Arno Schmidt. Zettel`s Traum und das Apostroph am Freitisch

Image

“Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. Das Kind schlingt seinen dicklichen MAY=Band in 2 Tagen hinunter (und die schönsten Stellen werden sogar mehrmals genossen); der Mann, tagsüber im Büro, oder hinter Pflug&Schraubstock, druckst, selbst bei bestem Willen, 3 Wochen lang über`m WITTIKO, den ihm ein sinnlicher Kollege empfahl. Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch - dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag! Und selbst, wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären`s immer erst arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwägung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und 20 Millionen verschiedener Bücher auf unserem Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich möchte es noch heilsam=schroffer formulieren:
Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen;
Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur!

Arno Schmidt

Am 18. Januar 1914 wurde Arno Schmidt geboren. Mehr als 3000 Bücher hat dieser Wortmaniker mit Sicherheit gelesen. Und Bücher geschrieben, die 3000 in einem sind. Ein Buch, das als Lebensbuch tausende Durchschnittliche ersetzt, um es knapp=schroff zu formulieren. Mit Schmidt ist es, wie mit Roter Bete: Man mag sie oder hasst sie. Man liest ihn oder lässt es. Sein kryptisches Hauptwerk, „Zettel`s Traum“, für die einen unlesbar, für die anderen voller Entdeckungen, voller Sprach- und Wortspiele, voller Witz.

Zettel 008

Ich habe es und ich liebe es – und, so Zitat Denis Scheck, es ist ein „Lebensbuch“. Leider kein besonders handliches – keines, das man als Taschenbuchausgabe mit auf Reisen nimmt. Noch zwei, drei andere Lebensbücher stelle ich irgendwann hier vor. Wobei das keine Bücher sind, die man vorstellen kann im Sinne von: Da passiert jenes, dort das. „Zettel`s Traum“. „Das Buch der Unruhe“. „Die Selbstbetrachtungen“. Man kann höchstens sagen: Mit dem Buch ist mir was passiert. Das sind Bücher, die mit mir etwas gemacht haben.

Jetzt beinahe verzettelt. Zurück zu „Zettel`s Traum“ und Arno Schmidt. Den falschen Apostroph im Titel wollte der genauso haben. Schon das finde ich von souveränem Eigensinn. Jederzeit würde ich mich mit Arno Schmidt und Max Goldt gegen jene verbünden, die meinen, Bildungssinn durch Apostrophen-Mäkelei demonstrieren zu müssen: http://saetzeundschaetze.com/2013/09/15/punkt-punkt-komma-strich-und-fertig-ist-das-mondgesicht/

Apropos Apostroph

„PS: Noch etwas zu „Rudi`s Resterampe“. Einmal schrieb ich in einem Text über Beck`s Bier. Prompt schrieb mir ein Leser, es müsse Becks heißen. Lieber Knabe, entgegnete ich, schau doch mal aufs Etikett. Die Brauereien werden ja wohl noch selber entscheiden dürfen, wie sie ihre Erzeugnisse schreiben. Vor kurzem schrieb ich in einem Artikel über „umkreiste A`s“. Es kam eine hässliche Beschwerde. Liebe Leute: Mich interessiert diese Mode, an Apostrophen zu mosern, überhaupt nicht. Wenn es Autoren gefällt, in den neuen Bundesländern, statt die dortigen Kunstschätze zu besichtigen, falsch geschriebene Imbissbuden zu fotografieren und zu diesen Fotos kleinkarierte Nörgelartikel mit rassistischer Tendenz zu verfassen, dann ist das deren Problem. Ich stehe fest zu meiner Überzeugung, dass es eine erstrangige charakterliche Widerwärtigkeit ist, sich über anderer Leute Rechtschreibfehler lustig zu machen. Erstaunlich ist, wie verbiestert gerade Leute, die sonst allen möglichen Regelwidrigkeiten oder sogar dem Anarchismus das Wort reden, sich über die paar überflüssigen Strichelchen ereifern. Ich sehe in Apostrophen, an Stellen, wo vorher noch nie Apostrophe waren, zumindest ein ersprießlicheres Erzeugnis von Volkskreativität als in Graffitigeschmiere an historischen Gebäuden. Rechtschreibung ist eine hübsche Sache für Leute, die Spaß an ihr haben. Verstöße gegen ihre Regeln, sofern sie nicht zu inhaltlichen Missverständnissen führen, sind nicht zu kommentieren.“

Max Goldt, „Ich wünschte, man büke mir einen Klöben“

Elias Canetti schrieb, als Arno Schmidt 1979 starb, in seine Aufzeichnungen: „Arno Schmidt gestorben. Aus Eigensinn?“

Mehr zu Zettel-Arno hier: http://www.mdr.de/kultur/arno-schmidt110.html

Wer „Zettel`s Traum“ nicht lesen mag, wegen der Apostrophen und den anderen Satzzeichen-Spielereien, der findet vielleicht auf Umwegen einen Zugang zu Arno Schmidt – beispielsweise mit der Novelle, die Klaus Krolzig hier vorstellt: freitisch

Mit der Novelle „Freitisch“ hat Uwe Timm vor zwei Jahren eine kleine Hommage auf Arno Schmidt geschrieben. Auf dem Buch-Cover vorne ein altes, knallrotes Käfer-Cabriolet und auf der Rückseite ein Saab 900-Cabrio: Der eine steht für das alte Leben, der andere für das aktuelle. Damit ist bereits der Zeitraum der Romanhandlung angedeutet.
München in den frühen Sechzigern. Es war die Zeit zwischen den Schwabinger Unruhen und der Studentenrevolte. In der Kantine einer spendablen Versicherung treffen sich regelmäßig vier Studenten zum Mittagessen. Hier am „Freitisch“ diskutieren sie über hochpolitisches, ganz Alltägliches und über die Werke von Arno Schmidt. Der Avantgarde-Schriftsteller ist als unsichtbarer Gast immer dabei. Für die einen ist er ein Gott, für die anderen ein alberner Kauz. Aber keiner kommt an ihm vorbei. Anspielungen auf Arno Schmidt und Zitate aus seinem Werk durchziehen die Erzählung.

„Er hatte an unserem Vierertisch die Schmidt-Lektüre eingeführt. Auch der Jurist, der außer der Zeitung und seinen Kompendien kaum etwas las, hatte sich „Kühe in Halbtrauer“ geliehen. Falkner und ich hatten das Buch gekauft, natürlich Hardcover.“

Gut 40 Jahre später treffen sich zwei von ihnen in dem Mecklenburg-Vorpommerischen Anklam wieder. Der  Ich-Erzähler, Uwe Timms Alter Ego,  hat hier als Lehrer gearbeitet und führt seit seiner Pensionierung ein kleines Antiquariat (Spezialität: 68er-Literatur und Schmidtiana). Der andere, Euler, kommt als Investor und will in Anklam eine Mülldeponie ausgerechnet vor dem Haus seines ehemaligen Studienfreundes bauen. Seine literarischen Ambitionen hat er längst aufgegeben. Ihre Lebensläufe könnten nicht unterschiedlicher sein und prallen hier noch einmal aufeinander. Doch schnell werden die beiden Männer von ihrer Vergangenheit eingeholt. Sie erinnern sich an das was war, und an das, was vielleicht hätte werden können. Vor allem an eine merkwürdige Fahrt in die Heide zum Haus von Arno Schmidt. Dort lebte der scheue Schriftsteller seit Jahren zusammen mit seiner Frau Alice. Hinter einem weitläufigen Gartenzaun und zwischen dicht stehenden Bäumen steht sein Dichterhaus, in dem er ein zurückgezogenes Eremitenleben führt und nur selten einen Besucher empfängt.

Der Mathematikstudent Euler mit literarischen Ambitionen nähert sich zweimal im alten VW-Käfer ehrfürchtig seinem Messias. Beim ersten Besuch in Bargfeld wird er von Alice am Gartentor barsch abgewiesen: “Er empfängt nicht”. Beim zweiten Anlauf lockt Euler in Begleitung des Ich-Erzählers das scheue Gehirntier mit einem Trick aus seinem Häuschen. Als Anerkennung für ihren originellen Annäherungsversuch wird Euler sogar zu einem Glas Apfelsaft  ins Wohnzimmer gebeten, womit Arno Schmidt einmal mehr seinen Sinn für Humor beweist. Aber der erhoffte Segen für Eulers literarische Versuche bleibt aus: Schmidt verwirft die ihm vorgelegten Texte kühl als “wackeres Schmidt-Imitat”.

Freitisch. Novelle. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 136 Seiten, 16,95 Euro.