Alexander Kluy: Joachim Ringelnatz. Die Biographie (2015).

20150219_120610_resizedIch komme und gehe wieder,
Ich, der Matrose Ringelnatz.
Die Wellen des Meeres auf und nieder
Tragen mich und meine Lieder
Von Hafenplatz zu Hafenplatz.

Ihr kennt meine lange Nase,
Mein vom Sturm zerknittertes Gesicht.

Daß ich so gerne spaße
Nach der harten Arbeit draußen,
Versteht ihr daß?

   Oder nicht?

Aus den im Nachlass veröffentlichten Kasperle-Versen.

Es scheint derzeit eine regelrechte Ringelnatz-Renaissance zu geben. Denn wenige Tage nach der bereits hier vorgestellten Biografie, die im Galiani Verlag erschien, legte auch der Osburg Verlag ein Ringelnatz-Buch vor. Jahrelang musste man die Informationen über den reisenden Artisten, Verseschmied und Kunstmaler aus verschiedensten Quellen zusammenkratzen - und nun kommt er im Doppelpack. Da tanzt das Seepferdchen.

Während Hilmar Klute sich in seinem „War einmal ein Bumerang“ jedoch mit fluffig-leichter Feder durch das abenteuerliche Leben des Joachim Ringelnatz schreibt, kommt das von Alexander Kluy verfasste Buch mit dem Titel „Joachim Ringelnatz. Die Biografie“ weitaus gewichtiger daher. Schon vom Volumen: Kluy bringt es auf mehr als die doppelte Seitenzahl. Das ist gespickt mit einem „Mehr“ an Information zu Zeitgeschehen, Leben, Werk und eingehenderen Schilderungen des „Begleitpersonals“ im Ringelnatz-Theater - angefangen von Muschelkalk nebst den zahlreicheren weiteren weiblichen Bekannten des Poeten über Bühnenfreunde wie Karl Valentin, Verleger und Kollegen wie Peter Scher bis hin zu kleinen Portraits aus der Münchner und Berliner Bohème der 1920er- und 1930er-Jahre.

Man kann die beiden Bücher eigentlich nicht aneinander messen - ist der Klute ein Lesehäppchen für Einsteiger, die Ringelnatz kennenlernen und sich dabei amüsieren und informieren wollen, so könnte das Buch des Journalisten und Publizisten Alexander Kluy durchaus zu einem Standardwerk für jene werden, die sich intensiver und ernsthafter mit dem ver- und entrückten Poeten auseinandersetzen möchten. Den Anspruch postuliert schon der Titel: „Die Biografie“.

Kluy erzählt nicht nur das Leben von der Wiege in Wurzen bis zur Bahre in Berlin nach - dies alles akribisch recherchiert und in das Zeitgeschehen eingebettet. Sondern er integriert ebenso die wichtigsten Gedichte, die Ringelnatz als Menschen erklären, analysiert und erläutert sie. Das erleichtert manchem vielleicht den Einstieg in den zeitweilig eigentümlichen Sprachduktus von Ringelnatz - so wie er sich manches Mal wohl kopfüber in ein Lebens- oder Liebesabenteuer stürzte, so purzeln ihm ab und an auch die Worte durcheinander. Kluy schiebt verständige Erklärungen nach.

20150304_095919_resizedWas ein Manko des Buches ist: Des öfteren verschwurbelt sich auch Kluy in seiner Sprache. So beispielsweise bei den Erläuterungen zur brieflich-erotischen Annäherung zwischen Muschelkalk und Ringelnatz.

Muschelkalk wollte von dem ihrigen wissen:
„Welches ist Deine Stellg.nahme zur Frau überhaupt, welche Meinung hast Du von Ihnen?“ und „2. müßte ich dich fürchten (?)“.

Alexander Kluy führt dazu aus:

„Hans Bötticher benötigt einige Tage für seine lange Antwort, die Jahre später noch immer Schauer der Scham bei ihm auslösen wird, ist doch diese ausführliche Schilderung seines Bildes der Frau eine Mischung aus Misogynie à la Otto Weininger (1880-1903), jenes Wiener Philosophen, der in „Geschlecht und Charakter - eine prinzipielle Untersuchung (1903) hochneurotischen Frauenhass, krassen Antisemitismus und einen die Grenze zum Extremismus überschreitenden Willen zu einer gnadenhaft erlösenden Metaphysik miteinander verquirlt und damit einen Bestseller produziert hat, der nach Erscheinen dreißig Jahre lang zahllose Nachauflagen erlebt, aus spät-wilhelminischen Kulturrollenkonservatismus und militärisch-männerbündlerisch durchfärbtem, erotisch libertärem Chauvinismus.“

 Aha. Es lebe der Schachtelsatz. Die gute Nachricht ist: Ringelnatz bekam seine Muschelkalk trotzdem. Und wer sich durch diese Sätze windet, dem wird es zwar streckenweise so gehen wie der armen Muschel („Mein Gehirnkasten ist gänzlich zerwühlt“), letzten Endes jedoch einen warmherzigen, liebenswerten, „gspinnerten“ Ringelnatz von Grund auf kennenlernen. Oder, um es etwas angestrengter à la Kluy zu formulieren:

“Das letzte Gedicht, geschrieben zur als letztes auftauchenden Handpuppe eines Matrosen, der unübersehbar Joachim Ringelnatz darstellt, ist die Summa seines Lebens und seiner Poesie, die hier, am Ende des Puppen-, des Aquarell- und seines Lebenszyklus, eins wird, in eins fällt und sich mit flirrender Grazie schwebend leicht erhebt - und verabschiedet.“

Summa der Lektüre: „Die Biographie“ lässt keine Fragen offen. Umfassend und informativ. Mehr Leichtigkeit à la Ringelnatz wäre in dieser “feuereifernden” (so der Verlag) Biographie allerdings wünschenswert gewesen.

Und alles andere steht dann sowieso bei http://ringelnatz.org/

Kein Platz an der Sonne: Jonathan Franzen und “Das Kraus-Projekt” (2013).

Karl Kraus leger, vielleicht den Sonnenuntergang erwartend? Bildquelle: http://www.wienbibliothek.at/aktuelles/objekt-des-monats-juni12.html

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! seyn Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

Heinrich Heine

Expansion

`nen Platz an der Sonne erlangen?
Nicht leicht.
Denn wenn er erreicht,
ist sie untergegangen.

Karl Kraus

Die Sonne ist zwar deswegen nicht untergegangen, aber ich habe erstmals ein Jonathan Franzen-Buch halbgelesen weggelegt. “Das Kraus-Projekt”: Mir kam es beim Lesen vor, als mache hier ein zwar eifriger, aber unkonzentrierter Student ständig seine Zwischenrufe…Franzen befasst sich mit zwei Aufsätzen von Karl Kraus, darunter jenem, in dem der Wiener Polemiker Heinrich Heine auseinandernimmt.

In Franzens Buch reihen sich Fußnoten an Fußnoten mit literarischen Erläuterungen, persönlichen Anekdoten (Anekdötchen), Betrachtungen über das Übel des Internets, amerikanische Literatur (Updike vs. Roth) usw. usf. aneinander. Man könnte sagen - Kraus ist die Grundlage und Franzen zwitschert dazu was.

Wie dieses:
“Wer hat schon Zeit, Literatur zu lesen, wenn man bei so vielen Blogs auf dem Laufenden bleiben, so vielen Essenschlachten auf Twitter folgen muss?“

Oder:

“Kraus macht sich hier über den im Wien der Vorkriegszeit herrschenden Stil des impressionistischen Journalismus lustig, der vor Adjektiven strotzt und mit “tiefschürfenden Gedanken” gespickt ist, aber seine Bemerkung “Immer passt alles zu allem” wird auch jedem America-Online-Kunden bekannt vorkommen, der die schreckliche Boulevardisierung (…)”

So hüpft Franzen von Krausens Vorkriegszeit zu AOL, bespickt die Fußnoten mit seinen tiefschürfenden Gedanken, verknüpft sie mit seiner Gegenwartskritik an einer verdigitalisierten Gesellschaft und bläht somit das Ganze zu einem veritablen Buch von  mehr als 300 Seiten auf. Im Grunde ist das Buch ein einziger Hashtag
#franzenüberkrausüberheineundüberdiewelt
und Jonathan Franzen ein Twitterer, der sich nicht mit der Zeichenbegrenzung abfinden kann. Die Erläuterungen zu Kraus und zu dessen Aufsätzen über Heine und Nestroy: Kenntnisreich ja, aber impressionistisch. Neue Kraus-Leser aus der großen Franzen-Fan-Gemeinde werden sich da wohl kaum finden.

Das Buch an sich: Kein Platz an der Sonne. Franzen: Den Zenit überschritten?

Benjamin Alire Sáenz: „Alles beginnt und endet im Kentucky Club“ (2012).

Bildquelle: Ein Interview mit Benjamin Alire Sáenz hier: http://www.npr.org/2013/04/30/177512460/vibrant-club-links-two-countries-in-award-winning-book

Von Claudio Miller

Einst war er, als in den USA die Prohibition und später die Prüderie herrschte, die erste Anlaufstelle nach der Grenze: Der berühmte Kentucky Club in Juárez. Es heißt, Marilyn Monroe habe hier eine Lokalrunde geschmissen, um ihre Scheidung von Arthur Miller zu feiern. Andere sprechen von Elizabeth Taylor gegen Eddie Fisher. Wie auch immer. Verbürgt ist, dass Liz Taylor mit Ehemann und Saufkumpan Richard Burton hier abhängte, Bob Dylan auf der Suche nach Inspiration war und Ronald Reagan nach Abkühlung von der mexikanischen Hitze. Angeblich wurde auch die Margaritha in dieser Lokalität erfunden. Kurzum: Der Kentucky Club war ein Ort, an dem man gerne war. Bis die Drogenkartelle kamen. Und Juárez zu einer der tödlichsten Städte Mexikos wurde. In Sichtweite: das texanische El Paso, Ort der Ruhe und – Bigotterie.

2012 wurde in der „Welt“ über die groteske Verschiedenheit der Nachbarorte, die nur durch eine Grenzbrücke getrennt sind, geschrieben:

„Der Krieg diverser Gangs und Drogenkartelle hat aus Juárez eine der gefährlichsten Städte der Welt gemacht. In El Paso herrscht Ruhe und ein fast gespenstischer Wohlstand. Es ist eine der sichersten Städte der USA.“

Die Grenze: sie ist auch in sieben Erzählungen, die der amerikanische Schriftsteller Benjamin Alire Sáenz unter dem Titel „Everything Begins and Ends at the Kentucky Club“ zusammenstellte, immer präsent. Das Buch erschien 2012 in einem kleinen Verlag in El Paso, blieb zunächst kaum beachtet, bis der Erzählband 2013 den renommierten Pen/Faulkner Book Award erhielt. Seit 2014 liegt er in deutscher Übersetzung vor.

Die Geschichten vom Leben an der amerikanischen-mexikanischen Grenze, das Gefälle von Reichtum und Armut, die Spirale aus Drogenkriminalität, Gewalt und dem Auswanderungswunsch jener, die sich befreien wollen aus den Krakenarmen der Kartelle, diese Geschichten treffen in das amerikanische Herz und in den mexikanischen Geist. Denn die Kehrseite der Medaille ist die Gewalt an Immigranten – so „markieren“ einige US-Boy einen jungen Mexikaner mit dem Messer -, der aggressive Versuch, sich abzuschotten, der Flucht in die Sucht, die Bigotterie auf der einen Seite der Grenze. Alire Sáenz erzählt von Paaren, die damit rechnen müssen, dass der, der auf der „falschen“ Seite lebt, eines Tages spurlos verschwindet.

Er erzählt von Menschen, die sich lieben, obwohl einer für die Kartelle arbeitet – und damit in ständiger Lebensgefahr schwebt.

Er erzählt von Jungen, die ihren Vätern nachtrauern – Dealern, die selbst in die Abhängigkeit verschwinden, Rednecks voller Homophobie, Männern, die eines Tages einfach nicht mehr da sind.

Die Gewalt beschreibt Alire Sáenz dabei nicht explizit. Vielmehr sind dies beinahe zurückgenommene, stille Erzählungen. Einzelschicksale, die den Zustand einer zerrissenen Gesellschaft widerspiegeln. Grenzgänger, verloren zwischen zwei Welten, ohne große Perspektiven, ohne Hoffnung. Wenn, dann tritt die Gewalt als Reflektion über die Gewalt in das Buch:

„Dann lösten sich meine Gedanken von der Unterhaltung und ich fragte mich, wie es wäre, jemanden eine Knarre an den Kopf zu halten, jemanden zu entführen, einen Menschen zu foltern. Wie es wäre, jemanden die Hände abzuhacken? Ich wusste, dass es eine Mailingliste für die Zählung der Toten gab, weil ich diese Mailingliste abonniert hatte. Das Problem war, dass die Toten keine Namen hatten. Manchmal dachte ich mir Namen für sie aus.
Ich hatte eine ganze Liste mit diesen Namen.
Das alles, dachte ich, das alles kam durch Männer wie meinen Vater.“

Es sind leise, beinahe schon melancholische Geschichten, geprägt von einer stillen Trauer. Und über diese sowie über die Einsamkeit tröstet sich mancher im Kentucky Club hinweg – die Bar spielt keine Hauptrolle, ist aber Anlaufpunkt in jeder der einzelnen Geschichten.

Inzwischen, im Jahr 2015, hat sich die Lage in Juárez wieder etwas beruhigt – die Gefahr ist nicht mehr so hoch, zufällig Opfer von Querschlägern inmitten eines Bandenkrieges zu werden.

Die Menschen kommen zurück in den Kentucky Club.

Das Leben ist wieder da – was Alire Sáenz, der auch gegen den Niedergang seiner Region anschrieb, sichtlich freut:

We’re people who feel and breathe and die and suffer and hope for salvation and yearn for love,” he says. “We’re not just a newspaper headline.”

Das Buch wurde von Sabine Hedinger übersetzt und erschien 2014 beim Ripperger & Kremers Verlag unter dem Titel „Alles beginnt und endet im Kentucky Club“. Eine Leseempfehlung für Fans amerikanischer Literatur!

John Steinbeck: Tortilla Flat (1935). Von Lebenskünstlern lernen.

Bildquelle: http://library.willamette.edu/wordpress/blog/2013/02/25/edible-book-festival-2013/

Beitrag: Claudio Miller

Es ist sicher nicht sein literarisch anspruchsvollstes Werk, aber mein heimlicher Favorit von John Steinbeck (1902-1968): Tortilla Flat. Zwar hatte der spätere Literaturnobelpreisträger schon zuvor einige Romane veröffentlicht, aber erst 1935 kam mit den Erzählungen über eine Handvoll Ritter von trauriger Gestalt der Durchbruch. Die Ritter-Assoziation kommt nicht von ungefähr: Steinbecks liebstes Jugendbuch handelte von den Geschichten rund um König Artur und seine Tafelrunde - und so finden sich die heldenhaften Vorbilder als weit weniger heroische Wiedergeburten zur Zeit nach dem 1. Weltkrieg im kalifornischen Monterey wieder. Aus König Artur wird der Veteran Danny, seine Tafelrunde besteht aus seinen Zechbrüdern Pablo, Pilon und Jesus Maria und die Heldentaten drehen sich eher um die Beschaffung von etwas Essbarem, der obligarotischen Gallone Wein (oder zweien oder dreien und gerne mehr davon) sowie um die Suche nach Streicheleinheiten und mehr bei den Damen.

Das Buch besteht aus 17 Kapiteln, kleine Erzählungen, die auch durchaus eigenständig gelesen werden können. 17 Kapitel, 17 Burlesken bis zum tragisch-komischen Finale. Damit spiegelt „Tortilla Flat“ auch die „Le Morte d’Arthur“ von 1485 wieder: Ein historisches Vorbild, das Steinbeck ab Ende der 1950er-Jahre in Neuenglisch übertrug. Veröffentlicht wurde dieses Buch jedoch erst nach seinem Tod: „The Acts of King Arthur and His Noble Knights, From the Winchester Manuscripts of Malory and Others“.

Während König Artur Kettenhemd-starrend und steif sich in den Dienst edler Zwecke stellt, haben die literarischen Nachfahren damit wenig am Hut: Ihre Abenteuer handeln von Wein, Weib und Gesang. Auch wenn Steinbeck im Vorwort noch einen ganz erhabenen Ton anschlägt:

„Nein, wer von Dannys Haus spricht, meint die Einheit, deren Teile Menschen waren, von denen jugendliche Frische und Lebensfreude, Menschenliebe und schließlich eine mystische Trauer ausging. Denn Dannys Haus war König Arthurs Tafelrunde nicht unähnlich, und Dannys Freunde dürfen wohl mit ihren Rittern verglichen werden. Und unsere Geschichte erzählt, wie diese Gruppe ins Leben trat, wie sie erblühte und sich in Schönheit und Weisheit entfaltete. Sie handelt von den Abenteuern der Freunde Dannys, von dem Guten, das sie stifteten, von ihren Gedanken und ihrem Streben.“

Bei aller Schönheit und Weisheit darf nicht übersehen werden, dass Danny und Konsorten alles andere als Adelige und Ritter sind, sondern eigentlich zu den Ausgestoßenen gehören:

„Was ist ein Paisano? Eine Mischung aus spanischem, indianischem, mexikanischem und erlesenem kaukausischem Blut. Seine Vorfahren haben seit ein bis zwei Jahrhunderten in Kalifornien gelebt.“

Aber die Paisanos sind eben nicht in der amerikanischen Gesellschaft angekommen, stehen outside: Während der Ort Monterey vor allem von Fischern italienischer Herkunft besiedelt ist, denen es wirtschaftlich etwas besser geht als den eingesessenen Paisanos, leben diese in ihrer eigenen Siedlung, ihrer eigenen Welt, der „Tortilla Flat“. Tagediebe und Lebenskünstler, die sich mehr recht als schlecht durchschlagen. Das erzählt Steinbeck so unterhaltsam und liebevoll, dass einem die Außenseiter richtig vertraut werden. In der späteren Rezeption erhielt der Schriftsteller für diesen etwas romantisierenden Blick auch sehr viel Kritik. Er habe mit diesem Buch dazu beigetragen, dass Bild des clownesken Mexikaner in der amerikanischen Öffentlichkeit zu prägen, lautete ein Vorwurf. Die Vorwürfe trafen Steinbeck schwer: Er hatte als Gelegenheits- und Wanderarbeiter die Lebensverhältnisse der Paisanos kennengelernt, unter anderem während eines Jobs in einer Zuckerfabrik viel auch von ehemaligen mexikanischen Strafgefangenen erfahren. 1945 griff er die Thematik in “Cannery Row”, eine Art Fortsetzung (deutscher Titel: Die Straße der Ölsardinen) wieder auf.

Eine andere Lesart könnte sich jedoch auch auf die Zeit, in der die Burlesken spielen, beziehen: Danny, die Hauptfigur, ist ein Kriegsveteran, der sich mit 25 Jahren freiwillig zur Armee meldet - „Als Danny dieses Alter erreicht hatte, wurde Krieg gegen Deutschland erklärt.“. Jahre später haben er und seine Freunde in der Heimat den Anschluss verpasst: Auch sie zählen gewissermaßen zu einer „lost generation“. Zurück aus dem Krieg wird Danny jedoch unvermittelt zum Hausbesitzer: Er erbt die beiden Bruchbuden seines Großvaters, vermietet davon eine zu einem symbolischen Wert von 15 Dollar an seinen Kumpel (wohlwissend, dass er dieses Geld nie sehen wird) und gelangt damit zu einer Art von gesellschaftlicher Reputation.

Rund um die beiden Häuser drehen sich die Geschichten, dort spielen sich die kleinen Tragikomödien der „Tafelrunde“ ab, Dialoge voller Witz und ungewollter Weisheit. Diesen Ton trifft John Steinbeck so unnachahmlich gut, ironisch, lakonisch, ein wenig nostalgisch und so locker, dass sich die Burlesken allein dafür zu lesen lohnen. Und für diese Art der Lebensphilosophie darf man das Buch, trotz seiner Schwächen, loben.

Und sollte sich von der Lebenseinstellung eine große Scheibe abschneiden.
Siehe hier - die souveräne Art, wie Danny damit umgeht, dass seine Tafelrunde beim Gelage in der Nacht zuvor die Hälfte seiner Immobilien abfackelte:

„Als die Sonne sich über die Kiefern erhoben hatte, der Boden erwärmt war und der Morgentau auf den Geranienblättern trocknete, begab sich Danny auf die Veranda seines Häuschens und sann, in der Sonne sitzend, über verschiedene Ereignisse nach. Er zog die Schuhe aus und bewegte die Zehen auf den sonnengewärmten Planken. In einer früheren Morgenstunde war er unten gewesen und hatte den schwarzen Haufen Asche und geschmolzener Röhren besichtigt, der das einzige war, was von seinem zweiten Häuschen übriggeblieben. Er hatte sich ein wenig in den vorschriftsmäßigen Zorn über seine nachlässigen Freunde hineingesteigert und ein paar Augenblicke über die Unbeständigkeit alles irdischen Eigentums nachgedacht, die geistigen Besitz umso wertvoller macht. Einige Gedanken hatte er dem Verlust seines Ansehens als Besitzer eines Mietshauses gedwimet; und als die ganze Skala notwendiger und wohlanständiger Empfindungen durchlaufen und abgetan war, gab er sich zum Schluß seinem echten Gefühl hin: der Erleichterung, wenigstens die eine Last los zu sein.
Wenn das Häuschen noch dort stünde, dachte er, so würde ich nach der Miete trachten. Meine Freunde sind mir gegenüber kühl geworden, weil sie mir Geld schuldeten. Jetzt können wir wieder frei und glücklich miteinander sein.“

Die Botschaft des Buches ist einfach: Genieße das Leben. Aber das ist einem in der Literatur auch schon weitaus platter oder anstrengender vermittelt worden. Auf in die Tortilla Flat!

Jutta Reichelt: Wiederholte Verdächtigungen (2015). Endlich ist Christoph wieder da.

Die gute Nachricht ist: Christoph ist nicht mehr länger verschwunden. Und der Roman, der Aufklärung bietet, ist endlich da.

Und die zweite gute Nachricht ist: Am liebsten würde man Christoph ein zweites Mal verschwinden lassen, um das Buch nochmals von vorne beginnen zu können. Und das ist auch gut möglich. Denn wenn auch der Verlag Klöpfer&Meyer diesen Roman als „raffiniert-subtilen Familien- und Seelenkrimi“ bezeichnet, ist er doch weit mehr als das - er ist in erster Linie eine psychologische Fallstudie (die von ganz ungefähr auch an die psychologischen Romane der Patricia Highsmith erinnert - dort sind es, beispielsweise in Ediths Tagebuch, ebenfalls vor allem die Innenvorgänge der Figuren, die die Spannung erzeugen). Und weil es eben weniger um den spannenden Handlungsrahmen geht, sondern vielmehr um die innere Entwicklung der handelnden Personen, gerade deshalb ist „Wiederholte Verdächtigungen“ ein Buch, das sich wiederholt zu lesen lohnt - auch wenn man das Ende, die Auflösung dann bereits schon kennt.

Und nicht zuletzt ist „Wiederholte Verdächtigungen“ ein feiner Roman über die Möglichkeiten und Grenzen der zwischenmenschlichen Kommunikation, über das Nicht-Miteinander-Reden-Können, über die Macht des Schweigens und des Verschweigens und: Auch ein Buch über das Schreiben, den Prozess des Schreibens und dessen entlastende Wirkung.

Nur kurz umrissen die Geschichte - deren Ende hier freilich nicht verraten wird (dazu rate ich nur: Selber lesen, es lohnt sich!). Katharina und Christoph, ein Paar, scheinbar schon zusammengewachsen und eng vertraut, haben sich eingerichtet im eigenem „Hexenhäuschen“ und in ihrer Nische zwischen freien Berufen (sie schreibt und jobbt im Antiquariat, er ist ein wenig der Typ des „ewigen Studenten“), alten Freunden und Werder-Leidenschaft, alles erscheint behaglich, ein wenig bodenständige Bremer Boheme.

Dann kehrt Christoph von einer Fahrt nach Köln - wo seine Schwester und deren Sohn leben - für einige Tage nicht zurück in dieses Nest, hinterlässt nur eine rätselhafte SMS. Katharina ist verunsichert. Und als Christoph wieder zuhause auftaucht, scheint auch er in seinen seelischen Grundfesten angeschlagen zu sein:

„Ich bin da in etwas hineingeraten, einen Strudel oder Sog, ich weiß es ja auch nicht, aber ich weiß, dass ich jetzt wieder festen Boden unter den Füßen brauche.
Ich glaube, dabei sieht er tatsächlich auf seine Füße und Katharina folgt diesem Blick, ich glaube, ich brauche jetzt nichts so dringend wie meinen Alltag! Meinen ganz normalen Alltag. Mit dir, mit meinen Jobs, mit unseren Freunden, mit Joggen und Werder und Zeitungslesen. Lass uns erst einmal eine Weile so tun, als sei alles in Ordnung!“

Als ob das so einfach wäre, wenn die Tür zum Unterbewussten - fast wie eine Büchse der Pandora - einmal geöffnet ist. Für Katharina stellt sich die Frage: Wieviel weiß ich wirklich von dem Menschen, mit dem ich zusammenlebe, den ich glaubte, so durch und durch und gut zu kennen? Und auch Christoph muss sich dieser Frage stellen - allerdings in Bezug auf seine Schwester, auf seine Eltern.

Die Gründe für die Verunsicherung, so wird nach und nach klar, liegen in einem Familiengeheimnis. Die Ursache für das seelische Beben Jahrzehnte später liegen beim Paar in der Generation davor, dem es nicht gelang, miteinander zu sprechen - im Gegensatz zu Katharina und Christoph, die denn doch ihre Zwiesprache wieder aufnehmen. Der Kern der Geschichte ist eine Tragödie aus Christophs Kindheit, die - weil sie unausgesprochen und unaufgearbeitet bleibt - später zu wiederholten Verdächtigungen und Missverständnissen führt.

Was der Roman vor allem vermittelt: Man kann noch so große Schritte machen und bleibt doch irgendwie auch in seinen Kinderschuhen stecken. In der Kindheit unbewusst Erlebtes und seither Verdrängtes bricht sich unter Umständen Jahre später Bahn - und holt einen wieder ein. Auch wenn man sich dagegen stemmt.

Christoph will nichts davon wissen, sagt Katharina. Er will es ignorieren, stürzt sich in seine Arbeit und möchte, dass wir so tun, als sei alles in Ordnung.
Katharina ist selbst überrascht, wie empört sie das sagt. Wie sehr sie hofft, dass die psychologische Psychotherapeutin ihr darin zustimmt, dass Christophs Weg ein Irrweg ist.
Es ist erstaunlich, sagt Beate, wie wenig wir das Auftauchen alter Geschichten beschleunigen können und wie wenig wir imstande sind, sie aufzuhalten.

Wer bereits den Blog von Jutta Reichelt kennt, wird das eine oder andere déjà vu-Erlebnis haben - schmunzeln musste ich, als Katharina ihrer Nachbarin, der psychologischen Psychotherapeutin, die selbst einen Krimi schreiben will, einen Schreibratgeber ausleihen möchte. Und zwar deshalb: http://saetzeundschaetze.com/2015/01/11/verschamtelekturen-jutta-reichelt/

Neben der klug konstruierten Handlung zeichnen ein ganz feiner, leiser Humor und mit sehr viel Empathie gezeichnete Figuren (die so lebensnah geschildert sind, dass man sie beinahe vor Augen hat) diesen Roman aus. Was mich aber vollends gefangen hat, ist die ruhige, ganz unaufgeregte Sprache, die Jutta Reichelt in diesem Buch anschlägt - glasklar und kein Ton zu viel. So entstehen „echte Menschen“. Gut gewählt mit Bezug zum Roman ist das Zitat von Herta Müller, das dem Roman vorangestellt ist:

Das Schweigen ist keine Pause
zwischen dem Reden,
sondern eine Sache für sich.

Hier der Link zum Buch mit Verlagsangaben: Wiederholte Verdächtigungen

Susanne Kippenberger: Das rote Schaf der Familie (2014).

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Die Mitford-Sisters: Nancy, Pamela, Diana, Unity, Jessica, Deborah: die Älteste wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste eine Landfrau, die dritte heiratete den Faschistenführer Englands, die vierte wurde Hitler-Freundin. Die fünfte schlug am meisten aus der Art, machte sich zunächst als Kommunistin aus dem Staub und wanderte dann nach Amerika aus, um dort als Bürgerrechtlerin und Bestsellerautorin auf sich aufmerksam zu machen. Die sechste wurde Herzogin von Devonshire. Ein Leben, wilder als jeder Roman - die Journalistin und Autorin Susanne Kippenberger hat eine umfangreiche Biographie über diese exzentrischen Adelstöchter geschrieben.

Ihre Kindheit verbrachten die sechs Töchter des Lord von Redesdale, deren keines je eine öffentliche Schule besucht hat, auf dem Landsitz Swinbrook, laut Jessica Mitford “eine Mischung aus Kaserne, Internat und Irrenhaus.” In der ländlichen Einsamkeit pflegte hier jede ihre Marotten und Eigenheiten. “Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere”, hat der Vater der Familie einmal gestöhnt.

Bereits von der ersten Seite an wird man von Susanne Kippenberger in die Welt der Mitfords hineingezogen:

“Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca (Jessica) auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur die Schwestern und jede Menge Tiere. Sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von 16 Jahren, gefangen in einer eigenen Welt mit einer eigenen Geheimsprache, die sie zum Schutz gegen “Eindringlinge”untereinander zu sprechen pflegten. Eine Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.”

Der Landsitz der Familie

Jessica’s Leben bildet für die Biographin den eigentlichen roten Faden einer Familiengeschichte der Mitfords (mit Stammbaum und vielen Abbildungen im Buch). Decca, wie Jessica von allen genannt wurde, war der Trotzkopf der Familie und der Drang, ihr zu entfliehen, war bei Jessica wohl am stärksten ausgeprägt. Nachdem sie auf ihr “Weglaufkonto” genügend Geld eingezahlt hatte, floh sie mit Churchills “roten Neffen” Esmond Romilly Hals über Kopf nach Spanien, um hier wie Hemingway vom Bürgerkrieg zu berichten. Enttäuscht von den Entwicklungen in Spanien zog sie schon bald mit Kind und Mann nach Amerika. Ihr Eheglück mit Esmond währte jedoch nur eine kurze Zeit. Als Pilot der Canadian Air Force wurde er 1941 über Deutschland abgeschossen. Jessica wurde zur glühenden Kommunistin - im Gegensatz zu zwei ihrer Schwestern, die sich mit Haut und Haaren dem Nationalsozialismus verschrieben hatten. Sie heiratete einen jüdischen Anwalt und landete mit einem Enthüllungsbuch über das Geschäftsgebaren amerikanischer Bestattungsinstitute einen Bestseller. Als Journalistin prangerte sie immer wieder soziale Missstände in der amerikanischen Gesellschaft an und mischte sich auch politisch ein. 2013 erschienen ihre Familien-Erinnerungen unter dem Titel “Hunnen und Rebellen” auf Deutsch im Berenberg-Verlag.

Die Mitford-family
Die Mitford-Sisters

Kippenbergers Buch ist reich an Anekdoten, aber niemals geschwätzig, liesst sich sehr flüssig und über weite Strecken sogar amüsant. Ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten gefühlt und als Leser einiger Mitford-Romane viele neue Erkenntnisse zur Familiengeschichte hinzugewonnen. Wir erfahren, daß Joseph Goebbels Trauzeuge bei Diana’s Hochzeit mit dem englischen Faschistenführer Oswald Mosley gewesen ist (Hochzeitsgeschenk: eine Goethe-Gesamtausgabe). Nach Ausbruch des Krieges wurden Diana und ihr Ehemann, ein Neffe Churchills, “vorsorglich” inhaftiert. Churchill veranlasste für die beiden eine Hafterleichterung, indem er auf dem Gefängnisgelände eine Villa errichten ließ, so daß sie im Gefängnis Gäste empfangen konnten und auf ihren gewohnten Komfort kaum zu verzichten brauchten.

Unity hat sich wortwörtlich an die Fersen von Adolf Hitler geheftet und sich in einem Anfall spätpubertierender Gefühlsverirrung in den Führer verliebt und alles daran gesetzt, seine Bekanntschaft zu machen. Seit ihrem ersten Besuch 1933 in München zählte man mehr als 150 Begegnungen. Dank ihrer Beharrlichkeit dringt sie bis in den inneren Kreis um Hitler vor. Als Reaktion auf Hitlers Kriegerklärung an England schießt Unity sich im Münchener Englischen Garten eine Kugel in den Kopf. Schwerverletzt kehrte sie mit ihrer Mutter in einem Sonderwagen Erster Klasse über die Schweiz nach England zurück, Hitler bezahlte die Kranken- und Transportkosten. 1948 starb sie an den Folgen ihrer Verletzung. Manchmal reibt man sich beim Lesen die Augen und muss sich vergewissern, daß man hier nichts Erfundenes, sondern eine gut recherchierte, auf historische Quellen basierende Biographie ließt, die sich wie ein Roman vor dem Auge des Lesers ausbreitet. Bei youtube ist eine Serie über “Hitler`s British Girl” zu sehen.

Susanne Kippenberger in der Einleitung: “Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Manchmal blieb mir bei meinen Recherchen nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: “curiouser and curiouser”, seltsamer und seltsamer…”

Nancy Mitford, die Älteste und bei uns die wohl bekannteste der Mitford-Sisters wurde mit ihren Büchern zur Chronistin der Familie, ihrer Schicht und ihrer Zeit. In ihren autobiographischen Romanen “Englische Liebschaften” und “Liebe unter kaltem Himmel” (beide erschienen in der Anderen Bibliothek) schreibt sie witzig und geistvoll über die Skurrilitäten und Exzentritäten englischer Landsitz-Bewohner im Stil ihres Freundes Evelyn Waugh. Es sind munter plätschernde Erzählungen von Liebe und Heirat, viel Unordnung und frühem Leid. (In Alan Bennetts Erzählung “Die souveräne Leserin” vernachlässigt die Queen ihre königlichen Plichten, weil sie viel lieber in den Büchern von Nancy Mitford schmökert).

Und dann sind da noch die im Lichte ihrer Schwestern etwas glanzlosen Pamela und Deborah. Pamela fühlte sich mehr zur Schweine- und Hühnerzucht hingezogen. Deborah, die Jüngste, kam in die Schlagzeilen, als sie 1941 den steinreichen Herzog von Devonshire heiratete und 2011 ihre Memoiren veröffentlichte. Sie starb als letzte der Mitford-Schwestern erst vor einigen Wochen im Alter von 94 Jahren. Von dem hochmusikalischen Bruder Tom, der unter sechs Schwestern keinen leichten Stand gehabt haben wird, ist in dem sehr lesenswerten Buch von Susanne Kippenberger kaum die Rede. Er führte ein unauffälliges Leben, nachdem er als einziges Kind der Familie einen Zugang zum Studium nach Oxford bekam, um schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen. Als Soldat fiel er 1945 in Burma.

Für meine Lektüre habe ich die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg der Originalausgabe aus dem Hanser-Verlag vorgezogen. Die Gestaltung des Schutzumgschlags finde ich in der Büchergilde besonders gut gelungen. Der Leinen-Einband mit Lesebändchen macht das Buch zu einem haptischen Erlebnis.

Susanne Kippenberger, “Das rote Schaf der Familie - Jessica Mitford & ihre Schwestern”, Hanser Verlag 2014 / Büchergilde Gutenberg

 

Karim Miské: Arab Jazz (2012). Fundamentalisten in Paris.

Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel).
Jedenfalls ist Miské, wie vor wenigen Tagen in der Süddeutschen zu lesen war, nun ein begehrter Interviewpartner: Hat er doch mit dem 2012 veröffentlichten, inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Krimi, quasi die Pariser Geschehnisse der vergangenen Wochen vorweggenommen. So schreibt Axel Hücke im SZ-Feuilleton (20.2.2015/”Hättet ihr uns mal gefragt”):

“Es spielt unter islamistischen Muslimen, ultraorthodoxen Juden, rechtsradikalen Polizisten und Zeugen Jehovas. Und es spielt im 19. Arrondissement von Paris und damit zufälligerweise in genau den Straßen, in denen Saïd und Chérif Kouachi aufgewachsen sind. In denen sie 1992 ihre tote Mutter in der gemeinsamen Wohnung entdeckten; sie hatte sich umgebracht, als sie zum sechsten Mal schwanger geworden war. Die Straßen, in denen ultraorthodoxe  Juden und radikale Islamisten Tür an Tür wohnen. Die Straßen, durch die die Kouachis nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo flohen. Auch der Hassprediger Farid Benyettou, der die Brüder 2005 vom Dschihad überzeugte, kommt unter anderem Namen in „Arab Jazz“ vor. Bei unserem Treffen wird Miské sagen, der Prozess gegen die Brüder und ihren „Mentor“ 2008 habe das Buch stark geprägt, ihn habe beeindruckt, wie es diesem Benyettou gelungen ist, seinen blanken Hass religiös zu verkleiden.”

Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen. Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit - da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy  zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein - so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:

“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen - fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”

Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien - egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird - zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.

Die Bilder zeigen das französische Cover und das der englischen Ausgabe, die nun erst erschien. Auch das deutsche Coverbild ist irgendwie…naja.

Beitrag: CM

Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes (1973).

keinkindMein Einstieg in den harten, düsteren Kosmos des Cormac McCarthy begann, wie vielleicht bei vielen anderen deutschen Lesern auch, mit einem Film: “No Country for Old Men”, natürlich geprägt durch die Handschrift der Coen-Brüder, nachhaltig in Erinnerung durch Javier Bardem in der Rolle des Killers Chigurh. Die wohl seltsamste Frisur eines Serienmörders in der Filmgeschichte. Die Frisur symbolisiert den Unterschied zwischen Film und Buch. Denn natürlich birgt der Film manche ironische Brechung, typisch für die Coens, aber atypisch für McCarthy. Dem ist es todernst mit seinen Aussagen. In dessen Büchern stößt man auf keine Ironie, keinen Witz. Was das Menschliche anbelangt, sind sie von einer harten, nackten, nüchternen Sprache. Sie eröffnen den Blick in eine grausame, menschenfeindliche Welt. Und überraschen mit einer eigenen poetischen Sprache.
Über das Kino also lernte ich diesen Autoren kennen, dessen Romane mittlerweile fast alle in deutscher Übersetzung vorliegen. Nun auch sein dritter Roman, 1974 unter dem Titel “Child of God” herausgekommen, jetzt in der deutschen Übertragung von Nikolaus Stingl.
“Ein Kind Gottes”. Auch Lester Ballard ist ein Kind Gottes, wenn man darunter das Menschsein an sich begreift. Auch wenn er, der schon ganz unten ist, noch weiter herabkommt, unmenschlich erscheint, Unmenschliches tut. Er ist und bleibt ein Kind Gottes, soll wohl auch bedeuten, nichts Menschliches ist uns fremd oder in der Umkehrung, dass alles mögliche, auch das Schlimmste, menschenmöglich ist.

Der schmale Roman beginnt mit der Versteigerung eines Hauses. Ballard, zuvor schon ein Einzelgänger, verliert damit wahrhaftig den Grund und Boden unter den Füßen, zieht sich immer mehr in die Einsamkeit zurück, mutiert zum Höhlenbewohner: Und das in den USA der 60erJahre. Als Ballard eines Tages ein totes Liebespaar in der Ödnis findet, scheint es, als verabschiede er sich dadurch gänzlich aus der menschlichen Gemeinschaft. Der Außenseiter nimmt die weibliche Leiche mit, staffiert sie aus, sie wird, auf Zeit, zu seiner Lebensgefährtin. Eine Metapher für die grenzenlose Einsamkeit dieses Mannes und für seine Unfähigkeit zur Mitteilung, zur Kommunikation, zur Anpassung. Ein tödlicher Kreislauf nimmt mit dieser ersten Leiche seinen Anfang.
Es braucht starke Nerven, um dieses Buch zu lesen, das so offensichtlich nüchtern, fast schon empathielos von menschlicher Grausamkeit erzählt. Dennoch ist das kein Trash, keine Splatterliteratur. Die Bücher von McCarthy bergen etwas Alttestamentarisches in sich. Man werfe einen Blick in die Bibel und stößt auf eine ganze Bandbreit von Gewalttaten. “Ein Kind Gottes” muss nicht nach Verantwortung und Schuld fragen, das erklärt sich aus dem Buch selbst. Wie aus den anderen Romanen McCarthys auch: Die Veranlagung zur Gewalt, zum Bösen, zum Dunklen liegt in jedem Menschen begraben. “Schuld” allerdings liegt nicht nur im Handeln des Einzelnen, zudem ist der “Held” des Romans intellektuell und moralisch kaum auf der Höhe, seine Handlungen zu bewerten und zu ermessen. “Schuld”, das zeigt auch dieses Buch des Amerikaners, ist ebenso sehr eine Gesellschaft, die erntet, was sie aussät. Es gibt kaum eine zynischere Bezeichnung für Menschen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stehen bzw. die aus den Rastern der Leistungsgesellschaft gefallen sind, als die vom “white trash”, “weißer Müll” - als seien sie, die Ausgestoßenen, keine Kinder Gottes mehr.
Wenn auch seine Romane - so die Border Trilogie - oft in der Einsamkeit des amerikanischen Westens spielen und aus der Zeit herausgefallen wirken: Cormac McCarthy autopsiert den Zustand einer niedergehenden Gesellschaft. Dazu passen die Bilder von Seph Lawless, die heute beim Bloggerkollegen Gerhard Emmer zu sehen sind, auch wenn sie ein anderes Phänomen amerikanischen Niedergangs zeigen.

Cormac McCarthys Welt - manchmal beinahe unerträglich gnadenlos, unerbittlich, von klirrender Kälte, aber auch von großer Schönheit in der Sprache:

“Ballard, ein kleines Wesen, das mit dem Gewehr in den Armen brütend dort hockte, beobachtete sie vom Bergsattel aus. Es regnete seit drei Tagen. Der Bach weit unter ihm über die Ufer getreten, die Felder überflutet, mit Winterkraut und Futtergewächsen gefleckte, stehende Wasserflächen.”

“Die Hunde querten als dünne, dunkle Linie den Schnee auf dem Hang des Höhenrückens. Weit unter ihnen lief der Eber, den sie verfolgten, mit seinem merkwürdig steifbeinigen Schritt dahin, hochrückig und tiefschwarz vor der Winterlandschaft. Das Geläute der Hunde hallte in dieser riesigen fahlblauen Leere wider wie die Rufe dämonischer Jodler.”

“Ein Wald, alt und tief. Dereinst hatte es auf der Welt Wälder gegeben, die niemanden gehörten, und dieser glich ihnen. Auf dem Hang kam er an einem vom Wind gefällten Tulpenbaum vorbei, der im Griff seiner Wurzeln zwei feldkarrengroße Steinbrocken hochhielt, gewaltige Tafeln, auf denen mit Kameen urzeitlicher Muscheln und im Kalk geätzten Fischen nur eine Geschichte von verschwundenen Meeren geschrieben stand.”

Ein Beitrag von Claudio.

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone (1994).

Heute schreibt Claudio:

“Unterwerfung” ist in aller Munde, noch bin ich resistent, denke auch nicht, dass ich mich einem Verlangen, dies Buch zu kaufen, unterwerfen werde. Dagegen habe ich mir nochmals den Erstling Houllebecqs aus dem Regal geholt, “Ausweitung der Kampfzone”, 1994 in Frankreich herausgekommen, 1999 dann bei Wagenbach, mit 155 Seiten ein überschaubares Werk, jetzt gut geeignet, mir wieder vor Augen zu führen, was mir einst an Houllebecq gefiel, ja, wenn nicht geradezu anzog, mittlerweile aber ein Gefühl von Ennui verursacht. Ennui als ein vorübergehendes Symptom ist verkraftbar, da vorübergehend, ihre große Schwester, das Taedium vitae dagegen von einem ganz anderen Kaliber. Dieses Gefühl des Lebensüberdrusses ist es jedoch, das alle Romane, die ich von Michel Houllebecq las, durchzieht, ein Werk getränkt von Absage an alles, was der Menschheit auch irgendwie nur Hoffnung oder “Heil” verspräche: Adieu alle politischen und gesellschaftlichen Programme, Marxismus, Kommunismus, Demokratie, Feminismus, Psychoanalyse, bäh 68er in ihrer Naivität, adieu, adieu, bonjour tristesse.

Der Untergang des Abendlandes oder zumindest das Ende der Aufklärung als literarisches Programm, weil der Mensch im Grunde ein Tier ist, das in Freiheit nicht sinnvoll leben kann. In “Ausweitung der Kampfzone” ist dieses alles bereits angelegt: Ein namensloser EDV-Ingenieur, 30 Jahre alt, ohne familiäre oder freundschaftliche Beziehungen, auch ohne Lebensplan oder Ziel, befindet sich mit einem Kollegen auf einer beruflichen Tour durch die Provinz. Jener Kollege - als abgrundtief häßlich geschildert, gar als “krötenhaft” bezeichnet - leidet an seiner Chancenlosigkeit bei den Frauen. Während eines frustrierenden Discoabends animiert der Ich-Erzähler (der gelegentlich aus eigenen zynischen Tierfabeln zitiert) den Kompagnon zu einem Sexualmord - die Tat bleibt ungetan, der potentielle Mörder kommt noch in derselben Nacht bei einem Autounfall ums Leben. Potentiell, denn die Saat des Bösen wäre gelegt gewesen, nur einmal noch blieb das Messer stecken, siegte die übernommene (und bereits überkommende?) Moral.

Der Erzähler und Anstifter landet wegen Depressionen in der Psychiatrie:
“Ich verließ die Klinik an einem 26. Mai; ich erinnere mich an die Sonne, die Wärme, die Atmosphäre der Freiheit auf den Straßen. Es war unerträglich.”

“Ausweitung der Kampfzone” bedeutet: Alles ist ein Markt, alles den Gesetzen des Marktes, des “freien” Spiels der Kräfte unterworfen. Der Mensch als Ware, Sexualität als Produkt, als erweiterte Kampfzone. Wer hier überleben will, als Sieger aus dem Spiel hervorgehen möchte, der hat  Leistung zu erbringen. Verlierer ist, wer ohne Kontakte bleibt, bei Houellebecq hat man da bereits von vornherein das falsche Los gezogen, bleibt außen vor. Lupus est homo homini - Problem nur: Selbst wenn der Mensch einen anderen Mensch erkennt, führt dies nicht zur Menschlichkeit, die Protagonisten verharren in einem autistischen Modus oder im tierischen Spiel der Mächte, fressen oder gefressen werden, selbst ein Schwacher treibt den noch Schwächeren zum Wahnsinn (da fast bis zum Mord), Mitgefühl, Empathie, Solidarität sind menschliche Werte, die keinen Raum einnehmen.

Als Kritik am Neoliberalismus haben mich die Bücher Houellebecqs vor mehr als zehn Jahren gepackt und fasziniert: So kalt und grausam geschildert, so pointiert, habe ich ein Abbild einer Welt und unserer westlichen Zivilisation zuvor nicht gelesen. Die Befindlichkeit einer Gesellschaft, die zwischen absoluter Pluralität und individueller Verlorenheit pendelt: Scheinbar geht alles und doch weiß der Mensch an sich damit wenig anzufangen. Diese grenzenlose Freiheit - die Sexualität ist bei Houellebecq dafür die geeignete Metapher - die sich in spießiger Dekadenz, in Orientierungslosigkeit und Einsamkeit erschöpft. Zumal “Freiheit”, “Pluralismus” etc.  Gängelbändel sind, dem Einzelnen Wahlmöglichkeiten nur vorgetäuscht werden, Entscheidungsfreiheit als politische Fata morgana. Dies in nüchterner, präziser Sprache geschrieben, in wenigen Seiten verdichtet, macht die Qualität dieses Debütromans aus. Dazu ironische Seitenhiebe auf die Literatur:

“Das fortschreitende Verlöschen menschlicher Beziehungen bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich. Wie soll man es anstellen, diese heftigen Leidenschaften zu erzählen, die sich über mehrere Jahre erstrecken und deren Wirkungen manchmal über Generationen hinweg spürbar sind? Von den Sturmhöhen haben wir uns weit entfernt, das ist das mindeste, was man sagen kann. Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müßte eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form.”

Das ist die Ironie: Seit seinem Debütroman 1994, dem dieses obige Zitat entnommen ist, schreibt Houellebecq Roman um Roman über: Das Nichts. “Unterwerfung”, so habe ich aus manchen Kritiken geschlossen, ist nicht mehr oder weniger als eine dystopische Variation davon. Eine Satire auf den Untergang tradierter Werte und Gesellschaftsformen. Nach dem dramatischen zeitlichen Zusammentreffen des Erscheinen des Romans und der Pariser Anschläge war die mediale Hysterie groß: Was darf ein Roman? Wo liegen die Grenzen? Dazu schrieb Nils Markwardt eine sehr intelligente Reflektion: “Moral ist der falsche Maßstab”.

D`accord. Literatur darf alles, muss nichts - insofern kostet Houellebecq den Pluralismus, den er oftmals so schwarz zeichnet, als Autor bis zur Neige und Schmerzgrenze aus. Es liegt  dagegen in meiner alleinigen Entscheidung als Leser, welche Dosis davon ich zu mir nehme. Und auch dazu finde ich bei Markwardt einige Sätze, die ich unterstreichen kann, die im Grunde der Grund sind, warum ich mich inzwischen lesend von Michel Houellebecq verabschiedet habe:

“Man kann in Unterwerfung, so wie eigentlich auch bei fast allen anderen Romanen Houellebecqs, eine Reihe von Dingen ärgerlich, platt oder ermüdend finden. Beispielweise den quengeligen Vulgär-Nietzscheanismus oder die immer gleiche, abgegriffene Zivilisationskritik, die erkenntnistheoretisch nicht über das Lamento eines frustrierten Kneipenphilosophen hinauskommt.” 

Adieu, tristesse. Denn Kritik ist gut, aber Erkenntnis ist besser - aber was letzteres anbetrifft, da bietet mir der traurige Nörgler zuwenig Gewinn.

Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens.

Das Äußere macht nicht unbedingt den Mann zum herausragenden Liebhaber. Das dachte sich auch Fellini, der in seinem Casanova-Film ausgerechnet Donald Sutherland den legendären Womanizer mimen ließ.

 

“Der Kultus der Sinneslust war mir immer die Hauptsache: Niemals hat es für mich etwas Wichtigeres gegeben. Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren. Daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte.”

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Anlässe gibt es genug, die Memoiren des “größten Liebhabers aller Zeiten” vorzustellen. An erster Stelle sind da die Valentinstagiaden zu nennen, die uns in dieser (sitten- und zügellosen) Karnevals-(Faschings-)woche begleiten. Zweitens ist dem Beginn von Casanovas Aufzeichnungen vor genau 225 Jahren zu gedenken. Und drittens hat mich die Nachricht, daß der Versandhändler und Verlag “Zweitausendeins” in diesen Tagen wieder Filialen schliessen mußte und vollends auf den Online-Handel setzt, auf die Idee gebracht, diese im Jahre 1964 von “Zweitausendeins” verlegte Gesamtausgabe der Werke Casanovas noch einmal zur Hand zu nehmen. Sie umfaßt nicht nur die 4000-seitige “Geschichte meines Lebens”, sondern auch den einzigen Roman “Eduard und Elisabeth”, sowie zahlreiche theoretische Schriften und Briefe Casanovas an seine Zeitgenossen. Ergänzt wird die in Leinen gebundene 7500-seitige Dünndruckausgabe durch einen querformatigen Bildband, der die “Geschichte meines Lebens” reichhaltig illustriert.

Auf der Grundlage des französischen Urtextes, der erst 1960 vom Verleger Brockhaus vollständig und unzensiert ediert wurde, ist dies die erste deutsche Übersetzung in zwölf Bänden. Die Geschichte des Manuskripts ist ebenso spektakulär und abenteuerlich wie das Leben Casanovas. Er vermachte es kurz vor seinem Tod seinem Neffen, dessen Nachkommen es an den Leipziger Verleger Brockhaus verkauften. Nach einem Luftangriff auf den Verlag wurde es 1943 unbeschädigt im Safe einer Bank eingelagert. 1945 wurde es von den amerikanischen Besatzern den deutschen Eigentümern zurückgegeben. 2010 ging das auf Französich verfasste Manuskript von “Histoire de ma vie”, das seit 1821 im Besitz der deutschen Verlegerfamilie Brockhaus war, für 7 Millionen Euro an die französiche Nationalbibliothek.

Casanova wurde 1725 als Sohn eines Schauspielerehepaars in Venedig geboren, Promotion zum “Doktor beider Rechte” 1741 an der Universität Padua, für kurze Zeit katholischer Priester und Orchestergeiger und jahrelang von einem reichen Gönner finanziert. Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Spione der Inquisition hatten ihn als Betrüger, Freimaurer, Astrologen, Kabbalisten und Gotteslästerer denunziert (möglicherweise aus Rache für sein Interesse an einer der Mätressen des Inquisitors). Er wurde auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis geworfen. Erst fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach den Bleikammern Venedigs zu entkommen.

Seine Flucht verschaffte ihm Berühmtheit an den europäischen Fürstenhöfen, aber bedeutete auch ein Exil, das achtzehn Jahre dauern sollte. Nun begann sein Leben als Reisender. Ein eifriger Forscher hat herausgefunden, dass Casanova in seinem Leben fast 60 000 Kilometer zurückgelegt hat. Er machte in Paris mit der Gründung der Nationallotterie ein Vermögen, nur um das Geld in den Spielklubs von London, in den Literatursalons von Genf und in den Bordellen von Rom mit beiden Händen wieder auszugeben. Mit den Jahren musste Casanova jedoch feststellen, dass Attraktivität und Manneskraft nachliessen. Die jungen Schönheiten, die er so bewunderte, wiesen ihn immer öfter ab. Gealtert, erschöpft und mittellos musste er ein Angebot des jungen Grafen Josef Waldstein annehmen, der ihn als Bibliothekar nach Schloss Dux in Nordböhmen holte, wo er 65-jährig seine Memoiren zu schreiben beginnt. Er schreibt ununterbrochen wie ein Besessener, bis seine Aufzeichungen abrupt mit einer Reise enden, die er als 49-Jähriger nacht Triest unternimmt. Niemand weiss, warum er genau hier aufhörte. Vielleicht wollte er seine Geschichte vor dem fünfzigsten Lebensjahr beenden, als er das Leben nicht mehr wie früher geniessen konnte. Acht Jahre später stirbt er nach langer, qualvoller Leidenszeit an einer Prostata-Hypertrophie.

Bis heute eilt Casanova der Ruf eines Abenteurers und Frauenhelds voraus, was auch mit seinen Selbstbeschreibungen zu tun hat: “Ich war hinlänglich reich von der Natur mit einem angenehm und stattlichen Äußeren begünstigt.” Aber sein vielseitiges Werk, das er neben den Memoiren hinterlassen hat, legt die Vermutung nahe, daß er vor allem Schriftsteller und Intellektueller war, der mit Geistesgrößen wie Voltaire, Katharina die Große, Benjamin Franklin und Mozart befreundet war. Sein eigentlicher Ruhm beruht nicht auf dem Umstand, daß er Hunderte von  Frauen “besessen” hat - in den Memoiren sind “nur” 116 namentlich erwähnt, Historiker und Wissenschaftler gehen heute jedoch davon aus, daß es noch weit mehr Amouren gab in seinem Leben. Die Beschreibungen der zahlreichen Liebesaffären mit Gräfinnen, Mägden und Nonnen nehmen jedoch nur etwa ein Drittel des Buches ein. Daneben lesen wir von der spektakulären Flucht aus den Bleikammern Venedigs, von Duellen, Betrügereien, beschwerlichen Reisen, Verhaftungen und Begegnungen mit Fürsten und Scharlatanen.

Die Schilderungen seiner intimen Erlebnisse sind bei aller Deutlichkeit doch stets diskret und dezent. Casanova war kein Trophäenjäger, kein Don Juan, den die Frauen nur als Beute interessierten, weil er sie verachtete. Er verstand es vielmehr, jeder Frau, in der er verliebt war, glauben zu machen, daß er nur sie und keine andere lieben könne. Er wollte sie nicht nur beglücken, sondern auch glücklich machen. Zu einer längeren und tieferen Bindung war er jedoch nicht geschaffen. Einmal schreibt er:

“Ich dachte darüber nach, was für eine Art von Verzauberung mich wohl zwingen könnte, mich immer wieder in eine Frau zu verlieben, die mir neu vorkam und mir dasselbe Verlangen einflößte, das die letzte von mir geliebte in mir geweckt hatte, die ich erst dann zu lieben aufgehört hatte, als sie nicht mehr mein Verlangen erregte. War aber diese Frau, die mir neu vorkam, auch wirklich neu? Durchaus nicht, denn es war immer wieder dasselbe Theaterstück, nur der Titel war neu.”

Mit solchen Ansichten gehört Casanova ganz seiner Epoche an, für die Erotik und erotischer Genuß so selbstverständlich waren wie Essen, Trinken, und Schlafen. Dem Leser seiner Memoiren gibt er noch folgendes auf den Weg: “Mein Werk ist voll von ausgezeichneten moralischen Unterweisungen. Aber was nützen die, wenn die reizenden Schilderungen meiner Sünden die Leser eher dazu anregen, sie zu begehen, als sie zu bereuen?”

Das fand auch die Kirche, die das anstößige Werk 1834 auf den Index setzte.