Hanns Heinz Ewers: Lustmord einer Schildkröte

259_6„Dies ist keine sodomistische Geschichte. Es ist eine ganz einfache, wahre Geschichte, und alles, was dabei wüst ist, ist von oben bis unten von mir dazu gelogen worden. Das wird man gleich sehn – aber nur dadurch wurde eigentlich eine Geschichte daraus.“

Eine Warnung vorneweg: Das ist ein Buch für Erwachsene. Aber nicht für Erwachsene, die fürchten, „Michel von Lönneberga“ könnte blonde Schwedenbuben diskriminieren. Bevor aber falsche Erwartungen geweckt werden: Erwachsenenbuch meint nicht Erwachsenenbuch im Sinne Erwachsenenfilmecke. Es geht um Geschichten und nichts anderes als das - Geschichten jedoch, die düster, morbide, lasziv, exzessiv und hintersinnig sind.

„Als ich zwanzig Jahre alt war, wusste ich bestimmt: mir kann keine Frau etwas vormachen.
Als ich dreißig alt war, war ich dessen nicht mehr ganz so sicher.
Heute weiß ich: man lernt nie aus bei den Frauen. Immer neue Kunststücke hecken sie aus, um die männliche Tugend zu Fall zu bringen.“

Würde man politische Unkorrektheit als einen Maßstab anlegen, dann hätte Hanns Heinz Ewers (1871-1943) sein Maß mehr als erfüllt: Der deutsche „Edgar Allen Poe“ - dieser Ruf eilte ihm zu seiner Zeit voraus - schreckte vor nichts zurück. Kannibalismus, Voodoo-Kult, Rachemord und Mundraub, Drogenexzesse und andere Süchte waren seine Themen, degenerierte Adelige, rachsüchtige Halbseidene und weitere sinistre Gestalten sein literarisches Personal, Sodom und Gomorrha seine Zweitadresse. Im wahren Leben ließ er es ebenfalls krachen - ein schillernder Wanderer zwischen den Milieus und Kontinenten, einer, der sowohl auf Reisen in der Außenwelt als auch in die Innenwelt Grenzen überschritt. Einer, der international berühmt und berüchtigt war für Leben und Werk, und ab 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik zu den Schriftsteller-Stars zählte: Ein skandalträchtiger Autor, ein Exot selbst in den „Goldenen Zwanzigern“, in denen es an Exzentrikern nicht mangelte. Freund von Erich Mühsam, Liebhaber von Else Lasker-Schüler, ein Lieblingskind der Boheme. Immer aber auch zwischen den Stühlen, für einen Aufruhr gut – Jünglinge fielen bei seinen Lesungen in Ohnmacht, die Damen der Unter-, Halb- und sonstiger Welt ihm zu Füßen. Und er kostete das alles reichlich aus – um letztendlich diese Lebenserfahrungen in Literatur zu wandeln.

„Meine Herrn, wir stehn in zwei Lagern, zwischen denen es eine Einigung nicht gibt. Sie vertreten den großen Humanitätsglauben, dass das Wohl des gesamten Menschengeschlechtes das einzige Kriterium sei, nach dem alle Dinge gemessen werden sollten. Mir dagegen ist das Wohl und Wehe der Menschheit vollständig gleichgültig.“

Zuletzt überspannte selbst er jedoch den Bogen deutlich, als er sich den Nationalsozialisten andiente, vielleicht auch von deren „esoterischen“ Seite, verkörpert durch Himmler & Co., stark angezogen fühlte - um dann dennoch die Verbrennung seiner „dekadenten“ Schriften miterleben zu müssen.

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Heute gehört er zu den Vergessenen der deutschen Literatur. Auch der wunderbar aufgemachte Band „Lustmord einer Schildkröte“, der 2014 als Band 356 bei der Anderen Bibliothek erschien, hat noch nicht zu der vielleicht erhofften Ewers-Renaissance geführt - die Rezensionen in den Feuilletons der größeren Zeitungen sind überschaubar, Besprechungen kaum zu finden. Ein schöner Beitrag beim WDR findet sich zum Nachhören hier:
http://www.wdr3.de/literatur/lustmordeinerschildkroete104.html

Die abseitig-abgründige Themenwahl, die Kollaboration mit den Nationalsozialisten - sie verstellen heute wahrscheinlich den Blick auf das Werk. Dass HHE im Auftrag Hitlers ein Horst-Wessel-Buch schrieb (das jedoch missfiel und verboten wurde), erscheint heute - auch mit dem Hinweis, dass Ewers streckenweise ein von Drogen verwirrter, schillernder Vogel war - nur schwer entschuldbar.

„Ich möchte im Gegenteil behaupten, dass ich, insbesondere unter Künstlern, das Individuum noch nicht kennengelernt habe, das bis in den letzten Grund psychisch eingeschlechtlich zu nennen gewesen wäre. Unsere Mannheit in allen Ehren, aber sie hindert nicht, dass überall und immer wieder das Weibliche in uns zum Durchbruch kommt.“

„Es ist nicht auszuschließen, dass der etwas drogenzerrüttete Ewers die Nationalsozialisten kurzzeitigen mit seinem künstlerischen Ich des Nazi-Draufgängers der 1890er-Jahre kontextualisiert. (Anmerkung der Blogbetreiberin: Im zweiten Fall steht „Nazi“ für den mundartlichen Ausdruck für Schürzenjäger, den Ewers in einer frühen Erzählung nutzte)“, schreibt Sven Brömsel in seinem informativen Nachwort zu „Lustmord einer Schildkröte“. Jedenfalls: Ewers, 1932 in die NSDAP eingetreten, wird zwar als NS-Pressereferent für das Ausland eingesetzt, von vielen Nazi-Größen jedoch als suspekt und dekadent betrachtet. Und muss die Mesalliance teuer bezahlen: Verbrennung der Bücher, Veröffentlichungsverbot, durch die Nähe zu Röhm gerät Ewers auf die SS-Todeslisten und muss schließlich untertauchen. Und er bezahlt posthum bis heute - sein schillerndes Auftreten, als er sich noch neben Hitler und Goebbels sonnte, verdeckt seinen Einsatz für Opfer des Regimes, denen er zum Untertauchen und zur Flucht verhalf. Und es verdeckt bis heute den Blick auf sein Werk.

„Bittsteller ist in seiner Eigenschaft als Schulinspektor – in vierzehn Gemeindeschulen, einer Realschule, einer Bürgermädchenschule und einem Lehrerseminar – häufig Zeuge der schamlosesten Vorgänge. Unter Anleitung der Lehrer, die darin nur den vorgeschriebenen Unterrichtsbüchern folgen, werden die jungen Seelen genötigt, das Geschlechtsleben der Pflanzen bis in die kleinste Einzelheit zu studieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt der Lehrer die reinen Gemüter in einen Pfuhl des Lasters, in ein Sodom der unerhörtesten Perversionen.“

Aber seine Literatur war frei von der nationalsozialistischen volkstümelnden Ideologie, frei von Blut-und-Boden-Romantik, wenn auch nicht frei von rassistischen Anwandlungen. Letztere sind einesteils im Kontext der Zeit zu werten, andererseits gehören sie aber auch zur Kunst der Provokation, die Ewers pflegte. Ein ständiger Tabubrecher, der politische Korrektheit ad absurdum führte und in seinen Texten versuchte, die moralische Basis seiner Leser zu erschüttern. Er war ein Weltbürger und Überschreiter von Grenzen - im Leben schritt er jedoch oftmals leider auf die falsche Seite. Seine letzten Worte an seine Sekretärin waren: „Jennylein, was war ich für ein Esel!“

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Die politischen Verwirrungen, aber auch die Einordnung als „Paradiesvogel“, vielleicht auch als Zeiterscheinung einer dekadent anmutenden Ära sind es, die eventuell bis heute den Zugang erschweren. So meint man auch bei der Hanns-Heinz-Ewers-Gesellschaft, HHE sei vergessen, weil:

Dafür gibt es eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Gründen. Schon zu Lebzeiten wurde Ewers mit heftigen Vorwürfen konfrontiert: Zu dekadent war seine Themenwahl, die kaum ein Tabu der damaligen Zeit ausließ. Später kollaborierte er fatalerweise mit dem Dritten Reich, freilich ohne dabei sein Engagement für die Gleichberechtigung der Juden aufzugeben.

Ewers, der seine künstlerische Laufbahn als Kabarettist begann, saß stets zwischen allen Stühlen. Er schrieb erfolgreich satirische Fabeln, in denen er scharfzüngig das Spießbürgertum attackierte, im gleichen Atemzug veröffentlichte er liebevoll gestaltete Märchenbücher für Kinder. Mit der meisterhaften Schilderung der Femme Fatale “Alraune” erlangte er Weltruhm und avancierte zum meistverkauften deutschen Autor seiner Zeit. Außerdem ging Ewers als einer der ersten Filmpioniere in die Geschichte ein, mit “Der Student von Prag” erfand er den Autorenfilm und schrieb Dutzende Drehbücher, bis er schließlich von den Nazis Schreibverbot erhielt und damit bis zu seinem Tode praktisch mundtot gemacht wurde.

Der Einfluss von Hanns Heinz Ewers auf die phantastische Literatur, insbesondere in Frankreich und den USA, darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland half er, die Geisteshaltung und die Mentalität der Weimarer Republik und der “Goldenen Zwanziger” zu prägen: Zu auflagenstark waren seine Romane, zu präsent war seine persönliche Erscheinung im öffentlichen Leben, um übersehen zu werden. Selbst Bertolt Brecht sah sich gezwungen, sich mit dem “Fachmann für Entschleierung” auseinanderzusetzen. Dennoch findet Ewers in der herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mal als Fußnote Erwähnung.

Lässt man alle Vorbehalte beiseite, so kann man mit „Lustmord einer Schildkröte“ tatsächlich eine literarische Welt entdecken, die lustvoll in ein dunkles Fantasia entführt. Aus dem enormen Œvre Ewers, der unheimlich, fast schon magisch produktiv war, haben Marcus Born und Sven Brömsel eine Auswahl aus den Erzählungen getroffen, die die ganze düstere und zugleich kunterbunte Welt abbilden, die diesem herrlich ver-rückten Schriftstellergehirn entsprungen sind.

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„Mit seiner Leidenschaft für die Abgründe der menschlichen Psyche, der entgrenzenden Erotik und der Schilderung von Spielarten des Todes provoziert Ewers seine Leser.“ Dies als Zitat aus dem Verlagstext. Zwischen „Schwarzer Romantik“ und „Bildmagischer Avantgarde“ finden sich aber auch kurze Prosastücke, in denen Ewers in der Manier à la Tucholsky und Ringelnatz sowohl Spießbürgertum als auch Hautevolee karikiert, die großes Vergnügen bereiten - sei es die Petitesse „Sie haben meine Mutter gekannt…“, der spielerisch-versponnene „Lustmord einer Schildkröte“ bis hin zu „Die Petition“ und der leise-melancholischen Erzählung vom ehrgeizigen, aber einsamen Briefkasten.

Tatsächlich erreichen es die Erzählungen bis heute noch, dass man als Leser ab und an mit dem Atem stockt, eigene Positionen hinterfragt oder einfach auch voyeuristisch auf die Seiten linst. Es sind Geschichten – abgründig, lebenssatt, grenzüberschreitend, augenblinzelnd, mitreißend. Korrekte, fade, blutleere Geschichten gibt es genug – und deshalb empfehle ich: HHE lesen.

Wilhelm Busch: “Da grunzte das Schwein, die Englein sangen”

“Die Oxford University Press hat Autoren aufgefordert, mit Rücksicht auf religiöse Gefühle in Bild und Text auf Schweine und Würstchen zu verzichten.” Ich dachte zunächst: “Ich glaube, mein Schwein pfeift!” So aber stand es tatsächlich in der Welt zu lesen. Die den Artikel auch prompt betitlete mit “Miss Piggy - auf dem Altar der Korrektheit geopfert”. Man darf sich allerdings schon fragen, wohin die ganzen “pc”-Bemühungen führen, wenn letztendlich die Literatur der vergangenen Jahrhunderte umgeschrieben werden müsste. Saugute Literatur würde dieser überkorrekten Zensur zum Opfer fallen. Nix von wegen: “Schwein gehabt”. Da wird schon wieder die nächste Sau durchs Dorf gejagt. Ok, ich reg mich jetzt nicht auf über solche Schweinereien, sondern überlasse Gastautor Klaus Krolzig die Vorstellung eines ganz und gar politisch unkorrekten, aber sauguten Buches!

Wilhelm Busch: “Da grunzte das Schwein, die Englein sangen”
Ausgewählt von Robert Gernhardt, der 185. Band der Anderen Bibliothek im Mai 2000

In einer von Robert Gernhardt besorgten Auswahl wird die Doppelbegabung Wilhem Buschs als Zeichner und Dichter gewürdigt. Sie zeigt ihn als einen herzerfrischend radikal Opositionellen. Mit den Mitteln von Stift und Papier macht er nieder, was nach herrschender Meinung den Leuten wichtig ist: die heilige Ehe und die liebe Familie, die selig machende Kirche und die holde Kunst, den zünftigen Rausch und das kernig deutsche Turnen. Wilhelm Buschs herrlich zersetzende Komik macht vor keinem Klischee halt. Busch ist nicht konstruktiv, sondern lustvoll destruktiv gegenüber Werten und Wesen. Kinder werden zu Broten gebacken, Respektpersonen werden gepisackt und malträtiert. Mensch und Tier finden zusammen, wenn es heißt: “Der Bürgermeister ängstlich blau, bewegt sich fort auf Kanters Sau.”

Die Leser verfolgen mit Schaulust, wie sich das Unglück entwickelt und laben sich an ihm voll Schadenfreude. Mit kaltem Blick hält Busch die Katastrophen fest und reimt sie in unterkühlter Sprache, wie in seinem Klassiker “Der Eispeter”. Der fällt beim Eislaufen ins Wasser und erfriert. Zuhause wird er am Ofen aufgetaut: “Ach aber ach! Nun ist’s vorbei! Der ganze Kerl zerrinnt zu Brei.” Im letzten Bild steht im Vorratskeller ein Topf mit seinem Namenszug neben Gurkenglas und Käsebottich: “Ja, ja! In diesem Topf von Stein, da machte man den Peter ein. Der, nachdem er anfangs hart, später weich wie Butter ward.” Busch schreibt und zeichnet, was andere nicht zu denken wagen: “Heißa rufet Sauerbrot, heißa meine Frau ist tot.” Die Geschichten in diesem Band sind von einem harmlosen humoristischen Hausschatz weit entfernt. Hier begegnen wir dem zynischen, dem bösen und ungemütlichen Busch. Man tut ihm unrecht, wenn man ihn in die Kinderstube verbannt. Seine Bildergeschichten kann man durchaus als Vorläufer der heutigen Comics betrachten.

Die Auswahl aus Wilhelm Buschs Bildergeschichten beschert dem Leser nicht nur ein frohes Wiedersehen mit alten Bekannten. Der Titel des Bandes ist Programm: “Da grunzte das Schwein, die Englein sangen; so sind sie beide hineingegagen”. Diese Worte, mit denen Busch den heiligen Antonius und dessen Sau in den Himmel aufsteigen lässt, machen deutlich, was Gernhardt will: den kompromisslos komischen Busch präsentieren, der - so Gernhardt - “die Sau hemmungslos und bedenkenlos rausläßt”. Gernhardt ist es mit dieser selten schönen, reich ausgestatteten, in himmelblaues Leinen gebunden Ausgabe der Anderen Bibliothek gelungen, Busch aus den Kinderzimmern herauszuholen und bei den Erwachsenen populär zu machen.

In seinen einleitenden Bemerkungen zu dieser Ausgabe bemerkt Robert Gernhardt: “In ihr habe ich einige der mir liebsten, komischten, kompromißlosesten, katastrophalsten und in Wort und Bild inspiriertesten Episoden aus Wilhelm Buschs Werk zusammengestellt… Meine Liebe zu ihm hat nie nachgelassen, doch der Respekt, der sich naturgemäß erst sehr viel später einstellen konnte, wächst und wächst.”

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen (1940/2014).

Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig

Am 15. Mai 1939 verhaftete die russische Geheimpolizei den Schriftsteller und Publizisten Isaak Babel in seiner Villa im Schriftstellerdorf Predelkino. Es waren die Tage des grossen Terrors, der nationalen Säuberungsaktionen, denen Millionen unschuldiger Menschen zum Opfer vielen. Babel wurde Spionage und Verschwörung gegen das Stalin-Regime vorgeworfen. Er verschwand vom Erdboden, so wie seine Bücher aus allen Buchhandlungen. Auf diese Weise wurde der Schriftsteller Isaak Babel ausgewischt, als hätte es ihn nie gegeben. Er lebte nur noch in den Erinnerungen seiner Leser, Freunde und Familienmitglieder, die noch Jahre später im Ungewissen waren über das, was mit ihm nach seiner Verhaftung geschah.

Die Wahrheit über Babels Schicksal wurde erst zu Beginn der Neunziger Jahre enthüllt, als unter Michail Gorbatschow die KGB-Archive der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Als Babel am 26. Januar 1940 der Prozeß gemacht wurde, widerrief er ein zuvor unter Folter gemachtes Geständnis, Mitglied einer terroristischen, anti-sowjetischen Organisation zu sein. Der Prozeß dauerte nur 20 Minuten, das Urteil stand schon vorher fest: Todesstrafe durch Erschiessung. Die Exekution fand am frühen Morgen des folgenden Tages statt. Babels Leichnam wurde in ein Massengrab geworfen, er wurde nur 45 Jahre alt.

In seinen Erzählungen der “Reiterarmee” verarbeitet der russische Schriftsteller seine Erfahrungen, die er während des Russisch-Polnischen Krieges 1920/21 als Korrespondent gemacht hatte. Er war dort in der Propagandaabteilung der sogenannten “Reiterarmee” eingesetzt, einer Kosakentruppe, deren Leitung General Budjonny übernommen hatte. Die kurzen und eindringlichen Texte, die Babel während dieser Zeit verfaßte, beschrieben jedoch nicht die Leistungen der glorreichen Roten Armee, sondern warfen ein dunkles Licht auf die brutale Kehrseite des Krieges. Die Rolle der Reiterarmee beschreibt er als die einer plündernden und mordenden Horde, die sich im Oktober 1920 geschlagen zurückziehen mußte. Das passte so gar nicht in die offizielle sowjetische Geschichtsideologie.

Babels Interesse gilt dem Schicksal einzelner Menschen, die er jeweils kurz und präzise nachzeichnet. Neben diesen einfühlsamen Porträts stehen unvermittelt die Beschreibungen der Grausamkeiten der Reitertruppe Budjonnys. Die Sprache, in der diese Erzählungen verfasst sind, ist unverkennbar. Babel hat geschafft, was nur wenigen Autoren vorbehalten ist: eine eigene, unverwechselbare Sprache zu finden. Sie ist einerseits knapp und präzise, neigt andererseits zu außergewöhnlichen, expressiven Bildern, so dass die Grenze zum Lyrischen oftmals überschritten scheint.

Besonders aufmerksam registriert Babel das Schicksal der im Kriegsgebiet lebenden Juden und die zahlreichen Pogrome, die sowohl von russischer als auch von polnischer Seite begangen wurden. Aus seinen Tagebuchnotizen von 1920 wird deutlich, daß seine Sympathie eindeutig bei den verfolgten Juden lag, denen er sich zugehörig fühlte. Ihre Welt erinnerte ihn an das Ghetto von Odessa, wo er selbst als Sohn einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Er wuchs mit Thora und Talmud auf, aber führte seit Jahren ein assimiliertes Leben. In der Reiterarmee von Budjonny hielt er seine jüdische Identität verborgen und nahm das Pseudonym Kirill Vasiljevitsj Ljoetov an. Die Welt der russischen Juden ist auch das Thema anderer Erzählungen. So sind die Schurken in den “Erzählungen aus Odessa” nicht mehr die russischen Antisemiten, sondern die Juden selbst. Sie spielen im jüdischen Ghetto der Stadt, das von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Räuberhauptmann Benja Krik, die mordsüchtige Madame Schneeweis, der schatzreiche Geschäftsmann Anderthalb-Jude und Manka, die Mutter der jüdischen Banditen sind zu unvergesslichen literarischen Persönlichkeiten geworden.

Babels schönste Geschichte steht in den Erzählungen des titelgebenden Erzählbündels “Mein Taubenschlag”. Diese spielt während eines Pogroms in dem Städtchen Nikolajev, wo Babel selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte. Protagonist ist ein jüdischer Junge, der 1905 zum Gymnasium zugelassen wird, eine ungeheure Ehre, da in einer Klasse mit 40 Schülern nur 2 Juden erlaubt sind. Als die Liste mit den Schülern der neuen Schulklasse öffentlich gemacht wird, können die Eltern ihr Glück nicht fassen und pilgern zum Aushang dieser Liste, selbst “Großvater” Schojl, ein Großonkel des Jungen, geht mit. Zur Belohnung hat Schojl dem Jungen einen Taubenschlag gezimmert. Bis jetzt herrscht Harmonie, Babel beschreibt das Leben der Familie als eine Idylle voller Wärme und bescheidenem Wohlstand, der mit der Zulassung ans Gymnasium bekrönt wird. Aber plötzlich schlägt alles ins Gegenteil um und man erkennt, daß das Glück nur von kurzer Dauer war. Als der Junge auf dem Markt Tauben für seinen Verschlag kaufen will, bricht in der Stadt ein Pogrom aus. Die Idylle endet in einem Albtraum. Geschäfte werden geplündert und der Junge sieht zu, daß er hier wegkommt. Dann sieht er einen ihm bekannten Invaliden, der das gestohlene Eigentum der Juden aufkauft. Der Junge fragt den Invaliden, ob er Schojl gesehen hat. Der Invalide antwortet nicht, aber entreißt dem Jungen seinen Korb mit Tauben. Er greift nach der schönsten Taube und schlägt diese dem Jungen so großer Wucht ins Gesicht, daß die Eingeweide der Taube an seinen Wangen herabgleiten. “Ausrotten muß man eure Saat” ruft er dem flüchtenden Jungen noch nach. Als er nach Hause kommt, sieht er dort seinen ermordeten Großonkel liegen, verhöhnt mit einem Fisch in Mund und Hosenstall. Auf nicht einmal 12 Seiten weiß Babel eine geschundene Welt zu beschreiben, die den Leser bis ins Mark trifft.

Nicht alle Erzählungen lassen sich bequem konsumieren. Eine genaue und mehrmalige Lektüre ist manchmal erforderlich. Wählt man eine den Erzählungen angemessene Lesegeschwindigkeit, wird man bald entdecken, wie kunstvoll dieser Zyklus komponiert ist. Die einzelnen, scheinbar unverbundenen Geschichten werden sowohl durch sprachliche als auch durch inhaltliche Motive eng zusammengehalten.

Unter dem Titel “Mein Taubenschlag” sind nun sämtliche Erzählungen von Isaac Babel beim Hanser Verlag erschienen. Allerdings liegt das erzählerische Gesamtwerk übrigens mit der Hanser-Ausgabe nicht zum ersten Mal auf Deutsch vor, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension vom 28. November 2014 schreibt. Wohl aber in neuer Übersetzung, unter anderem von Peter Urban, der bereits mit vorzüglichen Übersetzungen anderer russischer Autoren auf sich aufmerksam gemacht hat. Ich bleibe bei meiner Ausgabe der Anderen Bibliothek aus dem Jahre 1987, in bester Ausstattung und ebenfalls vollständig.

Isaak Babel: “Mein Taubenschlag”, Sämtliche Erzählungen, Hanser-Verlag 2014, 864 Seiten, 39,90 Euro. Link zur Verlagsseite:

http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/isaak-babel-mein-taubenschlag/978-3-446-24345-3/

Enrique Vila-Matas: Dublinesk (2013).

„Er wendet sich wieder den Zeitungsnachrichten zu und liest, dass Claudio Magris meint, die Reise im Kreis wie bei Odysseus, der wieder heimkehrt - die traditionelle, klassische, ödipale und konservative joycesche Reise -, werde um die Mitte des 20. Jahrhunderts ersetzt durch die lineare Reise nach vorn: eine Art Pilgerfahrt, eine Reise, die immer weiter führt, auf einen unmöglichen Punkt der Unendlichkeit zu, wie eine gerade Linie, die zögernd ins Nichts vorstößt.
Er könnte sich jetzt als Reisender geradeaus begreifen, doch er will keine Probleme und beschließt, dass seine Lebensreise traditionell, klassisch, ödipal und konservativ verlaufen soll.“

„Riba neigt nicht nur dazu, das Leben zu lesen wie einen literarischen Text, sondern bisweilen sieht er die Welt auch als ein wüstes Gestrüpp oder Knäuel.“

„Seit jeher hegte er eine große Bewunderung für Schriftsteller, die jeden Tag aufs Neue eine Reise ins Unbekannte wagen und dabei doch den ganzen Tag nur in ihrem Zimmer hocken. Hinter verschlossenen Zimmertüren bewegen sie sich nicht weg vom Fleck, und dennoch finden sie gerade in dieser Begrenzung die absolute Freiheit, der zu sein, der sie sein wollen, sich dorthin zu begeben, wohin auch immer ihre Gedanken sie führen.“

Enrique Vila-Matas, “Dublinesk”, 2013, Die andere Bibliothek

Also noch einer, der von Joyce, Bloom und Dublin nicht lassen kann. Enrique Vila-Matas erzählt von einem alternden Verleger, aus dem Literaturgeschäft ausgestiegen, dem Alkohol entsagt, in der Ehe fremdelnd, den wenigen Freunden entfremdet, in den Weiten des Internet verloren. Eine Reise nach Dublin soll eine Wende bringen - zum Guten oder zum Schlechten. Auf den Spuren von Joyce und Bloom soll die Literatur zu Grabe getragen werden. Die Reise wird dublinesk, grotesk, burlesk.
Eingeschränkte Leseempfehlung meinerseits: Ein Buch über die Literatur voller Anspielungen und Bezüge auf alles, was Rang und Namen hat - Magris, Pessoa, Freud, Robert Walser, Hugo Claus, Gadda, Melville. Es bleibt unter anderem der Eindruck zurück, dass Vila-Matas hier nicht nur seiner eigenen Literaturbessenheit freien Lauf lässt, sondern sie auch ein wenig zur Schau stellt. Dazwischen aber wunderbare Textpassagen, Reflektionen, Selbstfindungsabsätze - über die drei wichtigen “L”: Das Leben, die Liebe, die Literatur.
Kein leichtes Lesevergnügen, auch wegen zeitweiliger Redundanz und Langatmigkeit. Aber eine Fundgrube für Joyce- und Beckett-Fans.

In der Bloggerwelt stieß jedoch die deutsche Übersetzung und das Lektorat auf harsche Kritik. Zum Weiterlesen seien folgende Links empfohlen:

http://www.enriquevilamatas.com/escritores/escrschlickerss1.html

http://andreas-oppermann.eu/2013/07/13/hat-der-lektor-von-enrique-vila-matas-dublinesk-zu-viel-getrunken/

http://www.theomag.de/83/am395.htm

http://kopkastagebuch.wordpress.com/2013/07/10/glucklich-wie-ein-trottel/

Hans Christoph Buch: Sansibar Blues (2008).

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“… und als du auf der Dachterrasse ein nasses Laken zur Seite schiebst, stockt dir der Atem beim Rundblick über die Stadt: Hinter rostroten Wellblechdächern blaut das Meer, dessen Brandung ein Fischerboot durchsticht, während eine Flotte von Dhaus vor der Hafeneinfahrt kreuzt, die bunt geflickten Segel von der Abendbrise gebläht.”

Hans Christoph Buch, „Sansibar Blues oder: Wie ich Livingston fand“, Die andere Bibliothek, 2008.

Ostafrika im Hirne,
Togo, der Amok tanzt:
das ist die weiche Birne
mit fremder Welt bepflanzt;
die istrisch dunklen Meere
vor dem großen Vestibül,
sein Vater fuhr eine Fähre:
historisches Lustgefühl.

„Ostafrika“ von Gottfried Benn, 1. Strophe.

Entstanden in den 1920er Jahren in einer Reihe von Gedichten, in denen Benn Sehnsuchtsorte umschrieb – geprägt vom „Exotismus“ und Vorstellungen, die auch die Intellektuellen in der deutschen Kolonialmacht umtrieben.

Sansibar – der Name klingt wie ein exotisches Versprechen, verheißt den Duft von Gewürzen, den Wind der Wüste, ruft Bilder von Inselparadies und lockendem Afrika hervor. Doch die Hauptfiguren in Hans Christoph Buchs Roman wollen vorwiegend eines: Nichts wie weg da.

Ein amerikanische Diplomat und ein DDR-Gesandter, der zwar den sprechenden Namen „Hans Dampf“ hat, aber alles andere als ein solcher ist, eine Sultanstochter und ein Sklavenhändler, Che Guevara und Ryszard Kapuscinski geben sich in diesem Roman quasi die Klinke in die Hand. Durch die wechselnden Erzählstimmen und Zeitläufe ist die burleske, bunte Erzählung zwar nicht ganz einfach zu lesen, doch in sich geschlossen – die Fäden laufen zusammen, ergeben eine stimmige Komposition. Zumal sich der 1944 geborene Schriftsteller Hans Christoph Buch intensiv mit der kolonialen Vorgeschichte Afrikas auseinandergesetzt hat und den Kontinent wohl kennt wie seine Westentasche. Empfohlen sei von H. C. Buch, der, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin lebt, auch sein Romanessay „Apokalypse  Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“, erschienen 2011 in der Anderen Bibliothek.

Sansibar, die vor Tansania liegende Insel, spielte für Ostafrika lange eine bedeutende Rolle, vor allem als Zentrum des Sklavenhandels, der unter der Herrschaft des Sultans von Oman hier „florierte“. Kleine historische Anekdote am Rande, die auch von HCB entsprechend verarbeitet wird: Am 27. August 1896 kam es zum kürzesten Krieg der Weltgeschichte, dem nur 38 Minuten dauernden Britisch-Sansibarischen Krieg. Der Krieg begann um 9:00 Uhr morgens. Nachdem der Sultan von Sansibar gestorben (oder vergiftet worden) war, beanspruchte sein Cousin Khalid ibn Barghash den Thron für sich. Der britische Admiral Sir Harry Rowson ließ daraufhin nach einem Ultimatum so lange den Palast des selbsternannten Sultans von See aus mit Schiffsgeschützen beschießen, bis dieser die Flucht ergriff. Auch auf das zweite bedeutende historische Datum – der Sansibar-Vertrag von 1890, mit dem die Deutschen gegenüber den Briten ihre Gebietsansprüche über Sansibar zugunsten Helgolands fallen ließen – findet in der Blues-Romanze seinen Niederschlag.

Um so richtig in das Buch eintauchen zu können, alle Finten und Finessen, die HCB legt, erfassen zu können, um das Muster aus Fiktivem und Tatsächlichem zu erkennen, sind schon gewisse historische Kenntnisse und Erläuterungen notwendig – dies macht die Lektüre nicht einfach, ohne Hilfestellung und Hintergrund bleibt es bei dem Lesen einer vergnüglichen, amüsanten tour de force über das Eiland.

Marko Martin dröselte das Text-Gewebe in seiner Rezension bei Deutschland-Radio etwas auf: „Verbürgte Tatsache jedenfalls ist, dass eine der Töchter des Sultans Sayid bin Said Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Hamburgischen Kaufmann durchbrannte und als konvertierte Protestantin namens Emily Ruete ihre späteren Tage an der Nordsee und der Berliner Spree verbrachte. Von da brachen dann 100 Jahre später DDR-Diplomaten und Stasi-Experten nach Sansibar auf, um dem dort gerade installierten sozialistischen Regime marxistische Ideologie und effektives Foltern beizubringen, während gleichzeitig ein gewisser Ernesto Guevara de la Serna, genannt Che, auf Sansibar sein vorletztes Revolutions-Abenteuer vorbereiten sollte: eine Kongo-Expedition, die freilich genauso scheitern würde wie Dr. Livingstones oder Morton Stanleys Versuche, dem so genannten “schwarzen Kontinent” sein Geheimnis zu entreißen.

Wem spätestens hier nun der Kopf schwirrt, sei beruhigt, denn Hans Christoph Buchs Stil ist von einer verführerischen (wiewohl doppelbödigen) Geschmeidigkeit, die dem ewigen menschlichen Tohuwabohu immer wieder eine elegant-subversive Note abzugewinnen weiß. Auch wenn in diesem versiertem Große-Jungen-Streich von Roman die Figuren-Psychologie öfters der Schnurre, der überraschenden Wendung und den letztendlichen Plots geopfert wird - es ist ein pures Vergnügen, wie hier jemand Historisches auseinander nimmt und nach eigenem Gusto wieder zusammenfügt, ohne dass auch nur einmal staubtrocken Papierenes durch die Zeilen wehen würde.“

Zum Weiterlesen über den Autoren selbst empfiehlt sich dessen Internetseite:

http://www.hans-christoph-buch.de/

P. J. O`Rourke: Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen (2006).

„Im Herbst 1992 fuhr ich in das frühere Jugoslawien, um mir den Multikulturalismus in der Praxis anzusehen. In letzter Zeit hatten dort verschiedene kulturelle Gruppen eine ungeahnte Kraft entfaltet – durch Schusswaffengebrauch.“

„Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen“, P. J. O`Rourke, Die andere Bibliothek, 2006.

Manche wollen immer dorthin, wo es kracht, scheppert, wummert, wo Tränengas und Pfefferspray in der Luft liegen, wo hinter der nächsten Mauer ein Heckenschütze lauern könnte. Es gibt Journalisten, die Adrenalin-Junkies sind – P.J. O` Rourke, Schriftsteller, Satiriker, der unter anderem für den Playboy, Vanity Fair und als Auslandskorrespondent für den Rolling Stone berichtet hatte, scheint mir einer von diesen zu sein. Er ist einer dieser Kriegsberichterstatter, die – selbst im Urlaub – das Herz der Finsternis besuchen.
Abgeklärte philosophische Betrachtungen über die Ursachen und Auswirkungen des Krieges darf man von diesem Buch nicht erwarten. Eher literarische Trips in die Hölle, die beim Lesen jedoch einen Höllenspaß machen. O`Rourke schreibt lakonisch, ironisch, zuweilen hemmungslos zynisch darüber, was der Mensch dem Mensch antut. Und das um den ganzen Globus herum und ohne Aussicht auf Einsicht. Reflektionen über das Wesen des Hasses und des Krieges kommen eher beiläufig daher:

„Und wieder überraschte mich etwas seltsam Alltägliches – der Hass, so allgemein und allmächtig, so einfach und so selbstverständlich wie Gott in der Al-Aksa-Moschee. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass Gott oder der Hass Menschen derart durchdringen kann, schon gar nicht gleichzeitig.“ (In: „Das Heilige Land – Gottes Affenhaus!, 1988).

Der Journalist ist hier nicht der abgehobene Berichterstatter, der seinen wehrlosen Zeitungslesern aus scheinbar neutraler, übergeordneter Wächterposition die Welt erklärt. Sondern O`Rourke erinnert zuweilen an ein Kind, das staunend durch den Spielzeugladen Welt läuft und uns daran teilhaben lässt – aber eben durch einen Spielzeugladen, in dem es lebensgefährlich zugeht. Sein Stil ist eine ständige Gratwanderung zwischen Pose und Polemik. Zuweilen verdeckt die Lust an der Sprache, an der gelungenen Formulierung den Ernst der Sache. O`Rourke schreibt nach dem Motto „Besser einen guten Freund verloren, als einen guten Witz verschenkt“. Nichts also für zarte Gemüter.

„Ich hatte gehofft, wenigstens gut zu schlafen. In Beirut waren die Bombenexplosionen doch ziemlich zahlreich gewesen. In der Nacht vor meiner Tour in den Süden hatte ich fünf gehört, die erste gegen Mitternacht in einer Bar, ein paar Blocks vom Commodore entfernt, und das steigerte sich dann bis zu einem großangelegten Attentat auf den Erziehungsminister um sechs Uhr morgens, bei dem Fenster im Umkreis von drei Blocks in die Brüche gingen und in meinem Zimmer die Möbel wackelten. Der Minister überlebte, meine Nachtruhe nicht.“ (In: “Auf Bummeltour im Libanon”, Oktober 1984).

Politische Korrektheit darf man also bei den Reportagen des 1947 geborenen Amerikaners, der sich im Lauf der Zeit vom Hippie zum liberalen Konservativen wandelte, nicht erwarten. Schließlich gilt O `Rourke als einer der frühen Vertreter des Gonzo-Journalismus (siehe Link unten), sein Artikel „How to Drive Fast on Drugs While Getting Your Wing-Wang Squeezed and Not Spill Your Drink“ von 1979 ist ein bestes Beispiel dafür. Doch es fehlt auch die besserwisserische Mentalität, die leichte Arroganz mancher Journalisten. O`Rourke gesteht in seinem Erstaunen über die grauenvolle Seite der Welt ein, dass er von den Ursachen mancher Krisenherde oder Mentalitäten anderer Völker so wenig versteht wie einer seiner Leser, beispielsweise in Toledo, Ohio (da ist er geboren) oder Augsburg.

„Als sich der Junge in der ersten Reihe der Kundgebungsteilnehmer die Spitze des kleinen Fingers abbiß und mit dem eigenen Blut KIN DAE JUNG auf seine superschicke Skijacke schrieb, kam ich mir, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wie ein Auslandskorrespondent vor, der aus der Fremde zu berichten hat.“

Da soll sich mal einer auskennen:

„Praktisch jeder Kandidat für das Präsidentenamt hieß Kim. Da gab es Kim Dae Jung, den Spitzenkandidaten der Opposition, und Kim Young Sam („Kim, die Fortsetzung“), ebenfalls Spitzenkandidat der Opposition, und außerdem Kim Yong Pil („Kim, die frühen Jahre“), den Ausputzerkandidaten der Opposition. Und dann war da noch der Nicht-Kim-Kandidat, Ro Tae Woo (sprich: No Tai Uh oder wie die Vertreter der Auslandspresse ihn nennen: Just Say No). Diesen Ro hatte die Militärdiktatur, die seit 1971 über Südkorea herrschte, ins Rennen geschickt.“

(Beide Zitate aus der Reportage „Seoul Brothers“ über die ersten Präsidentschaftswahlen in Südkorea, Dezember 1987).

„Die Christen hassen die Muslime, weil sie unter den Osmanen nur Leibeigene waren. Die Muslime hassen die Christen, weil sie unter den Kommunisten immer die Doofköppe waren. Die Kroaten hassen die Serben, weil sie mit den Kommunisten kollaboriert haben, und die Serben hassen die Kroaten, weil sie mit den Nazis kollaboriert haben, und nun hassen die Bosnier die Montenegriner, weil die mit den Serben kollaborieren. Die Serben hassen die Albaner, weil sie nach Jugoslawien gekommen sind. Und alle hassen die Serben, weil es von denen mehr zu hassen gibt als von allen anderen und weil sich die Serben, als Jugoslawien 1918 (mit Hilfe unseres oberschlauen Präsidenten Woodrow Wilson) geschaffen wurde, sofort die Kontrolle über Staat und Armee unter den Nagel gerissen und seitdem nicht wieder hergegeben haben. Und die Slowenen werden ebenfalls von allen gehasst, weil sie bei dem jetzigen Bürgerkrieg schon nach zehn Tagen nicht mehr mitmachten.“ (In: „Die multikulturelle Gesellschaft“, Bosnien 1992).

Fatal erinnert dieser Krieg, der vor wenigen Jahren erst mitten in Europa herrschte, an die derzeitigen Vorgänge in der Ukraine. Und auch für die Ukraine könnte man den Schlusssatz von O`Rourkes nehmen:

„Risto wirkte glaubwürdig. Und seine Geschichte war die Geschichte des jugoslawischen Bürgerkriegs in Kurzform: aus vergangenem und gegenwärtigem Unrecht erwächst künftiges Unrecht, Intoleranz gebiert neue Intoleranz, Gewalt zeugt neue Gewalt, und mittendrin die Risto Dukis dieser Weltgegend – als verführte Unschuld.“

So zynisch der Amerikaner zwischendrin über die Politik und über Politiker schreibt – an Mitgefühl mit den Opfern der weltweiten Kriege, seien es palästinensische Familien oder israelische Jungsoldaten im Gazastreifen, Verletzte und Tote im Bosnienkrieg, fehlt es ihm nicht. Nur eine Spezies lässt er – nebst den Politikern – selten ungeschoren davonkommen: Und das sind seine Berufskollegen, die, wenn sie bedächtig berichten, zu „breitmäuligen Reiseschriftstellern“ werden, sich davor fürchten, dass etwas gut und organisiert läuft, wie beispielsweise die Wahlen in Mexiko und wie „bleiche Drohnen“ immer auf der Suche nach der nächsten Story sind.

Wenn die bleiche Drohne wie P. J. O` Rourke schreibt, dann wird man zumindest auf einen höllenmäßigen Trip mitgenommen: Selbst aus einem „Arbeitsurlaub“ auf Guadeloupe, wo er in Ruhe die Europäische Verfassung („das stilistische Niveau ihrer Prosa könnte selbst Danielle Steel nicht unterbieten“) lesen will, wird da ein Abenteuer.

Und zuweilen erinnert er ganz mächtig an einen großen Vorgänger in Sachen politisch unkorrekter Reisereportagen – man denke an die „Arglosen im Ausland“ oder „Bummel durch Europa“. Dies könnte ebenso gut aus der Feder von Mark Twain stammen:

„Ich sah zu, wie die Royalisten auf den Stufen vor einem Betonkasten im sowjetischen Stil, dem einstigen Kulturpalast, ein Podium und ein paar Lautsprecher aufbauten. Sie entrollten die herzchirurgisch eingefärbte albanische Fahne, auf der eine Figur zu sehen ist, die entweder einen doppelköpfigen Adler oder ein sehr wütendes Huhn aus einer Monstrositätenschau darstellt. Die Royalisten riefen Sprüche ins Mikrophon wie: „Wir bekommen unsere Stimmen, auch wenn dafür Blut fließen muss!“ In einer Lautstärke, die selbst die krachendsten Karambolagen übertönten. Dann spielten sie – noch lauter – die albanische Nationalhymne, die so lang ist wie eine Wagner-Oper und so klingt, als würde die Blaskapelle des amerikanischen Marine Corps den Ring aufführen und dabei die Treppe im Washington Monument von oben bis unten herunterrasseln.“
(In: „Schlechter Kapitalismus“, Albanien Juli 1997).

Für den vorliegenden Sammelband hat Albert Christian Sellner die besten Reportagen P. J. O` Rourkes zusammengestellt. Wenn dieses die besten sind, dann möchte ich gerne wissen, wie gut die schlechteren sich lesen…

Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt (1995).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Jetzt ist es wieder soweit. Was mussten wir nicht alles ertragen an katastrophalen Reiseerlebnissen unserer Freunde und Verwandten und natürlich deren fotografische Zeugnisse von übervollen Stränden und Berge, Berge, Berge…  Doch es waren nicht die schlimmsten Reisen der Welt. Denn mit dem, was Hans Magnus Enzensberger  in “Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt” darbietet, kann das kaum mithalten. Dieses Buch ist eine gedruckte Medizin gegen Reisefieber und hinterläßt beim Leser die Erkenntnis, daß die Vorstellung einer Reise oft schöner ist als die Reise selber.

HME sieht im Massentourismus eine besonders perfide Form des  Kreuzzugs und will mit diesem Buch nur eines erreichen, und dieses sagt er deutlich: “Abschreckung”. Und was gibt es Schöneres für einen Reisemuffel wie mich, als sich seiner Empfehlung vorbehaltlos anzuschließen, sich im Sessel zurückzulehnen und in den Schreckenberichten zu schmökern. Diese Horrorstücke aus aller Welt haben jedoch mit dem zeitgenössischen Fernreisebetrieb wenig zu tun und sind eher Beispiele für einen ausgeprägten Individualtourismus.

35 dramatische, bizarre und mitunter komische Reportagen hat HME zusammengetragen. Seine literarisch Reisenden sind nicht etwa Amateure, sondern die absoluten Profis. Kapuscinski, Theroux, Chatwin, Bouvier. Die legten binnen eines Monats mehr Kilometer zurück als wir in anderthalb Leben. Und schlingerten von einer Katastrophe zur nächsten. Was ist diesen “Reisemasochisten” nicht alles widerfahren: Der Schriftsteller Evelyn Waugh schipperte 1931 in teuflischen Unwettern mit dem Schaufelraddampfer den malariaverseuchten Kongo hinauf, Bruce Chatwin entrann mit Mühen den Wirren eines Militärputsches im westafrikanischen Benin und der polnische Autor Ryszard Kapuscinski wäre 1991 im sibirischen Workuta fast erfroren, als er sich bei -35 Grad mitten in der gottverlassenen Stadt verirrte.

Man lese nur einmal den Bericht von Evelyn Hall vom Versuch, den “Mexikanischen Adler”, einen Nachtzug, zu erreichen. Einmal abgesehen vom trüben Nieselregen, der gemeiner als jeder ehrliche Wolkenbruch Gepäck und Kleidung durchtränkt, gehen dem Reisenden die mexikanischen Beamten an die Nieren, die ihn durch den Regen von einem Bahnsteigende ans andere hetzen, weil er vor Besteigen des Zuges eine unauffindbare Zollstation passieren muß. Oder Alfred Döblin in Krakau! Was kann es Schlimmeres für einen Dichter geben, als von “inferioren” Elementen, wie er sich ausdrückt, um ein Trinkgeld gebeten zu werden, also für etwas zu bezahlen, das er niemals bekommen hat. Reisen bildet, heißt es. Döblin und andere variieren diese Erkenntnis zu einem bisweilen bitteren “Reisen kostet”.

Der Reiseleiter Enzensberger hat zwischen diese Erlebnisberichte philosophische Fundsachen und Reisereflexionen gestreut, die zum Nachdenken über Sinn und Unsinn des Reisens anregen. Wie auch immer, die stattliche Sammlung erbitterter Reisegegner unterhält prächtig und ließ mich an Ringelnatz und dessen Touristenpaar denken: “Es waren einmal zwei Ameisen, die wollten nach Australien reisen. Doch in Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh. Und so verzichteten sie weise, auf den restlichen Teil der Reise.”

Das Buch gibt es seit dem Frühjahr 2014 auch als rororo-Taschenbuch – und der schwungvollen Verlagsvorschau merkt man an, dass es dort wohl auch den Texter begeisterte:

„Endlich mal ein anderes Urlaubsbuch: defätistisch, finster – und von der ersten bis zur letzten Seite wunderbar unterhaltsam! Statt schneeweißem Strand, wildem Sex und ewiger Sonne erleben die Protagonisten dieser Reisen endlose Plackerei, fürchterliche Unterkünfte und grausames Wetter – und Hunger, üble Langeweile und Todesgefahr statt Friede, Freude, Eierkuchen. Wie alle Horrorgeschichten haben auch solche vom Reisen einen perversen Reiz. Diese großartige Anthologie bietet Abenteuer auf allen Kontinenten, von Urumtschi bis Huehuetenango, von Frankfurt bis Petuschki und Katmandu bis Kompong Som. Und welch erlesene Autorenschar: Bruce Chatwin, George Orwell, Rolf D. Brinkmann, Joseph Roth, Alfred Döblin, Liam O’Flaherty, Ryszard Kapuscinski, V.S. Naipaul, Paul Nizan, Evelyn Waugh u.v.m.!

«Alles Unglück des Menschen kommt nur von daher, dass sie es nämlich nicht verstehen, allein in einem Zimmer zu bleiben»: Das wusste schon Blaise Pascal vor dreihundert Jahren. Viele der Reisenden, denen wir hier begegnen, wären wohl wirklich lieber zu Hause geblieben, allein in ihrem Zimmer, anstatt das erleben zu müssen, was ihnen in der Fremde zustieß. Etwa George Orwell 1931 in Paris («Schlucht von hohen, leprösen Häusern»), Rolf Dieter Brinkmann 1972 in Rom («eine Toten-Stadt: vollgestopft mit Särgen und Zerfall und Gräbern») oder Joseph Roth 1925 in Vienne, der vielleicht ältesten Stadt Frankreichs (und nicht zu verwechseln mit Vienna, Wien).“

Hier findet sich eine Leseprobe: Nie wieder!

Hans Scherer: Stopover (1995).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Es kommt schon mal vor, daß man bei zerstreuter Zeitungslektüre inne hält, weil man im gleichförmigen Chor der Journalisten-Prosa auf einmal eine Stimme hört, die ganz eigen ist und zu mir, dem Leser spricht, die Geschichten erzählt und im Ohr bleibt.Und dann schaut man, wer da spricht und liest bald die Artikel mehr des Autors  wegen als seiner Themen.

Mit Hans Scherer, Redakteur im Reiseblatt der FAZ, könnte es einem so gehen. Eigentlich hatte er Dichter werden wollen. Als diese Neigung unerfüllt bleiben mußte, beschloß er, Journalist zu werden. Aufgrund seiner Fabulierlust beschreibt er nicht nur das, was er sieht, sondern auch die Bilder und Geschichten, die sich oft als zweite Wirklichkeit über Städte und Landschaften gelegt haben. Scherers Reportagen aus der fernen und nahen Welt haben einen eigenen Sound, nicht marktschreierisch, sondern ein feines, ironisches Intrument. Im Vorwort zu Stopover schreibt Scherer, daß das Reisen für ihn eine Art des Verschwindens sei. Seit 1998 ist er endgültig verschwunden. Gerade deshalb möchte ich hiermit diese einzigartige Stimme dem Vergessen entreißen.

Zu einem Weltreisenden hat mich Scherer nicht gemacht, das hätte er wohl auch nicht gewollt. Bei aller Abenteuerlust hat er bei der  Rückkehr einer seiner Reisen einmal gemeint, wie schön es doch zuhause sei. Am liebsten reiste er in wilde Gegenden. Aus Afghanistan, aus Indien, aus dem chinesischen Meer und von den schlammigen Ufern des Amazonas hat er berichtet, aber ebenso aus gefährlichen Städten: aus Kalkutta, Bangkok, Rio und Paris. So schreibt er aus Beirut: “Auf der Straße riecht es nach allen Gewürzen des Orients, nach Exkrementen, nach Verwesungen. Zwischendrin hängen in den Geschäften halbe Ochsen und ihre Innereien, lebende Hühner. Ein Hupen und ein Geschrei, daß man nur noch weg will. Man kann böse hupen, fröhlich hupen, drohend hupen. Meistens hat das Hupen eine Bedeutung, die bei uns völlig unbekannt ist: man hupt, weil man den, der an der Straße steht, mitnehmen will. Das ist hier üblich, jeder wird mitgenommen. Der Preis: man zahlt, was man will. Beirut war eine Erfahrung in Menschlichkeit. Hier steige ich ins Auto von wildfremden Menschen und fahre in die abenteuerlichsten Viertel von Beirut.”

“Für Indien muss man geboren sein”

Hans Scherer bleibt in seinen Reiseberichten immer ganz er selbst. Er verharrt auf dem Beobachterposten des Fremden, der sich nicht assimiliert, sondern gerührt oder abgestossen, befremdet oder begeistert ist. Mit dem Blick eines Europäers reiste er um die Welt. Dabei konfrontiert er uns mit der Begrenztheit dieser Wahrnehmung: “Ich war also wieder in Indien. Für Indien muß man geboren sein. Bei den einen löst schon die Nennung des Namens Entsetzen aus. Sie schlagen die Hände über den Kopf zusammen, bedecken das Gesicht, schütteln sich und murmeln etwas von Armut, Krankheit, Seuchen und Terrorismus. Wie kann man nur in solch ein Land reisen! Die anderen verschließen die Augen nicht vor der Gegenwart, siewollen sehen, was sie schreckt. Indien ist die Gegenwart! Gewiß, mit tausend Problemen, von denen keines gelöst wird, indem man das Land meidet und draußen  niemand weiß, wovon eigentlich die Rede ist. Nehmen wir die Kinderarbeit zum Beispiel, und die Schulpflicht. Letztere besteht nicht und sie wird nicht einmal gefördert, weil die Schule die soziale Struktur auf dem Lande durcheinander brächte und weil es in den Städten sowieso schon zu viel Arbeitslose mit Hochschulbildung gäbe. Darin steckt eine brutale Wahrheit, deren Bedeutung man erst begreift, wenn man am Tümpel steht, in dem die jauchzenden Kinder die Wasserbüffel putzen, vielleicht ihren Großvater. Ich gehöre zu denen, die Indien lieben, mit allem, was dazu gehört. Denn Liebe, die sich nur die besten Stücke aussucht, ist keine Liebe. So liebe ich denn auch den Dreck, die Armut, die Krankheiten, die Probleme.”

Zu Unrecht ist Scherer als Flaneur bezeichnet worden. Anders als der distanziert betrachtende Flaneur legt er es darauf an, von den Dingen innerlich berührt zu werden. Stets begibt er sich in Situationen, die ein unberührbartes Beobachten unmöglich machen. Mit seinen fernen und nahen Reiseberichten öffnet er dem Leser die Augen für die vielen Wirklichkeiten, die erst einmal angenommen werden wollen, bevor man ihnen weltverbessernd zu Leibe rückt. Und dies ohne erhobenen Zeigefinger. Mit guten, komischen und traurigen Geschichten, mit Ironie, Rührung und mit einem beneidenswerten Blick für Anschaulichkeit, Geschichten die sich einprägen.

Das Buch “Stopover” mit den gesammelten Reiseberichten  ist als 129. Band 1995 in der Anderen Bibliothek erschienen und sowohl neu als auch gebraucht im antiquarischen Buchhandel  erhältlich.

Klaus Krolzig

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“, Die Andere Bibliothek.

londresLiest man Albert Londres` Reportagen, dann drängt sich der Vergleich zum Gonzo-Journalismus förmlich auf. Hier die Wikipedia-Definition:

„Der Gonzo-Journalismus wurde von dem US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründet. Charakterisiert wird diese Form des New Journalism durch das Wegfallen einer objektiven Schreibweise. Es wird aus der subjektiven Sicht des Autors berichtet, der sich selbst in Beziehung zu den Ereignissen setzt. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse. Sarkasmus, Schimpfwörter, Polemik, Humor und Zitate werden als Stilelemente verwendet. Nach journalistischen Kriterien handelt es sich beim „Gonzo-Journalismus“ nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Die Arbeitsweise entspricht nicht den Anforderungen an Journalisten, die zum Beispiel der deutsche Pressekodex vorgibt.“

Eigentlich müsste man sagen: Albert Londres (1884-1932) ist der geistige Vater eines Hunter S. Thompsons oder auch P.J. O`Rourke, der Gonzo-Großvater. Der Franzose war ein Reporter-Star seiner Zeit, Zeitgenosse des anderen rasenden Reporters, Egon Erwin Kisch (1885-1948). Während Kisch deutschen Lesern und Journalisten jedoch noch ein Begriff ist, nicht zuletzt durch den von Henri Nannen 1977 eingeführten Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus (was man inzwischen doch in den gängigen Tageszeitungen und Magazinen sehr vermisst), wird Londres zwar in seinem Heimatland noch immer gewürdigt. Hier aber ist er weitgehend unbekannt beziehungsweise wieder vergessen.

Tucholsky setzte dem Weltreporter 1925 in der „Weltbühne“ (http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1925/Bei+den+Verr%C3%BCckten?hl=albert+londres) ein Andenken – doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Wegbereiter des Gonzo-Journalismus, aber vor allem auch ein Vorbild für jeden ist, der die literarisch gehobene politische Reiseberichterstattung pflegt, beispielsweise Richard Kapuscinski Jahrzehnte später.

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen“, so urteilt Tucholsky alias Peter Panter 1925 in der „Weltbühne“.

Die drei Reportagen – „China aus den Fugen“ (1922), „Ashaver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) – sind weniger journalistische Kunststücke als literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim Matin begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch: „Notre rôle n’est pas d’être pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie. - Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.”

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Zwar betont er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane (China aus den Fugen) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen angesichts ihres Schmucks (Perlenfischer) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet. Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und leicht kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das – spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ashaver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von einem sagenhaften journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auch für Londres ist dies Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage entstand weniger Jahre vor Londres Tod, der 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden ums Leben kam, und ist sicher eines seiner Meisterstücke. Zudem ist es eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“

Londres, Albert, „Ein Reporter und nichts als das“, Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns (Ahasver ist angekommen), Die andere Bibliothek, Bandnummer: 348, ISBN: 9783847703488.

Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Auch Philosophen sind den körperlichen Bedürfnissen unterworfen. Hierin macht Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Tausendsassa – Jurist, Politiker, Humanist (damals ging das vielleicht noch zusammen) - keine Ausnahme. Was ansonsten nicht so geschmiert lief auf der Reise nach Italien – dies zeigt Klaus Krolzig in seiner Besprechung eines spät veröffentlichten Werkes des französischen Essayisten auf. Und stellt dem Schriftsteller Montaigne gleich die passende Diagnose aus.

Montaigne - Tagebuch 417 Monate und 8 Tage dauert die Reise, die Montaigne  am 22. Juni 1580 beginnt und über die er präzise Tagebuch führt. Nach seiner Rückkehr im November 1581 stürzt sich Montaigne in die Politik, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird.  Das Tagebuch verschwindet in einer Truhe in seinem berümten Schloß. Dort taucht es im 18. Jahrhundert wieder auf. Abschriften werden angefertigt, doch das Original geht auf mysteriöse Weise verloren. Der Anfang dieses Reisetagebuches fehlt bis heute. Die Geschichte der verspäteten Auffindung des Manuskripts, das rätselhafte Verschwinden des Originals und seine Publikation, schon dies gleicht einem Kriminalroman. Oder auch einer Reise. Denn erst 178 Jahre nach dem Tod des Autors, als das Tagebuch 1770 entdeckt wird, publiziert der bekannte Enzyklopädist Jean Baptiste le Rond d’Alembert erstmals das Werk in seiner Gesamtheit.

Die Tatsache, daß Montaignes Reisetagebuch bisher relativ gering geschätzt wurde, hängt vielleicht mit seiner komplizierten Struktur zusammen. Das Werk bricht in zwei Teile auseinander. In jenen Teil, den Montaigne selbst verfasst hat, sowie  in einen Teil, den ein Unbekannter geschrieben hat. Wer dieser Unbekannte ist, der immerhin die ersten 200 Seiten dieser Reise protokollierte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Für Hans Stilett muß es ein Sekretär gewesen sein, der vielleicht nach dem Diktat von Montaigne die erste Hälfte der Reise beschrieben hat.

Jetzt aber machen wir uns auf den Weg:

Nach sieben Meilen Reise erreichen Montaigne und seine  Begleiter zunächst  Vitry-le-Francois, wo man ihnen Denkwürdigkeiten erzählt. Etwa von ein paar Mädchen, die sich der ihnen zugewiesenen Frauenrolle radikal verweigerten: “Sieben, acht Mädchen hatten den Plan ausgeheckt, sich als Männer zu verkleiden und ihr Leben  in der Öffentlichkeit so getarnt fortzuführen” . Wofür sie, wie der Sekretär trocken anmerkt,  “wegen der gesetzwidrigen Praktiken, mit denen sie dem Mangel ihres Geschlechts abzuhelfen suchten, erhängt wurden.”

Als Leser muß man schon eine gewisse Geduld aufbringen, wenn man vor allen Dingen während des Aufenthaltes Montaignes in den Bädern von Lucca seitenlang alle Details zu lesen bekommt über das, was er zu sich genommen und was er von sich gegeben hat.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Montaignes Reise nach Italien ist keine Bildungsreise. Die Reise findet ihren Sinn vielmehr im Unterwegssein. Er beschreibt alles, was er um sich herum und in sich selbst vorgefunden hat, insofern stilistisch eine Fortführung seiner berühmten Essais. Die Reise nach Italien ist nicht zuletzt eine Reise zu den berühmtesten Kurbädern der Spät-Renaissance.  Zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken, der nie müde wird, seine körperlichen Zustände bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Seit 1577 leidet Montaigne an Nierensteinen und damit verbundenen Koliken.

“Am 24. schied ich früh morgens einen trüben Urin aus, der schwärzer war, als ich ihn je gesehen hatte. Dazu einen kleinen Stein. Dies beendete aber keineswegs den Schmerz, den ich unterhalb des Nabels und im Glied verspürte. Am 26. löste sich ein Stein, der jedoch in der Harnröhre stecken blieb. Von da an hielt ich bis zum Mittagessen den Urin zurück, denn ich wollte dessen Druck verstärken. So konnte ich schließlich den Stein ausstossen, nicht ohne Mühsal mit ziemlichem Blutverlust zuvor und danach. Er war groß und lang wie ein Tannenzapfen. An einem Ende aber wies er eine Verdickung auf, die einer Eichel glich. Um die ganze Wahrheit zu sagen: er hatte haargenau die gleiche Form meines Schwanzes.”

Da ich beruflich fast täglich mit Patienten zu tun habe, die an Nierensteinen und dessen Folgen zu leiden haben, habe ich  die genaue Beobachtung  seiner Krankheitssymptome mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Anhand dieser Beschreibungen würde man heute eine Nephrolithiasis und Urolithiasis mit Dysurie und Harnwegsinfekten diagnostizieren, medikamentös und operativ ohne Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.  Unter den damaligen Umständen jedoch eine Krankheit, die für Montaigne den sicheren Tod bedeutete. Mit der Deutung eines anderen Symtoms lag Montaigne jedoch ziemlich daneben:

“Als ich im Bad die Dusche auf den Unterleib gerichtet hielt, schien mir dies die Blähungen auszutreiben. Zugleich ging die Schwellung meines rechten Hodens eindeutig zurück, an der ich sehr oft leide. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß die Schwellung von den Fürzen herrührt, die sich im Hoden verfangen.”

Die Reiseroute führt  über Frankreich in die Schweiz, wo man von Basel aus den Rhein überschreitet und nach Deutschland kommt. Die weiteren Stationen sind Lindau, Kempten, Füssen und Augsburg. Über die Deutschen heißt es,  “Sie haben die gute Eigenschaft, vom ersten Wort an zu sagen, welchen Preis sie verlangen: Handeln hat da wenig Zweck. Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde, aber, sagte der Herr de Montaigne, weder Betrüger noch Spitzbuben.”

Anekdotenreich beschreibt Montaigne seinen Aufenthalt in Augsburg.

“Nach Aussage der Augsburger gibt es in der Stadt zwar Mäuse, aber keine Ratten, von denen das übrige Deutschland heimgesucht wird. Darüber erzählen sie zahlreiche Wunder. So schreiben sie ihre Bevorzugung einem dort beigesetzten Bischof zu; und von der Erde seines Grabes, die sie in haselnußkleinen Klümpchen verkaufen, behaupten sie, daß sie überall, wo man sie ausstreue, das Ungeziefer vertreibe.”

(Anmerkung der Blogbetreiberin, wohnhaft in Augsburg: Dies ist auch heute noch gängige Praxis.)

Weiter geht es über Süd-Tirol nach Venedig. Kurz vor Florenz muß  die Reisegesellschaft einen Angriff marodierender Banditen abwehren. Während eines ersten Aufenthaltes in Rom besucht Montaigne die antiken Stätten, wohnt einer Teufelsaustreibung bei, begutachtet die ausgestellten Häupter der Heiligen Petrus und Paulus und prüft skeptisch das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika.  Das Beschneidungsritual der Juden wird ebenso nüchtern beschrieben wie der Fußkuss beim Papst.

Hier endet das vom Sekretär Montaignes verfasste Tagebuch und Montaigne selbst greift nun zur Feder. Warum er seinen Sekretär in Rom entlassen hat bleibt offen. Die Reise war in Rom zu Ende. Hier hat er sich bis auf einen zwischenzeitlichen Abstecher in die Bäder von Lucca monatelang aufgehalten.  Das Tagebuch ist vor allem auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte, eine Alltagsgeschichte aus der Spät-Renaissance.

Ergänzt wird der reich illustrierte und schön gesetzte Band der Anderen Bibliothek durch ein kluges Vorwort des Übersetzers und zahlreichen Anmerkungen zum Textverständnis.

“Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581”, erschien im Januar 2014 als 349. Band der Anderen Bibliothek. Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett,  492 Seiten, 38 Euro.

“So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen:  Sie bereiteten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais.”

J.W. v. Goethe

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead (1945).

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„Die Erbauer ahnten nicht, wie sehr man ihr Werk einmal missbrauchen würde. Sie bauten ein neues Haus aus den Steinen einer alten Burg, und Jahr für Jahr, Generation um Generation bereicherten sie und vergrößerten es. Jahr für Jahr reifte das Holz im Park heran, bis bei einem unerwarteten Frost Hoopers Zeitalter anbrach. Das Haus verkam und das ganze Werk wurde zunichtegemacht; Quomodo sedet sola civitas. Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“

Evelyn Waugh, „Wiedersehen mit Brideshead“, 2013 in neuer Übersetzung als Schmuckausgabe mit Schuber und Lesebändchen beim Diogenes Verlag erschienen, 544 Seiten, ISBN 978-3-257-06876-4.

Quomodo sedet sola civitas: Und wie liegt die Stadt so wüst! Wie einst der Prophet Jeremiah in seinen Klageliedern, so klagt auch Captain Charles Ryder bei seinem „Wiedersehen mit Brideshead“: Wie liegt der Landsitz, der ihm wenige Jahre zuvor die Welt bedeutete, so wüst, von seinen Bewohnern verlassen, von Soldaten als vorübergehende Unterkunft belegt, niedergekommen und missbraucht vor ihm.

„Wiedersehen mit Brideshead“ ist ein seltsames Buch. Es weckt Enthusiasmus oder aber Verdruss. Andere Leser empfahlen mir es wärmstens: „Ein einzigartiges Lesevergnügen, ein Genuss, sagenhaft!“  Auf dem Blog eines anderen Lesers war zu sehen, er habe sich selten so gelangweilt und gequält mit einem Buch. Bei seinem Erscheinen 1944 erntete der Autor Kritik und böse Worte. Heute gilt es als das englische Gegenstück zu „The great Gatsby“: Die brillante Schilderung des Niedergangs einer bestimmten Klasse.

Seit ich aus dem Leserausch wieder aufgetaucht bin, bin auch zwischen den Polen gefangen. Die Rezension musste einige Wochen warten. Ich war mir nicht schlüssig, ich war irritiert.

Tatsächlich – beim Wiedersehen mit Brideshead kann man die Welt vergessen. „Die heiligen und profanen Erinnerungen des Hauptmanns Charles Ryder“, so der Untertitel, entwickeln eine magische Sogwirkung. Die Sprache, mich hat vor allem die Sprache (und hier muss auch der Übersetzer unter dem Pseudonym (?) „pociao“ erwähnt werden), der Stil, die Atmosphäre gefangen genommen. Die Sprache in diesem opulenten Roman, der sich um eine Familie im Niedergang und die unheilbare Liebe des Aufsteigers Charles Ryder zu deren Mitgliedern dreht, ist wirklich von einer einzigartigen Macht und stilistischen Schönheit. Voller unverwechselbarer und unvergesslicher Momente – seien es die Dialoge zwischen Charles Ryder und seinem skurril-exzentrischen und lieblosen Vater, die düstere Kulisse im afrikanischen Exil des alkoholkranken Jugendfreundes oder auch die erste Begegnung mit seiner späteren großen Liebe.

Die eigentliche Hauptrolle spielt – neben der Religion, dazu aber später mehr  - tatsächlich ein Haus, besser gesagt einer dieser typischen englischen Landsitze mit Brunnen, Butler, Kindermädchen und allem was dazu gehört. Als Waugh das Buch 1944 schrieb, da „war der heutige Kult um die englischen Landsitze unmöglich vorauszusehen“, so der Autor in einem 1959 verfassten Vorwort.

„Damals schien es, als wären die uralten Stätten, die zu den bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften unserer Nation gehören, dazu bestimmt, wie die Klöster des sechzehnten Jahrhunderts der Plünderung und dem Zerfall anheimzufallen“.

Waugh setzte mit seinem Buch diesen einzigartigen Landgütern ein literarisches Denkmal – das zunächst auf Skepsis und Kritik stieß.

Bild: Die Verfilmung des Romans von Julian Jarrold 2008 – der Landsitz ist schön, die Darsteller gutaussehend, doch dem Streifen fehlt die Seele.

Zum einem lag der Misserfolg wohl daran, dass Waugh mit seinem Buch zu offen an die englische Nationalwunde rührte: Das Ende des Empires, der Niedergang des Adels, eine gewisse Erstarrung in den 1920er und -30er Jahren, in denen der Roman hauptsächlich spielt.

Zum anderen thematisiert Waugh eine Minderheit im anglikanischen Großbritannien: Die aristokratische Familie Flyte ist geprägt von ihrer streng katholischen Moral, Abweichungen und Sünden werden geahndet, schwarze Schafe aus der Herde verbannt, selbst die Liebe hat sich dieser Konvention zu beugen. Somit wird „Wiedersehen mit Brideshead“ zu einem der traurigsten, aber auch unbegreiflichsten Liebesromane des letzten Jahrhunderts. Dass Kirche und Klassenbewusstsein den menschlichsten Gefühlen entgegenstehen können – das war für mich irritierend an einem Roman, der in den 1930ern und zumal noch in Großbritannien spielt. Ungeduld, ja Ärger und fast Zorn empfand ich dabei stellenweise – ich wollte Julia, Charles` große Liebe rütteln, sie anherrschen, einen Gott fahren zu lassen, der die Menschen auf Erden unglücklich macht.
(Na, wenn das kein Zeichen für die stilistische Qualität eines Buches ist: Dass man beim Lesen mit den Figuren nicht nur lebt, sondern auch mit ihnen spricht.)

Kurz zum Handlungsablauf: Charles Ryder kehrt als Captain der englischen Armee nach Jahren nach Brideshead zurück. Während seiner Studienzeit in Oxford lernte er zunächst den jüngsten Sohn der Familie, Sebastian, kennen (und lieben). Dieser leidet, wie alle der Kinder der Familie Flyte, unter den strikten religiösen Normen und Regeln, die vor allem von der Mutter, Lady Marchmain, vorgegeben werden. Lord Marchmain ist bereits vor Jahren nach Venedig geflüchtet, lebt dort mit einer Geliebten, die Ehe besteht nur noch auf dem Papier und der Form halber. Letztendlich scheitern alle Protagonisten an den selbstgewählten Konventionen und Pflichten: Sebastian wird alkoholkrank und verkümmert im Ausland, Julia, seine Schwester, versagt sich nach einer unglücklichen Ehe dem möglichen Glück mit Charles und jener – der sicher auch von der Faszination des Reichtums und des Adels angezogen wurde – bleibt allein und zwischen allen Klassen haften.

Es wird in diesem Roman viel getrunken unter den Männern, und so kommen auch weinselige Wahrheiten auf den Tisch:

„Ich habe dich ausdrücklich und detailliert vor der Flyte-Familie gewarnt. Charme ist die große englische Plage. Außerhalb dieser feuchten Insel existiert sie nicht. Sie erfasst und zerstört alles, was sie berührt. Sie zerstört die Liebe, sie zerstört die Kunst, und sie hat, so meine große Befürchtung, auch dich zerstört, Charles.“

Zerstört, allein, gebrochen: das sind sie am Ende alle. Ein Buch, das von Verlusten handelt, solchen, die unausweichbar sind, solchen, die unnötige Opfer sind. Julia und Charles bei ihrem Abschied:

„Jetzt werden wir beide allein sein, und ich kann dir nicht dabei helfen, es zu verstehen.“
„Ich möchte es dir nicht leichter machen. Ich hoffe, es bricht dir das Herz, aber ich verstehe es.“
Die Lawine war herabgestürzt, die Bergflanke blieb kahl zurück. Die letzten Echos verhallten auf den weißen Hängen; der neue Eishügel funkelte und lag still im schweigenden Tal.

Abbild eines Landadeligen: Evelyn Waugh mitsamt Gattin und Kinderschar.

Die irritierende Thematik des Romans ist eng mit der Biographie seines Schöpfers verknüpft: Evelyn Waugh, ein Exzentriker, Dandy, Ekelpaket zuweilen. 1903 in London geboren, die Familie gehört dem britischen Bildungsbürgertum an, bereits der Vater ist ein bekannter Journalist und Publizist. Auch Waugh studiert unter anderem in Oxford, schlägt zunächst den Weg des Journalisten ein, fällt aber vor allem durch Trinkgelage und einen exzessiven Lebensstil auf. 1928 heiratet er, trennt sich aber bereits ein Jahr später, veröffentlicht die ersten satirischen Romane und kehrt dann genauso konsequent, wie er zuvor den Lebemann markierte, dieser Lebensweise den Rücken. 1930 konvertiert er zum Katholizismus. Seine erste Ehe wird 1936 aufgelöst, er heiratet ein zweites Mal, und bezieht mit seiner zweiten Frau, mit der er sieben Kinder hat, einen englischen Landsitz. Waugh stirbt 1966 auf seinem Landsitz in Sommerset.

„Wiedersehen mit Brideshead“ gilt als vollendete Gestaltung eines Grundthemas, das Waugh auch in seinen satirischen Romanen immer wieder aufgreift: Die Kluft zwischen der Verklärung einer idealisierten Vergangenheit und der Gegenwart, die die Figuren auf die nüchternen Tatsachen des Lebens zurückwirft.

Zwei weitere Bücher des Autors kann ich aus eigener Leseerfahrung wärmstens empfehlen – darüber hinaus zeigen sie die Vielgestaltigkeit dieses Schriftstellers:

„Tod in Hollywood“ ist eine 1948 erschienene Satire, eigentlich von ihm als „angloamerikanische Tragödie“ bezeichnet. Während der romantische Realismus von „Brideshead“ in seiner Heimat auf Kritik stieß, war die amerikanische Unterhaltungsindustrie von dem Roman begeistert – Waugh reist nach Hollywood, um über eine eventuelle Verfilmung zu verhandeln. Heraus kommt jedoch ein Buch, mit dem dieser bissige Brite den ewigen Kult der Amerikaner um Jugend und Schönheit bis auf die Spitze karikiert. Ein junger britischer Schriftsteller, als Autor in den Filmstudios gescheitert, strebt eine Karriere als Tierleichenbestatter bei den „Ewigen Jagdgründen“ an, bei denen die Reichen und Gelangweilten ihren überfütterten Schoßtieren einen würdigen Abschied geben. Was absurd klingt, könnte heute durchaus Realität sein…

„Befremdliche Völker, seltsame Sitten“ erschien in „Die Andere Bibliothek“ und ist eine köstlich zu lesende Reisereportage, wenn auch nicht frei von der Perspektive eines snobistischen Angehörigen einer Kolonialmacht.

Aus dem Verlagsprogramm:
»Ein englischer Snob in Afrika«
Als Evelyn Waugh am 10. Oktober 1930 von London aus nach Addis Abeba aufbrach, wusste er nicht recht, was ihn erwarten würde. Aus einer Laune heraus hatte er beschlossen, aus dem fernen Afrika über die Krönung von Haile Selassie zum König der Könige in Äthiopien zu berichten. Alle bedeutenden Weltmächte reisten zu den Feierlichkeiten in die unfertige Hauptstadt Äthiopiens - und bauschten das Ereignis gewaltig auf. In Europa klangen die Berichte von der ungeheuerlichen Prachtentfaltung bei der Krönungszeremonie des Königs der Könige wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Waugh dagegen fühlte sich wie ein englischer Gentleman inmitten geschmackloser Barbarei und sah ganz andere Dinge als seine Journalisten-Kollegen - und auch bei seiner Heimreise über Aden, Sansibar, Kenia, Belgisch-Kongo und Südafrika zeigte sich Waugh als Mann totaler Illusionslosigkeit mit staubtrockenem Humor.

Nachtrag:
Verglichen wird “Wiedersehen mit Brideshead” oftmals mit “The great Gatsby”.
Dazu ein uneingeschränktes JA!

Ilija Trojanow: Der Weltensammler (2006). Nomade auf vier Kontinenten (2007).

„Um seine Bereitschaft zu demonstrieren, öffnet der Lahiya das Tintenfässchen, nimmt die Feder in die Hand, tupft, kratzt zur Probe, beugt sich um einige Zeilen nach vorne und verharrt. Der von dem Ankömmling aufgewirbelte Staub hat sich gesetzt. Aus dem peinigenden Licht heraus, in das der Lahiya nicht mehr blinzeln will, beginnt die zaghafte Stimme zu erzählen. Aus Vermutungen werden Andeutungen, aus Andeutungen werden Schemen, aus Schemen werden Personen, aus Unbekannten werden Menschen mit Namen, Eigenschaften und Gesichtern. Der Lahiya hält die Feder fest zwischen den Fingern, doch er versteht weder Ausgang noch Grund der Lebensgeschichte, die dieser Mann vor ihm ausbreitet. Es ergibt keinen Sinn, diese konfusen Umrisse aufzuschreiben.“

Ilija Trojanow, „Der Weltensammler“, Hanser Verlag

Manchen ist das Entdecken, das Reisen, das Suchen, ja die Rastlosigkeit schon von Kindheit an mitgegeben. Vielleicht hat dies mit einer frühen Entwurzelung, dem Verlust der Heimat zu tun: So scheint es bei dem deutsch-bulgarischen Schriftsteller Ilija Trojanow (Jahrgang 1965) zu sein. Mit der Familie kam Trojanow über Ex-Jugoslawien und Italien 1971 in die Bundesrepublik wegen politischen Asyls. 1972 zogen die Trojanows weiter nach Kenia. Bis 1984 wechselten die Lebensmittelpunkte zwischen Deutschland und Nairobi, dann folgten Studien- und Lebensjahre in Paris, München, Mumbai ab 1999, Kapstadt ab 2003, inzwischen lebt Trojanow wieder – so er nicht auf Reisen ist – in Europa.

Er ist also im besten Sinne ebenfalls ein „Nomade auf vier Kontinenten“: Titel eines der beiden Bücher, die Ilija Trojanow über einen ebenso Suchenden und Reisenden verfasst hat – den englischen Entdecker, Abenteuer und Spion im Dienste ihrer Majestät, Sir Richard Francis Burton (1821-1890). 2006 erschien beim Hanser Verlag Trojanows Roman, mit dem Richard Francis Burton (RFB) den deutschen Lesern bekannter wurde -  „Der Weltensammler“. 2007 kam mit einer wirklich prachtvollen, wunderbaren Ausstattung (der Text ergänzt durch Zugaben von Karten, Fotos, kalligraphischen Schriftproben und kommentierten Bibliographien) in der Anderen Bibliothek „Nomade auf vier Kontinenten“, ein dokumentatorisch-biographisches Projekt, heraus. Beide Bücher gibt es inzwischen auch als Taschenbuch. Während der Weltensammler den abenteuerlichen Lebensweg des RFB fiktiv, aber nah an den zahlreichen schriftlichen Quellen aus dieser Zeit, darunter an den vielen von Burton selbst verfassten Werken, nach verfolgt, ist der Nomade ein ganz anderes Buch. Hier vollzieht Trojanow die Reisen Burtons nach – der Wechsel aus Texten des „Vorgängers“ und eigenen Reiseberichten rund anderthalb Jahrhunderte später macht die Lektüre so reizvoll.

Großbritannien, Seefahrernation und Kolonial(Besatzungs)macht, hat etliche solcher Typen hervorgebracht: Oftmals Adelige oder zumindest aus begütertem Hause stammende Abenteurer, verlorene Seelen, die sich in der Fremde dann erst recht verloren. Die Insel verlor manchen ihrer Söhne an die Wüste - bekannt durch das Film-Epos wurde als Archetyp für diesen sinnsuchenden Engländer in der Fremde vor allem „Lawrence of Arabia“. T.E. Lawrence (1888-1935) entflammte den Aufstand der Araber gegen das Osmanische Reich – und wurde dabei selbst mehr zum Sheikh denn Gentleman, zum lebenden Mythos. Dabei hätte Sir RFB – legt man den Fokus nur auf das abenteuerliche Leben – ein Film-Epos durchaus ebenso verdient. Als Burton 1890 starb, war er ein ebenso berühmter wie umstrittener Mann. Er sprach 29 Sprachen, hatte Die Geschichten aus 1001 Nacht und das Kamasutra ebenso gelehrt kommentiert wie bis in die sexuellen Details wortgetreu übertragen, hatte den Tanganjikasee als erster Weißer entdeckt und bestritt seinem Reisekameraden Speke immer noch die Entdeckung der Nilquellen.

Dieser schillernden Figur also widmet sich Ilija Trojanow in diesen beiden Büchern: Ein Autor, ein etwas „zwiespältiger“ Held, ein Thema – aber zwei Lektüren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide sind so spannend geschrieben, wie das Leben des Abenteurers selbst es war, beide Bücher entführen durch eine ausgewählt schöne Sprache zum Miterleben dieser fremden Welten. Fiktion und Tatsachen vermischen sich so gekonnt, dass letztendlich der Eindruck bleibt: Der beste Roman ist doch das Leben selbst – insbesondere, wenn man es Leben konnte wie Sir Burton.

Trojanow ist selbst sieben Jahre lang auf den Spuren Burtons gereist, pilgerte durch Indien, verkleidete sich als Araber auf der Hadsch, fuhr mit dem Schiff den Nil herauf und herunter (wie viele Entdecker seinerzeit suchte auch Burton nach den Quellen des Nils). Nordamerika, der vierte Kontinent, wird jedoch nur kurz gestreift – offensichtlich hatte Burton bei seinem Trip in die Staaten wenig Interessantes gefunden oder vom Reisen genug. Und für den neuzeitlichen Reisenden Trojanow – das kann ich nur spekulieren - sind die USA vielleicht nicht fremd genug. Jedenfalls: Der vierte Kontinent, die heutige Weltmacht, wird nur am Rande erwähnt. Das reicht aber auch mal.

„Auch in einer Epoche, in der man in wenigen Stunden ganze Zeitzonen überspringen kann, war der Weg nach Mekka mit einigen Hindernissen gepflastert.“ Als Trojanow dann vor der Kaaba steht (beziehungsweise sie umkreist, wie es sein muss für den Pilger), füllen sich seine Augen mit Tränen. Auf den Spuren des Mannes, der 150 Jahre vor ihm bereits dort stand und als einer der ersten Europäer dieses islamische Heiligtum erblickte, vollzieht Trojanow auch diese Pilgerfahrt bis zum Ende durch. Und als Leser kann man nachfühlen, was dieser Augenblick für beide bedeutet hat.

„Ilija Trojanow hat sich mit seinen Berichten aus Indien und Arabien sowie mit seinem Erfolgsroman “Der Weltensammler” über den großen nonkonformistischen Reisenden im britischen Staatsdienst Richard Francis Burton (1821 bis 1890, unser Foto) in die beste Tradition deutschsprachiger Reiseliteratur eingeschrieben“, so Friedmar Apel in der FAZ. „In der üppigen Ausstattung der Anderen Bibliothek legt er nun noch einmal Berichte seiner Reisen nach Indien, Arabien, Ostafrika, Nordamerika und Triest vor, die er auf den Spuren Burtons unternommen hatte.“

Doch geht es nicht „nur“ um gute Reiseliteratur. Beide Bücher sind weitaus mehr als das Nacherleben eines abenteuerlichen Lebensweges. Im Weltensammler greift Trojanow zu dem Kunstgriff, andere über ihr Erleben Burtons erzählen zu lassen -  Zeugen, Zeitgenossen, Beobachter berichten und machen sich ihre ganz eigenen Gedanken über Saheb Burton (Indien), Sheikh Abdullah (Arabien) und den Wazungu (Afrika). Im „Nomaden“ ist es Trojanow selbst, der seine Erfahrungen denen Burtons entgegenhält. So entsteht aus vielen Puzzlestücken das Bild von einem Menschen, der – wie alle Menschen – viele Facetten trägt.  Ein weiteres Leitmotiv ist beiden Büchern die Auseinandersetzung mit „dem Fremden“.

„Als Autor glaubte er (Burton) aber bis in seine letzten Tage auf verlorenem Posten in Triest gleichwohl unerschütterlich daran, dass das Wissen über das Fremde und andere durch teilnehmende Erfahrung, in der Form des Studiums, des Erleidens, Erlebens und Bewirkens erworben wird, und dass es sich lohnt, dieses Wissen ohne Rücksicht auf orthodoxe Meinungen weiterzugeben“, so Friedmar Apel. „Jenseits ideologischer Auseinandersetzungen über Globalisierung und neue imperiale Diskurse zeigt Trojanows tätige Rezeption, wie sehr die Wahrnehmung des Fremden bei allen Korrekturen im Kern noch immer von der Weltsicht des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt ist, die Burton vielfältig in Frage stellte. Auch Trojanow vertraut inhaltlich wie in seinem luziden Stil auf die erkenntnisfördernde Erfahrung des mutigen Individuums, von dem jenseits standardisierter Wissensbestände wie des notorischen westlichen Besserwissens noch etwas gelernt werden kann - vor allem eine Wahrnehmung, die Fremdes in seiner Eigenheit belässt und so, durchaus nicht ohne Momente kritischer Distanz, Verständnis und Zuwendung ermöglicht.“

PS: Ilja Trojanow ist weit mehr als ein reisender Autor – auch ein zutiefst politischer Schriftsteller, der dezidiert Stellung zu den Fragen unserer Zeit bezieht. Ein Streiter für die freie Meinungsäußerung. Ein Bild davon kann man sich auch auf seiner Facebook-Seite machen – lesenswert!

Einblick in die Taschenbuchausgabe des „Nomaden“ ermöglicht dieser Link:  http://www.book2look.de/book/9783423137157

Ein Interview über das Reisen und das Leben:

Auf dieser englischsprachigen Seite findet sich allerlei Burtonianisches: http://burtoniana.org/

 

Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot (2004).

Der Reisereporter bei der Arbeit. Bildquelle: http://lucian.uchicago.edu/blogs/ceeresebulletin/2011/12/30/opening-reception-ryszard-kapuscinski-the-poet-of-reportage/

„Irgendwann würde ich gern ins Ausland fahren.“
„Ins Ausland?“ sagte sie verwundert und leicht erschrocken, denn damals war es noch keine Selbstverständlichkeit, ins Ausland zu fahren.
„Wohin? Wozu?“ fragte sie.
„Ich habe an die Tschechoslowakei gedacht“, antwortete ich. Es ging mir nicht darum, etwa nach Paris oder London zu reisen, o nein, solche Ziele versuchte ich mir gar nicht erst vorzustellen, und sie interessierten mich auch nicht, ich wollte nur irgendwo die Grenze überschreiten, egal, welche, denn wichtig war für mich nicht der Ort, das Ziel, das Ende, sondern der beinahe mystische und transzendentale Akt des Überschreitens der Grenze.

Ryszard Kapuscinski, “Meine Reisen mit Herodot”, Extradruck der Anderen Bibliothek

Ein knappes Jahr nach diesem Gespräch mit seiner Chefredakteurin ist es für den jungen polnischen Journalisten soweit – „Wir schicken Dich ins Ausland. Du fährst nach Indien.“ Und als Reisebegleiter gibt sie ihm mit: Herodot, dessen Historien.

Ein Buch, das Ryszard Kapuscinski durch sein ganzes weiteres Reporterleben begleiten wird, das ihm, den späteren weltberühmten Reisenden, unverzichtbar wird. Herodot, der erste aller Reisereporter, wird ihm zum Freund, zum Begleiter und Unterstützer, mit dessen Schriften er sich auf allen seinen eigenen Reisen auseinandersetzt, an denen er sich, so scheint es, auch festhält an Orten, an denen er Fremder und Beobachter bleibt.

„Meine Reisen mit Herodot“ ist ein mit viel Bedacht und bedächtig geschriebenes Buch – nach der Lektüre von P. J. O`Rourkes „Reisen durch die Hölle“ (Die andere Bibliothek) musste ich mich an dieses ganz andere Tempo wieder gewöhnen – vom rasanten Höllentrip zur philosophischen Wanderung durch die Welt. Beide Bücher lohnt es sich jedoch, zeitlich in Abfolge zu lesen – gelten beide Autoren doch auch als großartige Reporter, Reiseschriftsteller, waren ihre Ziel zum Teil – wenn auch zeitversetzt – dieselben. Die Welt ist vielfältig – auch, weil jeder sie mit anderen Augen betrachtet.

 Die Vielfalt der Welt ausloten

„Herodot erkannte als erster, dass die Vielfalt der Welt immanenter Bestandteil ihres Wesens war. „Nein, wir sind nicht allein“, sagt er den Griechen in seinen Historien, und um das zu belegen, unternimmt er seine Reisen in die Welt. “Wir haben Nachbarn, und die haben Nachbarn, und alle zusammen bewohnen wir einen Planeten“. Für einen Menschen, der bis dahin in seiner kleinen Heimat lebte, die er problemlos zu Fuß durchmessen konnte, war das neue, planetare Ausmaß der Wirklichkeit eine Entdeckung, die sein Bild von der Welt vollständig veränderte.“

Wenn „Kapu“ hier von Herodot schreibt, so schreibt er eigentlich auch von sich selbst: Für einen jungen Polen zu Zeiten des Kalten Krieges war es eine Unwahrscheinlichkeit, ja Ungeheuerlichkeit, reisen zu dürfen, einen Blick hinter den Eisernen Vorhang werfen zu können. Und so tapst beinahe unbeholfen der Reporter aus dem Osten durch ein Indien, das ihm zunächst fremd bleibt – ein bisschen mit den staunenden Augen eines Kindes, die Kapuscinski auch im hohen Alter nicht verlieren wird.

Ratgeber und Freund

Herodot ist ihm der Ratgeber, der weise, ältere Freund, der nicht nur das Reisen an sich lehrt, sondern auch eine moralische Haltung des Reisens vermittelt – eine Offenheit beizubehalten, die anderen Völkern, anderen Sitten nicht an der Folie der eigenen Herkunft bemisst, die beobachtet und weitergibt, nicht beurteilt, die den Maßstab der eigenen tradierten Werte zurückstellen kann.

Wo O`Rourke stürmt, tastet Kapuscinski sich heran, wo der Amerikaner einen sarkastischen, manchmal zynischen Blick auf das Geschehen wirft, wägt Kapuscinski eher ab – für meinen Geschmack manchmal zu zögerlich und bedächtig – und nähert sich den Geschehnissen mit Herodot in der Hand.

„Herodot genießt die Lebensfülle, um das Fehlen von Telefon und Flugzeug weiß er nicht, er kann sich nicht einmal darüber grämen, dass er kein Fahrrad besitzt. Die Dinge werden erst Jahrtausende später auftauchen, und er kommt wunderbar ohne sie aus. Das Leben der Welt und sein eigenes Leben haben ihre eigene Kraft, ihre eigene Energie. Die spürt er, von ihr wird er beflügelt. Sicher war das ein Grund dafür, dass er so freundlich, offen und zuvorkommend war, denn nur einem solchen Menschen enthüllen Fremde ihre Geheimnisse. Einem düsteren, verschlossenen Menschen würden sie sich nicht anvertrauen, finstere Naturen wecken in anderen den Wunsch, sich zurückzuziehen, auf Distanz zu gehen, ja sie rufen Ängste wach. Mit einem solchen Charakter versehen, hätte er nichts in Erfahrung bringen können – und wir besäßen heute nicht sein Werk.

Daran musste ich denken, und dabei fühlte ich gleichzeitig, nicht ohne Verwunderung und sogar Beunruhigung, dass ich mich, je mehr ich mich in die Historien vertiefte, immer stärker emotional und gedanklich mit der von Herodot beschworenen Welt und ihren Ereignissen identifizierte. Die Zerstörung Athens beschäftigte mich mehr als der jüngste Militärputsch im Sudan, und die Versenkung der persischen Flotte erschütterte mich tiefer als die nächste Militärrevolte im Kongo. Die von mir erlebte Welt war jetzt nicht nur Afrika, über das ich als Korrespondent einer Nachrichtenagentur berichten sollte, sondern auch jene andere, die vor Jahrhunderten untergegangen war, weit weg von hier.“

Bildverweis: http://bacacay.wordpress.com/tag/ryszard-kapuscinski/

Es scheint aber auch, als bräuchte Kapuscinski bei seinen Reisen im Herzen der Finsternis Herodot als Freund, der ihn beruhigt ob der Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen gegenüber auszuüben in der Lage sind. Im Kongo, diesem zutiefst zerrütteten Land, schildert „Kapu“, wie es ist, „allein einer sich straflos fühlenden Gewalt“ gegenüberzustehen. „In so einem Moment wird die Welt öde, menschenleer, sie verstummt und verschwindet.“ Herodot, dessen Historien ja auch eine Abfolge von Kriegen, Schlachten, Folterungen und Vergewaltigungen sind, erinnert ihn daran – auch wenn dies nichts relativiert – dass das Böse so alt ist wie die Menschheit. Herodot zeigt ihm aber auch auf, dass auch das Schöne, der Geist, die Wissenschaften so alt sind wie die Menschheit. Und er lehrt den Reisereporter genau hinzusehen und zu erklären: So wie die Kriege der Perser und Griechen ihre Wurzeln haben, so haben die Bürgerkriege im Kongo ihre Geschichte, geprägt von Sklaverei und Kolonialismus. Auch wenn dieses Wissen wenig hilfreich ist in dem Moment, in dem der Reporter einem Milizionär oder einem fremd gesteuerten Kindersoldaten machtlos gegenübersteht: Dieses Wissen um die Vergangenheit trägt für ihn dazu bei, die Welt zu verstehen.

Und es gibt ein weiteres Band, das den Reporter des 20. Jahrhunderts mit dem Reporter der Antike verbindet. Nico Bleutge meinte in der Neuen Zürcher Zeitung: „Er schätzte die Offenheit Herodots und seinen Sinn für die Flüchtigkeit der Erinnerung. In Kapuscinski gibt es eine große Sehnsucht nach einer “umfassenden Sprache”, die nicht nur Wörter, sondern auch das Minenspiel, die Gestik und die Bewegungen des Körpers umfasst. Diese winzigen Regungen versucht Kapuscinski in seinen Reportagen einzuholen. Und sie sind es auch, die sein Schreiben über Herodot bestimmen.”

Ryszard Kapuscinski (1932 – 2007) bereiste zwischen 1956 und 2006 mehr als 100 Länder, hielt die Folgen der Dekolonisation, von Bürgerkriegen, Aufständen und Revolutionen fest, dokumentierte aber auch Alltägliches und Alltagsleben. Er gilt als Reporter des Jahrhunderts und als Poet der Reisereportage, seine Bücher wurden in fast 40 Sprachen übersetzt.