Schweiz

Lukas Bärfuss: Koala (2014).

“Nur für diesen Zweck wurde der Mensch erschaffen:
Zu lehren, wer eine einzige Seele zerstört,
Zerstört die ganze Welt.
Und wer eine einzige Seele rettet,
Rettet die ganze Welt…
Deshalb kann der Mensch sagen:
Die Welt wurde um meinetwillen erschaffen.”

Aus dem Talmud.

Die Weltgesundheitsorganisation hat 2003 den 10. September zum jährlichen Suizidpräventionstag ernannt. Aus gutem Grund: Jedes Jahr nehmen sich mehr als eine Million Menschen nach offiziellen Angaben weltweit das Leben, in Deutschland sterben 10.000 Menschen jedes Jahr durch Suizid - mehr als durch Verkehrsunfälle. Der Präventionstag soll dazu beitragen, Suizide zu verhindern, Menschen in Krisen zu helfen. Aber auch, so ebenfalls ein Anliegen der Aktionen, die an diesem Tag stattfinden, den Angehörigen Beistand leisten - denn ein Suizid hinterlässt Fragen, ist mit Schuld, Scham und Selbstvorwürfen behaftet. Auch wer zurückbleibt, braucht Hilfe und Unterstützung.

Dennoch ist die Selbsttötung immer noch in gewisser Weise auch ein gesellschaftliches Tabuthema. „Suizid ist eine Todesart, die häufig vorkommt, aber die auch häufig verschwiegen wird“, sagt die Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der Selbsthilfeorganisationsgruppe für Angehörige nach Suizid (AGUS), Elisabeth Brockmann. Auch mit den Angehörigen darüber zu sprechen, kann helfen, meint die Fachfrau.

Bild: Frederic Meyer. Quelle: http://www.lukasbaerfuss.ch/

Sprechen, nicht schweigen. Auch schreiben, nicht schweigen, kann ein Versuch sein, mit diesem schwer erträglichen Lebenseinbruch umzugehen. Lukas Bärfuss hat diesen Versuch mit seiner romanhaften Erzählung „Koala“ nach dem Suizid seines Bruders unternommen. Wie im Leseheft zur Longlist zum Deutschen Buchpreis 2014 zu lesen ist, hat das Nachdenken jedoch kaum dabei geholfen, mit der Erschütterung zurande zu kommen, im Gegenteil, sagt Bärfuss:

„Die literarische Auseinandersetzung mit einem Thema vertieft die Wunden und vergrößert die Fragen.“

In einem Interview mit der „Welt“ sagt Bärfuss dagegen:

„Ich muss mit dieser Tat umgehen und entwickelte mit der Zeit eine Faszination für die eigene Sprachlosigkeit. Ich habe keinen Austausch gefunden, mit niemanden, obwohl es einige Menschen in meiner Bekanntschaft gibt, die auf diese Weise jemanden verloren haben.“

Also dennoch: Schreiben über das Unerklärliche ist besser doch als Schweigen, als Verdrängen, als Wegschieben - denn die Fragen, die auch Bärfuss in seinem schmalen Buch benennt, holen immer wieder ein. Dazu nochmals Elisabeth Brockmann:

„Suizid ist eine Todesart, die sehr viel mit dem eigenen Leben zu tun hat. Man fragt sich: Hab` ich versagt? Hab` ich etwas übersehen? Warum lässt du mich allein?“

Lukas Bärfuss, 1971 in der Schweiz geboren, wird vor allem als Dramatiker und Theaterautor gefeiert, aber auch sein 2008 erschienener Debütroman „Hundert Tage“ wurde zu einem großen Erfolg. Umso schwerer taten sich nun etliche Kritiker mit diesem sehr persönlichen Buch, zu unfassbar die Form der Erzählung, so wenig in Schubladen einzuordnen, schwankend zwischen einer Autobiographie, Historischem und Naturgeschichte. Von Euphorie bis zum Verriss (ein für mich enttäuschend unverständiger, oberflächlicher Artikel in der Zeit) reichen die Stimmen der Feuilletonisten. Wenig verwunderlich also, dass „Koala“ es nicht in die Shortlist zum Buchpreis geschafft hat.

Aber was soll`s: Das Lesen und Leben lässt sich nicht in Listen messen. Das Leben lässt sich nicht mal überlisten. Denn: Ob auch der „Freitod“ (ein schreckliches Wort, sind doch jene Menschen, die ihn begehen, zuvor alles andere als frei und ist es fraglich, ob „danach“ die Freiheit kommt) ein Ausweg ist, eine Befreiung, auch dies zählt zu den großen Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Und um die dieser im Grunde hochphilosophische Roman kreist. „Koala“ ist ein Buch, das in mir lange nachwirken wird - und deshalb von mir meinen ganz persönlichen Buchpreis erhält.

Und nun zum Versuch einer strukturierten Wiedergabe und Auseinandersetzung:
“Koala”, 2014, Wallstein Verlag - hier die Verlagsangaben zum Buch:
http://www.wallstein-verlag.de/9783835306530-lukas-baerfuss-koala.html

Bärfuss trifft bei einem Vortrag in seiner Heimatstadt über einen der berühmtesten Selbstmörder der Literatur - Heinrich von Kleist - ein letztes Mal seinen Halbbruder. Sie sind sich fremd, haben sich wenig zu sagen. Wochen später erreicht ihn die Nachricht über den Suizid des Bruders, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beginnt, es setzen die Selbstvorwürfe über die Entfremdung ein, die ganzen Emotionen kommen hoch, die Angehörige durchleben. Schonungslos, auch sich selbst gegenüber, dabei die Sprache des Schriftstellers:

„Und wenn auch die Gründe privat sein mochten, der tote Körper war öffentlich, eine Verwaltungssache, eine gesellschaftliche Affäre. Eine Leiche musste aus dem Haus in die Gerichtsmedizin getragen werden. Es würde eine Akte anzulesen sein, doch selbst wenn die Leiche verbrannt oder vergraben war, blieb der Tote eine unerledigte Sache. Man wurde mit einem Selbstmörder nicht fertig, niemals. Daran entzündete sich mein Zorn, ich war wütend, dass ich mich nicht mit den Kindern an den Gämsen erfreuen konnte, die hoch oben von Fels zu Fels sprangen, sondern stets von neuem in den Mahlgang der Gedanken gezwungen wurde.“

Der Mahlgang der Gedanken kreist um das Motiv: Der Bruder einer, der sich dem System verweigerte, ein Ex-Junkie, der sich mit einem brotlosen Job über Wasser hielt, der wenige Freunde hatte, wenig Interessen außer einigen Comicheften, der nichts hinterlässt. Ein Außenseiter, ein Einzelgänger, als „Original“ abgestempelt, ein scheinbar leeres Leben, das mit einer Überdosis Heroin beendet wird. Nichts wird erklärt.

„Ich hätte mir einen Abschiedsbrief gewünscht, einige Zeilen, die ein für alle Mal die Gründe dargelegt hätten, weshalb er freiwillig aus dem Leben geschieden war. Dieses Schreiben, so stellte ich mir vor, hätte mich von meinen Fragen erlöst (…).“

Bärfuss ist zu klug, um platt zu psychologisieren. Die schwierige Kindheit der Halbbrüder, die unbeständige Mutter, deren wechselnden Männer, das Gefühl der Ablehnung und Ausgrenzung, die die beiden von der Mutter erfahren, Schicksalsschläge, ein Unfall, charakterliche Disposition - all dies Mosaiksteine, die dennoch nicht erklären können, warum der eine leben will, der andere nicht. Letztendlich bleibt die Tat unerklärlich, müssen Erklärungsversuche im Ungefähren stecken bleiben:

„Ich fand einen Begriff für jenes Gefühl, das mich seit dem Tod des Bruders gefangen hielt, und ich nannte das Gefühl Einsamkeit. Ich fand sie bald in allem, nicht nur im Leben des Bruders, in jedem Leben, die meinem eigenen, in den Leben, die ich teilte und betrachtete. Ich erkannte in der Einsamkeit den Preis und die Strafe, ich sah, wie diese Einsamkeit zunahm unter meinen Freunden. Ich erkannte darin die Krankheit meiner Zeit, die Ursache des Unglücks, das jeder, der ein offenes Herz hatte, empfinden musste. Am Ende war jeder allein, das spürte ich, und ein Ende gab es alle Tage.“

Und als Leser spürt man an solchen Absätzen, in welcher Unsicherheit und Ungewissheit der Autor bei diesen Zeilen schwebt. Das Ringen um Worte, um einen Zustand des Zweifels - am Leben, an der Welt - benennen und überwinden zu können. Sicheren Boden unter den Füssen findet Bärfuss erst wieder in Australien.

Der „Koala“ unternimmt hier eine Volte. „Koala“, das ist der Spitzname, den der verstorbene Bruder als Kind im Pfadfinderlager erhielt. Fast die Hälfte des Buches geht Bärfuss dem Beutelbär auf die Spur. Von den Anfängen dieses urzeitlichen Tiers, dessen Anpassungsleistung, dem Überleben, der fast vollendeten Ausrottung, der Vereinnahmung und Verniedlichung. Zugleich schreibt er hier eine Kurzgeschichte der Anfänge Australiens als Straflager der Briten, die Inbesitznahme des Landes im Namen der Queen. Der Koala, der sich eigentlich verweigert, der sein Heil in der Flucht sucht - nicht von ungefähr wird das Tier zum Bruder-Stellvertreter, lassen sich Parallelen ziehen.

Um dann wieder auf die große, die eine Frage zurückgeworfen zu sein: Welchen Zweck hat das Leben?

„George Perry, der englische Schneckenforscher, schrieb, unter allen seltsamen Tieren, die aus der Neuen Welt bekannt seien, gebühre dem Koala bestimmt ein besonderer Platz, und wenn man seinen ungeschickten und unbeholfenen Körper betrachte, ganz abgesehen von seiner seltsamen Physiognomie und seinem bizarren Lebenswandel, dann fehle einem jede Erklärung, zu welchem Zwecke der große Autor der Natur ein solches Wesen erschaffen haben mochte.“

Die Frage nach dem Zweck: Sie mündet in Reflektionen über Arbeit, die einerseits Struktur und Sinn vergeben zu mag, die andererseits aber als Wertmaßstab in unserer Gesellschaft pervertiert ist. Wir definieren uns über unsere Arbeit, der Wert des Menschen wird an Leistungsvermögen und Karriereverlauf gemessen. Wer nichts arbeitet, ist nichts wert. Ich arbeite, also bin ich? Koala - der Bär und der Bruder - verweigern sich dem. Und scheinen zum Untergang verurteilt.

„Und Faulheit war, so lernte ich, nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden. Sein Friede wurde ihm genommen und seine Garderobe, man zerlegte ihn und versilberte die Überreste. Nur in geringer Zahl, in Zoos und Naturreservaten, zu plüschigen Kuscheltieren entstellt in harmlosen Kinderbüchern, ertrug man die Kreaturen der Faulheit. Das Prinzip ihrer Existenz, die Ehrgeizlosigkeit, sollte sich nicht frei entwickeln dürfen, zu groß war die Gefahr und die Provokation.“

Bärfuss beschreibt in diesen Bildern einen ewigen Kreislauf - die Angst der Menschen vor dem Leben, vor dem Tod. Die Angst vor der Einsamkeit. Die Angst vor der Sinnlosigkeit. Und kommt auf ein lapidares, auch für ihn unbefriedigendes Fazit:

„Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß.“

Ein Teufelskreislauf - Beschäftigung, um der Angst nicht ausgesetzt zu sein, Arbeit als Sinn des Lebens. Wer, wie sein Bruder, diese Hilfskrücke gegen die Angst jedoch verweigert, lebt gefährdet. Auf den letzten Seiten ringt Bärfuss nochmals um Erklärungen:

„Er gab keine Ruhe, er ruhte nicht, er gab keinen Frieden, es gab kein letztes Bild im Fotoalbum, jedes Bild im Album seines Lebens war das letzte, das die ganze Existenz beinhaltete, seine Existenz hatte sich in keine Erzählung gerundet, nichts hatte sich vollendet, kein Sinn sich gezeigt, keine Moral ließ sich schließen aus dem, was er vorgelebt hatte.“

„Koala“ ist ein schmales, dafür aber umso gehaltvolleres und sprachmächtiges Buch.
Ein Buch über die wesentlichen Fragen, die aufbrechen angesichts des Verlusts eines Menschen. Was macht das Leben aus?
Auch Bärfuss findet nicht die eine, die alles erklärende Antwort. Aber er findet für sich eine Lösung, um weiterzumachen. Der letzte Satz der Erzählung lautet:

„Ich stieg in den Wagen, fuhr nach Hause, setzte mich an den Schreibtisch und machte mich an die Arbeit.“

Weiterführende Links:

Mein Dank an Claudia von DasGraueSofa, die mich über ihr Longlist-Leseprojekt auf den „Koala“ gebracht und mir das Buch zur Verfügung gestellt hat. Bei ihr finden sich noch weitere Angaben zu Lukas Bärfuss und Koala: http://dasgrauesofa.wordpress.com/2014/08/22/lll-2014-kurzportrat-2-lukas-barfuss-koala/

Ich empfehle sehr das Interview mit Bärfuss in der Welt: http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article125726580/Ich-fuerchte-mich-immer-noch-vor-diesem-Buch.html

Und hier die Adresse zur Selbsthilfeorganisation AGUS: http://www.agus-selbsthilfe.de/

Zum Gedenktag am 10. September findet sich auch eine WordPress-Seite: http://suizidpraevention.wordpress.com/

Reto Hänny: Blooms Schatten (2014).

Alleswahr (3)„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag: http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html

Albert Cohen: Die Schöne des Herrn (1968).

„Erklären Sie auch die Gründe für die Verführungswut Don Juans. Denn in Wirklichkeit ist er ja keusch und hat nicht viel für diese Bettgefechte übrig, findet sie eintönig und primitiv, lächerlich im Grunde. Aber sie sind unerlässlich, damit die Frauen ihn lieben. So sind sie nun mal. Sie bestehen darauf. Und er braucht ihre Liebe. Erstens als Ablenkung, um den Tod zu vergessen und dass es kein Leben danach gibt, keinen Gott, keine Hoffnung, keinen Sinn, nur das Schweigen eines unbeseelten Alls. Kurzum, aus Liebe zu einer Frau sich das Leben kompliziert machen, um die Angst zu übertönen. Zweitens die Suche nach Trost. Ihre Anbetung tröstet ihn über sein Alleinsein hinweg.“
Albert Cohen, „Die Schöne des Herrn“.

Neben Abbruch-Büchern, Flutsch-Büchern, Empfehlungs-Büchern, Lebens-Büchern gibt es in meinem Leserleben noch die besondere Kategorie der Bücher, die ich mir für bessere Zeiten aufhebe. Bücher, in die ich reingelesen habe, fasziniert war, aber weiß: Dieses Buch geht nebenher nicht einfach so. Dieses Buch braucht Zeit. Seine Zeit. Ein Buch für den Super-SUB sozusagen.
Das ist jener Stapel ungelesener Bücher, der auf die Zeiten der Ruhe, der Kontemplation, des Müßiggangs wartet – auf einen sehr, sehr langen Urlaub (der nicht ansteht), auf ein Sabbatjahr (das unrealistisch ist) oder die Rente (also in 15,16, 17 Jahren, wenn die Herrschaften in Berlin sich da mal festlegen wollen).

Bei mir liegen auf diesem Stapel vor allem die Franzosen. Warum? Je ne sais pas. Aber ich denke: der Proust, die Balzacs, die Stendhals, jetzt sind sie schon so alt, mögen sie noch ein wenig sich gedulden. Erdrückt werden sie derzeit von einem Wucht-Franzosen, der nicht allzu sehr hier bekannt ist: Albert Cohen. Weil aber dessen Buch „Die Schöne des Herrn“ schon beim ersten Reinschnuppern so seltsam faszinierend ist, möchte ich doch ein wenig dafür die Trommeln schlagen – wer weiß, vielleicht findet sich auf diesem Wege ein Financier, eine Mäzenin, die mir einen langen Leseurlaub am Geburtsort Cohens ermöglicht…

Dort, in der Stadt Korfu, stieß ich erstmals auf den Namen dieses Schriftstellers (1895 geboren auf Korfu, 1981 verstorben in Genf), der in Frankreich und der Schweiz zu den Großen zählt. Eine Tafel nahe der Synagoge in der Altstadt Korfus erinnert an den berühmten Sohn der Insel – der allerdings nur seine Kindheit dort verbrachte. Die Familie, französischer Abstammung, zog 1900 nach Marseille, später studierte Cohen in Genf Jura und nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Er war als Rechtsberater für die Jewish Agency und die UNO tätig, ansonsten widmete er sich dem Schreiben. Sein Hauptwerk ist die Romantetralogie „Solal“ – in neuerer Übersetzung ins Deutsche liegt allerdings nur deren dritter Teil, „Die Schöne des Herrn“ vor, 2012 bei Klett-Cotta erschienen.
Einmal neugierig gemacht durch diese simple Tafel, bestellte ich beim Buchhändler meines Vertrauens unbesehen diesen Roman, den derzeit einzig greifbaren Nicht-Antiquarischen – um zunächst vor Schreck einmal zu prokrastrinieren.

Schreckmoment 1: Allein der dritte Teil der Tetralogie umfasst 891 eng- und kleinbedruckte Seiten!
Schreckmoment 2: Der Klappentext. Von Elke Heidenreich. Elke Heidenreich. Na ja.
Sie flötet: „Wenn ich jetzt sagen müsste, welches das schönste Buch ist, was ich in meinem Leben gelesen habe, wäre es dieses.“

Einen echten Bibliomanen schreckt aber letztendlich auch Frau Heidenreich nicht ab. Dagegen jedoch: Der Respekt vor dem Werk. Ich habe ein Viertel des Buches gelesen und beschlossen – ich will die ganze Tetralogie. Und ich will die Zeit dazu. Und weil beides noch in weiter Ferne steht, liegt das Buch nun erst einmal auf dem Super-SUB.
Wer schon vorher dem Charme Albert Cohens und seiner Hauptfigur Solal erliegen will, dem sei diese euphorische Besprechung von Andreas Isenschmid in der ZEIT nahegelegt:
http://www.zeit.de/2013/20/albert-cohen-die-schoene-des-herrn
Auf der Verlagsseite findet sich eine Leseprobe: http://www.klett-cotta.de/buch/gegenwartsliteratur/die_schoene_des_herrn/21745

Und wer sich – wie ich – auf bessere (Lese-) Zeiten vertrösten muss, den nehme ich zum Trost mit auf einen Bilder-Spaziergang rund um die Geburtsinsel Cohens. Wie gesagt, Mäzene für Bildungsurlaub gesucht.

 

 

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Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (2010).

„Dragana dreht sich von mir weg, packt den Sparschäler, rüstet Kartoffeln und Karotten, die einfachsten Tätigkeiten, die nicht mehr für sich stehen, nur davon zeugen, dass wir hier nichts tun, denke ich, sagt sie, und ich sehe es plötzlich klar vor mir, die beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen, wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen Jugoslawien, wie man sagt, das sind meine Feinde, und Dragana zeigt auf die Kartoffelschalen, fährt sich mit dem Handrücken über die Augen, ja, wir leben hier, die Schweizer, im Zuschauerraum, denke ich, das ist zumindest eine Wahrheit.“

Melinda Nadj Abonji, „Tauben fliegen auf“, 2010, Jung und Jung Verlag.

Die Küche eines kleinen Schweizer Cafés als Mikrokosmos, als Abbild des jugoslawischen Völkergemisches, in dem die verschiedenen Nationalitäten aufeinanderprallen – Serben, Kroaten, Bosnier. Melinda Nadja Abonji erhielt für ihren Roman 2010 den Deutschen Buchpreis. Zu Recht. Nadj Abonji, selbst aus der Vojvodina stammend, dieser serbischen Region mit hohem ungarischen Anteil, beschreibt hier ihre Familiengeschichte. „Papierschweizer“, die sich ihr „menschliches Schicksal“ in der Eidgenossenschaft erst noch erarbeiten müssen. Die Eltern sind aus wirtschaftlicher Not in die Schweiz gekommen, lange, bevor der Bürgerkrieg die Nation Jugoslawien ein für alle mal verändert.

Zwischen zwei Welten

Dieser Krieg holt die Familie in der neuen Heimat ein und trennt sie zugleich von der alten, kappt die Wurzeln: Im Ungewissen bleibt, was mit den Familienangehörigen dort geschieht. In der neuen Welt, bei den „Käsigen“, noch nicht richtig angekommen, vielleicht auch immer „Mischwesen“ bleibend, ist der Zugang zur Herkunft gekappt.
Aber auch dort, in dieser Kultur, waren sie bereits „die Schweizer“. „Mein Land liegt im Sterbebett“, sagt einer der Flüchtlinge. Und die neue Heimat ist keine Geburtswiege, keine Gemeinschaft, die Fremde ohne weiteres aufnimmt.

Bild: Börsenblatt/ Alexander Mertsch

Abonji erzählt dies nicht anklagend, nicht lamentierend. Im vordergründigen Sinne ist das Buch zudem eher ein Entwicklungsroman: Wie sich eine junge Frau auch aus dem Korsett der Familie löst, wie sie, hineingeworfen in die neue Welt, anfängt, eigene Wege zu gehen. Das gibt am Ende auch Hoffnung, dass Ankommen – zumindest in der zweiten Generation – doch möglich ist.

Die 1968 in Serbien geborene Schriftstellerin, die heute in der Schweiz lebt, gewann mit “Tauben fliegen auf” 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis.

#LawAndLit: Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf

Das Projekt: #LawAndLit, ein Literaturprojekt von 54books und texteundbilder. Recht und Literatur, Werke, in denen es um Recht und Gerechtigkeit geht – erlesen an einigen Werken der Weltliteratur, von lesenden Juristen und Nichtjuristen. Mehr zum Projekt, der Leseliste und den bereits erschienenen Besprechungen gibt es hier: http://www.buchguerilla.de/lawandlit/

Meine Wahl: „Die schwarze Spinne“ von Jeremias Gotthelf (1797-1854). Mit Fokus auf: Den rechtlichen Ausnahmezustand. Als Nichtjuristin meinte ich, diesen Rechtsbegriff evt. fassen zu können. Als Leserin schien es mir, eine Novelle wäre schnell umrissen. So kann man sich selber ein Bein stellen.

Die Novelle und ihr Autor: Jeremias Gotthelf (1797-1854) ist ein Pseudonym. Tatsächlich als Albert Bitzius geboren, studierte der Sohn eines reformierten Pfarrers ebenfalls Theologie und wurde Seelsorger. Sein erstes Buch veröffentlichte er erst als 40jähriger. In Romanen wie „Uli, der Knecht“ und „Uli, der Pächter“ beschreibt er eindringlich die Situation der Schweizer Bauern, deren Notlage und Knechtung. Sein literarischer Rang wurde von Gottfried Keller, Walter Muschg und Thomas Mann hervorgehoben. Seine (politischen) Folgerungen aus dem Elend der Landbevölkerung stehen jedoch auf einem anderen Blatt: Gotthelf sah seine Bücher als Teil einer Seelsorge, die christlich-karitativ-konservativ war. Sein Ideal war der fleißige, redliche und gottesfürchtige Landmann, dem in aller christlicher Demut geholfen werden musste. Auch fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen sind in Teilen des Werkes dieses dichtenden Priesters spürbar. Sehr deutlich wird diese Grundhaltung an der Rahmennovelle „Die schwarze Spinne“, die 1843 erschien.

Bild1Die Handlung: Zunächst wähnt man sich in der idyllischen, behaglichen Schweiz. Eine Kindstaufe wird gefeiert, die Sonne lacht, alles ist festlich vorbereitet. Nach dem Kirchgang trifft sich die Taufgesellschaft zum Schmaus im schmucken Heim, die Tische biegen sich unter den leckeren Köstlichkeiten, man speist, man trinkt, man lässt es sich gut sein.

In diese wonnige Rahmenhandlung bettet Jeremias Gotthelf eine gruselige Legende ein, die beim Lesen durchaus auch zu packen vermag – die Schauergeschichte  von der schwarzen Spinne. Nachdem der alte Hofherr die Geschichte erzählt hat, will der Taufgesellschaft das Essen nicht mehr munden – so schauerlich ist die Mär:

 „Hell glänzten auf dem Tische, frisch gefüllt, die schönen Weinflaschen, zwei glänzende Schinken prangten, gewaltige Kalbs- und Schafbraten dampften, frische Züpfen lagen dazwischen, Teller mit Tateren, Teller mit dreierlei Küchlene waren dazwischen gezwängt, und auch die Kännchen mit den süßen Tee fehlten nicht. So war ein schönes Schauen, und doch achteten sich alle desselben wenig; aber alle sahen sich um mit ängstlichen Augen, ob nicht die Spinne aus irgendeiner Ecke glitzere oder gar vom prangenden Schinken herab sie anglotze mit giftigen Augen.“

Sechs Jahrhunderte zuvor wurden die Bauern dieses Tals von den Kreuzrittern eines Ordens, der sich dort niedergelassen hatte, zu harten Frondiensten gezwungen. Die Ritter „gingen mit andern Menschen um, als ob kein Gott im Himmel wäre“. Den Bauern selbst fehlt der „Mut zu rechtem Zorn, denn Not und Plage hatte den Mut ihnen ausgelöscht, so daß sie keine Kraft mehr zum Zorne hatten, sondern nur noch zum Jammer.“

In einer besonderen Notlage bietet der Teufel seine Hilfe an – nur dieser „vermaß sich zu schwerer Rache gegen solche Tyrannei“. Was er dafür will: Ein ungetauftes Kind.

Besser verhungern, als mit dem Gehörnten solch ein Geschäft eingehen, meinen die Bauern zunächst – doch als gar nichts mehr geht, nimmt die Sache eine tatkräftige Frau in die Hand. Eine angeheiratete „Lindauerin“, die Verkörperung der Fremden also:

„Ein einzig Weib schrie nicht den andern gleich. Das war ein grausam handlich Weib, eine Lindauerin soll es gewesen sein, und hier auf dem Hofe hat es gewohnt. Es hatte wilde, schwarze Augen und fürchtete sich nicht viel vor Gott und Menschen.“

Sie, die Außenseiterin, ist die Einzige, die sowohl gegen die Grausamkeit der Ritter aufbegehrt als auch meint, den Teufel betrügen zu können – indem man mit ihm zum Schein den Handel eingeht, ihm den Lohn dafür, das ungetaufte Kind, jedoch vorenthält.

Es kommt, wie es kommen muss: Der Teufel lässt mit sich keinen Schabernack treiben. Als ihm ein Neugeborenes verwehrt bleibt, besetzt er die „Lindauerin“ – aus ihrer Wange schlüpft eine scheußliche Spinne, die schließlich umstandslos einen Großteil der Dorfbevölkerung meuchelt. Erst einer jungen Frau gelingt es, die Spinne im Loch eines Holzbalkens einzusperren, das Dorf bekommt Ruhe, erfährt wieder bessere Zeiten.

Die Moral von der Geschichte: Wer, auch in der größten Not, mit dem Teufel paktiert, bekommt eins auf die Mütze. Gotthelf ist es jedoch nicht genug, dies in der Novelle einmal zu betonen – er bettet eine zweite Erzählung ein, der Verlauf ein ähnlicher: Rund 200 Jahre später herrschen auf dem Hof Hoffart, Verschwendung, Faulenzerei, verursacht wieder durch Frauen und fremde Elemente. Die Spinne entkommt, das Grauen beginnt erneut, bis erneut einer den Mut und das Glück hat, das Monster in den Balken zu bannen.

Und dort verharrt das Böse auch zu Zeiten der Rahmenerzählung, die mit diesen Worten endet:
„Bald war es still ums Haus, bald auch still in demselben. Friedlich lag es da, rein und schön glänzte es in des Mondes Schein das Tal entlang; sorglich und freundlich bar es brave Leute in süßem Schlummer, wie die schlummern, welche Gottesfurch und gute Gewissen im Busen tragen, welche nie die schwarze Spinne, sondern nur die freundliche Sonne aus dem Schlummer wecken wird. Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tage noch Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert, das weiß der, der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen.“

Fazit: Zwei Grundfragen stellten sich mir in dieser Novelle.

Erstens: Gibt es in einer Ausnahmesituation, in der die geknechteten Bauern zu Beginn der Binnenerzählung sich befinden, ein Recht auf Widerstand?

Zweitens: Ist dann jedes Mittel, auch ein betrügerisches Bündnis mit gefährlichen Partnern, recht und rechtens?

Bild3Gotthelf selbst beantwortet die erste Frage nur indirekt, aber negativ:Der Spinne fallen auch die Ritter zum Opfer, da „Gott mit gleicher Kraft über jedem sei, der von ihm abfalle, sei er Bauer oder Ritter.“ Allein Gott also ist es zugebilligt, zu richten – in der christlichen Auffassung Gotthelfs, davon muss man ausgehen, hätten die Bauern ihr Leid klaglos zu ertragen gehabt. Ein Recht auf Widerstand gibt es in diesem Sinne nicht, Gutes erfährt, wer sein Leben führt „in Gottesfurcht und Rechttun“.

Ganz eindeutig beantwortet die Erzählung die Frage nach den Mitteln: Falsch, falsch, falsch. Wer Böses mit Bösem zu bekämpfen versucht, auf den lässt Gotthelf nicht nur die Spinne los, sondern auch Blitz und Donner kommen. In der fürchterlichsten Szene sausen, brausen und tosen die Naturgewalten, „als sollten diese Töne zusammenschmelzen zur letzten Posaune, die der Welten Untergang verkündet.“ Denn: „Wer mit dem Bösen sich einlasse, komme vom Bösen nimmer los und wer ihm den Finger gebe, den behalte er mit Leib und Seele. Aus diesem Elend könne niemand helfen als Gott; wer ihn aber verlasse in der Not, der versinke in der Not.“

Weniger die Frage nach den Rechten zur Gegenwehr und Widerstand, denn die Schuldfrage wird also thematisiert: Dem Dorf wird nicht das Recht zugestanden, gegen das Übel der Unterdrückung vorzugehen. Schon durch das Aufbegehren macht man sich schuldig. Zudem führt eine unrechte Handlung zur nächsten, am Ende sind alle in Schuld verstrickt. Das Kollektiv, zunächst noch hinter der „Lindauerin“ stehend, bricht rasch auseinander, als die ersten Übel geschehen. Die Fremde ist der geeignete Sündenbock, ein Muster, das sich auch in der zweiten Erzählung gewissermaßen wiederholt. Letztendlich liegt die Lösungskompetenz in Gotthelfs Augen allein bei einem – seinem christlichem Gott, dem obersten Richter.

Dass die Novelle in ihrer Zeit zu sehen ist, dass zudem Herkunft und Haltung ihres Verfassers zu berücksichtigen sind – das ist keine Frage. Würde sie man daher nur aus literarischer Sicht betrachten, wäre sie tatsächlich recht bemerkenswert, allein wegen der Sprachgewalt, mit der das Schrecklich-Schaurige über den Leser hereinbricht.

Was ihre inhaltliche Substanz anbelangt: Trotz anfänglicher Lese- und Schreibhemmung bin ich nun denn doch froh, am #LawAndLit – Projekt teilgenommen zu haben.

Die Frage nach dem Recht im Ausnahmezustand habe ich in der Auseinandersetzung mit der engen Auffassung Gotthelfs in die Frage nach dem Recht auf Widerstand umgewandelt. Dieser konservative Kodex, der den Bauern letztendlich keine Gegenwehr gegen die Ausbeutung durch willfährige Gutsherren zugesteht, fügt sich schlecht in die Auffassung von der Gleichheit der Menschen. Das Dorf befindet sich in einem Notstand – wenn Menschen- und Grundrechte jedoch ständig missachtet werden, dann ist auch ein Recht auf Widerstand gegeben.

Mit dem Bewusstsein, was heute in der Ukraine geschieht, was sich seit 2011 in Syrien abspielt, was in Ägypten geschah oder – fast schon wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden – 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, aber auch zurückdenkend an die Ereignisse, die zum Fall der Mauer führten: Das Recht auf Widerstand gegen unerträgliche Verhältnisse kann und darf, wie der Schweizer es schreibt, nicht nur „gottgegeben“ sein.

Die zweite Frage jedoch, die die Novelle aufwirft, ist meines Erachtens noch schwieriger zu beurteilen: Wenn Widerstand vonnöten ist, welche Mittel sind erlaubt?

Zur Beitragsübersicht im Rahmen von #LawAndLit: http://www.buchguerilla.de/uebersicht/

 

TRIO 4: Wenn Schriftsteller ihren Liebsten schreiben…

… kommen manchmal (aber auch nur manchmal) ganz bezaubernde Dinge dabei heraus.

Ganz begeistert bin ich von einem Brief, den James Joyce 1936 aus Dänemark an seinen Enkel Stephen James schickte. Der liebevolle Opa teilt dem Vierjährigen auf eine recht skurrile, lyrisch-versponnene Art und Weise mit, warum er ihm keine Kopenhagener Katze schicken kann. In seiner Heimat Irland waren mit Süßigkeiten gefüllte Katzen ein beliebtes Geschenk.
Statt über Süßigkeiten schreibt Joyce über Polizisten, die im Bett liegen und Buttermilch trinken, über rote Jungs auf roten Rädern, die den Job der Polizisten erledigen - und kommt ganz am Schluss auf eine geniale Idee. Aber die wird hier nicht verraten…

Schließlich mussten auch die Joyce-Anhänger viel Geduld haben, bis „Die Katzen von Kopenhagen“ erscheinen durften: Es dauerte bis 2012, bis die rechtlichen Voraussetzungen für die „Welturausgabe“ geklärt waren. Oftmals wird ja jedes Fitzelchen, das ein berühmter Autor hinterlässt, später als Sensation vermarktet. Oft ist das auch viel Lärm um nichts. Bei den dänischen Katzen war ich ein wenig skeptisch – aber sie zeigt den augenzwinkernden, humorvollen Joyce, der auch im „Ulysees“ aufblitzt, und dem zudem Harry Rowohlt mit seiner Übersetzung den passenden Ton gibt. „Die Katzen von Kopenhagen“ erschien im Juli beim Hanser Verlag, die Illustrationen von Wolf Erlbruch (2003 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet) sind an sich schon eine Schau – so richtig schöne, dicke Buttermilch-Katzen. So ein O-papa!

James Joyce: „Die Katzen von Kopenhagen“, Hanser Verlag, fester Einband, 32 Seiten, empfohlen ab 5 Jahren. Durchgehend farbig illustriert, ISBN 978-3-446-24159-6

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„Also, wenn es einen Gott gibt, muss er einen unendlichen Humor haben. Der muss wahnsinnig Freude haben, Welten in die Luft zu jagen, der ist wie ein Kind, das mit Zinnsoldaten spielt. Und da dem Moral oder sonst was anzudichten, nein, ich glaube, der hat einfach Freude am ganzen Spektakel. Und das hat unbewusst der kreative Mensch auch. Ich habe nie etwas geschrieben mit Hass. Ich habe einfach Freude an dem, was man kreiert.“

So äußerte sich Friedrich Dürrenmatt in einem Film seiner Frau Charlotte Kerr, „Portrait eines Planeten“ (1984). Ein Jahr zuvor sind die Beiden mit Maximilian Schell bei einer Aufführung im Münchner Circus Krone und sehen eine Dressur mit Tiger und Nashorn. Schell schreibt später: „Das seid ihr“. Und Dürrenmatt beginnt, wie es einem kreativen Gott gebührt, einen eigenen Kosmos zu schaffen. „Das Nashorn schreibt der Tigerin“ erschien 2002, zwölf Jahre nach seinem Tod. Charlotte Kerr hatte dafür die verspielten Zeichnungen und Bildgeschichten zusammengestellt und kommentiert, die Dürrenmatt ihr während ihrer Verbindung und Ehe zeichnete. Er selbst ist das Rhinozeros, Charlotte Kerr die Tigerin, dazu wird die Dürrenmattsche Welt ergänzt durch imaginäre Kinder und allerlei Viehzeugs…So lernt man den Schriftsteller nicht nur von seiner privaten, sondern auch von einer „tierisch“ amüsanten Seite kennen: Beim Reisen, beim Papstbesuch, beim Dichten, beim erfreuten Fernsehgucken, als die Mauer fällt. Ein Picasso oder Matisse ist der Schweizer zwar nicht – aber was zählen schon die zeichnerischen Fertigkeiten, wenn einer sich solche kommunikative Mühe gibt? Welche Partnerin wäre über solche Liebesbeweise nicht erfreut?

Friedrich Dürrenmatt: Das Nashorn schreibt der Tigerin. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 206 Seiten, ISBN-10: 3351029616, nur noch antiquarisch zu erhalten.

Und auch F. Scott Fitzgerald schreibt an jemanden, der ihm lieb und teuer ist. Zugleich aber auch verhasst: An sich selbst. Ab 1937 arbeitet der Schriftsteller in Hollywood. Er ist depressiv, trinkt unmäßig, kann nicht mehr schreiben. Sein letzter Roman, „The last tycoon“ bleibt unvollendet – F. Scott Fitzgerald stirbt, verarmt und verlassen, am 21. Dezember 1940. Eine Postkarte aus Hollywood an sich selbst – welch ein trauriges Symbol der Einsamkeit.

Aus einem Brief aus besseren Tagen stammt dieses Zitat:

„Ich habe gehört, Du wurdest gesehen, wie Du in alten, verdreckten Unterhosen durch Portugal gerast bist und zermahlenes Glas gekaut hast und auf der Suche nach Material warst für eine Story über Boulespieler. Und dass Du der Mann für die Öffentlichkeitsarbeit von Lindberg geworden bist. Und dass Du gerade einen Roman beendet hast, der aus hunderttausend Wörtern besteht - genauer gesagt ausschließlich aus dem Wort Klöten, das Du immer wieder neuen Gruppierungen zuordnest. Dass Du spanischer Staatsbürger bist und jetzt immer in einem Ganzkörperweinschlauch steckst, mit einer Reißverschlussöffnung zum Pissen daran. Dass Du in den Schwarzhandel mit der Spanischen Fliege zwischen San Sebastian und Biarritz involviert bist, wo Deine Mittelsmänner das Zeug auf den teuren Böden der Casinos verstreuen.“

Sein Briefwechsel mit Ernest Hemingway erschien 2013 unter dem Titel „Wir sind verdammt lausige Akrobaten“  – zur Buchbesprechung geht es hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/10/19/ernest-hemingway-und-f-scott-fitzgerald-eine-brieffreundschaft/

Peter Bichsel will nicht nach Paris

Nein, niemals gehe er nach Paris, sagt Peter Bichsel als junger Bub. Vielleicht im Zorn, vielleicht im Schrecken. Später wird Paris zu einem Ort der sehnsuchtsvollen Vorstellungen, zu einem Ort der literarischen Erkundung. Der Sehnsuchtort. Der jedoch nie besucht wird. Was verständlich ist: Jede Überhöhung endet in einer Enttäuschung. Peter Bichsel ist zu klug, um das nicht zu wissen. Man muss sich nicht die eigenen Träume mit Gewalt zertrümmern.

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Zwischendurch legt Bichsel einen Erzählband vor. Name: „Zur Stadt Paris“. Aber immer noch hat er die Seine-Metropole nur erlesen, nie erkundet.

Der junge Filmemacher Eric Bergkraut überredet schließlich den 74jährigen, die Reise anzutreten. Peter Bichsel erklärt sich zur Überraschung aller bereit. Unter zwei Bedingungen: Kein Programm. Und ein Zimmer direkt am Bahnhof. 2009 kommt Bichsel am Gare de l`Est an, sah und blieb – im Bahnhofsviertel. Dort findet im Wesentlichen die Paris-Reise des Peter Bichsel statt.

Seine Paris-Erkundung ähnelt seinen Geschichten: Auf das Wesentliche konzentrieren. Im kleinen Format bleiben. Schauen, hinsehen, nicht beobachten. Den Menschen der Materie vorziehen. Angekommen fühlt er sich, als die junge Frau ihn an der Pforte mit „Bonjour, Monsieur Pierre“ begrüßt. Das ist ihm wertvoll: „Ich werde wahrgenommen“. Da braucht es keinen Eiffelturm.

Dies macht den Schriftsteller auch als Menschen so liebenswert. Dieses nur oberflächlich betrachtet Schrullige. Aber durch sein genaues Hinsehen können erst die Geschichten wachsen. Es bestätigt einmal mehr: Die größten Abenteuer finden im Kopf statt.

Nur zu einer touristischen Tour ringt sich Peter Bichsel schließlich durch. Er will das Karussell sehen – jenes Karussell, das Rilke im Jardin du Luxembourg zu seinen Versen antrieb. Jenes Karussell, das – wie ich vermute – von den großen Augen  Audrey Hepburns in der charmanten Thrillerkomödie „Charade“ betrachtet wurde.

Das Karussell ist noch da. Und es ist so, wie Peter Bichsel es sich vorstellte. Mehr braucht er nicht, um in Paris zu sein. Wie schön!

Der Film „Zimmer 202“ erzählt die Geschichte dieser Paris-Reise. Er erzählt aber auch viel von Peter Bichsel selbst – mit autobiographischen Bildern aus seiner Vergangenheit als Lehrer, als Schriftsteller, als Familienmann. Und der Film bringt uns Autor und Mensch gleichsam näher: Es geht nicht um das Dort-Sein. Man nimmt sich immer mit. Es geht darum, wer man ist. Sozialist oder Marxist, Linker und Schweizer, Ehemanntreu oder Ehemannzwang, Pädagoge oder Lehrer.

„Zimmer 202“ kam 2010 heraus und ist auf DVD erhältlich.