt vor den Mund nahm.
Du bist, sagte der Engel mit einer erstaunlich hohen Stimme, die kaum zu seiner stattlichen äußeren Erscheinung passte, seinen wie Kupfer gegossenen Flügeln und seinen leuchtenden bodenlangen Gewand, du bist aufgerufen. (…).
Ich will, dass du von nun an den Frieden des Herrn bringst, befahl der Engel, ein Friedensstifter sollst du sein. (…).

Du wirst ja nicht mal wütend, schimpfte die Freundin, hast du gar kein Feuer in dir. Kampfgeist, schon mal gehört.
Ich kann nichts dafür, sagte er schwach, das war der Engel, aber da hörte sie schon nicht mehr zu, vier Tage später war sie ausgezogen, und beruflich ging es auch nicht bergauf, man stellte ihm im Jobcenter für die Langzeitarbeitslosen ein, die er geduldig und erfolglos betreute. So lernte er, die Engel zu fürchten.“

„Lexikon der Angst“, Annette Pehnt, 2013, Piper Verlag, 176 Seiten.

Jeder kennt sie, diese kleinen, diffusen Ängste – das Bügeleisen, das unausgeschaltet in der verlassenen Wohnung vor sich hin schmort, das Unbehagen bei einer Autobahnfahrt, das Gefühl im Magen, kurz bevor das Flugzeug abhebt. Und es gibt die großen Lebensängste: Um das eigene Kind, vor dem Tod des Partners, vor den Erscheinungen des Älterwerdens, Existenzangst.

„Angst gehört zum Menschen“, weiß auch die 1967 geborene Schriftstellerin Annette Pehnt. Doch bei manchen wird das ureigene, urmenschliche Gefühl zur Störung: „Angst essen Seele auf“. Etwa 14 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an einer behandlungsbedürften Angststörung, so eine Studie 2011.

Den großen wie den kleinen Ängsten widmet sich die Autorin in ihrem „Lexikon der Angst“. Ein Buchtitel, der auf den ersten Blick eher einem medizinischen Fachverlag zugeordnet scheint. Doch so, wie das Lexikalische ein Spiel bleibt, so spielerisch-virtuos geht Annette Pehnt auch mit der ganzen Skala von Angstgefühlen um, die uns Menschen umtreiben kann. Man könnte auch sagen: Schreibend hält sie die Ängste fern, verscheucht die bösen Engel.

Die Skala des Unbehagens, das sich (auch auf sprachlich) leisen Sohlen durch eines jeden Menschen Leben schleichen kann, reicht von „A“ wie „Aal“ – eine junge Frau, die Angst beim Milchtrinken empfindet, nur leise angedeutet wird ein Kindheitstrauma – von „Z“ wie „Zirpen“, das von der älteren, einsamen Frau erzählt, die vergeblich auf den Anruf ihres Sohnes wartet. Das Spiel mit der Lexikonordnung besteht also aus kleinen Kurzgeschichten, unter deren lexikalischen Angaben wie „Federschmuck“ oder „Morgenlicht“ sich Überraschendes verbirgt. Kalendergeschichten seien es auch, schrieb Ursula März in ihrer Rezension in der Zeit. Tatsächlich erinnert die klare, nüchterne Erzählweise von Annette Pehnt von ungefähr an einen anderen großen Kalendergeschichten-Erzähler: Bertolt Brecht. Dessen Geschichten von Herrn Keuner (siehe ein besonderes Keuner-Projekt: HIER) kreisen ebenso beiläufig um die „großen“ Fragen und die Alltagsthemen – hier steht Annette Pehnt in einer guten Tradition. Auf die Frage, warum sie, wie in ihren Vorgängerromanen, unter anderem „Mobbing“ und „Chronik der Nähe“, immer wieder „ungemütliche Themen“ aufgreife, antwortete sie:
„Gemütlich kann man es sich vor dem Fernseher machen. Literatur ist etwas anderes. Sie erzählt von den Rissen in unserer glänzenden Oberfläche.“

Bild: Harald Kimming
Quelle: Homepage der Autorin http://www.annette-pehnt.de

Angst sei, so sagt sie weiterhin, ein „kraftvolles Gefühl“, aus dem man erzählerisches Material schöpfen kann. Und das ist ihr mit ihrem Lexikon durchaus gelungen: Erstaunlich die Bandbreite der Ängste, Phobien, Befürchtungen, des Unbehagens, die sie hier ganz sacht aufblättert. Und dafür trotzdem kein einziges Mal in die Horrorkiste oder Klischeeschublade greifen muss – weder die cineastisch umgesetzten Ängste vor Serienmördern, Aliens und Weltuntergang sind in diesem Lexikon zu finden, noch Klaustro-, Agora- und Coulrophobie. Vielmehr handelt es sich um jene Befürchtungen, die jeden von uns treffen könnten. Ursula März in der Zeit:

„Annette Pehnt, die sich mit einer Reihe von Romanen wie Mobbing und zuletzt Chronik der Nähe aus dem Jahr 2012 als luzide Beobachterin der deutschen Gegenwartsgesellschaft und empfindsame Phänomenologin des alltagsnahen Geschehens erwies – darin dem Schriftsteller Wilhelm Genazino von fern verwandt –, begibt sich in ihrem neuen Buch auf die Spuren jener schönen, im frühen 19. Jahrhundert kultivierten, minimalistischen Prosaformen, die vom Romanehrgeiz der derzeitigen Belletristik fast verdrängt wurden: die Kurznovelle und die Kalendergeschichte. Der Gefahr, die diese Formen mit sich bringen können, die Ausdünnung im allzu putzig Skurrilen, erliegt Annette Pehnt nur an wenigen Stellen.

Keiner der Texte, die sie in diesem Lexikon der Angst zu einem losen Reigen fügt, ist länger als zwei, drei Seiten. Gerade darin aber, im Reduzierten und Beiläufigen, liegt die Pointe des Buches. Es unterläuft den wuchtigen Begriff von der Angstepoche, in der wir angeblich leben, es lässt die aktuellen und globalen Riesenängste konsequent aus. Und es überbietet den Begriff zugleich. Es zeigt, wie Ängste in die unauffälligsten Nischen des Alltagslebens einwandern, wie sie zu selbstverständlichen Begleitern werden.“

Die schönste aller dieses Geschichten ist für mich jedoch jene, die vom Zustand „vor der Angst“ erzählt: „Nichts“ – eine Erzählung, die an die Kinderbücher von übermütigen Mädchen erinnert (ein Blogbeitrag dazu HIER):

„Sie ist fünf, im besten Alter, das es gibt. Sie ist wendig, schlank wie ein Strohhalm und immer warm. Wenn sie etwas lustig findet, einen selbsterdachten Witz, den niemand sonst versteht, lacht sie hemmungslos. Ihre Augen sind klar, sie schaut jeden direkt an und zwinkert selten. Wenn man ihr ein Buch vorliest, legt sie dem Vorleser eine warme Hand auf das Bein, ohne es zu merken. Sie kann im Handumdrehen wütend werden, ein schäumender Zorn packt sie dann, und sie brüllt aus Leibeskräften, bis ihr die Haare verschwitzt in die Augen hängen, sie fegt Bücher vom Tisch oder ein volles Saftglas.“

„Sie hat vor nichts Angst, außer davor, nicht mehr fünf zu sein.“

Schön wäre es manchmal schon, man wäre noch fünf oder siebzehn und frei von den Lebenserfahrungen, die auch Angst machen können. Sie sind subsummiert unter dem letzten Lexikoneintrag „Zittern“, der auch in der erzählerischen Form eine Ausnahme bildet:

Zittern
Hungrig sein im eigenen Hause.
Stinken, ohne davon zu wissen.
Nicht mehr aufhören können zu lachen.
Das eigene Kind nicht lieben.
Sich an den Rändern auflösen.
Nichts mehr hören können.
Nichts mehr schmecken können.
Nicht mehr gehen können.
Nicht mehr singen können.
Zu viel sehen müssen.
Jemanden lieben und es niemals sagen können.
Verspeist werden.
Keinen Tanzpartner finden.
Auch beim nächsten Mal keinen Tanzpartner finden.
Ein weiches Tier zertreten.
Soldat werden müssen.
Ein Tier schlachten.
Mitten auf dem See die Ruder verlieren.
Den eigenen Bruder mit dem falschen Namen begrüßen.
Den Hund in der Tür zerquetschen.
Schweigend beim Essen sitzen.
Streitend beim Essen sitzen.
Gar nicht beim Essen sitzen.
Im Restaurant deutlich hörbar furzen müssen.
Einen Körperteil abgetrennt bekommen.
Sich beim Verwelken zusehen.
Dem eigenen Kind beim Verwelken zusehen.
Schokolade essen und Braten schmecken, Braten essen und Schokolade schmecken.
Am hellichten Tag die Augen öffnen und nichts sehen.
Zittern, einfach so.

PS: Wer Ängste kennt und nachfühlen kann, der beschäftigt sich wahrscheinlich auch mit Fragen des Schicksals, der Sterne. Jedenfalls hat Annette Pehnt die Texte zu einem wunderbaren „Sternzeichen“-Buch geschrieben, an dem auch Bloggerin Susanne Haun mitgewirkt hat. Sowohl von Bild und Wort her ein ganz besonderes Schmuckstück. Mehr darüber zu lesen gibt es hier: http://faszinationsternzeichen.wordpress.com/

Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels (2012).

 Ein Gastbeitrag von Bernd Hohlen

Arvin Russels Vater Willard gibt seinem Sohn zwei Sätze mit auf den Weg. Der Erste: »Wenn  das nächste Mal einer mit dem Mist anfängt, dann will ich, dass du es zu Ende bringst«. Der Zweite: »Du musst nur den richtigen Augenblick abwarten«. Um diese zwei Aussagen zu beherzigen, benötigt man Geist, Kraft, Ausdauer, Energie und Mut. Romanfiguren, die diese Eigenschaften nicht mitbringen, sind entweder Volltrottel oder es ist schlechte Literatur.
William Faulkner sagte in seiner Nobelpreisrede (laut John Steinbeck war er dabei betrunken): »Die kleinste Erzählung ist wertlos, wenn sie nicht die alten Einsichten und Wahrheiten des Herzens, die für die ganze Welt gelten: Liebe, Ehre, Erbarmen, Stolz, Mitgefühl und Opferbereitschaft, enthält«.

Arvin liebte seinen Vater, es war ihm eine Ehre, seine Ratschläge umzusetzen. Sein Mitgefühl galt seiner Familie. Für sie war er berei,t sich zu opfern. Es ist dabei unerheblich, ob die bestimmende Romanfigur dabei mordet. Sie muss nur auf der richtigen Seite stehen. Da beginnt die Brechung der Figur und der Leser kommt moralisch ins Schleudern, bringt er doch Sympathie auf für einen, der andere Menschen tötet. Eine andere Figur, die dem Gesetz verpflichtet ist, steht auf der falschen Seite. Wir ahnen, dass wir beim Lesen in Konflikt geraten können mit unseren Interessen, mit unseren moralischen Vorstellungen.  Denn überall ist Gott. Er taucht auf als Prediger, als Perverser, als Mörder, als Verzweifelter, als Kind, als Hure, als Polizist. Gott ist alles und nichts. Er wird gerufen. Ihm wird geopfert. Tagelang, wochenlang, monatelang. Er taucht nicht auf. Er ist eine Fiktion, die die Menschen in den Wahnsinn treibt, weil ihr Glaube alles andere übersteigt. Sogar ihre grenzenlose Dummheit und Verkommenheit. Gott ist für alle da. Überall, auch im amerikanischen Niemandsland.

Diese zwei Sätze, eine korrupte Enklave in der größten Demokratie der Welt, der Glaube an das Gute und die Angst vor dem Bösen, die damit verbundene Einhaltung einer Ordnung und die dabei auftretenden Konflikte, erzählt in einer präzisen Sprache, in der kein falsches Wort zu finden ist, ergeben ein fantastisches Buch.

Der Autor Donald Ray Pollock stammt aus der Gegend, über die er schreibt. Er arbeitete im Schlachthof, in der Papiermühle und als LKW-Fahrer. Mit 50 Jahren (!) besuchte er http://english.osu.edu/creative-writing-ohio-state-university und entdeckte sein großes Talent: Andere Menschen zu faszinieren.

Creative Writing-Seminare zu besuchen ist in Amerika so selbstverständlich, wie bei uns Mitglied in einem Verein zu werden. Fast jeder Amerikaner, der Schreiben kann oder einen Computer besitzt, hat ein fertiges oder halbfertiges Drehbuch herumliegen. Es gehört dazu. In Deutschland ist das Schreiben immer noch eine Geheimwissenschaft, die nur ausgesuchten Spezialisten vorbehalten ist. Wer einmal herausfinden möchte, wo unsere großen deutschsprachigen Schriftsteller schreiben gelernt haben, wird nichts herausfinden. Scheinbar alles Naturtalente. Und wer ist schon ein Naturtalent? Dabei ist bei Pollock nachzulesen, wie erstklassiges Handwerk funktioniert. Keine Kinkerlitzchen, kein Geschwurbel, keine psychologischen Deutungen, kein Gejammer.  Etwas mehr als nur ein Krimi. Fast eine Anleitung, um gute Bücher zu schreiben.

»Das Handwerk des Teufels« – München, Liebeskind, 2012, und inzwischen auch als Heyne Taschenbuch.

Donald Ray Pollock * 23. Dezember 1954 in Knockemstiff (Ohio) (Ross County)

Knockemstiff

Der Weg nach Knockemstiff - Foto: Google Earth.

Sidekick: Hier geht es zur Besprechung des zweiten großartigen Pollock-Buches “Knockemstiff”

John von Düffel: Wassererzählungen (2014).

„Das Wasser an einem Wintertag. Der Himmel über der See ist hauchblau. Eine Bläue, die allen Dunst und Nebel, die Wolken und Schwaden in sich aufgesogen und verwandelt hat in einen Reifatem, der die Sonne blass macht, eine gefrorene Scheibe aus Licht.“

John von Düffel, „Wassererzählungen“

John von Düffel ist also nicht nur ein Langstreckenschwimmer. Seit „Vom Wasser“, sein erster Roman 1998 erschien, bin ich einer der vielen Fische, die ab und an in seinen Fan-Schwarm mit eintauchen. Kein gegenwärtiger deutscher Autor schreibt eben so schön, aber auch so viel über das Element Wasser und die Leidenschaft des Schwimmens wie er. In seine guten Romane kann man einsinken, abtauchen, für einige Stunden untergehen. Dazu zähle ich auch „Houwelandt“, diese Familiengeschichte, in der ebenfalls das Meer eigentlich die Hauptrolle spielt. Oder die Novelle „Hotel Angst“. Aber auf die Ebbe folgt auch die Flut beziehungsweise nach der Flut die Ebbe: „Ego“, die Geschichte eines fitnessbesessenen, karrieregetriebenen Egomanen – sie trieb mich als Leserin dann wieder eine Weile weg von der Düffel-Fangemeinde, ließ mich eher ratlos zurück.

Nun also die Kurzstrecke – Erzählungen. Natürlich drehen auch sie sich bei diesem Autoren, der schon einmal in der Presse auch als „amphibischer Schriftsteller“ bezeichnet wird, um das nasse Element. Und mir erging es beim Lesen der „Wassererzählungen“ ähnlich wie mit den oben genannten Langwerken – ein Auf und Ab, eine Wellenbewegung zwischen abtauchen, sinken lassen, mittreiben und dann wieder ein abebben der Begeisterung bis hin zum – naja, Untergang wäre übertrieben. Soll heißen: Die Mehrzahl der Erzählungen sind „von Düffels“, das heißt, schön zu lesen, dort wo eine leichte Melancholie mitschwingt, wo der Seegrund so tief ist wie die Trauer in manchen Herzen, wo das Meer so blau leuchtet wie die Hoffnung in einem Menschen. „Das Spiel ohne auf die Erde zu kommen“, „Der schwarze Pool“, „Ostsee“ – ein sprachlich eleganter Erzählfluss. Schöne Bilder:

„Als sie den schmalen, geschlängelten Weg hügelan fuhren, erhob sich der Wald vor ihnen wie eine Wand. Die Dämmerung stand zwischen den schwarzen Tannen, während der Himmel noch licht war, hell und stufenlos grau. Die ungemähte Wiese zum Wald hin sah aus, als hätte sich eine Herde von Nebeltieren darin gewälzt. Bleiches, verblühtes Gras lag nass und regenschwer in Wellen darnieder.“

Ab und an meint John von Düffel jedoch, er müsse in die Tiefen der Ironie eintauchen, der Satire oder Kritik am Zeitgeist, wo auch immer er da schriftstellerisch dahinschwimmt. „Die Vorschwimmerin“ und „Das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“ sind Beispiele dafür, Erzählungen als Monolog und Dialog verfasst. Hier kommt der Theatermann durch. Wo von Düffel jedoch mit spitzer Feder schreibt, kommt bei mir als Leserin eher Geplätscher an, seichte Wellenausläufer.

So lautet mein Fazit der „Wassererzählungen“: Flut und Ebbe.

John von Düffel, „Wassererzählungen“, 256 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-8321-9744-5

TRIO 7: Von reisefreudigen Briten und einige Sätze in eigener Sache

„Ich könnte sagen, daß mich keine menschliche Begegnung wirklich überrascht, wäre da nicht diese eine Sorte von Mensch, auf die ich fortgesetzt stoße und die in mir jedesmal ein belustigtes Staunen auslöst. Ich meine die alte Engländerin, die meistens mit entsprechenden Mitteln allein lebt und überall in der ganzen Welt zu finden ist, selbst an Orten, wo man sie am wenigsten vermutet. Man wundert sich schon kaum mehr, wenn man hört, daß in der Villa auf dem Hügel am Rande einer kleinen italienischen Stadt eine Engländerin wohnt, die einzige, die es weit und breit gibt, und wenn einem eine einsame Hazienda in Andalusien gezeigt wird, muß man beinahe darauf gefasst sein, daß dort seit vielen Jahren eine alte Engländerin lebt. Mehr ist man schon überrascht zu erfahren, daß die einzige weiße Person in einer gottverlassenen Stadt mitten im ländlichen China kein Missionar, sondern eine Engländerin ist und da für sich lebt, keiner weiß, weshalb.“

W. Somerset Maugham, aus der Erzählung „Die alte Engländerin“.

Es sind jedoch nicht nur die alten Engländerinnen, die an jeder Ecke des Globus auf einen lauern – auch deren männliches Pendant ist weit verbreitet. Eine Reise ohne Anekdoten von Zusammentreffen mit Engländern kann eigentlich nicht wahrhaft als Reise bezeichnet werden. Gleichwohl an welche Ecke der Welt es einen verschlägt, man kann sich sicher sein: Ein Angehöriger des Vereinigten Königreiches war bereits da, ist immer noch da oder wird gleich kommen. Als ob ihnen die eigene Insel immer wieder zu eng wird, zählen sie mit Sicherheit zu den reiselustigsten Völkern.
Unter Elizabeth I. & Co. eroberten sie die Welt noch mit ihrer Flotte, unter der heutigen Lizzie mit ihren Badelaken. Und nicht von ungefähr machte der Franzose Jule Vernes in seinem Klassiker „In 80 Tagen um die Welt“ einen britischen Gentleman, Phileas Fogg, zur Hauptfigur.
Mag man den „Playa del Ingles“ jedoch innerlich verfluchen und vermeiden, die Reisefreudigkeit der Briten hat auch ihre guten Seiten: Nicht nur die englische Küche, auch die englische Literatur wurde dadurch unendlich bereichert. Im literarischen Trio stelle ich heute drei Beispiele solcher reisender und schreibender Briten vor – drei Männer, drei Generationen, und doch durch eine literarische Tradition und freundschaftliche Bande miteinander verknüpft. Und zwischendrin schmuggle ich noch eine Information in eigener Sache rein, über die ich mich freue wie über jedes Treffen mit einem Reise-Briten…

maugham 001William Somerset Maugham:
„Was kann einer von England wissen, der nur England kennt?“, diese Frage lässt William Somerset Maugham in einer seiner Erzählungen fallen. Maugham (1874-1965) selbst war ein Kosmopolit, wie er im Buche steht: Geboren als Sohn eines englischen Anwalts in Paris, studierte er später in Heidelberg, dann in London. Als Mitglied des MI5 kam er im Ersten Weltkrieg durch ganz Europa und die USA, aber auch als Zivilist unternahm er immer wieder ausgedehnte Reisen, unter anderem in die Südsee. Maugham, der als Kind zunächst nur französisch sprach und nach dem frühen Tod seiner Eltern erst im Alter von zehn Jahren zu Verwandten nach England kam, starb letztendlich in seiner wahren Heimat – an der französischen Riviera.

Unter den zahlreichen Erzählungen, die er neben seinen Romanen (zu denen mit „Der Menschen Hörigkeit“ einer meiner Favoriten zählt) schrieb, dominieren jene, die in die weite Welt entführen. Allerdings: Ein Zuckerschlecken, so scheint es, ist der Aufenthalt in tropischer Hitze oder der Südsee-Sonne für die meisten seiner Protagonisten nicht. Da sieden die Leidenschaft, da kocht das Blut. Mord, Mesalliancen und Malaria strecken reihenweise Ladies&Gentlemen nieder, es wird geliebt, gelitten, gestritten, gemeuchelt, gemordet und dazu vor allem viel gesoffen, um der Langeweile des Kolonialalltags zu entkommen. Neben den Kolonialgeschichten dominieren das erzählerische Werk des W. S. Maugham die Erzählungen rund um den Schriftstellerspion Ashenden: Einige der schreibenden Kollegen und Nachfolger Maughams haben sich da abgeguckt, wie man wirklich schön schreibt. Denn William Somerset Maugham war nicht nur ein lakonischer, aber immer auch freundlich gestimmter Beobachter menschlicher Umtriebe, sondern daneben auch einer, der ebenso elegant wie bissig-humorvoll schreiben konnte.

William Somerset Maugham, „Gesammelte Erzählungen“, Zwei Bände in Kassette, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-06490-2

Zwei Kostproben:

Aus der Erzählung „Das runde Dutzend“:
„So ist das mit dem Ruhm“, meinte er bitter. „Wochenlang war ich der Mann in England, über den am meisten gesprochen wurde. Schauen Sie mich doch an. Sie müssen meine Fotografien in den Blättern gesehen haben. Mortimer Ellis.“
„Tut mir furchtbar leid“, sagte ich und schüttelte den Kopf.
Er machte eine kleine Pause, um seiner Eröffnung Wirkung zu verleihen.
„Ich bin der berühmte Bigamist.“

Aus der Erzählung „Der schöpferische Impuls“:
„Denn es muß festgestellt werden, daß es bei Mrs. Albert Forrester ungewöhnlich gutes Essen, ausgezeichnete Weine und vorzügliche Zigarren gab. Jedem, der literarische Gastfreundschaft genossen hat, muss dies bemerkenswert erscheinen, denn literarische Menschen denken in der Regel hoch und leben einfach; ihre Seele ist mit geistigen Dingen beschäftigt, und sie bemerken nicht, daß der Braten hart ist und die Kartoffeln kalt. Das Bier mag noch angehen, aber der Wein ist eher ernüchtern, und sich an den Kaffee heranzuwagen ist nicht ratsam.“

Patrick Leigh Fermor:Jubeledition-US-4.indd
Wie William Sommerset Maugham war auch Patrick Leigh Fermor (1915-2011) ein Reisender, ein Schreibender und ein Spion – er arbeitete für den SOE (Special Operation Executive). In Griechenland gilt er bis heute noch als Held – Fermor organisierte aus dem Untergrund heraus den Widerstand gegen die Nazis und war 1944 wesentlich beteiligt an der Entführung des dortigen Befehlshabers Heinrich Kreile nach England.

Fermor, Sohn eines Geologen, reiste schon früh durch die Welt – auch ihm war die Wanderlust in die Wiege gelegt worden. Die Wanderlust pflegte er im buchstäblichen Sinne: Sein Hauptwerk sind jene drei Bücher, in denen er seine Fußwanderung nach Konstantinopel festhält. Die Reisebücher, allesamt erst lange nach der Wanderung geschrieben und erschienen, sind nicht nur für Wandervögel ein Genuss. Bereichert durch das immense politische und kulturelle Wissen des Schriftstellers sind sie wahrhaftige Literaturreisen, auf die man gerne mitgenommen wird.

Unter diesen Perlen ragt der einzige Roman, den der Autor, Spion im Dienste Ihrer Majestät, der 2004 geadelt wurde, wie ein kleines schillerndes literarisches Juwel hervor. “Die Violinen von Saint-Jacques” (das englische Original erschien 1953) erzählt vom Untergang einer Antilleninsel Ende des 19. Jahrhunderts. Vom Vulkanausbruch, der eine französische Kolonialgemeinschaft mit sich reißt, berichtet Jahrzehnte später die einzig Überlebende. Ihren jungen Zuhörer entführt sie ebenso wie die Leser dieses Romans zu einem sprachlich opulenten Ausflug in eine buchstäblich versunkene Welt. Patrick Leigh Fermor schwelgt in Dekor und Details im Stil eines Oscar Wilde. Französische Eleganz, karibische Exotik, Liebe, Leidenschaft und Lavahitze: Eine kleine Geschichte (190 Seiten), ganz nah am Kitsch im positiven Sinne, die einen mit ihrer Anmut vollständig aus dem Alltag entreißen kann.

Patrick Leigh Fermor, „Die Violinen von Saint-Jacques“, Neuauflage 2013, Dörlemann Verlag, ISBN 9783908777977.

Für mich als Bloggerin eine wunderschöne Sache - das Bücher Magazin (www.buecher-magazin.de) veröffentlichte meine Besprechung des Romans in seiner aktuellen Ausgabe. Die Anfrage, eine Rezension über ein Buch meiner Wahl zu schreiben, löste bei mir bereits helle Freude aus. Damit jedoch nicht genug – vorgestellt wird in einem eigenen Beitrag von der Redaktion auch der Literaturblog Sätze&Schätze. Ich fühle mich richtig gebuchpinselt!

3-596-10364-9Bruce Chatwin:
Am 18. Januar 2013 jährt sich sein viel zu früher Tod zum 25. Mal. Chatwin blieb wenig Zeit zu schreiben: Der 1940 in Sheffield geborene Schriftsteller starb bereits 1989 in Nizza. Mit 18 Jahren begann Chatwin als Botenjunge bei „Sotheby`s“ – und war wenige Jahre später dort verantwortlich für die Abteilung für impressionistische Kunst. Dort wie später bei seiner Stelle bei der Sunday Times hielt es ihn jedoch nicht lange. Ihn zog es auf Reisen und zum Schreiben: Sein Vorbild war Patrick Leigh Fermor, zu dem ihn eine enge Freundschaft verband. Chatwins Asche wurde neben einer kleinen Kirche auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, wo Patrick Leigh Fermor lebte, beigesetzt.

Titel seines ersten Buches war „In Patagonien“, wo er sich nach der Kündigung bei der Sunday Times aufhielt, eine Besprechung seines bekanntesten Buches, „Traumpfade“, findet sich auf dem Blog unter diesem Link: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/23/bruce-chatwin-traumwandlerisch-schreiben-vom-reisen-und-der-ruhelosigkeit/

Wohldosiertes Glück!

Literatur macht glücklich. Nicht nur dosiert, aber auch.
Eine Dose Literatur, überreicht von einem lieben Menschen.
Ein guter und wohldosierter Glücksmoment.

Aber wie das so ist, mit dem Glück: Es besteht aus vielen Puzzleteilen.
Liebe. Gesundheit. Menschen. Orten.
Glück kann man nicht festhalten. Jedoch wertschätzen. Und das Gefühl zumindest einige Zeit konservieren.
Auch mit der Literatur.

Eva Menasse schreibt in dieser Glücksdosengeschichte über Kindheitserlebnisse, Urlaubsabenteuer und Glückseindrücke, die man “Am See” hat. Aber sie schreibt auch:
“Doch nur am See lernte man schon als Kind, dass ein Hauptbestandteil des Glücks gerade in seiner verdammt kurzen Verweildauer liegt.”

Dennoch sind wir oft nicht zufrieden, wenn wir es einmal haben, das Glück.
Immer meint man, es fehlt noch ein Puzzlestück.
Oder wir legen uns eigene Puzzlesteine in den Weg,
Der Mensch, Meister in der Anleitung zum Unglücklichsein.
Dabei kann es doch gerade ein großes Glück sein, zu wissen:
Ich brauche meine eigene Phantasie, um das Puzzle zu füllen.
Ich bin noch nicht am Ende des Bildes angelangt.
Das Puzzle Leben gibt noch Rätsel auf.

So oder so: Allen meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich für das neue Jahr einen guten Rutsch und ganz viel Glück in großen Dosen!!!

Bernhard Schlink: Liebesfluchten und der Fall Gurlitt

Das Mädchen mit der Eidechse

„Sie war Dalmanns Eidechse, seine Dechse und Echse, sein Dechslein und Echslein. Er schrieb ihr Briefe von nicht nachlassender Zärtlichkeit.”

“Was hat Vater im Krieg gemacht?”

Bernhard Schlink, „Liebesfluchten“, Diogenes Verlag.

Der “Fall Gurlitt” hat mich an diese Erzählung von Bernhard Schlink erinnert: “Das Mädchen mit der Eidechse”, die erste von sieben Geschichten aus dem im Jahr 2000 erschienenen Erzählband “Liebesfluchten”. Schlink, Schriftsteller und Jurist, greift hier bereits dieses Thema auf, das derzeit die Feuilletons dominiert: Das Thema der “Beutekunst” als bildhaftes Beispiel für einen gescheiterten individuellen und kollektiven Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Die Erzählung wird aus der Perspektive eines jungen Mannes aufgerollt, der sich auf Spurensuche macht. Ein Bild - eben jenes “Mädchen mit der Eidechse” - begleitet ihn von Kindheit an. Wer war die Abgebildete? Was war das Schicksal des Malers? Und welche Rolle spielte der Vater, einstmals Kriegsrichter, dabei? Und, die zentrale Frage: Wie geht man mit diesem Wissen um? Schlink lässt das Bild in den Flammen enden - Asche zu Asche. Zerstörung als Metapher für die Unmöglichkeit, mit dem Unsagbaren fertig zu werden? Das bleibt der Interpretation des Lesers überlassen.

Dass eine Vergangenheit jedoch Spuren hinterlässt, nicht einfach abzuschütteln ist, dass das, was zerstört wurde, nicht wieder vollständig wieder erstellt werden kann, dass Wunden auch nach Jahrzehnten noch spürbar sind und aufbrechen können - das zeigt auch die zweite Erzählung, die sich mit der deutschen NS-Vergangenheit beschäftigt, “Die Beschneidung”.

“Sie hatten verschiedene Weisen, miteinander zu reden. Die eine war leicht und schnell und ging, weil manchmal unbedacht, nicht ohne Korrekturen, Verletzungen und Entschuldigungen ab. Aber es blieb nichts zurück. Die andere war langsam und behutsam. Wenn sie auf ihre verschiedenen Religionen zu sprechen kamen oder das Deutsche in seiner Welt und das Jüdische in ihrer, passten sie auf, dass sie einander nicht in Frage stellten.“

Trotz der vorsichtigen Annäherung zwischen den beiden Liebenden - das Trennende wiegt am Ende mehr als das, was vereint. Und Geschichte kann, auch Jahrzehnte später, in unser persönliches Leben eingreifen.

Doch nicht alle sieben Erzählungen sind von diesem melancholischen Grundton geprägt. Schlink spielt die ganze Tonleiter der Liebe: Erfüllte Liebe, enttäuschte Liebe, obsessive Liebe. Ganz viel Liebe. Lieblosigkeit. Verlorene Liebe. Alles ist Liebe. All you need is love. Liebeskummer. Mutterliebe. Vaterliebe. Kindesliebe. Grenzenlose Liebe. Liebfrauenmilch. Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden.

“Liebesfluchten” hat Bernhard Schlink seinen Erzählband genannt, der nach seinem Sensationserfolg „Der Vorleser“ erschien. Die Erwartungen waren hoch. Er hat sie nicht enttäuscht. Unter den sieben Erzählungen ist kein schwaches Element. Jede Geschichte ist für sich lesenswert. Und obwohl der Titel die Thematik vorgibt – Erzählungen, die um Beziehungen kreisen -  ist es auch hier Bernhard Schlink gelungen, die beiden stärksten Erzählungen mit seinem großen Thema, der schwierigen Liebe zu seinem Heimatland und die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, in seiner ganz eigenen Weise poetisch zu verarbeiten.