Michel de Montaigne und seine Nierensteine. Eine Reise nach Italien mit Beiwerk.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Auch Philosophen sind den körperlichen Bedürfnissen unterworfen. Hierin macht Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Tausendsassa – Jurist, Politiker, Humanist (damals ging das vielleicht noch zusammen) - keine Ausnahme. Was ansonsten nicht so geschmiert lief auf der Reise nach Italien – dies zeigt Klaus Krolzig in seiner Besprechung eines spät veröffentlichten Werkes des französischen Essayisten auf. Und stellt dem Schriftsteller Montaigne gleich die passende Diagnose aus.

Montaigne - Tagebuch 4

17 Monate und 8 Tage dauert die Reise, die Montaigne  am 22. Juni 1580 beginnt und über die er präzise Tagebuch führt. Nach seiner Rückkehr im November 1581 stürzt sich Montaigne in die Politik, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird.  Das Tagebuch verschwindet in einer Truhe in seinem berümten Schloß. Dort taucht es im 18. Jahrhundert wieder auf. Abschriften werden angefertigt, doch das Original geht auf mysteriöse Weise verloren. Der Anfang dieses Reisetagebuches fehlt bis heute. Die Geschichte der verspäteten Auffindung des Manuskripts, das rätselhafte Verschwinden des Originals und seine Publikation, schon dies gleicht einem Kriminalroman. Oder auch einer Reise. Denn erst 178 Jahre nach dem Tod des Autors, als das Tagebuch 1770 entdeckt wird, publiziert der bekannte Enzyklopädist Jean Baptiste le Rond d’Alembert erstmals das Werk in seiner Gesamtheit.

Die Tatsache, daß Montaignes Reisetagebuch bisher relativ gering geschätzt wurde, hängt vielleicht mit seiner komplizierten Struktur zusammen. Das Werk bricht in zwei Teile auseinander. In jenen Teil, den Montaigne selbst verfasst hat, sowie  in einen Teil, den ein Unbekannter geschrieben hat. Wer dieser Unbekannte ist, der immerhin die ersten 200 Seiten dieser Reise protokollierte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Für Hans Stilett muß es ein Sekretär gewesen sein, der vielleicht nach dem Diktat von Montaigne die erste Hälfte der Reise beschrieben hat.

Jetzt aber machen wir uns auf den Weg:

Nach sieben Meilen Reise erreichen Montaigne und seine  Begleiter zunächst  Vitry-le-Francois, wo man ihnen Denkwürdigkeiten erzählt. Etwa von ein paar Mädchen, die sich der ihnen zugewiesenen Frauenrolle radikal verweigerten: “Sieben, acht Mädchen hatten den Plan ausgeheckt, sich als Männer zu verkleiden und ihr Leben  in der Öffentlichkeit so getarnt fortzuführen” . Wofür sie, wie der Sekretär trocken anmerkt,  “wegen der gesetzwidrigen Praktiken, mit denen sie dem Mangel ihres Geschlechts abzuhelfen suchten, erhängt wurden.”

Als Leser muß man schon eine gewisse Geduld aufbringen, wenn man vor allen Dingen während des Aufenthaltes Montaignes in den Bädern von Lucca seitenlang alle Details zu lesen bekommt über das, was er zu sich genommen und was er von sich gegeben hat.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Montaignes Reise nach Italien ist keine Bildungsreise. Die Reise findet ihren Sinn vielmehr im Unterwegssein. Er beschreibt alles, was er um sich herum und in sich selbst vorgefunden hat, insofern stilistisch eine Fortführung seiner berühmten Essais. Die Reise nach Italien ist nicht zuletzt eine Reise zu den berühmtesten Kurbädern der Spät-Renaissance.  Zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken, der nie müde wird, seine körperlichen Zustände bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Seit 1577 leidet Montaigne an Nierensteinen und damit verbundenen Koliken.

“Am 24. schied ich früh morgens einen trüben Urin aus, der schwärzer war, als ich ihn je gesehen hatte. Dazu einen kleinen Stein. Dies beendete aber keineswegs den Schmerz, den ich unterhalb des Nabels und im Glied verspürte. Am 26. löste sich ein Stein, der jedoch in der Harnröhre stecken blieb. Von da an hielt ich bis zum Mittagessen den Urin zurück, denn ich wollte dessen Druck verstärken. So konnte ich schließlich den Stein ausstossen, nicht ohne Mühsal mit ziemlichem Blutverlust zuvor und danach. Er war groß und lang wie ein Tannenzapfen. An einem Ende aber wies er eine Verdickung auf, die einer Eichel glich. Um die ganze Wahrheit zu sagen: er hatte haargenau die gleiche Form meines Schwanzes.”

Da ich beruflich fast täglich mit Patienten zu tun habe, die an Nierensteinen und dessen Folgen zu leiden haben, habe ich  die genaue Beobachtung  seiner Krankheitssymptome mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Anhand dieser Beschreibungen würde man heute eine Nephrolithiasis und Urolithiasis mit Dysurie und Harnwegsinfekten diagnostizieren, medikamentös und operativ ohne Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.  Unter den damaligen Umständen jedoch eine Krankheit, die für Montaigne den sicheren Tod bedeutete. Mit der Deutung eines anderen Symtoms lag Montaigne jedoch ziemlich daneben:

“Als ich im Bad die Dusche auf den Unterleib gerichtet hielt, schien mir dies die Blähungen auszutreiben. Zugleich ging die Schwellung meines rechten Hodens eindeutig zurück, an der ich sehr oft leide. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß die Schwellung von den Fürzen herrührt, die sich im Hoden verfangen.”

Die Reiseroute führt  über Frankreich in die Schweiz, wo man von Basel aus den Rhein überschreitet und nach Deutschland kommt. Die weiteren Stationen sind Lindau, Kempten, Füssen und Augsburg. Über die Deutschen heißt es,  “Sie haben die gute Eigenschaft, vom ersten Wort an zu sagen, welchen Preis sie verlangen: Handeln hat da wenig Zweck. Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde, aber, sagte der Herr de Montaigne, weder Betrüger noch Spitzbuben.”

Anekdotenreich beschreibt Montaigne seinen Aufenthalt in Augsburg.

“Nach Aussage der Augsburger gibt es in der Stadt zwar Mäuse, aber keine Ratten, von denen das übrige Deutschland heimgesucht wird. Darüber erzählen sie zahlreiche Wunder. So schreiben sie ihre Bevorzugung einem dort beigesetzten Bischof zu; und von der Erde seines Grabes, die sie in haselnußkleinen Klümpchen verkaufen, behaupten sie, daß sie überall, wo man sie ausstreue, das Ungeziefer vertreibe.”

(Anmerkung der Blogbetreiberin, wohnhaft in Augsburg: Dies ist auch heute noch gängige Praxis.)

Weiter geht es über Süd-Tirol nach Venedig. Kurz vor Florenz muß  die Reisegesellschaft einen Angriff marodierender Banditen abwehren. Während eines ersten Aufenthaltes in Rom besucht Montaigne die antiken Stätten, wohnt einer Teufelsaustreibung bei, begutachtet die ausgestellten Häupter der Heiligen Petrus und Paulus und prüft skeptisch das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika.  Das Beschneidungsritual der Juden wird ebenso nüchtern beschrieben wie der Fußkuss beim Papst.

Hier endet das vom Sekretär Montaignes verfasste Tagebuch und Montaigne selbst greift nun zur Feder. Warum er seinen Sekretär in Rom entlassen hat bleibt offen. Die Reise war in Rom zu Ende. Hier hat er sich bis auf einen zwischenzeitlichen Abstecher in die Bäder von Lucca monatelang aufgehalten.  Das Tagebuch ist vor allem auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte, eine Alltagsgeschichte aus der Spät-Renaissance.

Ergänzt wird der reich illustrierte und schön gesetzte Band der Anderen Bibliothek durch ein kluges Vorwort des Übersetzers und zahlreichen Anmerkungen zum Textverständnis.

“Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581”, erschien im Januar 2014 als 349. Band der Anderen Bibliothek. Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett,  492 Seiten, 38 Euro.

“So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen:  Sie bereiteten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais.”

J.W. v. Goethe

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Anna Mitgutsch: Die Welt, die Rätsel bleibt

ImageKann man mit Sprache das Unsagbare benennen?”

Anna Mitgutsch ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ich kannte bisher nur ihre belletristische Seite – von ihren Romanen hatte ich „Die Züchtigung“ und „Familienfest“ gelesen. Die Züchtigung ist ein Buch, das einen lange nicht loslässt. Siehe hier die aktuelle Besprechung bei den Schreibtischmetamorphosen: Rezension “Die Züchtigung”Familienfest” handelt von einer jüdischen Familie in den USA und das Ringen um ihre Identität. Anna Mitgutsch ist eine Schriftstellerin mit einer klaren, leisen, streckenweise auch sehr lyrischen Sprache.

Ein Stil, den offenbar auch die Wissenschaftlerin pflegt. Das ist einerseits erfreulich: Da ist keine, die dem Leser meint, die Welt erklären zu müssen. Da ist eine, der die Welt ebenso ein Rätsel bleibt, dem sie sich fragend, fast schon zögerlich annähert. Wo andere Statements abgeben, wirft Anna Mitgutsch Fragen auf: Das ist das Kennzeichnende ihres Essaybandes „Die Welt, die Rätsel bleibt“, der 2013 beim Luchterhand Literaturverlag erschienen ist. 17 Essays, in vier Kapitel gegliedert: Schriftstellerportraits, Literatur, Transzendenz, Fremdsein. Schon die letzten beiden Kapiteltitel verdeutlichen: Nichts erschließt sich der Grazerin auf den ersten Blick, die Welt ist kein offenes Buch.

Diese Qualität, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, statt Antworten vom Band zu liefern, macht die Wissenschaftlerin aus. Es macht dem Leser das Buch jedoch auch den Zugang mitunter schwer. Gerade dort, wo man eventuell konkrete Informationen erwartet, also bei den Schriftsteller-Portraits, werden so viele Fragen aufgeworfen, dass ab und an das Ziel, die Absicht des Portraits hinter den Fragen verschwindet. So in dem „nachgetragenen“, also fiktiven Brief an Sylvia Plath, der die Abgrenzung zwischen Kunst und Leben zu ergründen versucht. Übrigens ist jedem Beitrag eine Frage als Leitmotiv vorangestellt.

Anna Mitgutsch versucht also nicht, mit Sprache das Unsagbare zu benennen, aber sie unternimmt den Versuch, die Welt der Literatur, der Sprache, der Philosophie etwas zu enträtseln. Besonders stark, informativ und detailreich sind in diesem Essayband die Beiträge über jüdische Literatur und Literaten sowie der Essay „Die Grenzen der Integrität - Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen“. Allein ihre Gedanken über den umstrittenen Begriff der „inneren Emigration“ lohnen die Lektüre dieses Buches schon.

Zitat:
“Der Emigrant Hans Sahl nennt die Zeit von 1933 bis 1945, die Zeit von Verfolgung und Flucht, die Zeit der Diktatur und des Zivilisationsbruchs, eine >Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur<. Wer sich mit den Biographien der Vertriebenen beschäftigt hat, mit den gewaltsam abgebrochenen Leben von Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Arthur Koestler, Stefan Zweig, Ernst Toller, Walter Hasenclever, die Flucht und Verzweiflung in den Tod trieben, wer die literarischen Zeugnisse der Entbehrungen, Erniedrigungen und Verluste der Emigranten gelesen hat, die ihre Flucht überlebten, dem erscheint es unangemessen, ja zynisch, das Wort Emigration im Zusammenhang mit jenen zu gebrauchen, die in einer entvölkerten Kulturszene plötzlich ins Zentrum rückten und ungeschoren blieben oder zu Ehren kamen, auch wenn sie beteuerten, es sei gegen ihren Willen geschehen. Es wäre aber auch frivol, alle, die ihre Heimat nicht verlassen konnten oder wollten, gleichwertig nebeneinander zu stellen, denn es gab einen literarischen Widerstand, der tödlich war, dessen Mittel mutiger und weniger verdeckt waren, so daß sie nicht nur späteren Germanisten, sondern auch der Gestapo und der Zensurbehörde auffielen. Die Lyrikerin Alma Johanna Koenig, die Schriftsteller Albrecht Haushofer und Hans Vogl mögen keine berühmten Autoren gewesen sein, aber sie büßten mit dem Leben für ihren Widerstand, der mit ihrem Werk in Einklang stand.”

Aus dem Inhalt: Essays unter anderem über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertesz, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Marlen Haushofer, Isabella Stewart Gardner, und andere.

Über die Autorin: Anna Mitgutsch wurde in Linz geboren. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis.

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 978-3-630-87418-0, € 19,99

Link zur Leseprobe beim Verlag: http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Welt-die-Raetsel-bleibt/Anna-Mitgutsch/e437891.rhd?mid=4&serviceAvailable=true&showpdf=false#tabbox