Karim Miské: Arab Jazz (2012). Fundamentalisten in Paris.

Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel).
Jedenfalls ist Miské, wie vor wenigen Tagen in der Süddeutschen zu lesen war, nun ein begehrter Interviewpartner: Hat er doch mit dem 2012 veröffentlichten, inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Krimi, quasi die Pariser Geschehnisse der vergangenen Wochen vorweggenommen. So schreibt Axel Hücke im SZ-Feuilleton (20.2.2015/”Hättet ihr uns mal gefragt”):

“Es spielt unter islamistischen Muslimen, ultraorthodoxen Juden, rechtsradikalen Polizisten und Zeugen Jehovas. Und es spielt im 19. Arrondissement von Paris und damit zufälligerweise in genau den Straßen, in denen Saïd und Chérif Kouachi aufgewachsen sind. In denen sie 1992 ihre tote Mutter in der gemeinsamen Wohnung entdeckten; sie hatte sich umgebracht, als sie zum sechsten Mal schwanger geworden war. Die Straßen, in denen ultraorthodoxe  Juden und radikale Islamisten Tür an Tür wohnen. Die Straßen, durch die die Kouachis nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo flohen. Auch der Hassprediger Farid Benyettou, der die Brüder 2005 vom Dschihad überzeugte, kommt unter anderem Namen in „Arab Jazz“ vor. Bei unserem Treffen wird Miské sagen, der Prozess gegen die Brüder und ihren „Mentor“ 2008 habe das Buch stark geprägt, ihn habe beeindruckt, wie es diesem Benyettou gelungen ist, seinen blanken Hass religiös zu verkleiden.”

Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen. Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit - da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy  zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein - so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:

“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen - fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”

Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien - egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird - zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.

Die Bilder zeigen das französische Cover und das der englischen Ausgabe, die nun erst erschien. Auch das deutsche Coverbild ist irgendwie…naja.

Beitrag: CM

Irène Némirovsky: Das Mißverständnis (1926).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Während eines sorglosen Urlaubsaufenthaltes verlieben sich zwei Menschen ineinander. Einmal zurück in der nüchternen Alltagswelt scheint diese Liebe gegenüber den alltäglichen Herausforderungen nicht bestehen zu können. Ein klassisches Sujet, ein Klischee – aber was Irène Némirovsky in “Das Mißverständnis” daraus macht, ist ein literarisches Kunststück, das die französische Schriftstellerin bereits im Alter von nur 23 Jahren schrieb. Ihr Erstlingswerk liegt seit 2013 endlich auch in deutscher Sprache vor.

Im Sommer des Jahres 1924 verbringt der verarmte Aristokrat Yves Hartloup seinen Urlaub im südwestfranzösischen Hendaye, wo er auf die junge und hübsche Denise trifft, eine verheiratete Frau aus reichem Hause, die hier ebenfalls mit Mann und Kind die Ferien genießt. Nach anfänglich freundschaftlichem Umgang schlägt der Funke der Liebe auf beide über, als der Gatte von Denise wegen einer längeren Geschäftsreise das Feriendomizil verlassen muss. Vor allem Denise ist rettungslos verloren.

Doch schon sehr bald hat der Alltag in Paris die beiden heimlich Verliebten zurück. Obwohl Yves aus einer begüterten Familie kommt, ist nach dem Ersten Weltkrieg wenig davon übrig geblieben. Er muss seinen Lebensunterhalt als Angestellter in einem Büro verdienen. Die geheimen Treffen nach Yves’Arbeitstag im Büro verlieren rasch den Reiz des Verbotenen. Yves sieht sich mit Ansprüchen (nicht nur finanzieller Natur) konfrontiert, die er nie wird erfüllen können. Doch Denise klammert sich umso mehr an ihn, je deutlicher sie wahrnimmt, dass ihr Yves entgleitet. Sie will Leidenschaft, Intensität und echte Liebe, er sucht hingegen Ruhe und Erholung.

Als sich Denise ihrer Muttter anvertraut, hält diese ihr den Spiegel vor:

“Und außerdem verlangt ihr so verschiedenartige Dinge von der Liebe! Dein Leben ist immer so ruhig, so ungestört, so gleichförmig gewesen… Natürlich brauchst du deshalb die aufregende Liebe, überschwengliche Freuden und neuartige Leiden – und du brauchst Worte, immer wieder Worte, Worte…”
“Und er was braucht er?”
“Ganz einfach Ruhe, Erholung…”
“Maman, was soll ich tun?”
“Was du tun sollst? Ihn vielleicht weniger lieben. Das Übermaß an Liebe zeugt von großer Unbeholfenheit, manchmal ist es ein Unglück… Meine arme Tochter… Das ist das Leben… Das Leben wird dich lehren, wie es mich gelehrt hat… Ein Mann will nicht zu sehr geliebt werden.”

Das “Mißverständnis” schleicht sich ein, und nicht nur eines, sondern gleich mehrere. Lange merkt Denise nicht, dass Yves längst nicht mehr zu den Begüterten gehört, dass er sich vielmehr, um ihrer willen, hoch verschuldet. Stärker ins Gewicht fällt jedoch, dass Denise und Yves unterschiedlich über die Liebe denken, oder anders gesagt: Denise muss unbedingt die drei Worte „Ich liebe dich“ hören, die ihr allein die Gewissheit bringen würden, dass Yves sie auch wirklich liebt, doch Yves kann sie nicht aussprechen, nicht nach allem, was er im Krieg erlebt hat.

„Zum erstenmal spürte sie, dass es zwischen ihren Herzen ein Hindernis gab, wie eine unbestimmte, aber unüberwindliche Grenzlinie. Doch sie sagte nichts; lieber schloss sie die Augen, lieber vergaß sie sich, wollte nichts mehr sehen, nicht mehr sicher sein, ihn nur nicht verlieren, nur das nicht, ihn nur nicht verlieren.“

In diesen Sätzen steckt die ganze Verzweiflung von Denise, aus der sie nicht mehr herausfinden wird. Am Ende verschwindet Yves klammheimlich aus ihrem Leben und folgt dem Ruf nach einer besseren (beruflichen) Zukunft in Richtung Finnland. Beiden bleibt nur noch die Erkenntnis, wie sehr sie sich geliebt haben.

Irène Némirovsky thematisierte immer wieder in ihrem Werk die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution auf das französische Bürgertum. Ihre eindringlichen Charakterstudien und gesellschaftlichen Momentaufnahmen machten sie in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Star der französischen Literaturszene. 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren, floh sie mit ihren Eltern vor der Oktoberrevolution nach Paris. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde sie 1942 deportiert und starb in Ausschwitz. Erst 60 Jahre später wurde ihr Werk wiederentdeckt. Ihr opus magnum “Suite francaise” wurde zum Weltbestseller. Der Knaus-Verlag hat in den letzten Jahren die meisten ihrer Romane in deutscher Übersetzung herausgebracht.

Link zur Verlagsseite mit Leseprobe: Das Mißverständnis

Albert Cohen: Die Schöne des Herrn (1968).

„Erklären Sie auch die Gründe für die Verführungswut Don Juans. Denn in Wirklichkeit ist er ja keusch und hat nicht viel für diese Bettgefechte übrig, findet sie eintönig und primitiv, lächerlich im Grunde. Aber sie sind unerlässlich, damit die Frauen ihn lieben. So sind sie nun mal. Sie bestehen darauf. Und er braucht ihre Liebe. Erstens als Ablenkung, um den Tod zu vergessen und dass es kein Leben danach gibt, keinen Gott, keine Hoffnung, keinen Sinn, nur das Schweigen eines unbeseelten Alls. Kurzum, aus Liebe zu einer Frau sich das Leben kompliziert machen, um die Angst zu übertönen. Zweitens die Suche nach Trost. Ihre Anbetung tröstet ihn über sein Alleinsein hinweg.“
Albert Cohen, „Die Schöne des Herrn“.

Neben Abbruch-Büchern, Flutsch-Büchern, Empfehlungs-Büchern, Lebens-Büchern gibt es in meinem Leserleben noch die besondere Kategorie der Bücher, die ich mir für bessere Zeiten aufhebe. Bücher, in die ich reingelesen habe, fasziniert war, aber weiß: Dieses Buch geht nebenher nicht einfach so. Dieses Buch braucht Zeit. Seine Zeit. Ein Buch für den Super-SUB sozusagen.
Das ist jener Stapel ungelesener Bücher, der auf die Zeiten der Ruhe, der Kontemplation, des Müßiggangs wartet – auf einen sehr, sehr langen Urlaub (der nicht ansteht), auf ein Sabbatjahr (das unrealistisch ist) oder die Rente (also in 15,16, 17 Jahren, wenn die Herrschaften in Berlin sich da mal festlegen wollen).

Bei mir liegen auf diesem Stapel vor allem die Franzosen. Warum? Je ne sais pas. Aber ich denke: der Proust, die Balzacs, die Stendhals, jetzt sind sie schon so alt, mögen sie noch ein wenig sich gedulden. Erdrückt werden sie derzeit von einem Wucht-Franzosen, der nicht allzu sehr hier bekannt ist: Albert Cohen. Weil aber dessen Buch „Die Schöne des Herrn“ schon beim ersten Reinschnuppern so seltsam faszinierend ist, möchte ich doch ein wenig dafür die Trommeln schlagen – wer weiß, vielleicht findet sich auf diesem Wege ein Financier, eine Mäzenin, die mir einen langen Leseurlaub am Geburtsort Cohens ermöglicht…

Dort, in der Stadt Korfu, stieß ich erstmals auf den Namen dieses Schriftstellers (1895 geboren auf Korfu, 1981 verstorben in Genf), der in Frankreich und der Schweiz zu den Großen zählt. Eine Tafel nahe der Synagoge in der Altstadt Korfus erinnert an den berühmten Sohn der Insel – der allerdings nur seine Kindheit dort verbrachte. Die Familie, französischer Abstammung, zog 1900 nach Marseille, später studierte Cohen in Genf Jura und nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Er war als Rechtsberater für die Jewish Agency und die UNO tätig, ansonsten widmete er sich dem Schreiben. Sein Hauptwerk ist die Romantetralogie „Solal“ – in neuerer Übersetzung ins Deutsche liegt allerdings nur deren dritter Teil, „Die Schöne des Herrn“ vor, 2012 bei Klett-Cotta erschienen.
Einmal neugierig gemacht durch diese simple Tafel, bestellte ich beim Buchhändler meines Vertrauens unbesehen diesen Roman, den derzeit einzig greifbaren Nicht-Antiquarischen – um zunächst vor Schreck einmal zu prokrastrinieren.

Schreckmoment 1: Allein der dritte Teil der Tetralogie umfasst 891 eng- und kleinbedruckte Seiten!
Schreckmoment 2: Der Klappentext. Von Elke Heidenreich. Elke Heidenreich. Na ja.
Sie flötet: „Wenn ich jetzt sagen müsste, welches das schönste Buch ist, was ich in meinem Leben gelesen habe, wäre es dieses.“

Einen echten Bibliomanen schreckt aber letztendlich auch Frau Heidenreich nicht ab. Dagegen jedoch: Der Respekt vor dem Werk. Ich habe ein Viertel des Buches gelesen und beschlossen – ich will die ganze Tetralogie. Und ich will die Zeit dazu. Und weil beides noch in weiter Ferne steht, liegt das Buch nun erst einmal auf dem Super-SUB.
Wer schon vorher dem Charme Albert Cohens und seiner Hauptfigur Solal erliegen will, dem sei diese euphorische Besprechung von Andreas Isenschmid in der ZEIT nahegelegt:
http://www.zeit.de/2013/20/albert-cohen-die-schoene-des-herrn
Auf der Verlagsseite findet sich eine Leseprobe:
http://www.klett-cotta.de/buch/gegenwartsliteratur/die_schoene_des_herrn/21745

Und wer sich – wie ich – auf bessere (Lese-) Zeiten vertrösten muss, den nehme ich zum Trost mit auf einen Bilder-Spaziergang rund um die Geburtsinsel Cohens. Wie gesagt, Mäzene für Bildungsurlaub gesucht.

 

 

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Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen (1838).

„Es wird mir flau zu Mute, wenn ich bedenke, dass er am Ende doch ein Engländer ist, und dem widerwärtigsten Volke angehört, das Gott in seinem Zorne erschaffen hat. Welch ein widerwärtiges Volk, welch ein unerquickliches Land! Wie steifleinen, wie hausbacken, wie selbstsüchtig, wie eng, wie englisch!“

Heinrich Heine, „Shakespeares Mädchen und Frauen“, erstmals erschienen 1838

heineEin Kleinod und Lesevergnügen ist dieses Buch für jeden, der nicht nur Shakespeare, sondern auch den scharfzüngigen HH schätzt. Man ahnt es bereits: Wenn Heinrich Heine, Shakespeare-Verehrer und Bewunderer der holden Weiblichkeit, über die Frauenfiguren des englischen Dramatikers schreibt, dann nicht nur mit viel (Lust-)Gefühl, sondern auch mit der ihm eigenen Spottlust. Schon das Vorwort nutzt der frankophile Heine, der zu dieser Zeit bereits in Paris lebte, um in einem kurzen Streifzug mit den Engländern abzurechnen und die Rezeption und Nachwirkung Shakespeares in anderen Ländern aufzuzeigen:

„Besser als die Engländer haben die Deutschen den Shakespeare begriffen. Und hier muss wieder zuerst jener teure Name genannt werden, den wir überall antreffen, wo es uns eine große Initiative galt. Gotthold Ephraim Lessing war der erste, welcher in Deutschland seine Stimme für Shakespeare erhob. Er trug den schwersten Baustein herbei zu einem Tempel für den größten aller Dichter, und, was noch preisenswerter, er gab sich die Mühe, den Boden, worauf dieser Tempel erbaut werden sollte, von dem alten Schutte an zu reinigen.“

So wird die Galerie der Schönen, der Intrigantinnen, der Leidenden und der Holden aus Shakespeares Dramen von der Präambel an bereits weit aus mehr als ein bloßer Streifzug durch die dramatische Frauenwelt – Heine, der begnadete Feuilletonist, nimmt die Miniaturen sozusagen als journalistische „Aufhänger“, um über Kultur, insbesondere die Theaterwelt und Literatur, Politik, Soziales, Religion und viele weitere Themen zu schreiben. Insbesondere findet sich in diesem Buch, das ein wenig ein Schattendasein unter den Heine`schen Werken führte, eine treffende Analyse des Antisemitismus, selbstverständlich bei den Frauenfiguren aus dem „Kaufmann von Venedig“.

Julia

Die „Shakespeare Gallery“ wurde 1836 zunächst vom britischen Verleger Charles Heath veröffentlicht: 45 Bilder von Frauenfiguren aus Shakespeares Dramen, Stahlstiche fiktiver Cassandras, Ophelias, Cleopatras, Julias bis hin zu einer ziemlich vergrätzt schauenden und leicht übergewichtigen Lady Macbeth. Das britische Original war mit Zitaten aus den Stücken ergänzt – ein Ansatz, der eines Heines kaum würdig gewesen wäre. Dieser, wie immer in Geldnöten, nahm das Werk als Auftragsarbeit an. Für die deutsche Ausgabe, für die der Verleger Henri-Louis Delloye die Lizenz erhalten hatte, schrieb Heine 1838 innerhalb weniger Wochen ausführliche Essays zu den „dramatischen“ Frauenfiguren, die oftmals alles andere zum Inhalt haben – nur nicht die Frau. Nur jene weiblichen Gestalten aus den Komödien wurden dann auch in der deutschen Ausgabe von HH mit Zitaten aus den Shakespeare`schen Werken beglückt.

Lady Macbeth

Selbst diese Schönheitsgalerie stieß bei der preußischen Zensur auf Missfallen, wie Jan-Christoph Hauschild, Autor, Germanist und Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf in seinem Nachwort zur Ausgabe 2014 schreibt.

Den Beamten missfiel, dass Heines „ungezügelte Spottlust (…) die Gegenstände seiner vielfachen Antipathien mit dem ganzen Übermut seines reichen Talentes“ geißle. „Hauptsächlich“ sei es England, das er „mit schneidendem Witz und galliger Bitterkeit“ verfolge und wozu sein „Enthusiasmus für Frankreich und Franzosentum“ den „entschiedensten Gegensatz“ bilde.

Letztendlich ging das Werk jedoch durch und war eines von den insgesamt nur vier Heine-Büchern, die in Preußen verkauft werden durften. Zum Glück. Denn nebst den außerliterarischen Streifzügen und Seitenhieben bot Heine damals schon mit seinen Schriften dem Lesepublikum einen hervorragenden Zugang zu Shakespeares Welt – das Buch verdient allein deswegen einen besseren Rang in der Shakespeare-Literatur, als es bisher innehatte. So sieht Eduard Engel in seinem Vorwort zur 1921 erschienenen Gesamtausgabe Heines nur zwei deutsche Schriftsteller, die in ihrer Shakespeare-Kenntnis von gleichem Rang seien: Heinrich Heine und Goethe.

Portia

Wie immer man im einzelnen über Heines Auffassungen Shakespeare`scher Gestalten - er spricht durchaus nicht bloß immer von den weiblichen – denken mag, der Wert seiner kleinen und größeren Abhandlungen über Shakespeares Meisterdramen kann keinem entgehen, der die Werke gründlich kennt, aber auch keinem, der einigermaßen mit der Shakespeare-Literatur vertraut ist. Und man wäge die wissenschaftliche Grundlage, worauf Heine zu jener Zeit, vor dem Erscheinen der bedeutendsten Arbeiten über Shakespeare fußen konnte.“

Die Bandbreite der Themen, die Heine anhand der Frauenportraits auffächert, kann hier in einer Inhaltsangabe kaum wiedergegeben werden. Ich halte es wie Heine selbst und übernehme den Schlüsseldienst:

„Die vorstehenden Blätter sollten nur dem lieblichen Werke als flüchtige Einleitung, als Vorgruß, dienen, wie es Brauch und üblich ist. Ich bin der Pförtner, der Euch diese Galerie aufschließt, und was Ihr bis jetzt gehört, war nur eitel Schlüsselgerassel.“

Heinrich Heines „Shakespeares Mädchen und Frauen“ wurde nun anlässlich des Jubiläumsjahres von Hoffmann und Campe wieder aufgelegt – das Buch ist auch handwerklich gut gemacht, mit den Abbildungen von 1838 versehen, im Schuber und mit Lesebändchen.

Djuna Barnes: Paris, Joyce, Paris (1922).

“Als ich eines Abends aus dieser Kirche kam, schaute ich ins Café Aux Deux Margots hinein und trank ein Glas Wein, während Joyce, James Joyce, der Autor des verbotenen Ulysses, über die Griechen sprach.
Ein ruhiger Mann, dieser Joyce, mit dem Hinterkopf eines afrikanischen Götzen, lang und flach. Dem Hinterkopf eines Mannes, der mit der vulgären Notwendigkeit geistigen Stauraums gebrochen hatte.“

“Joyce lebt in einer Art dem Zufall überlassener Zurückgezogenheit. Es freut ihn, wenn Freunde vorbeischauen, und angeblich geht er dann überall mit hin und trinkt, was sich bietet. Er hat einen Widerwillen gegen Kunstgespräche, und seine Freunde sind ganz gewöhnliche Menschen.
Sein Hauptthema ist die griechische Mythologie, und er wird niemals müde, darüber zu sprechen, was es mit dem Ursprung des namens Orion auf sich hat, ein Stück Aufklärung, das dem streng akademischen Geist höchst anstößig erschiene, denn er macht aus den Griechen `ungezogene Jungs´, und sorgt dafür, dass sie sich, über die Kluft hinweg, mit Rabelais die Hand schütteln.“

Djuna Barnes, „Paris, Joyce, Paris“, insel taschenbuch

Wenn Djuna Barnes (1892-1982) über Joyce in diesem schmalen Buch im Anschluss an das zweite Zitat noch schreibt: „Er gleitet von einem Thema zu nächsten, ohne eindeutige Unterteilungen vorzunehmen“, so ist darin vielleicht auch eine Selbstskizzierung enthalten. Abschweifend, assoziativ, mysteriös ihr Stil. Aber auch: Leichthändige, luftige Skizzen. Das alles sind diese drei Impressionen, dieses Trio kurzer Stücke über die Stadt, in der die amerikanische Schriftstellerin lange Jahre lebte. 1919 kam sie erstmals nach Paris - zuhause bereits eine anerkannte Journalistin, im Auftreten außergewöhnlich und extravagant. Sie blieb, trotz ihrer anfänglichen leichten Enttäuschung (oder enttäuschten Erwartungshaltung) bis 1940.

Paris, so möchte man meinen, war für die Bohémienne aus Greenwich Village, wie gemacht. Doch es ist durchaus nicht Liebe auf den ersten Blick. In „Vagaries Malicieuses“, dem ersten der im Taschenbuch versammelten Prosastücke, wird die Stadt an der Seine einem kritischen, ironisch-distanzierten Blick unterworfen:

„Ich antwortete ihm, der Blumenmarkt lasse mich vergleichsweise kalt. „Denn einmal“, sagte ich, „hatte ich einen Freund, dem ich Blumen schickte, und nun, da ich keine mehr schicken darf, gehören Blumen für mich zu den Dingen, über die ich besser nicht nachdenke“, und ich setzte hinzu, der Vogelmarkt löse in mir Empfindungen aus, denen ich nicht nachgeben könne. Ich hätte nämlich gern fünf zierliche Freundinnen, denen ich sie schicken könnte. Fünf kleine Mädchen, die mit geschlossenen Augen und geöffneten Händen in einer Reihe sitzen müssten, um fünf sich drängende Hänflinge in Empfang zu nehmen. (…)
Und was nun die Gemüsemärkt und Märkte angeht, wo Fisch und Leber und Hirne in Tümpeln ebenso kalten wie schönen Bluts liegen, über all diese Dinge mag ich überhaupt nicht nachdenken…“

Reisepass 1929

Leicht macht Djuna Barnes ihren Lesern den Zugang nicht. Abschweifende Gedanken, herumschweifende Sätze - erst nach und nach erschließt sich der Sinn, wird die Spöttelei in den maliziösen Launen, Einfällen (ihre Biographin Kyra Stromberg weißt im Nachwort des Buches darauf hin, dass Barnes auch aufgrund ihrer bleibend mangelhaften Beherrschung der französischen Sprache oftmals Mutter- und Gastsprache mischte wie in den „Vagaries Malicieuses“) zu einer versteckten Liebeserklärung an die Stadt Paris.

„Spötter behaupten, Djuna Barnes habe mit ihrem feingestochenen Stil, der bombastisch und theatralisch, aber auch kalt und messerscharf sein kann, keine Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und so weiter verfasst, sondern lauter erste Sätze. Wahr ist, dass viele ihrer Sätze so komplex sind, dass man ihre Bedeutung nicht beim ersten Lesen verstehen kann“, so Verena Auffermann in einem biographischen Aufsatz über die Barnes. Deren Pariser Jahre fallen in ihre größte Zeit - später wird sie, eine der bekanntesten „expatriates“, verarmt und vergessen in New York leben. Doch in den 20er Jahren ist sie Mitglied und Vorzeigefrau der amerikanischen Emigranten an der Seine.

Berenice Abbott - Portraits in Paris, 1920er Jahre. Quelle: http://blog.stylesight.com/vintage/berenice-abbott-at-paris-jeu-de-paume

„…in jenem wuseligen Paris, in dem James Joyce lebt, den Djuna Barnes verehrt wie niemanden sonst. Aber auch Ezra Pound, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald haben sich dort eingefunden. Sie haben alle ihre Rolle beim Aufbruch in die Moderne. Die Rolle der Frauen im Kreis der Intellektuellen und Künstler war weit mehr als die der Hebamme bei der Geburt des Modernism. 1922 verlegte Sylvia Beach, die in der Rue de l`Odéon ihre Buchhandlung betrieb, den Ulysses von James Joyce. Die Journalistin Janet Flanner schrieb ihre Letters from Paris, die im New Yorker erschienen. Berenice Abbott fotografierte das Pariser Leben, Gertrude Stein hielt Hof und arbeitete nachts an ihrer eigenen Moderne. Djuna Barnes war 1919 im Auftrag von „McCall`s Magazine nach Paris gekommen.“

Verena Auffermann über Djuna Barnes in „Leidenschaften - 99 Autorinnen der Weltliteratur“, btb Taschenbuch.

So war also Paris. Für Djuna Barnes aber - wie auch für die anderen der genannten Literaten, bis auf die Stein, die Joyce in herzlicher Abneigung verbunden war - war er das Epizentrum: Der Schöpfer des „Ulysses“. Eines der drei Prosastücke ist ausschließlich ihm gewidmet: „James Joyce“, ein Portrait, das 1922 wenige Wochen nach dem Erscheinen des Mammutwerkes in der „Vanity Fair“ erschien. Das erste Zusammentreffen, es wird geradezu mystifiziert:

„Und dann, eines Tages, kam ich nach Paris. Ich saß im Café Aux Deux Margots, das auf die kleine Kirche Saint-Germain-des-Prés hinausgeht, und sah, wie sich aus dem feuchten Nebel ein großer Mann löste, der, den Kopf leicht gehoben und abgewandt, dem Wind ein wohlgeordnetes Durcheinander von rotem und schwarzem Haar überließ, das sich an einem vorgereckten Kinn in einem schütteren Keil fortsetzte.“

James Joyce, gezeichnet von Djuna Barnes

Mit Worten Bilder schaffen, Szenen festhalten - das ist eine Qualität, die der amerikanische Journalismus hatte. Zumal sich Djuna Barnes sich auch nicht um journalistische - oder andere - Konventionen kümmerte, literarische Grenzen überschritt. das Portrait wird zu einer eindeutigen Ergebenheitserklärung:

„Man sagt ihm nach, er sehe gleichzeitig traurig und müde aus. Er sieht zwar traurig aus, und er sieht auch müde aus, doch ist das die Traurigkeit eines Mannes, der ein mittelalterliches Anrecht auf eine Betrübnis erwirkt hat, die ohne Zeit ist und ohne Ort; es ist die Müdigkeit eines Mannes, der sich aus freien Stücken der Schaffung einer Überfülle in der Beschränkung verschrieben hat.“

„Das ist ungefähr Joyce, und man fragt sich doch, ob Irland nicht endlich seinen Mann hervorgebracht hat.“

1941, schon in den USA, erinnert sich Djuna Barnes an ihr Paris, an ihrer Pariser Jahre. Ein wehmütiges „Klagelied auf das Linke Ufer“ entsteht. Erinnerungen an Menschen, Orte, vor allem aber an James Joyce:

„James Augustin Joyce (er war dank der geistigen Verwirrung eines Gemeindeschreibers in Rathgar Augusta getauft worden) wies einem Zeitalter den Ausgang.“

Durch den Tod, die Flucht vor den Nazis, durch einen Ozean getrennt von all jenen, die sie kannte und liebte, entfährt ihr in diesem Essay ein letzter Seufzer:

„Das Schreckliche ist ja nicht, dass all diese Dinge geschehen konnten, sondern, dass sie alle vorbei sind.“

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“, Die Andere Bibliothek.

londresLiest man Albert Londres` Reportagen, dann drängt sich der Vergleich zum Gonzo-Journalismus förmlich auf. Hier die Wikipedia-Definition:

„Der Gonzo-Journalismus wurde von dem US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründet. Charakterisiert wird diese Form des New Journalism durch das Wegfallen einer objektiven Schreibweise. Es wird aus der subjektiven Sicht des Autors berichtet, der sich selbst in Beziehung zu den Ereignissen setzt. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse. Sarkasmus, Schimpfwörter, Polemik, Humor und Zitate werden als Stilelemente verwendet. Nach journalistischen Kriterien handelt es sich beim „Gonzo-Journalismus“ nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Die Arbeitsweise entspricht nicht den Anforderungen an Journalisten, die zum Beispiel der deutsche Pressekodex vorgibt.“

Eigentlich müsste man sagen: Albert Londres (1884-1932) ist der geistige Vater eines Hunter S. Thompsons oder auch P.J. O`Rourke, der Gonzo-Großvater. Der Franzose war ein Reporter-Star seiner Zeit, Zeitgenosse des anderen rasenden Reporters, Egon Erwin Kisch (1885-1948). Während Kisch deutschen Lesern und Journalisten jedoch noch ein Begriff ist, nicht zuletzt durch den von Henri Nannen 1977 eingeführten Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus (was man inzwischen doch in den gängigen Tageszeitungen und Magazinen sehr vermisst), wird Londres zwar in seinem Heimatland noch immer gewürdigt. Hier aber ist er weitgehend unbekannt beziehungsweise wieder vergessen.

Tucholsky setzte dem Weltreporter 1925 in der „Weltbühne“ (http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1925/Bei+den+Verr%C3%BCckten?hl=albert+londres) ein Andenken – doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Wegbereiter des Gonzo-Journalismus, aber vor allem auch ein Vorbild für jeden ist, der die literarisch gehobene politische Reiseberichterstattung pflegt, beispielsweise Richard Kapuscinski Jahrzehnte später.

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen“, so urteilt Tucholsky alias Peter Panter 1925 in der „Weltbühne“.

Die drei Reportagen – „China aus den Fugen“ (1922), „Ashaver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) – sind weniger journalistische Kunststücke als literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim Matin begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch: „Notre rôle n’est pas d’être pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie. - Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.”

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Zwar betont er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane (China aus den Fugen) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen angesichts ihres Schmucks (Perlenfischer) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet. Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und leicht kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das – spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ashaver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von einem sagenhaften journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auch für Londres ist dies Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage entstand weniger Jahre vor Londres Tod, der 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden ums Leben kam, und ist sicher eines seiner Meisterstücke. Zudem ist es eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“

Londres, Albert, „Ein Reporter und nichts als das“, Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns (Ahasver ist angekommen), Die andere Bibliothek, Bandnummer: 348, ISBN: 9783847703488.

Jérôme Ferrari: Predigt auf den Untergang Roms (2012).

„André wird bald nach Algerien abreisen, und Marcel  neidete seinem Schwager dessen abenteuerliches Leben, das so schmerzhaft im Gegensatz stand zu der Leere seines eigenen, er sah das Kolonialreich nicht zusammenbrechen, er hörte nicht einmal das dumpfe Knirschen seiner angeschlagenen Fundamente, denn er war vollständig auf das Zusammenbrechen seines eigenen Körpers konzentriert, den Afrika mit seiner lebendigen Fäulnis langsam verseuchte, er betrachtete das Grab seiner Frau, auf dem Pflanzen wucherten, die er mit wütenden Machetenhieben niederschlug, und er wusste, dass er ihr bald schon folgen würde, denn der Dämon seines Geschwürs, von tropischer Feuchte genährt, quälte ihn mit unbekannter Stärke, als würde ihm seine dämonische Vorahnung erlauben zu fühlen, dass draußen, in der Schwüle verdorbener Luft, zahllose Verbündete darauf lauerten, ihm bei der Vollendung seines Unterfangens einer langsam vonstattengehenden Zertrümmerung zu helfen, und Marcel hielt die Augen weit aufgerissen in die Nacht, er hörte die Schreie der Beute, er hörte die Leichen der verwirrten Schlafkranken über den Sand schleifen, während die Krokodile sie langsam in Richtung ihres wässrigen Massengrabes zogen, erhörte das raue Schnappen von Kiefern, das Garben aus Schlamm und Blut aufwarf, und in seinem eigenen aufgewühlten Körper spürte er die Organe sich behäbig in Bewegung setzen und sich aneinander reiben, um eine langsame Rotation im Orbit des Dämons in Gang zu setzen, der in der Tiefe seines Bauchs die Hand aufrichtete, starr wie eine schwarze Sonne, Blumen trieben die Spitze ihrer Knospen in die Alveolen seiner Bronchien, ihre Faserwurzeln liefen durch seine Adern bis in die äußersten Enden seiner Fingerspitzen, furchtbare Kriege wurden sich geliefert in dem barbarischen Königreich, zu dem sein Körper geworden war, mit ihrem wilden Siegesgeheul, ihren massakrierten Besiegten, ein ganzes Volk von Mördern, und Marcel nahm sein Erbrochenes unter die Lupe, seinen Urin, seinen Stuhlgang, stets in panischer Angst, darin Gewimmel an honigfarbenen Larven zu entdecken, Spinnen, Krebsen oder Nattern, und er wartete darauf, allein zu sterben, in Fäulnis verwandelt noch vor seinem Tode.“

Jérôme Ferrari, „Predigt auf den Untergang Roms“.

Es hat mich einfach in den Fingern gejuckt, dieses Zitat zu bringen. Ein Satz, locker verteilt über zwei Buchseiten. Der Leser muss wissen, was auf ihn zukommt: Sprache, die einen einsaugt, mitreißt, packt und nicht mehr loslässt. Wer Ferrari liest, begibt sich auf einen literarischen Kurs in die Gefahrenzone.

Nomen est omen. Viel Zeit zum Atemholen lässt einem dieser Ferrari nicht. Der einen hineinzieht mit diesen Suada-Schleifen-Sätzen und die Schlaufe nicht lockerlässt, bis man zerschlagen&zertrümmert den Buchdeckel zusammenklappt. „Die Predigt auf den Untergang Roms“ (2012 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet), ist Schluss- und Meisterstück der Korsika-Trilogie dieses französischen Philosophielehrers und Schriftstellers: „Balco Atlantico“ (2008), „Und meine Seele ließ ich zurück“ (2010) und die Predigt - drei furiose Gewaltstreiche, nichts für zarte Gemüter, überwältigend auch in ihrer sprachlichen Wucht, selbst in der Übersetzung (erschienen beim Secession Verlag für Literatur, Zürich).

„Die Predigt auf den Untergang Roms“ - diese Predigt des Augustinus gibt den Rahmen, bildet das eigentliche Fundament dieser archaischen Geschichte von Werden und Vergehen, Aufbau und Zerstörung.

„Hat Gott jemals versprochen, dass die Welt ewig sei? Die Mauern Karthagos sind gefallen, Baals Feuer ist erloschen und die Krieger Massinissas, die die Festungsmauern Cirtas niederschlugen, sind ihrerseits verschwunden, wie Sand, der verrinnt. Das wusstest Du bereits, aber Du meintest, Rom würde nicht fallen? Wurde Rom nicht aufgebaut von Menschen wie Dir? Seit wann denkst Du, dass Menschen die Macht besitzen, ewige Dinge zu erreichten? Der Mensch hat auf Sand gebaut.“

Der Mensch hat nicht nur auf Sand gebaut, er ist auch ein schlechter Schöpfer, in seinen Schöpfungen ist bereits der Verfall begriffen und der einzige Trost, der darin liegt, ist: Dass sich die Welt trotzdem und dennoch in ihrer Unvollkommenheit immer weiter dreht.

Das ist aber auch das Einzige, aus dem die Figuren in Ferraris Korsika-Trilogie für sich Hoffnung schöpfen können: Ihre Welt ist geprägt von Gewalt, Grausamkeit, Erniedrigung, Inzest, Perversion, Lieblosigkeit, Krankheiten, Nymphomanie, Debilität.

Vor allem fokussiert auf die Welt der Männer, die Eber kastrieren, und wenn das Maß dessen, was an Erniedrigung ertragbar ist, erreicht ist, auch bereit sind, den zweibeinigen Gegner zu entmannen. Die, weil sie über keinen Kanal der Mitteilung verfügen, Gefühle und das Gedächtnis verlieren, sich in ihrer eigenen Einsamkeit vergraben, entweder in der Psychiatrie stranden, oder ihre Erinnerungen an das andere, bessere Leben, das sie vielleicht hätten haben können (und doch nie erreicht hätten) im Alkohol ertränken oder aber zur Tat, zur Waffe greifen.

Die Gewalt ist in dieser Trilogie kein Selbstzweck. Die drei Romane sind weit mehr als  - vielleicht, vielleicht auch nicht - die Geschichte einiger gescheiterter Menschen. Mehr als das leicht überzeichnete Portrait eines Provinznestes auf Korsika, wo man eng aufeinander hockt, abends in der Kneipe bis zum Abwinken säuft und dann das Vergessen auf einem Frauenleib sucht. Solche Dorf-Enge-Geschichten kennt man zur Genüge. Jérôme Ferrari dagegen packt in die Kleinräumigkeit der Kneipe, in der sich das Leben hauptsächlich abspielt, einen ganzen Kosmos, 2000 Jahre Geschichte, einen Streifzug von Augustinus über die Weltkriege, den Kolonialismus bis hin zur korsischen Unabhängigkeitsbewegung. Grundwissen in französischer Geschichte ist hilfreich bei der Lektüre, werden doch auch einige nationale Traumata gestreift - der Untergang Roms sinnbildlich für den Zerfall der französischen Kolonialmacht, vom in Algerien folternden Vorfahren führt die Blutlinie zum Enkel, dem jedes Mittel im Kampf der korsischen Untergrundbewegung recht ist.

Zum Scheitern sind sie letztendlich alle verurteilt, die sprachlosen, in Gewalt verstrickten Protagonisten - selbst der Leibniz-Student, der in seinem Dasein als Kneipenwirt versucht, eine Utopie zu verwirklichen, seine beste der möglichen Welten zu bauen, endet gestrandet in der Bürgerlichkeit. Doch das Individuum zählt wenig, seine Handlungsmöglichkeiten sind beschränkt - das individuelle Schicksal ist Teil einer von Blut&Gewalt geprägten Geschichte, die von der Erstarrung der Rückkehrer aus dem 1. Weltkrieg über Auschwitz als Kulminationspunkt der Gewalt bis zu den Folterungen in Algerien und dem Terror nationalistischer Kurden führt.

Solche Untergangsprosa, die auf die Determiniertheit des Einzelnen abzielt, passt nicht in das moderne (postmoderne?) Konzept individueller Freiheit. Auch der hohe Ton, die an eine Predigt erinnernde Melodie der Sprache, die Ferrari ausreizt, mutet beinahe altmodisch an. In diesem sprachgewaltigen, großen Wurf, der einen zuweilen abschreckt, manchmal abstößt, liegt eine Herausforderung an den Leser. Nachzudenken. Beispielsweise über: Wie sehr sind wir lediglich nur Erben unserer Geschichte? Wieviel und was können wir tun? Und wo beginnt der Selbstbetrug? In der Annahme, wir hätten die “Gnade der späten Geburt?” Wir hätten individuelle Gestaltungsfreiheit? Und bleibt ein Korse immer Korse? (Achtung: Letzte Frage ist ein Schwach-Witz. Aber ich wollte hier schon immer mal meinen Lieblings-Asterix unterbringen.)

Mit großer Geste setzt Ferrari dem Postulat absoluter Selbstbestimmung seine Predigt entgegen: Alles, was ist, ist auf Sand gebaut.

Zum Verlag mit weiteren Angaben zum Autoren und den Büchern der Korsika-Trilogie geht es hier: http://www.secession-verlag.com/content/j%C3%A9r%C3%B4me-ferrari

Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Auch Philosophen sind den körperlichen Bedürfnissen unterworfen. Hierin macht Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Tausendsassa – Jurist, Politiker, Humanist (damals ging das vielleicht noch zusammen) - keine Ausnahme. Was ansonsten nicht so geschmiert lief auf der Reise nach Italien – dies zeigt Klaus Krolzig in seiner Besprechung eines spät veröffentlichten Werkes des französischen Essayisten auf. Und stellt dem Schriftsteller Montaigne gleich die passende Diagnose aus.

Montaigne - Tagebuch 417 Monate und 8 Tage dauert die Reise, die Montaigne  am 22. Juni 1580 beginnt und über die er präzise Tagebuch führt. Nach seiner Rückkehr im November 1581 stürzt sich Montaigne in die Politik, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird.  Das Tagebuch verschwindet in einer Truhe in seinem berümten Schloß. Dort taucht es im 18. Jahrhundert wieder auf. Abschriften werden angefertigt, doch das Original geht auf mysteriöse Weise verloren. Der Anfang dieses Reisetagebuches fehlt bis heute. Die Geschichte der verspäteten Auffindung des Manuskripts, das rätselhafte Verschwinden des Originals und seine Publikation, schon dies gleicht einem Kriminalroman. Oder auch einer Reise. Denn erst 178 Jahre nach dem Tod des Autors, als das Tagebuch 1770 entdeckt wird, publiziert der bekannte Enzyklopädist Jean Baptiste le Rond d’Alembert erstmals das Werk in seiner Gesamtheit.

Die Tatsache, daß Montaignes Reisetagebuch bisher relativ gering geschätzt wurde, hängt vielleicht mit seiner komplizierten Struktur zusammen. Das Werk bricht in zwei Teile auseinander. In jenen Teil, den Montaigne selbst verfasst hat, sowie  in einen Teil, den ein Unbekannter geschrieben hat. Wer dieser Unbekannte ist, der immerhin die ersten 200 Seiten dieser Reise protokollierte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Für Hans Stilett muß es ein Sekretär gewesen sein, der vielleicht nach dem Diktat von Montaigne die erste Hälfte der Reise beschrieben hat.

Jetzt aber machen wir uns auf den Weg:

Nach sieben Meilen Reise erreichen Montaigne und seine  Begleiter zunächst  Vitry-le-Francois, wo man ihnen Denkwürdigkeiten erzählt. Etwa von ein paar Mädchen, die sich der ihnen zugewiesenen Frauenrolle radikal verweigerten: “Sieben, acht Mädchen hatten den Plan ausgeheckt, sich als Männer zu verkleiden und ihr Leben  in der Öffentlichkeit so getarnt fortzuführen” . Wofür sie, wie der Sekretär trocken anmerkt,  “wegen der gesetzwidrigen Praktiken, mit denen sie dem Mangel ihres Geschlechts abzuhelfen suchten, erhängt wurden.”

Als Leser muß man schon eine gewisse Geduld aufbringen, wenn man vor allen Dingen während des Aufenthaltes Montaignes in den Bädern von Lucca seitenlang alle Details zu lesen bekommt über das, was er zu sich genommen und was er von sich gegeben hat.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Montaignes Reise nach Italien ist keine Bildungsreise. Die Reise findet ihren Sinn vielmehr im Unterwegssein. Er beschreibt alles, was er um sich herum und in sich selbst vorgefunden hat, insofern stilistisch eine Fortführung seiner berühmten Essais. Die Reise nach Italien ist nicht zuletzt eine Reise zu den berühmtesten Kurbädern der Spät-Renaissance.  Zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken, der nie müde wird, seine körperlichen Zustände bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Seit 1577 leidet Montaigne an Nierensteinen und damit verbundenen Koliken.

“Am 24. schied ich früh morgens einen trüben Urin aus, der schwärzer war, als ich ihn je gesehen hatte. Dazu einen kleinen Stein. Dies beendete aber keineswegs den Schmerz, den ich unterhalb des Nabels und im Glied verspürte. Am 26. löste sich ein Stein, der jedoch in der Harnröhre stecken blieb. Von da an hielt ich bis zum Mittagessen den Urin zurück, denn ich wollte dessen Druck verstärken. So konnte ich schließlich den Stein ausstossen, nicht ohne Mühsal mit ziemlichem Blutverlust zuvor und danach. Er war groß und lang wie ein Tannenzapfen. An einem Ende aber wies er eine Verdickung auf, die einer Eichel glich. Um die ganze Wahrheit zu sagen: er hatte haargenau die gleiche Form meines Schwanzes.”

Da ich beruflich fast täglich mit Patienten zu tun habe, die an Nierensteinen und dessen Folgen zu leiden haben, habe ich  die genaue Beobachtung  seiner Krankheitssymptome mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Anhand dieser Beschreibungen würde man heute eine Nephrolithiasis und Urolithiasis mit Dysurie und Harnwegsinfekten diagnostizieren, medikamentös und operativ ohne Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.  Unter den damaligen Umständen jedoch eine Krankheit, die für Montaigne den sicheren Tod bedeutete. Mit der Deutung eines anderen Symtoms lag Montaigne jedoch ziemlich daneben:

“Als ich im Bad die Dusche auf den Unterleib gerichtet hielt, schien mir dies die Blähungen auszutreiben. Zugleich ging die Schwellung meines rechten Hodens eindeutig zurück, an der ich sehr oft leide. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß die Schwellung von den Fürzen herrührt, die sich im Hoden verfangen.”

Die Reiseroute führt  über Frankreich in die Schweiz, wo man von Basel aus den Rhein überschreitet und nach Deutschland kommt. Die weiteren Stationen sind Lindau, Kempten, Füssen und Augsburg. Über die Deutschen heißt es,  “Sie haben die gute Eigenschaft, vom ersten Wort an zu sagen, welchen Preis sie verlangen: Handeln hat da wenig Zweck. Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde, aber, sagte der Herr de Montaigne, weder Betrüger noch Spitzbuben.”

Anekdotenreich beschreibt Montaigne seinen Aufenthalt in Augsburg.

“Nach Aussage der Augsburger gibt es in der Stadt zwar Mäuse, aber keine Ratten, von denen das übrige Deutschland heimgesucht wird. Darüber erzählen sie zahlreiche Wunder. So schreiben sie ihre Bevorzugung einem dort beigesetzten Bischof zu; und von der Erde seines Grabes, die sie in haselnußkleinen Klümpchen verkaufen, behaupten sie, daß sie überall, wo man sie ausstreue, das Ungeziefer vertreibe.”

(Anmerkung der Blogbetreiberin, wohnhaft in Augsburg: Dies ist auch heute noch gängige Praxis.)

Weiter geht es über Süd-Tirol nach Venedig. Kurz vor Florenz muß  die Reisegesellschaft einen Angriff marodierender Banditen abwehren. Während eines ersten Aufenthaltes in Rom besucht Montaigne die antiken Stätten, wohnt einer Teufelsaustreibung bei, begutachtet die ausgestellten Häupter der Heiligen Petrus und Paulus und prüft skeptisch das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika.  Das Beschneidungsritual der Juden wird ebenso nüchtern beschrieben wie der Fußkuss beim Papst.

Hier endet das vom Sekretär Montaignes verfasste Tagebuch und Montaigne selbst greift nun zur Feder. Warum er seinen Sekretär in Rom entlassen hat bleibt offen. Die Reise war in Rom zu Ende. Hier hat er sich bis auf einen zwischenzeitlichen Abstecher in die Bäder von Lucca monatelang aufgehalten.  Das Tagebuch ist vor allem auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte, eine Alltagsgeschichte aus der Spät-Renaissance.

Ergänzt wird der reich illustrierte und schön gesetzte Band der Anderen Bibliothek durch ein kluges Vorwort des Übersetzers und zahlreichen Anmerkungen zum Textverständnis.

“Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581”, erschien im Januar 2014 als 349. Band der Anderen Bibliothek. Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett,  492 Seiten, 38 Euro.

“So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen:  Sie bereiteten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais.”

J.W. v. Goethe

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Albert Camus: Der erste Mensch (1960). Mirko Bonné: Wie wir verschwinden (2009).

“Schwarzes Pferd, weißes Pferd,
eine einzelne Menschenhand zügelt das Rasen beider.
Wie heiter die Fahrt mit halsbrecherischem Tempo.
Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt.
Verbirg dich im Licht.”

Albert Camus.
Vorangestellt dem Roman “Wie wir verschwinden” von Mirko Bonné.

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Der 100. Geburtstag von Albert Camus ist sicher ein Anlass zur Erinnerung. Zumal ich schon lange nicht mehr in seinem Werk geblättert habe. Es mögen vielleicht schon mehr als 30 Jahre her sein, als “Der Fremde” und “Die Pest” auf mich als junger Mensch großen Eindruck gemacht haben. Zuletzt wurde mein Interesse an Camus 1995 durch seinen posthum erschienenen Roman “Der letzte Mensch” neu entfacht. Damals war er wieder in aller Munde, selbst das Literarische Quartett mit Marel Reich-Ranicki hat sein Erscheinen als ein literarisches Meisterwerk gefeiert. Ich möchte an dieser Stelle auf dieses Buch noch einmal aufmerksam machen und auf seine Nachwirkung in einem 2009 erschienenen Roman von Mirko Bonné.

Albert Camus: “Der erste Mensch”

Der Mutter mit den Worten gewidmet: “Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können”.

Am 4. Januar 1960 befindet sich Camus als Beifahrer im Auto seines Verlegers Michel Gallimard auf der Rückreise von der Côte d’Azur nach Paris. Aus ungeklärten Gründen kommt der Sportwagen bei hoher Geschwindigkeit von der schnurgeraden Straße ab und prallt gegen einen Baum. Camus ist sofort tot, Gallimard stirbt später in einem Krankenhaus. Neben dem Wrack findet man das Manuskript eines unvollendeten Romans mit dem Titel “Der letzte Mensch”. 144 eng beschriebene Seiten, an denen Camus bis zuletzt geschrieben hat. Als das Fragment 1994, also 34 Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers in Frankreich veröffentlicht wird, ist es eine literarische Sensation. Es ist die ergreifende Reise in seine armselige Kindheit in Algerien. Ein Jahr vor seinem Tod begann Camus mit der fast atemlosen Niederschrift.

Camus bedient sich des Ich-Erzähler Jacques Cormery, eines vierzigjährigen Mannes, offenkundig Schriftsteller, auch wenn dies nie explizit gesagt wird. Cormery ist aber nicht das alter ego von Camus. Er ist Camus. Dies ist kein Roman mit autobiographischen Elementen, sondern eine Autobiographie in der Form eines Romans.

Im ersten, 1913 spielenden Kapitel, wird die Welt der Eltern in Algerien zur Zeit der Geburt des Sohnes geschildert. Mit einem Planwagen kommen sie als Kolonisten von Algier auf das Land. Der Vater ist ein schweigsamer Mann, die Mutter schön, aber halb taub. Diese Welt wird in den nächsten Kapiteln verlassen. Vierzig Jahre später besucht der Sohn das Grab seines 1914 gefallenen Vaters, den er also nie kennengelernt hat. Er fährt nach Algier und besucht Mutter, Onkel und den alten Lehrer, der ihn als Jugendlicher aus der geistigen Armut und Sprachlosigkeit seines bücherlosen Zuhauses erlöste und ihm den Zutritt zum Gymnasium verschaffte. Ihm verdankt er somit seine Entwicklung zu einem der prägenden Intellektuellen. Mehr und mehr gerät dabei in ausführlichen Rückblenden die Welt des Jungen in der Familie, in der Schule, im Viertel, auf dem Gymnasium und bei Arbeiten in einer Eisenhandlung in den Blick des Erzählers. Der Onkel arbeitet als Böttcher, die Mutter als Putzfrau und Wäscherin. Es ist eine Welt der Armut. Wo man nicht lesen und schreiben kann, herrscht die Sprache der Sinne und Gebärden.

Das Viertel im Maghreb mit seinen Katzen und dem Hundefänger, das Böttchern, die Jagd, die Schule, das Fussballspielen mit genagelten Schuhen, aber auch das Klima, der Wind, Sonne und Sand – alles weiß Camus mit wenigen Sätzen unvergeßlich zu machen, und nichts wirkt wie gehetzt. Das wäre schon genug für ein gutes Buch, aber einmalig und ergreifend ist dieser Roman in seinem pathetischen Grundgestus: Er ist, die Widmung sagt es, für die Mutter geschrieben, die nicht lesen kann. Er setzt ihr darin ein Denkmal mit den Worten: “Die, die Liebe erwecken, selbst wenn sie Verworfene sind, sind die Könige der Welt und rechtfertigen sie.”

Mit der Ernennung zum Torwart seiner Schulmannschaft endet Camus’ Roman-Fragment. Das letzte Kapitel heißt “Sich selber unklar” und handelt vom Abschied von der Kindheit und dem schmerzhaften Aufbruch in die Kälte der Erwachsenenwelt.

Erst nach der Lektüre dieses Buches, das in ausgeführter Form wohl sein schönstes geworden wäre, läßt sich ermessen, welch riesigen Verlust der frühe Tod von Albert Camus wirklich bedeutet hat.

Mirko Bonné: “Wie wir verschwinden”

Mirko Bonné hat den Unfall Camus’ in die Handlung seines 2009 erschienenen Romans “Wie wir verschwinden” eingebaut.

Der 4. Januar 1960, an dem der Nobelpreisträger bei einem Autounfall starb, ist zugleich der Tag, an dem die Jugendfreundschaft zwischen dem Erzähler Raymond und seinem Freund Maurice endete. Beide Ereignisse stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang, der Unfall geschah zufällig in der Nähe des Dorfs, in dem die Freunde aufwuchsen. Bonné verbindet das historisch verbürgte Ereignis des Unfalls so geschickt mit der fiktiven Handlung, daß eine vielschichtige Komposition entsteht.

Mirko Bonné setzt verschiedene Erzähltechniken ein. Besonders kunstvoll versteht er das Dehnen der Zeit in den Camus-Kapiteln in Sprache umzusetzen. Einen nur wenige Minuten dauernden Vorgang wie den Autounfall schildert er hier auf mehreren Seiten. Am Anfang scheinen die Handlungsfäden nur lose verschlungen zu sein, doch allmählich verknüpfen sie sich und werden schließlich zusammengeführt. Am Schluß gilt für die Protagonisten, was Camus am Ende von “Der Mythos von Sisyphos” betont: Wir müssen ihn uns als glücklichen Menschen vorstellen. Also das Leben trotz allem zu lieben.

Einen Einblick in das Buch ermöglicht die Verlagsseite: http://www.schoeffling.de/book2look/436