Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen (1930/2014).

„Man kommt zu gar nichts mehr. Ich denk jetzt so oft an den Tod. Quatsch. Doch, ich denk oft an den Tod. Das kommt von der Verdauung. Nein, das kommt nicht von der Verdauung. Man wird älter. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet…Nu, für sie ist ja ausgesorgt, so weit bin ich schon, Gottseidank. Wenn ich tot bin, wern sie erst erkennen, was sie an mir gehabt haben. Man wird viel zu wenig anerkannt, im Leben. Hinterher ist zu spät. Hinterher wern sie weinen. Damals, beim alten Leppschitzer warn ja enorm viele Leute. So viel kommen bei mir mindestens auch…“

Kurt Tucholsky, “Herr Wendriner kann nicht einschlafen”, 30. März 1926, “Die Weltbühne”

Der Herr, der hier nicht einschlafen kann, ist der Herr Wendriner. Ein Geschäftsmann und Familienvater im besten Alter, der Spießbürger par excellence. Und wenn Herr Wendriner uff Jedanken kommt, dann wird es ein wenig schräg. So führt Schlaflosigkeit zu solchenen Lebens- resp. Todesweisheiten.

„Schrecklich, wenn man nicht einschlafen kann. Wenn man nicht einschlafen kann, ist man ganz allein. Ich bin nicht gern allein. Ich muss Leute um mich haben, Bewegung, Familie, Arbeit…Wenn ich mit mir allein bin, dann ist da keiner. Und dann bin ich ganz allein. Hinten juckts mich. Ich kenn das. Jetzt wer ich gleich einschlafen. Schlafen…Na, denn gut`n –„

Zwischen 1922 und 1930 erscheinen die Wendriner-Texte aus der Feder Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“. Gesellschaftskritische Kurzgeschichten, Monologe, in denen einer vor sich hinschwadroniert und dabei unbewusst in seine kleine Seele blicken lässt. Nach außen hin braver Familienvater, versucht sich auch der Wendriner mal an einer Geliebten und guckt selbst im klassischen Theater den Schauspielerinnen lieber auf die Beine als ins Textbuch. Zumeist schwadroniert er übers Geschäft und – wenig fachkundig – über Politik: Politik ist letztlich das, was das Geschäft nicht stört. So sind ihm die Sozis ein Gräuel, die Bewegungen am rechten Rand notiert er in einer Mischung zwischen Furcht und Bewunderung – Bewunderung für deren „Ordnungssinn“.

Der Wendriner kam schon bei Erscheinen nicht durchwegs gut an. Zu spitz, zu satirisch und Tucholskys Wort - „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel“ – bewies sich einmal mehr. Aber auch nach Tucholskys Tod und nach dem Ende des Nationalsozialismus war lange Zeit eine unvoreingenommene Rezeption der Geschichten schwierig: Denn Herrn Wendriner ist ein deutscher Jude. Tucholsky wurde der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Dabei, so arbeitete auch sein Biograf Rolf Hosfeld heraus (nur zu empfehlen: „Tucholsky – Ein deutsches Leben“, Rolf Hosfeld), war es vor allem die Abscheu vor dem Spießertum, die den Schriftsteller und Satiriker antrieb. Aus einem Interview der Jüdischen Allgemeinen mit Rolf Hosfeld:

Zu denen, die versagt hatten, zählte für Tucholsky auch die deutsche Judenheit. Kurz vor seinem Tod 1935 hat er einen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Da liest man: »Der Jude ist feige. Er duckt sich.« Tucholsky hatte offenbar einen ziemlichen Abscheu vor den deutschen Juden.

Nicht unbedingt vor den deutschen Juden. Aber vor einem bestimmten Typus des jüdischen Spießers, ja. Herr Wendriner zum Beispiel, ja. Tucholsky hatte eine enorme Abneigung gegen den damals verbreiteten Typus des deutschnationalen Juden. Etwa, wenn Herr Wendriner den SA-Mann vor seinem Geschäft hofiert. Bei Wendriner spielen aber noch andere Aspekte hinein. In seinem ungeordneten Weltbild hat er auch sympathische Züge. Die Wendriner-Geschichten sollten übrigens als Buch erscheinen. Tucholsky unterhielt sich mit Edith Jacobson darüber, wer sie illustrieren könnte. George Grosz wollte Tucholsky nicht, der war ihm zu karikaturenhaft; andere vorgeschlagene Zeichner waren ihm zu antisemitisch.

Das Interview in voller Länge, in dem es um Tucholskys Haltung zum Judentum geht, findet sich hier: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/12535.

Für das geplante Buchprojekt war auch Tucholskys Freund Georg Grosz als Karikaturist im Gespräch. Tucho lehnte ihn als zu verspielt ab. Dennoch: “Der Kapitalist” scheint Wendrinerische Züge zu haben.

Bereits Edith Jacobsohn, die Frau des Weltbühnen-Herausgebers Siegfried Jacobsohn, plante in ihrem Verlag eine Wendriner-Ausgabe. Zustande kam sie schließlich nicht, selbst ihr waren manche Texte zu scharf. 1927 erschienen dann die bis dahin in der Weltbühne gedruckten Texte bei Rowohlt, in dem Sammelband „Mit 5 PS“. Nicht darunter ist selbstverständlich der interessanteste der Wendriner-Texte, weil erst 1930 entstanden: „Herr Wendriner steht unter Diktatur“. Geradezu hellsichtig skizziert Tucholsky das Heraufziehen einer neuen Gesellschaftsordnung mit Herrenmenschen und lässt seinen literarischen Wendehals bei einem Kinobesuch den Salto zur Unterordnung machen – auch Wendriner ist einer jener, die zu jener Zeit noch glauben, als „Schutzbürger“ und mit der rechten Gesinnung geschähe ihnen nichts.

Der Verlag vbb – verlag für berlin-brandenburg hat nun in einem schmalen Bändchen die Wendriner-Texte neu herausgegeben. Ergänzt durch eine weibliche Stimme: Mit den „Lottchen“-Geschichten lässt Tucholsky eine für diese Zeit typische freche Frauenstimme, emanzipiert, witzig und schlagfertig, zu Wort kommen. “Lottchen” war im eigentlichen Leben Lisa Matthias, eine alleinerziehende Journalistin, die Tucholsky 1927 kennenlernte. Ihr widmete er „Schloß Gripsholm“.

Abgerundet wird das Buch durch den Briefwechsel Tucholskys mit Edith Jacobsohn zu ihrem geplanten Buchprojekt, der in dem Bändchen erstmals veröffentlicht wird. Allein schon diese briefschriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beiden ist von hohem Amüsemang und macht das Buch zu einer kleinen Petitesse:

„Lieber dicker Tucho, was is mit Wendrinern, nuuh?“, fleht die Verlegerin namens Franziska Damenbart, und der Tucho antwortet dem „geliebten Weib“, der Wendriner werde schon mit besonderer Sorgfalt verarztet werden.

„Herr Wendriner und das Lottchen“, Kurt Tucholsky, vbb, 2014, 96 Seiten, Halbleinen, Format: 12,5 x 20,5 cm, ISBN: 978-3-945256-01-5.

Zur Verlagsseite:
http://www.verlagberlinbrandenburg.de/Gesamtverzeichnis/Kulturgeschichte/Herr-Wendriner-und-das-Lottchen.html

 

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“, Die Andere Bibliothek.

londresLiest man Albert Londres` Reportagen, dann drängt sich der Vergleich zum Gonzo-Journalismus förmlich auf. Hier die Wikipedia-Definition:

„Der Gonzo-Journalismus wurde von dem US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründet. Charakterisiert wird diese Form des New Journalism durch das Wegfallen einer objektiven Schreibweise. Es wird aus der subjektiven Sicht des Autors berichtet, der sich selbst in Beziehung zu den Ereignissen setzt. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse. Sarkasmus, Schimpfwörter, Polemik, Humor und Zitate werden als Stilelemente verwendet. Nach journalistischen Kriterien handelt es sich beim „Gonzo-Journalismus“ nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Die Arbeitsweise entspricht nicht den Anforderungen an Journalisten, die zum Beispiel der deutsche Pressekodex vorgibt.“

Eigentlich müsste man sagen: Albert Londres (1884-1932) ist der geistige Vater eines Hunter S. Thompsons oder auch P.J. O`Rourke, der Gonzo-Großvater. Der Franzose war ein Reporter-Star seiner Zeit, Zeitgenosse des anderen rasenden Reporters, Egon Erwin Kisch (1885-1948). Während Kisch deutschen Lesern und Journalisten jedoch noch ein Begriff ist, nicht zuletzt durch den von Henri Nannen 1977 eingeführten Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus (was man inzwischen doch in den gängigen Tageszeitungen und Magazinen sehr vermisst), wird Londres zwar in seinem Heimatland noch immer gewürdigt. Hier aber ist er weitgehend unbekannt beziehungsweise wieder vergessen.

Tucholsky setzte dem Weltreporter 1925 in der „Weltbühne“ (http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1925/Bei+den+Verr%C3%BCckten?hl=albert+londres) ein Andenken – doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Wegbereiter des Gonzo-Journalismus, aber vor allem auch ein Vorbild für jeden ist, der die literarisch gehobene politische Reiseberichterstattung pflegt, beispielsweise Richard Kapuscinski Jahrzehnte später.

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen“, so urteilt Tucholsky alias Peter Panter 1925 in der „Weltbühne“.

Die drei Reportagen – „China aus den Fugen“ (1922), „Ashaver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) – sind weniger journalistische Kunststücke als literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim Matin begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch: „Notre rôle n’est pas d’être pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie. - Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.”

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Zwar betont er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane (China aus den Fugen) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen angesichts ihres Schmucks (Perlenfischer) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet. Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und leicht kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das – spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ashaver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von einem sagenhaften journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auch für Londres ist dies Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage entstand weniger Jahre vor Londres Tod, der 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden ums Leben kam, und ist sicher eines seiner Meisterstücke. Zudem ist es eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“

Londres, Albert, „Ein Reporter und nichts als das“, Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns (Ahasver ist angekommen), Die andere Bibliothek, Bandnummer: 348, ISBN: 9783847703488.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (1): Mascha Kaléko (1907-1975)

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Bild: Iris Jahnke

Herbstabend (Auszug)

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept (Auszug)

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

(…)
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

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Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html

Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/

Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/

Kurt Tucholsky - Augen in der Großstadt

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Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

„Ich bin ein Berliner!“ Dieser Ausruf hätte genauso gut von Kurt Tucholsky stammen können. Der Dichter kam 1890 in der Metropole zur Welt. Ein geborener Großstadtmensch also im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder machte er sie zum Thema seiner Gedichte - man könnte im Falle der Großstadt-Augen auch schreiben: Seiner Lieder. Dieses Liedgedicht, das mit seinem wiederkehrenden Refrain einen eigenen Rhythmus hat, singt eine bittersüße Melodie vom Großstadtleben, von der Flüchtigkeit der Begegnungen.

Dieses entstand 1930 – in dem Jahr, als Tucholsky sich entschloss, dauerhaft ins Exil zu gehen. 1935 nahm er sich in Schweden - fern von seinem geliebten Berlin - das Leben. So könnte man das Lied auch als herbsüßen Abschied von einer eigenartigen, flatterhaften Geliebten interpretieren: Augen-Blicke in einer hektischen, pulsierenden Metropole, flüchtige Begegnungen, Verheißungen, das sich Finden und Vergehen. Die Großstadt als unbeständige, unnahbare Gefährtin, die Einsamkeit in der Masse.

Tucholsky steht hier auch in einer Tradition der Expressionisten und der Literaten, die die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema machten – exemplarisch dafür der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin.

Wie eine cineastische Untermalung dazu wirkt „Die Sinfonie der Großstadt“ – dieses großartige, experimentelle Filmportrait Berlins von Walther Ruttmann, das 1927 uraufgeführt wurde. Unbedingt sehenswert:

Im Gegensatz zu Tucholsky und Döblin (der 1933 ins Exil ging) passte sich Ruttmann den Zeitläuften an – er drehte ab 1933 für die Ufa unsägliche Propagandafilme wie „Blut und Boden“.

Von Angesicht zu Angesicht - Faces und Gezeichnete

„Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.“

Georg Christoph Lichtenberg

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Der große Aphoristiker Lichtenberg gibt mit diesem Satz den Leitfaden für ein Buch, das nicht nur kunst- und kulturhistorisch Interessierte interessieren könnte: Hans Belting hat mit „Faces – Eine Geschichte des Gesichts“ (C. H. Beck) eine Studie vorgelegt, die das Gesicht in allen seinen Zügen berücksichtigt.

Silke Janssen vom Städel Museum äußerte sich begeistert über „Faces“: „Das menschliche Gesicht steht im Mittelpunk, nicht nur in Hans Beltings Werk: Als individuelles Merkmal gilt es als Ausdruck des Selbst, gleichzeitig dient das Gesicht im öffentlichen Raum zur Darstellung und Repräsentation sozialer Rollen. So schreibt Belting gleich zu Beginn in seiner Einleitung „das Gesicht ist der gesellschaftliche Teil von uns, der Körper die Natur“. Der Autor forscht auf diese Weise in seiner Publikation immer auch nach dem historischen Kontext, in dem ein Gesicht abgebildet wurde. Sei es in Form einer kultischen Maske, das europäische Porträt, ein auf der Leinwand gezeigtes Gesicht eines Ingmar Bergmann-Films oder Andy Warhols Mao-Porträt: Stets wird das Gesicht zum Schauplatz der Geschichte. 
Hans Belting, der von 2004 bis 2007 das Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien leitete, untersuchte bereits in seinem 1990 herausgegebenen Werk „Bild und Kult“ die mittelalterliche Bildverehrung aus sozialgeschichtlicher Perspektive. 2001 schrieb er in dem Buch „Bild-Anthropologie“ über die kulturgeschichtlichen Ursprünge des Bildmachens. Und so wird auch in „Faces“ die Erkundung der Bilder, die die Menschen im Laufe der Jahrhunderte von sich machten, zu einer Erkundung der Kulturgeschichte. Diese Analyse scheint an der einen oder anderen Stelle mit vielschichtigen Referenzen den inhaltlichen Rahmen zu sprengen, doch genau dieser Versuch, allgemein Menschliches mittels der großen thematischen Spannbreite zu fassen, macht dieses Werk zu einer anregenden Lektüre. Dank profunder Kenntnisse, wunderbar ausgewählten Abbildungen und aufschlussreichen wie überraschenden Querverbindungen ist „Faces“ nicht nur ein gelungener Beitrag für die Bild-, Medien- und Kunstwissenschaften sondern auch eine kluge Erzählung, die spannend und inspirierend zugleich ist.“ Stimmt.

Eine großartige, eingehende Besprechung dazu gibt es bei Glanz & Elend: http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/b/hans-belting-faces-eine-geschichte-des-gesichts-palm.htm

Mir ist beim Lesen immer wieder auch August Sander (1876 bis 1964) in den Sinn gekommen. Sander machte mit seinem Bildatlas „Menschen des 20. Jahrhunderts“ Furore.

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Kurt Tucholsky alias Peter Panter schrieb am 25. März 1930 in der Weltbühne: „Das kann man in einem der schönsten und merkwürdigsten Werke ersehen, die mir je untergekommen sind. August Sander, ›Antlitz der Zeit‹ (erschienen im Transmare-Verlag, Kurt Wolff, München). Hier ist die fotografierte Kulturgeschichte unseres Landes.
Sander hat keine Menschen, sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf. Döblin weist in der Einleitung sehr treffend darauf hin, wie der Tod und die Gesellschaft die Gesichter verflachen; wie sie einander angeähnelt werden, immer mehr, immer mehr … wie schwer es ist, noch ein Bauernmädchen von einer Proletarierfrau zu unterscheiden. Was Sander da gegeben hat, ist allerbeste Arbeit.

Das Werk enthält sechzig Fotos, eine Auswahl aus dem Lebenswerk des Fotografen, das in fünfundvierzig Mappen zu je zwölf Bildern erscheinen soll. (Wer Näheres wissen will, schreibe unverbindlich an den Transmare-Verlag, München, Luisenstraße 31.) Fast auf allen Bildern erscheint der Typus; so sehr haben Stand, Beruf, Wohnort, Klasse und Kaste den Menschen imprägniert und durchtränkt. Mancher von uns wird manchmal eine Spur anders empfinden: der Herr Wachtmeister muss nicht immer so einen martialischen Schnurrbart tragen, das ist der puffende Wachtmeister, nicht der schießende Wachtmeister; Poelzig ist nicht ›der Architekt‹, sondern ein einmaliges Original … aber das sind nur kleine, winzige Nebenempfindungen. Auf den sechzig Seiten ist nur ein einziges Mal die Grenze der Objektivität überschritten: das ist auf dem Bilde des Demokraten, der seinen Regenschirm aufgepflanzt hat. Ich habe sehr gelacht, und treffen tut’s auch, aber das ist zu deutlich. Der Satiriker darf dergleichen, und wenn noch so viel auf die Hühneraugen Getretene darüber schreien – der Sittenschilderer darf es nicht. Und in diesem Werk kann Grosz sehen, wie die Bankiers und die Industriellen aussehen: er hat in diesem Bande zum Beispiel gleich zwei Typen: den Viereckigen und den Schmalen, beides Prachtexemplare ihrer Gattung, völlig rein im Gattungsbegriff, die Gesichter durch ihren Beruf zu Ende ausgebildet. Und selbstverständlich durch Karikatur angreifbar und wert, angegriffen zu werden. Es ist ein ganz herrliches Buch – schade, dass es nicht achtzehnfach so dick ist.

Jetzt ist der Nachttisch leer; in der Ecke steht ein Waschkorb mit Büchern und sieht mich vorwurfsvoll an. Schon elf Uhr … Draußen glitzert das Dorf. In einem Zellenkäfig, drüben, hinter der italienischen Grenze, liegt ein Mann und betet ein stilles Gebet für die Gesundheit und das Wohlergehen Mussolinis.“

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1930 erschien im Malik Verlag ein Buch mit 60 Blättern aus dem Schaffen von George Grosz (1893 bis 1959). Der Maler und Karikaturist war einer der wichtigsten Vertretern des Dadaismus und der politischen Kunst der Weimarer Republik. „Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte, durch meine Arbeit die Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“ Den Tanz auf dem Vulkan mit seinen Ausschweifungen und den dunklen Seiten – keiner hielt das so gekonnt ironisch im Bild fest wie Grosz. Das eigentliche Gesicht seiner Zeit: Er zeigte es.

Auch diese Bücher mit Gesicht besprach der großartige Tucholsky:

„Auch dies ist etwas für die Arbeiterbibliotheken: ›Die Gezeichneten‹ und ›Das neue Gesicht der herrschenden Klasse‹ (beide im Malik-Verlag zu Berlin erschienen). Die Bände sind auch in der Reproduktion eine Meisterleistung.

Ich habe sie schon so oft durchblättert – ich kann mich gar nicht sattsehen. Dieses Thema ist zu Ende gezeichnet. Der wundervolle Hohn auf den infamen Rilke-Vers: »Armut ist ein großer Glanz von innen« (ich weiß schon: er hat es anders ›gemeint‹ … Haben Sie schon mal in einer Dachkammer gefroren?); dieses infernalische Blatt ›Zwei Menschen‹, das zweite: man decke den Unterteil ab und sehe sich nur den Mörder an, der sich die Hände wäscht; die Modekarikatur ›Größere und bessere Morde‹, und wie dieser Mann zeichnen kann! So eine Zeichnung wie ›Kleiner Mann‹, an der nichts karikiert ist; das frühe Blatt ›Menschenwege‹ (1915), in dem schon der ganze Grosz enthalten ist; das bittere Idyll ›Witwer‹; dann die beiden Porträts Noskes und Eberts: ›Ein treuer Knecht‹ und ›Ein Sohn des Volkes‹ – die sagen mehr als alle Broschüren und Revolutionsgeschichten über diese beiden. Auch dies ist Deutschland.

Eine kleine Anmerkung sei erlaubt. Es gibt einen Typus, einen einzigen, den Grosz für mein Gefühl nicht so wiedergibt, nicht so ausdeutet, wie er wirklich ist. Das sind der Industrielle und der Bankier. Hier stimmt etwas nicht. Den preußischen Militarismus hat er auf den Blättern ›Die Gesundbeter‹ und ›Alles kehrt einmal wieder‹ derart hergenommen … da ist keine uniformierte Nummer, die hier nicht zu sehen wäre – es sind alle, alle da. Und wie sind sie da –! Aber wenn er die großen Kaufleute porträtiert, dann ist da etwas nicht in Ordnung. Manchmal glückts. Der Mann, der auf dem Blatt ›Besitzkröten‹ im Vordergrund seine Zijarre raucht, ist richtig; der junge Herr, der – ›Guten Morgen‹ – ins Auto steigt, ist es nicht. Vielleicht hat es in der allerschlimmsten Inflation solche Typen gegeben, aber heute dürfte dieser Mann, mit so einem Kopf, mit dem Gesicht – allenfalls Handelsvollmacht haben; in sein Auto steigt der nicht: er schafft es nicht. Ich bin mit George Grosz gut befreundet: er weiß also, dass ich dies nicht für die Hochfinanz schreibe. Ich meine nur: um einen Gegner so zu treffen, wie er das mit den Feldwebeln in Generalsuniform getan hat, muss man den Gegner kennen und ihn bis ins letzte Fältchen treffen. So verfressen, so dickschädlig, so klobig sehen aber die deutschen Bankiers nicht aus, die IG-Farben-Leute nicht, die Hüttenbesitzer nicht. Sie sammeln Porzellan; sie haben zum Teil schmalere Köpfe; sie sind als Teilhaber eines Systems, was die Wirkungen ihrer Handlungen angeht, unmenschlich – aber man sieht es ihnen nicht auf den ersten Hieb an. Sie bevölkern Reinhardts Premieren, sie wählen Deutsche Volkspartei … sie sehen anders aus. Differenzierter, drei Rasternummern feiner; nicht besser: anders. Wie sehen sie aus –?“

Punkt, Punkt, Komma, Strich, und fertig ist das Mondgesicht…

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Semikolon, Anführungszeichen, Abführungszeichen, Apostroph…es gibt Satzzeichen, über die stolpern auch Schriftsteller. Wie beruhigend!

Avant-propos

Ich kann mein Buch doch nennen, wie ich will
Und orthographisch nach Belieben schreiben!
Wer mich nicht lesen mag, der laß es bleiben.
Ich darf den Sau, das Klops, das Krokodil
Und jeden andern Gegenstand bedichten,
Darf ich doch ungestört daheim
Auch mein Bedürfnis, wie mir’s paßt, verrichten.
Was könnte mich zu Geist und reinem Reim,
Was zu Geschmack und zu Humor verpflichten? –
Bescheidenheit? – captatio – oho!
Und wer mich haßt, – – sie mögen mich nur hassen!
Ich darf mich gründlich an den Hintern fassen
Sowie an den avant-propos.

Joachim Ringelnatz

Apropos Apostroph

„PS: Noch etwas zu „Rudi`s Resterampe“. Einmal schrieb ich in einem Text über Beck`s Bier. Prompt schrieb mir ein Leser, es müsse Becks heißen. Lieber Knabe, entgegnete ich, schau doch mal aufs Etikett. Die Brauereien werden ja wohl noch selber entscheiden dürfen, wie sie ihre Erzeugnisse schreiben. Vor kurzem schrieb ich in einem Artikel über „umkreiste A`s“. Es kam eine hässliche Beschwerde. Liebe Leute: Mich interessiert diese Mode, an Apostrophen zu mosern, überhaupt nicht. Wenn es Autoren gefällt, in den neuen Bundesländern, statt die dortigen Kunstschätze zu besichtigen, falsch geschriebene Imbissbuden zu photographieren und zu diesen Photos kleinkarierte Nörgelartikel mit rassistischer Tendenz zu verfassen, dann ist das deren Problem. Ich stehe fest zu meiner Überzeugung, dass es eine erstrangige charakterliche Widerwärtigkeit ist, sich über anderer Leute Rechtschreibfehler lustig zu machen. Erstaunlich ist, wie verbiestert gerade Leute, die sonst allen möglichen Regelwidrigkeiten oder sogar dem Anarchismus das Wort reden, sich über die paar überflüssigen Strichelchen ereifern. Ich sehe in Apostrophen, an Stellen, wo vorher noch nie Apostrophe waren, zumindest ein ersprießlicheres Erzeugnis von Volkskreativität als in Graffitigeschmiere an historischen Gebäuden. Rechtschreibung ist eine hübsche Sache für Leute, die Spaß an ihr haben. Verstöße gegen ihre Regeln, sofern sie nicht zu inhaltlichen Missverständnissen führen, sind nicht zu kommentieren.“

Max Goldt, „Ich wünschte, man büke mir einen Klöben“

 

Im Reich der Interpunktionen

Im Reich der Interpunktionen
nicht fürder goldner Friede prunkt:

Die Semikolons werden Drohnen
genannt von Beistrich und von Punkt.

Es bildet sich zur selben Stund
ein Antisemikolonbund.

Die einzigen, die stumm entweichen
(wie immer), sind die Fragezeichen.

Die Semikolons, die sehr jammern,
umstellt man mit geschwungnen Klammern

und setzt die so gefangnen Wesen
noch obendrein in Parenthesen.

Das Minuszeichen naht, und – schwapp!
da zieht es sie vom Leben ab.

Kopfschüttelnd blicken auf die Leichen
die heimgekehrten Fragezeichen.

Doch, wehe! neuer Kampf sich schürzt:
Gedankenstrich auf Komma stürzt –

und fährt ihm schneidend durch den Hals,
bis dieser gleich – und ebenfalls

(wie jener mörderisch bezweckt)
als Strichpunkt das Gefild bedeckt! …

Stumm trägt man auf den Totengarten
die Semikolons beider Arten.

Was übrig von Gedankenstrichen,
kommt schwarz und schweigsam nachgeschlichen.

Das Ausrufszeichen hält die Predigt;
das Kolon dient ihm als Adjunkt.

Dann, jeder Kommaform entledigt,
stapft heimwärts man, Strich, Punkt, Strich, Punkt …

 Christian Morgenstern