Lesezeichen von: Liselotte von der Pfalz. Leicht anrüchig.

Eigentlich sind schon alle Fragen beantwortet: Was lest ihr? Wie lest ihr? Wen lest ihr? Warum lest ihr? Und auch über das WO? gibt es eine schöne Serie bei Philea`s Blog unter der Rubrik “Leseplätzchen”. Nicht thematisiert wurde bislang jedoch der Leseplatz auf dem stillen Örtchen. Etwas erschüttert hat mich dieses Zitat der Liselotte von der Pfalz - bislang dachte ich, das  Schmökern auf dem Klo sei reine Männer-Sache.
Ich kenne das noch aus meiner Kindheit. Da hieß es stets: “Stinkbomben-Alarm! Opa hält `ne Sitzung!”. Was am Sonntag vormittag bedeutete, dass er sich mit Zeitung und Zigarre aufs Häuschen verzog, um dem Kirchgang zu entgehen. Stunden später tauchte er - nach Hinterlassung einiger abgebrannter Zündhölzer in der Schüssel - wieder auf und hinterließ einen Ort, der für Stunden nicht mehr brauchbar war.
Weitere Feldstudien bestätigten meine kindliche Wahrnehmung: Lesen und sch…, das ist ein rein männliches Verhalten. Und nun kommt die Liselotte daher und zertrümmert mein Weltbild. Deren Briefe sind übrigens für manch weitere markige Sprüche und Erkenntnisse gut.
Tja, und nun ist es an euch: Wo lest ihr?

Von Halbwertszeiten oder: Wie kommt ein Buch in meinen Kanon?

Bildquelle: http://smartlightliving.de/licht-kunst-10-000-led-bucher-fluten-melbournes-strasen/

“Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer und, wenn es um die Schule geht, für den Unterricht besonders geeigneter Werke. Ohne Kanon gibt es nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit.”

So äußerte sich Marcel Reich-Ranicki 2001 im Spiegel-Gespräch mit Volker Hage (vollständig nachzulesen hier). Die Frage “Was man lesen muss” ist ein Dauerbrenner - nicht erst seit MRR`s Kanon (“der Verzicht auf einen Kanon wäre ein Rückfall in die Barbarei”). Sie bewegt, seit es das gedruckte Wort gibt. Dazu nochmals das amüsante Zitat von Arno Schmidt:

“Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. Das Kind schlingt seinen dicklichen MAY=Band in 2 Tagen hinunter (und die schönsten Stellen werden sogar mehrmals genossen); der Mann, tagsüber im Büro, oder hinter Pflug&Schraubstock, druckst, selbst bei bestem Willen, 3 Wochen lang über`m WITTIKO, den ihm ein sinnlicher Kollege empfahl. Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag! Und selbst, wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären`s immer erst arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwägung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und 20 Millionen verschiedener Bücher auf unserem Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich möchte es noch heilsam=schroffer formulieren: Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen; Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur!

Was lesen? Die Frage scheint derzeit bei einigen Bloggern auch virulent - man stöhnt ein wenig unter der Flut der Neuerscheinungen. Mara macht sich auf ihrem Blog Gedanken über das “literarische Haltbarkeitsdatum”, Ludger vom Krimiblog hat sich vorgenommen, 2015 keine neuen Bücher mehr zu lesen, sondern in die Tiefen seines Regals abzutauchen und vor allem Klassiker abzustauben und auch auf Aign an taigh wird ein “Jahr mit Nicht-Neuerscheinungen” ausgerufen. Und auch ich will mich mehr auf meine Leseschwerpunkte - derzeit “Weimarer Republik” - konzentrieren und der Bücherflut widerstehen. Mal sehen, wie lange der Vorsatz hält. Denn einfach wird einem die Abstinenz nicht gemacht: Regelmäßig wird “die literarische Entdeckung” gefeiert, da gibt es wieder ein “Fräuleinwunder” der neueren deutschen Literatur, dort schreibt eine amerikanische Tageszeitung “DEN Roman des Jahres” in regelmäßigen Abständen aus - oftmals jedoch hinterlässt bei mir die Lektüre Zweifel, zweifle ich manches Mal auch an meiner eigenen Einschätzung, wenn sie der medialen Bejubelung entgegensteht.

Schon 2002 schrieb Ulrich Greiner zur “Bücherflut” in der Zeit:
“Noch nie hat es so viele Bücher gegeben. Aber dem Wachstum der Titel entspricht kein Wachstum der Leser. Die durchschnittliche Auflage sinkt. Den Verlagen macht das sehr zu schaffen, denn nur mit erfolgreichen Titeln können sie die weniger erfolgreichen finanzieren. Weil es kein Rezept für den Erfolg eines Buches gibt, hat die Verlegerei Ähnlichkeit mit einem Glücksspiel.”

Wie also lesen?
Was lesen?
Nach welchen Kriterien auswählen?
Und vor allem auch: Nach welchen Kriterien bewerten und besprechen?

Klar ist: Letztendlich ist der Kauf und Genuß eines jeden Buches doch eine Entscheidung, die sich am persönlichen Geschmack orientiert. Aber kann man auch übergeordnete Maßstäbe anlegen, um die Klasse von der Masse zu unterscheiden? Oder ist auch das letzten Endes eine rein akademische Diskussion?

Mich würde einfach interessieren:
Wie treffen andere Bloggerinnen und Blogger ihre Auswahl?
Und nach welchen Kriterien besprecht ihr?
Und was muss ein Buch erfüllen, um in euren persönlichen Kanon zu kommen?

So sei die Diskussionsrunde eröffnet!

#VerschämteLektüren (15): frau g. und die frühreife Olympia.

Éduard Manet, “Olympia” 1863

Seit Mitte 2013 macht “frau g.” auf ihrem Blog “Lust zu Lesen” riesige Lust zum Lesen. Einige ungewöhnliche Buchtipps habe ich bei ihr schon entdeckt - man stöbere selbst auf dem schönen Blog.
Und wird dabei auch auf dieses freundliche Willkommen von Sonja alias “frau g.” stoßen:

“Lust zu lesen hatte frau g. schon immer. Naja, fast. Auf jeden Fall fing sie bereits vor der Einschulung damit an und hörte nie damit auf. Sie las alles, was ihr zwischen die Finger und vor allem vor die Augen kam. Mit der Zeit entwickelte sie dann aber doch gewisse Vorlieben, was ihre Leseauswahl betraf. Heute liest sie am liebsten Zeitgenössisches, ist aber Anderem auch aufgeschlossen – wenn es denn gut geschrieben ist.”

Manchmal darf es aber auch etwas verschämter sein, wie sie uns verrät:

olympia“Als ich das erste Mal bei „Sätze und Schätze“ über die Aktion der verschämten Lektüre las, fiel mir sofort „Olympia“ von Anita Shreve ein. Obwohl ich den Roman bereits vor dreizehn Jahren gelesen habe, ist mir seine Geschichte immer noch präsent und scheint für mich offensichtlich die Vorgaben dieser Reihe „…oder aber um Bücher, die ihr persönlich eigentlich schlecht findet, aber trotzdem gerne gelesen habt“ optimal zu erfüllen.

Der Roman spielt im Jahre 1899. Olympia, sechzehnjährige Tochter aus gutem Haus, natürlich wunderschön und ungewöhnlich intelligent, verliebt sich in einen Freund ihres Vaters. Er, John Haskell, ist von Beruf Arzt, sozial sehr engagiert , verheiratet und selbst Vater dreier Kinder. Dass die ganze Geschichte sich natürlich zum Desaster für alle Beteiligten entwickelt, dürfte klar sein.

Und trotzdem hat mich die Geschichte mitgerissen, und ja, verschämt gebe ich es zu: ich verliebte mich ein bisschen mit in diesen charismatischen, verantwortungsvollen Arzt; fühlte und litt mit Olympia in ihrer dramatisch verzweifelten Situation. Ohnmächtig musste ich mit ansehen, wie die beiden verraten wurden, natürlich auf perfideste Art und Weise: beobachtet durch ein Fernrohr, als sie sich während eines Familienfestes heimlich auf einem Altar liebten (geht’s vielleicht noch ein bisschen dicker?). Dies konnte selbstredend nicht folgenlos bleiben, und so nahm das Drama weiter seinen Lauf…

Natürlich muss man sich dafür nicht wirklich schämen – für mich ist es aber deshalb zum Thema passend, weil dieses Buch alle, aber wirklich alle Ansprüche erfüllt, die ich an einem Buch eigentlich überhaupt gar nicht mag: es spielt mit Klischees, die Story ist vorhersehbar und am Ende gibt es zu allem Überfluss auch noch ein Happy-End. Zumindest fast.”

Auf diesem Blog begrüßt “frau g.” ihre Besucherinnen und Besucher: http://lustzulesen.de/

#VerschämteLektüren (7): Bitte übernehmen Sie, Sophie!

Sophie von den Literaturen ist für ihre treffsichere Lektürewahl und tollen Buchempfehlungen ebenso bekannt wie für ihr vielseitiges Engagement: Vor allem die Independent-Verlage und die unabhängigen Buchhandlungen kommen auf ihrem Blog ganz groß raus. Aber auch sie greift manchmal zu Büchern aus einer ganz anderen Leseecke - es darf auch mal schön leicht sein. “Wohlfühlschmöker” sind für Sophie solche Bücher:

Wer auch mal zur Unterhaltungslektüre greift, ist deswegen lange nicht von guten Geistern verlassen, wie das Bild von Sophie von den Literaturen zeigt.

So wirklich verschämt habe ich keines meiner Bücher gelesen. Ich würde mich auch in die Öffentlichkeit mit ihnen begeben, ich würde sie sogar empfehlen. Trotzdem sie sich einer ziemlich lesbaren und flotten Sprache ohne große Stolpersteine bedienen. Keine hohe Literatur, sondern was für Herz, kalte Winterabende, Kannen voll Tee und die nicht ganz so literarischen Momente.

Rachel Joyce ist so eine Autorin, die einem selbst mit ganz tragischen Themen immernoch ein gutes Gefühl gibt, so geschehen in ,Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry’ und (für mich) noch mehr in ,Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte’. Einfach Wohlfühlschmöker wie man sie eben manchmal braucht, wenn die Schokolade aus und kein Wein mehr da ist. Oder so.

Ähnliches trifft auf Kathryn Stocketts ,Gute Geister’ zu, das als ,The Help’ ja auch irgendwie schmusig (im Sinne von gefällig) verfilmt wurde. Da gibt’s noch wahren Idealismus und Mut und Freundschaft und Liebe angesichts aller Ungerechtigkeit. In diesem Falle der Rassentrennung und Diskrimierung in den 60ern, ausgerechnet in den Südstaaten. Ich empfehle das immer wieder gern, weil man danach das Gefühl hat, man könnte doch ein bisschen Hoffnung in die Welt und ihre Bewohner investieren, es würde irgendwann schon alles gut, wenn man hart genug dafür kämpfe.

Außerdem sei an Stellen wie diesen für mich immer Flavia de Luce genannt, die ich abgöttisch liebe. So richtig altbackene Krimis mit ganz pikantem Dreh – die Ermittlerin ist ja schließlich ein zwölfjähriges Chemie-Genie. Quasi: Wie wäre Miss Marple wohl gewesen, wenn man sie als Kind in ein Chemielabor gelassen hätte? Die Fälle spielen in den 50ern auf dem irgendwie düsteren Familienanwesen bzw. im angrenzenden Bishops Lacey, es gibt zickige Schwestern und Haushälterinnen, die schlecht kochen, aber doch so unglaublich herzlich sind. Einen traumatisierten Butler und jede Menge ironische Seitenhiebe. Flavia macht einfach Spaß!

Hier geht es zur Blogseite der Autorin: http://literatourismus.net/

TRIO 24: Ach du dickes Ding!

Unlängst war ich bei einer Feier Ohrenzeugin eines fachkundigen Gespräches über Kunst. Ein Maler, Bruder der Gastgeberin, freut sich über seine erste Einzelausstellung in Berlin. Einziger Stressfaktor: Der Transport seiner großformatigen Gemälde von Düsseldorf in die Bundeshauptstadt. Großes Format, praktischer Rat: Er solle doch künftig einfach kleinere Bilder malen, warf der Pragmatiker der Runde ein. Und meinte das ganz ernst.

Ich stelle mir den Gesichtsausdruck von James Joyce vor bei der Frage, warum er für einen Tag in Dublin so viele Seiten braucht. Oder wie Thomas Mann reagiert hätte, hätte man ihn aufgefordert, „Joseph und seine Brüder“ doch bitte in einem Band abzuhandeln. Und, na ja, „Jahrestage“, „Zettel`s Traum“, und sowieso beinahe alles von Dickens und Dostojewski - mal ehrlich: Kurz fassen konnten die Jungs sich wohl nicht, oder?

Aber das ist eben das Kreuz mit der Kunst: Sie lässt sich in kein Format pressen. Und dennoch erlebe ich immer wieder eine leise seelische Erschütterung, wenn mich jemand ganz erstaunt-großäugig frägt: „Waaaaaas? So dicke Bücher liest Du?“ Je nach Veranlagung folgt dann meist ein Zusatz, der zwischen Selbsterkenntnis - „Das könnte ich nie!“ - oder wahlweise leichter Überheblichkeit - „Die Zeit muss man ja auch haben!“ - variiert. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Aphorismus als Replik. Bis dahin verschanze ich mich trotzig, eine Antwort verweigernd, hinter einem Wall aus richtig fetten Schinken.

Allerdings trifft das Diskutieren über dicke Dinger einen kleinen wunden Punkt: Auch wenn ein Buch mich nicht packt, mir nicht gefällt, oder auch einfach nur zum falschen Zeitpunkt daherkommt - ich tue mir furchtbar schwer mit dem Abbruch. Bis zum bitteren Ende treibt mich die Hoffnung, wir könnten doch noch Freunde werden. Und je dicker die Dinger sind, desto dramatischer wird dann die Geschichte zwischen dem Buch und mir – Ungeduld steigert sich zu Zorn, Unmut und Wut, fürchterliche Rachegelöbnisse gegenüber dem Autoren, der mich da wider Willen über 1000 Seiten an sich binden will, folgen. Beruhigend ist es, dass es auch anderen Lesern so geht – siehe Achims Kommentare unter #VerschämteLektüren. Andererseits da aber auch der strenge Rat von Arno Schmidt, sich die Lesezeit gut einzuteilen: http://saetzeundschaetze.com/2014/01/17/arno-schmidt-zettels-traum-und-das-apostroph-am-freitisch/

Kapituliere ich ausnahmsweise vorzeitig, plagt mich noch lange, lange Zeit ein schlechtes Gewissen. Drei abgebrochene dicke Dinger, die mich wohl bis ans Ende meiner Lesertage verfolgen:

Also, DAS habe ich mit dem unendlichen Spaß nun doch nicht angestellt: http://www.unendlicherspass.de/2009/10/10/unendlicher-spas-die-reiseausgabe/

„Unendlicher Spaß“ von David Forster Wallace, knapp 1400 Seiten. Ich nahm mir das Buch vor, als ich mit Grippe auf das Sofa gefesselt war. Zunächst las ich - buchstäblich - wie im Fieber. Mit der Körpertemperatur sank auch das Lesevergnügen. Seite 800: Ich war genesen und der Spaß hatte ein Ende. Jedes Mal, wenn ich seither an dem Buch im Regal vorbeilaufe, fällt mich dieser Lesergewissensteufel an: „Mensch, nur noch 600 Seiten, die hättest Du doch auch noch geschafft, jetzt musst Du aber wieder von vorne anfangen, wer weiß, vielleicht wäre es doch noch…“ Aus der Nummer komme ich nur noch raus, wenn ich das Buch weggebe. Buch weg, Spaß aus.

Gucken statt lesen war in dem Fall einfacher für mich…

„Der Herr der Ringe“ von Tolkien. Schon drei Anläufe habe ich unternommen, dieses dicke Ding in Griff zu kriegen. Es gibt da diese eingeschworene Fangemeinde, die flüstern Tolkien-Laien ein, man müsse nur die ersten soundsoviel Seiten bis zur Mittelerde überstehen, dann werde es so richtig gut, aber so was von gut…Ich hab`s versucht, beim Literaturgott, ich hab`s versucht! Drei Anläufe! Dreimal bin ich in den Ring gesprungen und habe fulminant versagt. Einfach aufgegeben. Und seit ich die Verfilmung sah, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich in diesen Ring noch einmal einsteige.

Die Zeit wird kommen. Auch für das dicke Proust-Ding.
Die Zeit wird kommen. Auch für das dicke Proust-Ding.

Tja, und der dritte vorzeitige Abbruch: Er geschah aus Respekt. Ich bin noch auf der Suche nach der Zeit, die ich brauche, um ihn zu lesen: Proust. Und hoffe insgeheim auf eine Chefin wie die Queen, die in Alan Bennetts schönem Buch „Die souveräne Leserin“ einen ihrer Minister in Urlaub schickt, um genau dieses zu tun: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen. Inzwischen steht das dicke Ding in mittlerweile zwei Ausgaben in meinem Regal und heischt nach Zuwendung. Ich suche noch nach ihr. Aber die Zeit wird kommen. Irgendwann.

Mit welchen dicken Dingern seid ihr nicht fertig geworden?