Marcel Reich-Ranicki

TRIO 23: Hilde Domin, Erika Mann, Marlen Haushofer schreiben für Kinder

Ihre Namen bringt man mit herausragender Lyrik in Verbindung, mit einem Klassiker der zeitgenössischen Literatur, mit engagiertem politischen Schreiben, mit Exilliteratur, mit Kabarett und modernen Romanen – kurzum mit Erwachsenenliteratur. Doch Hilde Domin, Erika Mann und Marlen Haushofer, sie alle drei schrieben auch ganz bezaubernde und bemerkenswerte Bücher für Kinder und Jugendliche.

„Ich lebte auf einer Insel, die war ganz anders als die Inseln, die ihr kennt. Nachmittags pünktlich um fünf flogen Papageien über das Haus, eine grüne Wolke. Wie Tauben, aber eben grün. Sie kreisten nicht, sie flogen vorbei, und sie unterhielten sich sehr laut, in ihrer eigenen Sprache.“

Hilde Domin, „Die Insel, der Kater und der Mond auf dem Rücken“.

Hilde Domin (1909-2006) verbrachte 22 Jahre ihres Lebens im Exil – einen Großteil davon in der Dominikanischen Republik. Domin, die mit Mädchennamen Löwenstein hieß und nach ihrer Verheiratung Hilde Palm, veröffentlichte ihre Gedichte nach der Rückkehr nach Deutschland 1954 unter dem Pseudonym „Domin“. Abgeleitet von der Insel, auf der sie zum Schreiben fand, die zum Zufluchtsort geworden war. Doch nicht zur reinen Insel der Seligen: Das Andersbleiben in der Fremde, das Leben zwischen verschiedenen Welten, dies kommt auf ganz poetische Art und Weise auch in den Erzählungen über den kleinen Kater Gogh zum Ausdruck. Der Lyrikerin war auf der Insel selbst ein einohriger Kater zugelaufen, der sie Jahre später zu der Geschichte inspirierte. Gogh ist der sprichwörtliche „schwarze Kater“, dem, weil er anders ist als andere Katzen, alles Unheil zugeschrieben wird. Das „Anderssein“: Ein Thema, mit dem Hilde Domin zunächst als Jüdin in ihrem Heimatland, dann als Exilantin auf der Flucht ständig konfrontiert war. Aber auch ein Thema, das Kinder immer wieder bewegt.

Hilde Domin hatte ansonsten nur für Erwachsene geschrieben. Die Texte um den Kater Gogh blieben eine Ausnahme. 1966 wurde sie von der Kinderbuchverlegerin Gertraud Middelhauve gebeten, einen Text für Kinder zu verfassen. So entstand der »Bericht von einer Insel«, der in der Anthologie »Dichter erzählen für Kinder« veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Die Insel, der Kater und der Mond auf dem Rücken“ wurde die Geschichte zum 100. Geburtstag der Dichterin im Jahr 2009 vom S. Fischer Verlag veröffentlicht, illustriert von Alexandra Junge.

„Seit Christoph Bartel zehn Jahre alt war, durfte er allein bei den Booten sein und aufpassen. Er hatte auch eine schwarze Ledertasche umhängen wie ein erwachsener Straßenbahnschaffner und wußte genau, daß eine halbe Stunde Kahn fahren dreißig Pfennige kostete, wenn die Leute selber ruderten. Wenn aber er ruderte, Christoph– Stoffel, kostete sie fünfzig Pfennige, und in diesem Fall war er besonders stolz. Natürlich ging das alles nur nachmittags, denn vormittags war Schule, und Stoffel war sogar ein ziemlich guter Schüler. «Vom Schlechtsein hat man bloß Ärger», pflegte er zu sagen, «und schließlich sind die Lernsachen ja alle ganz ulkig – man muß sie sich nur richtig zurechtlegen.»“

Erika Mann, „Stoffel fliegt übers Meer“.

Eine ganz andere Seite zeigte die sonst so scharfzüngige Kabarettistin und Journalistin Erika Mann (1905-1969) in den insgesamt sieben Kinderbüchern, die sie schrieb. Vor allem das erste davon, das 1932 erschienene „Stoffel fliegt übers Meer“ (als Taschenbuch beim Rowohlt Verlag erhältlich) fand großen Anklang. Gewidmet war es ihren jüngeren Geschwistern Elisabeth und Michael: „Für Medi und Bibi, weil sie meine Geschwister sind, und weil sie es gerne wollten“. Die Illustrationen dazu steuerte ihr Jugendfreund Richard Hallgarten bei. Das Buch erschien kurze Zeit nach dem Suizid des Malers und Grafikers, der sich im Mai 1932 das Leben genommen hatte – eigentlich wollte Erika Mann Hallgarten mit diesem Projekt Lebensmut geben, doch er war nicht zu halten.

Das Buch erzählt vom zehnjährigen Stoffel, der zum Unterhalt seiner Familie durch Bootsvermietungen etwas beisteuert. Die Weltwirtschaftskrise macht sich auch in der ländliche Idylle bemerkbar: Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Daher will Stoffel den reichen Onkel Sepp im sagenhaften Amerika besuchen. Er gelangt über verschiedene Stationen tatsächlich in den Zeppelin nach New York und erlebt dabei etliche Abenteuer – mit Happy End.

Im Hause Mann hatten Kinderbücher Tradition: Schon Erikas Vater und Onkel – Thomas und Heinrich, müßig zu erwähnen – hatten ihren jüngeren Geschwistern ein „Bilderbuch für artige Kinder“ gewidmet. Erika setzte als älteste Tochter von Klaus Mann diese Tradition fort. Neben Szenen aus den Kinderspielen, die die jungen Manns so trieben, gingen auch viele authentische Erlebnisse in den „Stoffel“ ein, Urlaubsabenteuer im bayerischen Land oder auch die Weltreise, die Erika und Klaus Mann 1927 unternommen haben. Das Kinderbuch ist auch heute noch herzerwärmend lesenswert. Selbst Marcel Reich-Ranicki lobte 1989 Erika Mann postum (beinahe) für diese Texte: „Die flotten und phantasievollen Kinderbücher, in denen sie bisweilen den Großmeister dieses Genres, Erich Kästner also, heiter nacheiferte, hatten viele Leser (…). Es seien dem Stoffel daher viele neue Leser gewünscht.“

„Als er noch ganz winzig war, nannten ihn die Menschen Peter. Er lag bei seiner Mutter Tschitschi in einem weichgepolsterten Korb, und es ging ihm sehr gut. Seine Mutter war weich und warm, roch sehr angenehm und versorgte ihn mit süsser Milch. Manchmal juckte ihn etwas, aber er wusste nicht, dass es ein Floh war, und er vergass den kleinen Schmerz gleich wieder. Seine Mutter war eine zarte silbergraue Katze, die sehr viel auf Reinlichkeit hielt und ihn immer wieder sauberleckte. Sein Vater war der ärgste Raufbold der Stadt, sein Grossvater ein riesiger Dorfkater, der berühmt war wegen seiner Stimme, und einer seiner fernen Urahnen war ein Wildkater gewesen. Von ihm stammte die schöne Zeichnung auf Peters Fell und sein unbändiges Temperament.“

Marlen Haushofer, „Bartls Abenteuer“.

Bei Marlen Haushofer (1920-1970) denkt man unwillkürlich auch an „Die Wand“, das berühmteste Buch der österreichischen Schriftstellerin. Neben ihren Romanen und Novellen veröffentlichte sie jedoch auch eine ganze Reihe Kinder- und Jugendbücher. Lange Zeit war die Wahrnehmung eine andere – die Autorin war nach ihrem Tod zwar noch einigermaßen wegen ihrer Kinder- und Jugendbuchliteratur im Gedächtnis geblieben. Ihre weitaus schwierigeren, dunkleren Werke für Erwachsene wurden vergessen, nach ihrem Tod war es still geworden um ihre literarischen Werke. Erst mit der Neuauflage von “Die Wand” 1983 schenkte man Haushofer als einer Vertreterin feministischer Literatur wieder die ihr gebührende Aufmerksamkeit.

Zurück zu den Kinderbüchern: Das bekannteste davon ist wohl die 1964 erschienene Roman um den kleinen Kater Bartl, der in eine Familie kommt, sich dort zurechtfinden muss und beim Erwachsenwerden einige Abenteuer und kleinere Katastrophen übersteht. Freunde der Autorin versicherten später, der Roman gebe auch ein Abbild von Marlen Haushofers Familie, doch das Ehe- und Familienleben der Autorin waren bei weitem nicht so idyllisch, von Trennungen und Zwistigkeiten geprägt. Über die Hauskatze Iwan, wohl ein Vorbild für den Bartl, sagte Haushofer einmal, er sei das einzige Wesen in der Familie, über das es keine Streitigkeiten gäbe.

Ob nun ein herbeigeschriebenes und –gesehntes Familienidyll oder nicht: Der Roman mit seinem leicht naiven Ton ist dennoch für kleiner Kinder auch heute noch (vor-)lesenswert und stellenweise, um ihn mit diesem altmodischen Ausdruck zu bedenken, auch ganz „entzückend“. Er ist als Ebook beim Ullstein Verlag erhältlich, ansonsten gedruckt antiquarisch.

Siegfried Lenz (1926-2014): Schweigeminute

Bild: Iris Jahnke

„Bevor sie ausstieg, küsste sie mich noch einmal, und vor der Haustür winkte sie mir zu, nicht flüchtig, nicht beiläufig, sondern langsam und so, als sollte ich mich abfinden mit dieser Trennung. Vielleicht wollte sie mich auch trösten. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, mit Stella zu leben. Es war ein jäher, ein tollkühner Gedanke, und heute weiß ich, es war ein in mancher Hinsicht unangemessener Gedanke, der nur entstehen konnte aus der Befürchtung, dass das, was mich mit Stella verband, ein Ende haben könnte. Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt.“

Siegfried Lenz (1926-2014), „Schweigeminute“, 2008, Hoffmann und Campe Verlag.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Es sind solche beinahe lakonischen Sätze, die wie hingeworfenen wirken, die Siegfried Lenz zu einem ganz großen Erzähler machten. Es ist diese Kunst des ökonomischen Einsatzes von Sprache, die nicht nur „Schweigeminute“, sondern das ganze umfangreiche Erzählwerk, das dieser Schriftsteller hinterließ, prägt. In einem Satz die ganze Sehnsucht Liebender eingefangen, in einem Absatz die ganze Erzählung gebündelt: Von der Unmöglichkeit einer Liebe, vom Verlassenwerden, vom Überwindenwollen dessen, was trennt. Anfang und vorgezeichnetes Ende einer Liebe und die in ihr liegenden Schwierigkeiten so nebenbei und unaufdringlich in einem Absatz eingefangen – das ist die leise Erzählkunst von Siegfried Lenz gewesen.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Vielleicht auch ein Schlüsselsatz für die Entstehungsgeschichte dieser Erzählung, die, knapp 130 Seiten lang, ganz ruhig und unaufgeregt in Lenzscher Manier daherkommt und dennoch eine Wucht entfaltet wie die Brandung im Sturm. „Schweigeminute“ erschien 2008, zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Liselotte. Als Liselotte nach 57 Ehejahren starb, stürzt Siegfried Lenz in eine Lebens- und Schreibkrise. Ulrich Greiner erzählte er in der „Zeit“ (Interview vom 14. Mai 2008):

„Meine Frau hat noch die ersten dreißig, vierzig Seiten der Schweigeminute gehört. Wir haben es immer so gehalten, dass ich ihr vorgelesen habe. Sie war sehr einverstanden damit. Dann starb sie. Ich habe später zweimal versucht, die Geschichte wiederaufzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass es katastrophal missglückte. Es ging so weit, dass ich glaubte, die Imagination habe mich verlassen. Aber dann, mit der Zeit, hat es sich wieder geregelt. Eine Freundin hat mir unendlich viel geholfen. So ist es doch geglückt. Ich möchte sagen, dieses Buch war meine Selbstrettung. Und jetzt höre ich von einem Pädagogen, dass er schon im nächsten Jahr dieses Buch als Abiturprüfungsbuch verwenden möchte.“

Gewidmet ist das Buch jener Freundin und Nachbarin, Ulla, die Lenz aus der Krise half und die er 2010 heiratete. So markierte „Schweigeminute“ im Leben des Schriftstellers ein Abschiednehmen und einen Neubeginn zugleich. Und einen Höhepunkt im literarischen Schaffen: 80 Jahre alt wurde Lenz, bis er erstmals eine reine Liebesgeschichte schrieb – eine Erzählung, über die sich Marcel Reich-Ranicki in der FAZ 2008 so äußerte:

„Stella, die Ältere, die über mehr Erfahrungen verfügt, sieht alles skeptischer. Um aber Christian ihr Einverständnis zu erkennen zu geben, sagt sie ihm: „Du musst dir nun überlegen, was besser ist für uns … Es kann nicht so sein wie früher.“ Was immer sie im Sinne haben – sie sind zart zueinander, so zart, wie der Autor dieser Liebesgeschichte zu seinen Geschöpfen ist. Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken. Vielleicht ist es sein schönstes.“

Ein poetisches Buch, wie wahr: Da ist Christian, der 18jährige, der sich in seine nur wenige Jahre ältere Englischlehrerin Stella verliebt. Sie tanzen nur einen Sommer lang – eine Liebe, die unmöglich scheint, an den gesellschaftlichen Konventionen zu scheitern drohte, wäre ihr nicht ein ganz anderes Ende vorgegeben. Stella verunglückt tödlich auf einem Schiff, „Polarstern“ ausgerechnet dessen Name. Denn in gewisser Weise ist die Ältere für Christian ein Leitstern, ein Fixpunkt. Viel ist von englischer Literatur die Rede, verknüpft mit Politik, gelesen wird Orwells „Farm der Tiere“. So erzählt Lenz im hohen Alter nicht nur von der ersten Liebe, die meist so prägend ist, sondern insgesamt von der Entwicklung der Persönlichkeit eines jungen Mannes. Dazu nochmals aus dem Zeit-Interview:

„Die Wahl fiel deshalb auf den jungen Mann – auch in anderen Büchern, der Deutschstunde zum Beispiel –, weil das Erzählen für mich gleichbedeutend damit ist, leben zu lernen. Mir klar zu werden über dieses unglaubliche Dickicht des Lebens. Erzählen ist eine Selbstbefreiung. Erzähl es, damit du es besser verstehst! Darum delegiere ich den Impuls des Erzählens an einen jungen Menschen, der im Prozess des Erzählens zu sich selbst kommt und zu leben lernt.“

Christian, der bei der Trauerfeier für die Schüler sprechen soll, verweigert sich dem: Zu nahe stand ihm die Verunglückte, zu tiefe Wunden riss ihr Tod. Doch er lernt danach, schreibend das Schweigen zu brechen, mit dem Verlust umzugehen – so wie für Lenz die „Schweigeminute“ eben selbst auch eine Unterbrechung des Erzählens geworden war, ein Weg von der Stille der Trauer zur Wiederaufnahme des Lebens, des Schreibens. Ein Buch, ein Mann, der Hesses „Stufen“ geradezu verkörpert. Dem jeden Anfang liegt ein Zauber inne.

Unweigerlich frägt man sich, wie diese Liebe hätte weitergehen können, ob die Liebe ein genügend starker Damm gegen die Wellen der Empörung gewesen wäre, wie sie miteinander hätten leben, lieben, lachen können. Ob das Ungleichgewicht – Stella vor allem, selbst überrascht von ihrer Zuneigung zu dem Schüler, ringt um ihre Autorität als Lehrerin, gibt sich in der Schule distanziert -, die Differenz der Jahre hätten überwunden werden können. Man wird es nicht erfahren. Und doch verflucht man beim Lesen die Urgewalten des Meeres, betrauert man den Tod – so sehr wünschte man sich auch, dass Christian und sein Stern, seine Meerjungfrau von der Vogelinsel beieinander hätten bleiben können. Die Liebe, sie endet dennoch nie.

So schmal das Buch, so dicht gewebt die Motive. Heinrich Detering in der FAZ am 21. Juni 2008:

Nicht um Wildnis und Zivilisation geht es hier, sondern bloß um Hafen und Vogelinsel, um das Steinriff in der Wassertiefe, um Windstille und Sturmböen am Badestrand; nicht um die Liebe als Feuersbrunst, sondern bloß um den kleinen Brandfleck auf dem Bettlaken. Der einfache Umstand, dass der Vater des Erzählers als „Steinfischer“ Felsbrocken aus den Fahrrinnen heraufholt und Molen aufschüttet, macht auf die lässigste Weise so Hemingwaysche Sätze möglich wie die Erläuterung gegenüber einem schottischen Besucher: „We are only fishing for stones.“

Die Kuhle im Kopfkissen – das ist das äußerste, was Lenz an den körperlichen Spielformen der Liebe beschreibt. Das mag, wo nichts mehr als unbeschreibbar erscheint, wo Seelen- und Körperstriptease zum täglichen medialen Programm gehört, mit dem wir konfrontiert werden, altmodisch erscheinen. Und dennoch liegt in dieser Kuhle gerade die tiefste Zärtlichkeit, die ein Schriftsteller seinen Figuren widmen kann. Es ist, als rieche man noch den Duft der Liebenden im Kissen.

Noch einmal Heinrich Detering zur Erzählkunst des Siegfried Lenz:

„Die Romane, die Siegfried Lenz seit der „Deutschstunde“ veröffentlichte, haben ihrem Autor bis heute eine zweischneidige Popularität eingebracht. Der Rückzug in zeitferne Gegenwelten und eine Neigung zum Bedächtigen, wenn nicht Betulichen, die manche Leser entzückten, haben die Literaturkritik oft auf skeptische Distanz gehen lassen; eher höflichen Respekt als Neigung hat sie diesem Schriftsteller seither weithin entgegengebracht. Gegen diese wohlwollende Unterschätzung ist beharrlich daran zu erinnern, dass Lenz in seinen kurzen Erzählungen die amerikanische short story so stilsicher adaptiert und mit einer genuin deutschen Novellentradition zusammengeführt hat wie kein zweiter Autor seiner Generation, vom Frühwerk bis in Erzählungen wie „Ein Kriegsende“ von 1984.

Wer immer schon der Ansicht war, dass Lenz’ eigentliche Stärke in diesen Erzählungen kurzen und mittleren Umfangs liege, kann sich durch diese Novelle bestätigt finden. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und ebendeshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Altmodisch? Modern? Die alten Streitvokabeln der Lenz-Liebhaber und -Kritiker verblassen vor dieser souveränen Lakonie. Darin liegt das eigentlich Wunderbare dieses Buches: Es ist eine einfache Geschichte.“

Siegfried Lenz, der am 7. Oktober verstorben ist, hinterließ mit „Schweigeminute“ nicht nur eine wunderbar einfache Geschichte, sondern tatsächlich, wie Marcel Reich-Ranicki schrieb, sein poetischstes Werk. Man darf dankbar sein, dass er letzten Endes nach so langem Schweigen auch von der Liebe erzählt hat.

Pausenfüller mit Goethe und Wim Wenders.

Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

Johann Wolfgang von Goethe

Bevor ich hier viele Worte mache - Marcel Reich-Ranicki über das “schönste, das vollkommenste erotische Gedicht in deutscher Sprache”: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/frankfurter-anthologie/marcel-reich-ranicki-in-der-frankfurter-anthologie-johann-wolfgang-von-goethe-freudvoll-und-leidvoll-12708059.html

Mediziner als Literaten – Literatur als Medizin

Ein Schreiben von Dr. Arthur Schnitzler.

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Marcel Reich-Ranicki schrieb einmal, Literaten und Mediziner seien “Fachleute für menschliche Leiden”, und so sei es nur naheliegend, daß es zwischen beiden Berufsgruppen viele Berührungspunkte gebe. In der Tat haben sich die Mediziner um die deutsche Literatur der letzten hundert Jahre wie kein anderer Berufsstand verdient gemacht.

Als jüngster Sproß der schreibenden ärztlichen Zunft darf wohl Uwe Tellkamp gelten, der mit seinem Roman “Der Turm” 2008 den deutschen Buchpreis gewann. Tellkamp reiht sich damit ein in eine erstaunliche Zahl von Autoren, die eine medizinische Ausbildung hatten. So waren drei der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zugleich Ärzte: Arthur Schnitzler, Alfred Döblin und Gottfried Benn.

Arthur Schnitzler war rund zehn Jahre als Arzt tätig, bevor er sich ganz der Literatur widmete. Ein großer Teil seines schriftstellerischen Werks steht unter dem unmittelbaren Einfluß seiner medizinischen Einsichten und Erfahrungen. Als Erzähler deckte er Schichten des Unterbewußtseins auf, die noch nie in einer literarischen Arbeit dargestellt worden waren. Als Beispiel hierfür darf die 1900 erschienene Novelle “Leutnant Gustl” gelten, die sich ausschließlich  auf den inneren Monolog  beschränkt.

Döblin porträtiert von Kirchner 1912.

Döblin porträtiert von Kirchner 1912.

Ein leidenschaftlicher Psychiater und Neurologe war auch Alfred Döblin. Ähnlich wie Schnitzler dringt er in die tiefsten Schichten des Unterbewußten vor, so in der 1910 gedruckten Novelle “Die Ermordung einer Butterblume”. Döblin betrachtete seine Patienten als Romanfiguren. Sie lieferten ihm den Stoff für sein Meisterwerk “Berlin Alexanderplatz” (Eine Besprechung des Romans findet sich unter diesem Link: Berlin Alexanderplatz).

Haben Arthur Schnitzler und Alfred Döblin die Prosa revolutioniert, so gilt dies für Gottfried Benn auf dem Gebiet der Lyrik. Er war rund 40 Jahre als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten tätig. Von der Herz-Schmerz-Dichtung einiger seiner Vorgänger  wollte er nichts wissen. In seiner Lyrik dominieren Verfall und Verwesung, wie es schon einige Titel andeuten: “Saal der kreißenden Frauen” oder “Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke”.

Die Liste der weltweit bekannten Autoren, die ebenfalls als Mediziner tätig waren, ist beeindruckend lang: Friedrich Schiller war Regimentsarzt, John Keats Wundarzt, Georg Büchner Anatom. Heinrich Hoffmann, der Vater des “Struwwelpeter” war Chefarzt einer Irrenanstalt. Für Anton Tschechow war “die Medizin meine gesetzliche Ehefrau und die Literatur meine Geliebte”. Diese Liste läßt sich fortführen mit Autoren wie Michail Bulgakow, Sir Arthur Conan Doyle, William Carlos Williams. Nicht praktiziert, aber die Medizin studiert haben u.a. Gottfried Herder, Ludwig Börne, August Strindberg, Bertolt Brecht, Louis Aragon, Henrik Ibsen, André Breton und Stanislaw Lem.

Daß dichtende Ärzte für ihre Patienten nicht immer ungefährlich sind, beweist eine Anekdote über Schiller. Als er an den Räubern schrieb, war er von seinen draufgängerischen Figuren so hingerissen, daß er als Arzt zu ähnlich drastischen Therapien neigte. Als Arzt verschreibe  er gerne “starke Dosierungen” und man solle ihm “lieber zehn Pferde zur Behandlung schicken als die eigene Frau.”

Über die Gemeinsamkeiten von Medizin und Literatur schrieb Marcel Reich-Ranicki: “Die Literatur kann niemanden heilen, aber wer erzählt, wer dichtet, will die Zeit aufhalten. Der Arzt und der Schriftsteller – sie rebellieren gegen die Vergänglichkeit. Sie haben stets das gleiche Ziel vor Augen: Die Verteidigung des Lebens. Und einen gemeinsamen Feind: den Tod. So darf man denn sagen, daß sie Geschwister sind – die Medizin und die Literatur.”