Susanne Kippenberger: Das rote Schaf der Familie (2014).

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Die Mitford-Sisters: Nancy, Pamela, Diana, Unity, Jessica, Deborah: die Älteste wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste eine Landfrau, die dritte heiratete den Faschistenführer Englands, die vierte wurde Hitler-Freundin. Die fünfte schlug am meisten aus der Art, machte sich zunächst als Kommunistin aus dem Staub und wanderte dann nach Amerika aus, um dort als Bürgerrechtlerin und Bestsellerautorin auf sich aufmerksam zu machen. Die sechste wurde Herzogin von Devonshire. Ein Leben, wilder als jeder Roman - die Journalistin und Autorin Susanne Kippenberger hat eine umfangreiche Biographie über diese exzentrischen Adelstöchter geschrieben.

Ihre Kindheit verbrachten die sechs Töchter des Lord von Redesdale, deren keines je eine öffentliche Schule besucht hat, auf dem Landsitz Swinbrook, laut Jessica Mitford “eine Mischung aus Kaserne, Internat und Irrenhaus.” In der ländlichen Einsamkeit pflegte hier jede ihre Marotten und Eigenheiten. “Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere”, hat der Vater der Familie einmal gestöhnt.

Bereits von der ersten Seite an wird man von Susanne Kippenberger in die Welt der Mitfords hineingezogen:

“Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca (Jessica) auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur die Schwestern und jede Menge Tiere. Sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von 16 Jahren, gefangen in einer eigenen Welt mit einer eigenen Geheimsprache, die sie zum Schutz gegen “Eindringlinge”untereinander zu sprechen pflegten. Eine Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.”

Der Landsitz der Familie

Jessica’s Leben bildet für die Biographin den eigentlichen roten Faden einer Familiengeschichte der Mitfords (mit Stammbaum und vielen Abbildungen im Buch). Decca, wie Jessica von allen genannt wurde, war der Trotzkopf der Familie und der Drang, ihr zu entfliehen, war bei Jessica wohl am stärksten ausgeprägt. Nachdem sie auf ihr “Weglaufkonto” genügend Geld eingezahlt hatte, floh sie mit Churchills “roten Neffen” Esmond Romilly Hals über Kopf nach Spanien, um hier wie Hemingway vom Bürgerkrieg zu berichten. Enttäuscht von den Entwicklungen in Spanien zog sie schon bald mit Kind und Mann nach Amerika. Ihr Eheglück mit Esmond währte jedoch nur eine kurze Zeit. Als Pilot der Canadian Air Force wurde er 1941 über Deutschland abgeschossen. Jessica wurde zur glühenden Kommunistin - im Gegensatz zu zwei ihrer Schwestern, die sich mit Haut und Haaren dem Nationalsozialismus verschrieben hatten. Sie heiratete einen jüdischen Anwalt und landete mit einem Enthüllungsbuch über das Geschäftsgebaren amerikanischer Bestattungsinstitute einen Bestseller. Als Journalistin prangerte sie immer wieder soziale Missstände in der amerikanischen Gesellschaft an und mischte sich auch politisch ein. 2013 erschienen ihre Familien-Erinnerungen unter dem Titel “Hunnen und Rebellen” auf Deutsch im Berenberg-Verlag.

Die Mitford-family
Die Mitford-Sisters

Kippenbergers Buch ist reich an Anekdoten, aber niemals geschwätzig, liesst sich sehr flüssig und über weite Strecken sogar amüsant. Ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten gefühlt und als Leser einiger Mitford-Romane viele neue Erkenntnisse zur Familiengeschichte hinzugewonnen. Wir erfahren, daß Joseph Goebbels Trauzeuge bei Diana’s Hochzeit mit dem englischen Faschistenführer Oswald Mosley gewesen ist (Hochzeitsgeschenk: eine Goethe-Gesamtausgabe). Nach Ausbruch des Krieges wurden Diana und ihr Ehemann, ein Neffe Churchills, “vorsorglich” inhaftiert. Churchill veranlasste für die beiden eine Hafterleichterung, indem er auf dem Gefängnisgelände eine Villa errichten ließ, so daß sie im Gefängnis Gäste empfangen konnten und auf ihren gewohnten Komfort kaum zu verzichten brauchten.

Unity hat sich wortwörtlich an die Fersen von Adolf Hitler geheftet und sich in einem Anfall spätpubertierender Gefühlsverirrung in den Führer verliebt und alles daran gesetzt, seine Bekanntschaft zu machen. Seit ihrem ersten Besuch 1933 in München zählte man mehr als 150 Begegnungen. Dank ihrer Beharrlichkeit dringt sie bis in den inneren Kreis um Hitler vor. Als Reaktion auf Hitlers Kriegerklärung an England schießt Unity sich im Münchener Englischen Garten eine Kugel in den Kopf. Schwerverletzt kehrte sie mit ihrer Mutter in einem Sonderwagen Erster Klasse über die Schweiz nach England zurück, Hitler bezahlte die Kranken- und Transportkosten. 1948 starb sie an den Folgen ihrer Verletzung. Manchmal reibt man sich beim Lesen die Augen und muss sich vergewissern, daß man hier nichts Erfundenes, sondern eine gut recherchierte, auf historische Quellen basierende Biographie ließt, die sich wie ein Roman vor dem Auge des Lesers ausbreitet. Bei youtube ist eine Serie über “Hitler`s British Girl” zu sehen.

Susanne Kippenberger in der Einleitung: “Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Manchmal blieb mir bei meinen Recherchen nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: “curiouser and curiouser”, seltsamer und seltsamer…”

Nancy Mitford, die Älteste und bei uns die wohl bekannteste der Mitford-Sisters wurde mit ihren Büchern zur Chronistin der Familie, ihrer Schicht und ihrer Zeit. In ihren autobiographischen Romanen “Englische Liebschaften” und “Liebe unter kaltem Himmel” (beide erschienen in der Anderen Bibliothek) schreibt sie witzig und geistvoll über die Skurrilitäten und Exzentritäten englischer Landsitz-Bewohner im Stil ihres Freundes Evelyn Waugh. Es sind munter plätschernde Erzählungen von Liebe und Heirat, viel Unordnung und frühem Leid. (In Alan Bennetts Erzählung “Die souveräne Leserin” vernachlässigt die Queen ihre königlichen Plichten, weil sie viel lieber in den Büchern von Nancy Mitford schmökert).

Und dann sind da noch die im Lichte ihrer Schwestern etwas glanzlosen Pamela und Deborah. Pamela fühlte sich mehr zur Schweine- und Hühnerzucht hingezogen. Deborah, die Jüngste, kam in die Schlagzeilen, als sie 1941 den steinreichen Herzog von Devonshire heiratete und 2011 ihre Memoiren veröffentlichte. Sie starb als letzte der Mitford-Schwestern erst vor einigen Wochen im Alter von 94 Jahren. Von dem hochmusikalischen Bruder Tom, der unter sechs Schwestern keinen leichten Stand gehabt haben wird, ist in dem sehr lesenswerten Buch von Susanne Kippenberger kaum die Rede. Er führte ein unauffälliges Leben, nachdem er als einziges Kind der Familie einen Zugang zum Studium nach Oxford bekam, um schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen. Als Soldat fiel er 1945 in Burma.

Für meine Lektüre habe ich die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg der Originalausgabe aus dem Hanser-Verlag vorgezogen. Die Gestaltung des Schutzumgschlags finde ich in der Büchergilde besonders gut gelungen. Der Leinen-Einband mit Lesebändchen macht das Buch zu einem haptischen Erlebnis.

Susanne Kippenberger, “Das rote Schaf der Familie - Jessica Mitford & ihre Schwestern”, Hanser Verlag 2014 / Büchergilde Gutenberg

 

#VerschämteLektüren (20): Der Krimiblogger mag es auch mal cozy - Ludger Menke und Inspector Jury.

Allen meinen Leserinnen und Lesern hier wünsche ich ein SUPERGUTES NEUES JAHR!!! Ich hoffe, Ihr seid gut gerutscht, hattet einen guten Start in 2015 und seid auch bereit für eine neue Runde an verschämten Lektüren.
Zum Start in 2015 wird es spannend mit Ludger Menke alias Krimiblogger. Ludger schreibt über Kriminalliteratur auf mehreren social media-Kanälen - am besten mache man sich ein Bild über seine Aktivitäten unter krimiblog.de.
In einem Interview im  Forum SteglitzMind sagt Ludger über sich:
“Mein Aliasname Krimiblogger verrät es: Ich mag Krimis, Thriller, Spannungsromane und auch Schund. Was genau Krimi ist, kann ich nicht sagen, meine Blogs spiegeln auch meine Suche nach Definitionen und Begriffserklärungen wider. Im Laufe der Zeit bin ich vorsichtiger geworden, ein Buch als „Krimi“ zu bezeichnen. Daneben versuche ich aber auch über den literarischen Tellerrand zu schauen.”
Wenn einer gesteht, “Schund” zu mögen, dann macht das durchaus neugierig, was Ludger wohl bei den verschämten Lektüren auspackt. Here we go:

Sie sind die “guilty pleasures” der Krimileser, Krimikritiker hingegen rümpfen oft die Nase über sie: die Cozies. Rätselkrimi, Landhauskrimi, Häkelkrimi - so lauten die Etiketten, mit denen im Deutschen die kuscheligen Spannungsromane bezeichnet werden. Cozies gehören schon lange zu den Unterarten der Kriminalliteratur. Bereits im “Goldenen Zeitalter” der Detektivgeschichten, zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, wurden massenhaft Cozies veröffentlicht. Nicht nur berühmte Autoren wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers (red. Anmerkung: Bei Sätze&Schätze rangiert sie unter der Kategorie “Flutschbuch”:
http://saetzeundschaetze.com/2014/09/21/flutschbuch-11-dorothy-sayers-hochzeit-kommt-vor-dem-fall/)
oder Margery Allingham schrieben damals die mittlerweile oft als harmlos verspotteten Geschichten, auch längst in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie Mavis Doriel Hay, John Bude oder John G. Brandon erreichten mit ihren Geschichten ein großes Publikum.

Die Tradition der Mordsgeschichten, die in der Regel im ländlichen England spielen, deren Morde zwar skurril ausschauen, aber kaum detailliert geschildert werden, und bei denen es meistens einen kleinen und überschaubaren Kreis von Verdächtigen gibt, wurde bis heute von Schriftstellern fortgesetzt. Die US-amerikanische Autorin Martha Grimes, 1931 in Pittsburgh geboren, begann Anfang der 1980er Jahre mit der Veröffentlichung ihrer Inspektor-Jury-Reihe, die mittlerweile 22 Bände umfasst. “The Man With a Load of Mischief” heißt ihr erster Roman, der 1987 in der Übersetzung von Uta Goridis unter dem Titel “Inspektor Jury schläft außer Haus” bei Rowohlt erschien. Und in ihm finden sich alle wichtigen Aspekte, die einen guten Cozy ausmachen: Der Krimi spielt im ländlichen und hübsch verschneiten Long Piddelton, bizarre Morde an Zugereisten geschehen in den örtlichen Pubs, eine exzentrische Gesellschaft von Schriftstellern, Schauspielern und Adeligen beherrscht das Geschehen und selbstverständlich muss einer von ihnen die Morde - denn natürlich bleibt es nicht bei einem Toten - begangen haben. In dieses schaurige Spektakel schickt Scotland Yard den charmanten Inspektor Richard Jury als Aufklärer, der sich, wie es sich für einen Cozy gehört, in eine der Verdächtigen verliebt, der Lyrikerin Vivian Rivington.

Neben ihr zählen der windige Kriminalschriftsteller Oliver Darrington und seine gar reizende Sekretärin Sheila Hogg, der attraktive Wirt und ehemalige Schauspieler Simon Machett, der schwule Antiquitätenhändler Marshall Trueblood, die exzentrische Lady Agatha Ardry und ihr Neffe, Melrose Plant, der freiwillig seinen Adelstitel abgegeben hat, zu dem Ensemble der Verdächtigen. Wie es sich für einen Cozy gehört, führen die aktuellen Verbrechen - ein Opfer wird an einer Skulptur an einer Kneipe zur Schau gestellt, ein anderes Opfer landet mit dem Kopf in einem Bierfass - zurück zu Gewaltverbrechen in der Vergangenheit. Angereichert wird diese harmlose und kurzweilige Mörderjagd mit literarischen Anspielungen. Melrose Plant, der sich zum mitermittelnden Freund von Inspektor Jury mausert, zitiert mühelos französische Lyriker, dezente Hinweise zu Agatha Christie und Arthur Conan Doyle werden gestreut und selbstverständlich spielt Shakespeare eine wichtige Rolle, denn der Schlüssel zur Aufklärung der aktuellen Morde könnte in einer “Othello”-Aufführung liegen, die bereits vor vielen Jahren über die Bühne ging.

Dem strengen Blick eines Literaturkritikers können diese literarischen Anspielungen wohl kaum genügen. “The Man With a Load of Mischief”, ist, wie fast jeder Cozy, Unterhaltungsliteratur, die sich mit Klischees schmückt und die keinen literarischen Anspruch hat. Stilistisch ist der Roman handwerklich sauber und unaufregend verfasst, Martha Grimes stellt das Ensemble-Spiel ihrer Figuren in den Mittelpunkt und geht vor allem der Frage nach, wie sich Menschen verhalten, wenn sie mit Mord konfrontiert werden. Der Roman - wie fast alle Inspektor-Jury-Bücher - hat kaum einen politischen oder gesellschaftlichen Anspruch, wirkt in sich sogar eher konservativ und verklärend. Dennoch habe ich mich über zwanzig Jahre nach meiner ersten Lektüre auch beim erneuten Lesen gut amüsiert. Wie so oft bei Unterhaltungsliteratur sind es oft die Freiräume, die der Autor seinen Lesern lässt. Grimes schafft skurrile Figuren und beschreibt dennoch nicht alles bis ins Detail, sondern lässt ihren Lesern den Platz für eigene Bilder. Vielleicht liegt darin die Kraft und das Geheimnis guter Cozies: Das Erschaffen der Landschaften und der Personen. Doch zum Leben erweckt sie letztlich erst der Leser in seinem Kopf. Und das macht mir auch heute noch, nach vielen, vielen kriminalliterarischen Meisterwerken, immer noch einen Heidenspaß!

P.S.: Wer die deutschen Ausgaben heute sucht, der schaue in Antiquariaten bitte nach den alten Ausgaben mit den schönen Umschlag-Illustrationen von Bruce Meek. Leider wurden die späteren Jury-Romane mit Umschlägen versehen, die an die bunten Zeichnungen von Meek nie heranreichten. Und Meek gab mit seinen Bildern die Atmosphäre der Grimes-Romane perfekt wider.

Bibliographische Angaben:
Martha Grimes: The Man With A Load of Mischief. - Boston : Little, Brown & Company, 1981. - ISBN: 0316328804

E-Book-Ausgabe: Martha Grimes: The Man With A Load of Mischief. - New York: Scribner, 2013. - ISBN 978-1-4767-3294-7

Deutsche Ausgabe: Martha Grimes: Inspektor Jury schläft außer Haus / Deutsch von Uta Goridis . - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987, ISBN 3-499-15947-3

Und hier geht es zum lesens - UND! - sehenswerten Blog von Ludger: http://krimiblog.de/

#VerschämteLektüren (12): Peggy und ein “beschämender” Büchertausch in Phnom Penh

Wer England entdecken will, der ist bei Peggy wirklich in besten Händen. Auf ihrem Blog „entdecke england“ berichtet sie von Land und Leuten, Kultur und Natur, Geschichte und Geschichten und allerlei Bemerkenswertem – immer ergänzt durch wunderbare Fotos und persönlichen Anmerkungen, so dass man sich fast wie vor Ort fühlen kann beim Lesen. Very, very british – und mit viel Liebe zur Nation der Exzentriker. Und ihre #VerschämteLektüren haben natürlich auch mit einem der vielen, vielen Exzentriker auf dem englischen Thron zu tun…

Philippa Gregory: “The Other Boleyn Girl” und “The Boleyn Inheritance”

„Früher habe ich gerne historische Romane gelesen. Ich sage früher, nicht, weil ich heute nicht hin und wieder mal einen zur Hand nehme. Aber seit ich historische Sachbücher lese, was ich erst nach meinem Umzug nach England begonnen habe, werde ich immer kritischer. Und das verdirbt mir immer öfter den Spaß am Lesen. Viele historische Romane habe ich mittlerweile ausrangiert, aber von diesen beiden konnte ich mich noch nicht trennen.

Peggy1Ja genau, hier geht es um die immer wieder faszinierende Geschichte von Henry VIII und seinen sechs Frauen. Das erste Buch wird aus der Perspektive von Mary Boleyn erzählt, Anne Boleyn’s Schwester und Geliebte des Königs. Im zweiten Buch erzählen abwechselnd Lady Jane Grey, Katherine Howard und Anne of Cleves über ihre Erfahrungen am Tudor-Hof. Die Bücher haben alles, was man von einem Schmöker erwartet: Liebe, Intrigen, Spannung, Verrat und natürlich jede Menge Hinrichtungen. Warum ich mich von den Büchern noch nicht trennen konnte, liegt aber vor allem daran, dass mich Philippa Gregory mit ihrer Erzählkunst gefühlt mit die Tudorzeit genommen hat. Altertümliche Redewendungen wie „breaking the fast“ statt „breakfast“ geben zumindest mir als Laien das Gefühl von Authentizität und nach den Beschreibungen mancher Hygienerituale hatte ich das dringende Bedürfnis, duschen zu gehen.

Peggy2„The Boleyn Inheritance“ habe ich übrigens damals auf unserer Weltreise in einem Backpacker-Café in Phnom Penh gefunden. Um meine Schmach komplett zu machen, habe ich es gegen (wohlgemerkt ausgelesene) Kurzgeschichten von Herman Melville eingetauscht. Es hat mich einige Überzeugungskraft gekostet, bis die Cafébesitzerin bereit war, so ein dünnes Buch gegen ein dickes (obwohl es so dick auch wieder nicht ist) einzutauschen. So schätzt eben jeder den Wert von Büchern anders ein.“

Wer mit Peggy England kennenlernen möchte, der findet den Blog hier: http://entdeckeengland.com/

#VerschämteLektüren (2): Buchpost vom Doktor und dem lieben Vieh

Anna von der Buchpost ist bekannt für die Schätze, die sie insbesondere aus der englischsprachigen Literatur hebt und uns damit bekannt macht. Und dafür, dass sie uns ab und an einen Klassiker in Erinnerung ruft. Ihre Rezensionen bereichern durch die Fülle an zusätzlichen Informationen zu Büchern und Autoren - und ich hab da auch schon manches Mal gespickelt. Darüber hinaus - und das MUSS einfach hervorgehoben werden - ist sie die letzte tapfere Sonntagsleserin. Chapeau! Auf ihr verheimlichtes Lieblingsbuch war ich schon sehr gespannt. Und siehe da: Anna zieht ebenfalls eine Lektüre aus dem Hut, die Jugenderinnerungen wach ruft. Allerdings glaubte ich bislang, das gäbe es nur im Fernsehen, sprich, ich wußte nicht, dass es ein Buch zum Film gibt…

Und das schreibt Anna:

Also, ich fand Birgits Arbeitsauftrag, im heimischen Buchregal auf die Suche nachliterarisch unterirdischen Werken“ zu gehen, „die man verschämt in der hintersten Ecke des Regals versteckt und von denen man sich dennoch nicht trennen mag“ wirklich schwierig.

Bestimmt habe ich in früher Jugend ebenfalls mit Begeisterung Schmonzetten aus dem mütterlichen Bücherregal gelesen. Doch bleibende Erinnerungen: Fehlanzeige. Und Bücher, die ich verschämt etwas diskreter lagere, gibt es tatsächlich nicht. Die Bücher, die ich mag, stehen sichtbar da, wo sie nach der Lesechronologie halt hingehören.

Aber nach ein bisschen Grübelei bin ich doch noch fündig geworden. Es gibt so einen Leseschatz, von dem ich bisher wirklich niemanden so richtig überzeugen konnte. Literarisch „unterirdisch“ ist er auch nicht, höchstens grottig vom Verlag betreut.

Quelle: http://www.dailymail.co.uk/travel/article-2069854/Young-James-Herriot-Carol-Drinkwater-returns-Yorkshire-scene-All-Creatures-Great-And-Small.html

Eigentlich ist es ein Dreiklang aus den Büchern, der Fernsehserie und einer wunderbaren Landschaft, der mich nach wie vor entzückt. Die Rede ist natürlich von Alfred Wight, dem britischen Tierarzt (1916 – 1995), der ab 1970 unter dem Pseudonym James Herriot seine halb fiktiven Erinnerungen herausgab. Jahrelang suchte er nach einem Verleger, doch als es endlich so weit war, wurde das eine echte Erfolgsgeschichte. Die erste Sammlung erschien unter dem Titel All Creatures Great and Small.

Ich bin eher auf einem Umweg wieder auf ihn aufmerksam geworden. Zwar hatte ich als Kind die Verfilmungen gesehen, doch als ich Jahrzehnte später den ersten Band seiner Erinnerungen geschenkt bekam, wanderte der ungelesen in den SUB nach dem Motto: Vielleicht mal irgendwann oder auch nicht. Nachdem ich dann eher zufällig über die Originalfolgen der Fernsehserie „All Creatures Great and Small“ gestolpert bin (oft herrlich komisch), holte ich das Buch wieder aus dem Regal.

Ich mag die Geschichten mit ihrem Witz und ihrer Situationskomik immer noch. Und ein bisschen Romantik gibt es ebenfalls, schließlich findet James ja auch seine Herzdame Helen.

Und im letzten Urlaub habe ich mir ein Loch in den Regenschirm gefreut, als ich in einem richtig schönen Secondhand-Bookshop einen Bildband erstanden habe: „James Herriot’s Yorkshire, with photographs by Derry Brabbs“, erschienen 1979.

Birgit ist außerdem schuld daran, dass ich Herriots Büchern auf meinem Blog noch einmal einen Beitrag widme. In den nächsten Tagen also mehr dazu.

Hier geht es zum Blog der Buchpost: https://buchpost.wordpress.com/

Und so sah das aus, das BBC-Fernsehen in den 70ern und 80ern:

#VerschämteLektüren und die Folgen: Hier geht es zu Annas angekündigtem Beitrag über James Herriot, bereichert durch allerlei Wissenswertes und eine Kommentarzusammenfassung schwärmerischer Bloggerinnen! https://buchpost.wordpress.com/2014/11/20/james-herriot-all-creatures-great-and-small-1970/

William Shakespeare - Zweifle an der Sonne Klarheit

Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Zweifle, ob lügen kann die Wahrheit,
Nur an meiner Liebe nicht.

“Hamlet”, 2. Akt, 2. Szene, Polonius zitiert einen Brief Hamlets an Ophelia.

Ethan Hawke als “Hamlet”, in der Verfilmung von Michael Almereyda:

Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen (1838).

„Es wird mir flau zu Mute, wenn ich bedenke, dass er am Ende doch ein Engländer ist, und dem widerwärtigsten Volke angehört, das Gott in seinem Zorne erschaffen hat. Welch ein widerwärtiges Volk, welch ein unerquickliches Land! Wie steifleinen, wie hausbacken, wie selbstsüchtig, wie eng, wie englisch!“

Heinrich Heine, „Shakespeares Mädchen und Frauen“, erstmals erschienen 1838

heineEin Kleinod und Lesevergnügen ist dieses Buch für jeden, der nicht nur Shakespeare, sondern auch den scharfzüngigen HH schätzt. Man ahnt es bereits: Wenn Heinrich Heine, Shakespeare-Verehrer und Bewunderer der holden Weiblichkeit, über die Frauenfiguren des englischen Dramatikers schreibt, dann nicht nur mit viel (Lust-)Gefühl, sondern auch mit der ihm eigenen Spottlust. Schon das Vorwort nutzt der frankophile Heine, der zu dieser Zeit bereits in Paris lebte, um in einem kurzen Streifzug mit den Engländern abzurechnen und die Rezeption und Nachwirkung Shakespeares in anderen Ländern aufzuzeigen:

„Besser als die Engländer haben die Deutschen den Shakespeare begriffen. Und hier muss wieder zuerst jener teure Name genannt werden, den wir überall antreffen, wo es uns eine große Initiative galt. Gotthold Ephraim Lessing war der erste, welcher in Deutschland seine Stimme für Shakespeare erhob. Er trug den schwersten Baustein herbei zu einem Tempel für den größten aller Dichter, und, was noch preisenswerter, er gab sich die Mühe, den Boden, worauf dieser Tempel erbaut werden sollte, von dem alten Schutte an zu reinigen.“

So wird die Galerie der Schönen, der Intrigantinnen, der Leidenden und der Holden aus Shakespeares Dramen von der Präambel an bereits weit aus mehr als ein bloßer Streifzug durch die dramatische Frauenwelt – Heine, der begnadete Feuilletonist, nimmt die Miniaturen sozusagen als journalistische „Aufhänger“, um über Kultur, insbesondere die Theaterwelt und Literatur, Politik, Soziales, Religion und viele weitere Themen zu schreiben. Insbesondere findet sich in diesem Buch, das ein wenig ein Schattendasein unter den Heine`schen Werken führte, eine treffende Analyse des Antisemitismus, selbstverständlich bei den Frauenfiguren aus dem „Kaufmann von Venedig“.

Julia

Die „Shakespeare Gallery“ wurde 1836 zunächst vom britischen Verleger Charles Heath veröffentlicht: 45 Bilder von Frauenfiguren aus Shakespeares Dramen, Stahlstiche fiktiver Cassandras, Ophelias, Cleopatras, Julias bis hin zu einer ziemlich vergrätzt schauenden und leicht übergewichtigen Lady Macbeth. Das britische Original war mit Zitaten aus den Stücken ergänzt – ein Ansatz, der eines Heines kaum würdig gewesen wäre. Dieser, wie immer in Geldnöten, nahm das Werk als Auftragsarbeit an. Für die deutsche Ausgabe, für die der Verleger Henri-Louis Delloye die Lizenz erhalten hatte, schrieb Heine 1838 innerhalb weniger Wochen ausführliche Essays zu den „dramatischen“ Frauenfiguren, die oftmals alles andere zum Inhalt haben – nur nicht die Frau. Nur jene weiblichen Gestalten aus den Komödien wurden dann auch in der deutschen Ausgabe von HH mit Zitaten aus den Shakespeare`schen Werken beglückt.

Lady Macbeth

Selbst diese Schönheitsgalerie stieß bei der preußischen Zensur auf Missfallen, wie Jan-Christoph Hauschild, Autor, Germanist und Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf in seinem Nachwort zur Ausgabe 2014 schreibt.

Den Beamten missfiel, dass Heines „ungezügelte Spottlust (…) die Gegenstände seiner vielfachen Antipathien mit dem ganzen Übermut seines reichen Talentes“ geißle. „Hauptsächlich“ sei es England, das er „mit schneidendem Witz und galliger Bitterkeit“ verfolge und wozu sein „Enthusiasmus für Frankreich und Franzosentum“ den „entschiedensten Gegensatz“ bilde.

Letztendlich ging das Werk jedoch durch und war eines von den insgesamt nur vier Heine-Büchern, die in Preußen verkauft werden durften. Zum Glück. Denn nebst den außerliterarischen Streifzügen und Seitenhieben bot Heine damals schon mit seinen Schriften dem Lesepublikum einen hervorragenden Zugang zu Shakespeares Welt – das Buch verdient allein deswegen einen besseren Rang in der Shakespeare-Literatur, als es bisher innehatte. So sieht Eduard Engel in seinem Vorwort zur 1921 erschienenen Gesamtausgabe Heines nur zwei deutsche Schriftsteller, die in ihrer Shakespeare-Kenntnis von gleichem Rang seien: Heinrich Heine und Goethe.

Portia

Wie immer man im einzelnen über Heines Auffassungen Shakespeare`scher Gestalten - er spricht durchaus nicht bloß immer von den weiblichen – denken mag, der Wert seiner kleinen und größeren Abhandlungen über Shakespeares Meisterdramen kann keinem entgehen, der die Werke gründlich kennt, aber auch keinem, der einigermaßen mit der Shakespeare-Literatur vertraut ist. Und man wäge die wissenschaftliche Grundlage, worauf Heine zu jener Zeit, vor dem Erscheinen der bedeutendsten Arbeiten über Shakespeare fußen konnte.“

Die Bandbreite der Themen, die Heine anhand der Frauenportraits auffächert, kann hier in einer Inhaltsangabe kaum wiedergegeben werden. Ich halte es wie Heine selbst und übernehme den Schlüsseldienst:

„Die vorstehenden Blätter sollten nur dem lieblichen Werke als flüchtige Einleitung, als Vorgruß, dienen, wie es Brauch und üblich ist. Ich bin der Pförtner, der Euch diese Galerie aufschließt, und was Ihr bis jetzt gehört, war nur eitel Schlüsselgerassel.“

Heinrich Heines „Shakespeares Mädchen und Frauen“ wurde nun anlässlich des Jubiläumsjahres von Hoffmann und Campe wieder aufgelegt – das Buch ist auch handwerklich gut gemacht, mit den Abbildungen von 1838 versehen, im Schuber und mit Lesebändchen.

Noch ein Schwung Shakespeare-Bücher - im Doppelpack von Hans-Dieter Gelfert und Frank Günther

Jahr für Jahr erscheinen Tausende von Titeln über William Shakespeare. Und zu seinem 450. Geburtstag wächst der Bücherstapel noch um einiges an - schier unmöglich, da die Spreu vom Weizen zu trennen, außer man würde nichts anderes mehr lesen und tun. Deshalb hier nun in aller Kürze einige Bücher, bei denen zumindest der Autorenname Qualität oder Originalität verspricht.

Hans-Dieter Gelfert bei C.H. Beck

Der Anglizist Hans-Dieter Gelfert, bis zu seiner Emeritierung Professor für englische Literatur und Landeskunde an der FU Berlin, ist in diesem Bereich ein Fachautor des C.H. Beck-Verlags. Seine Dickens- und Poe-Biographien habe ich als gut recherchiert, fachlich kompetent und fundiert, wenn auch manchmal etwas zu trocken im Stil empfunden. Von ihm liegen nun zum Shakespeare-Jubeljahr zwei Bücher in seinem „Hausverlag“ vor:

„William Shakespeare in seiner Zeit“, C. H. Beck,2014, 471 Seiten, gebunden, 26,95 Euro, ISBN 978-3-406-65919-5

Verlagsangabe: „In Shakespeares Dramen erscheint der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als eine Bruchzone. Einerseits drückt sich in Shakespeares Person und in seinen Werken bereits beispielhaft das frühneuzeitliche Bewusstsein der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft aus, zum andern macht es die bis heute andauernde Aktualität dieses Dichters aus, dass er in seinen Werken den modernen Menschen noch quasi in statu nascendi zeigt. Hans-Dieter Gelfert widmet sich zunächst der Shakespearezeit mit ihren wesentlichen politischen, sozialen und kulturellen Aspekten, danach dem Leben, Denken und Fühlen des Dichters und zuletzt seinem dramatischen Werk. Er macht verständlich, worum es in Shakespeares Werken geht, welcher bewusstseins- und sozialgeschichtliche Umbruch sich darin widerspiegelt und worin Shakespeares Größe besteht. Der biographische Teil versucht, trotz der dürftigen Datenlage anhand der Sonette und sein Gesamtwerk durchziehender zentraler Motive einen Blick ins Herz des Dichters zu werfen. Shakespeare kommt dabei ausgiebig zu Wort. Alle Texte wurden eigens neu übersetzt. Eine Fülle von Bilddokumenten und Illustrationen helfen, Leben, Werk und Zeit Shakespeares sinnfällig zu machen.“

„Shakespeare“, erschienen in der Reihe C.H. Beck Wissen,zweite, durchgesehene Auflage 2014. 128 Seiten, broschiert, 8,95 Euro, ISBN 978-3-406-66377-2

Verlagsangabe: „William Shakespeare ist der wohl größte englische Dichter. Hans-Dieter Gelfert gibt in diesem Buch eine Einführung in Leben und Werk. Er skizziert das gesellschaftliche Bewußtsein der Shakespearezeit und die Grundthemen des Gesamtwerks, interpretiert die wichtigsten Werke und deutet sie vor dem Hintergrund des elisabethanischen Weltbildes und der anbrechenden Neuzeit.“

Mein Hinweis: Fachlich fundiert, stilistisch etwas trocken.

Leseprobe aus „William Shakespeare in seiner Zeit“: „Hierzulande widmet die 1865 gegründete mitgliederstarke Shakespeare- Gesellschaft dem Dichter noch heute alljährliche Tagungen mit Abhandlungen, die in einem Jahrbuch gesammelt herauskommen. Das alles machte den Elisabethaner schon im 19. Jahrhundert zum besterforschten unter den älteren Dichtern der Weltliteratur. Da ist schwer zu begreifen, dass 1857 die Amerikanerin Delia Bacon glaubte beweisen zu können, dass die Werke Shakespeares nicht von dem in Stratford geborenen Schauspieler dieses Namens stammen, sondern von einem zu seiner Zeit berühmteren Zeitgenossen, dem Philosophen und Lordkanzler Francis Bacon, was vor ihr, nach einer mündlichen Überlieferung, bereits 1785 der Pfarrer James Wilmot vermutet haben soll. Ihre verworrene Beweisführung wurde ein Jahr später von William Henry Smith sehr viel schlüssiger fortgeführt. Bei Delia Bacon, die später im Irrenhaus endete, konnte man noch annehmen, dass ihr eigener Name sie zu der Theorie verführte. Doch danach wurden immer neue Kandidaten als Autoren vorgeschlagen, und berühmte Geister reihten sich unter die Zweifler ein, die nicht glauben wollten, dass die gedankenreichsten Dramen der Weltliteratur von einem Schauspieler aus der Provinzstadt Stratford stammen sollten. Inzwischen ist die Liste der vermeintlich «wahren» Verfasser von Shakespeares Werken auf über sechzig angewachsen, und es kommen weiter neue Kandidaten hinzu. So hob die Literaturwissenschaftlerin Brenda James zusammen mit dem Historiker William D. Rubinstein in ihrem Buch The Truth Will Out. Unmasking the Real Shakespeare (2005) den bis dahin nahezu unbekannten Henry Neville auf den Schild. Drei Jahre später glaubte Brenda James, ihre Theorie im Alleingang durch die Aufdeckung eines vermeintlichen Geheimcodes in der Widmung zur Erstausgabe von Shakespeares Sonetten untermauern zu können. Noch jüngeren Datums ist Dennis MacCarthys 2011 publizierte Theorie, wonach Sir Thomas North, den man bis dahin nur als den Übersetzer Plutarchs kannte, der wahre Shakespeare sei.“

Frank Günther bei dtv

Bevor Frank Günther als Shakespeare-Übersetzer Renommee und zahlreiche Preise (u.a. den Christoph-Martin-Wieland-Preis, den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis und den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung) errang, studierte er Anglistik, Germanistik und Theatergeschichte und arbeitete jahrelang selbst als Regisseur. Inzwischen liegen in seiner, durchwegs originellen Übertragung, 34 der insgesamt 37 dramatischen Stücke vor.

Zum 450. Geburtstag „seines Dichters“ kamen darüber hinaus noch zwei weitere Bücher des Übersetzers bei dtv heraus (hier geht es zum „dtv-special“ über Shakespeare: http://www.dtv.de/special/450_jahre_shakespeare/unser_shakespeare/1856/)

„Unser Shakespeare“, dtv premium, 2014, 340 Seiten, broschiert, 14,90 Euro, ISBN 978-3-423-26001-5

Verlagsangaben: Im Kampf um und mit Shakespeare und dessen Werken hat Frank Günther seit fast vierzig Jahren manche Schlacht geschlagen: Gemordet hat er dabei nur in seinen Übersetzungen, und sein Florett wird gefürchtet und bewundert. Denn wenn es um den englischen Dramatiker geht, fliegen auch bei ihm die »WortFetzen«.

Wer war denn dieser weltberühmte Dramatiker und Lyriker überhaupt? War er vielleicht schwul? War er ein singulärer Künstler oder nur ein genialer Handwerker? Ist Shakespeare »unser« wie Goethe oder Schiller und quasi ein Zeitgenosse, der »moderne« Bühnenspektakel liefert? Gegen diese Art der unreflektierten Einvernahme helfen verbürgte Fakten zum Autor und seiner Rezeptionsgeschichte.

Aus der Übersetzer-Werkstatt gibt Frank Günther spannende Einblicke in das »Phänomen Shakespeare«. Seine Anregungen lesen sich mit Vergnügen und zugleich mit großem Wissensgewinn.

Mein Hinweis: Erster Eindruck – höchst amüsant. Dass Frank Günther zumindest ein Original ist und sich nicht um die „Mainstream“-Shakespeare-Wiedergabe zu scheren scheint, das verdeutlicht auch das Interview mit Denis Scheck, zu finden beim Verlagsspezial.

„Shakespeares Wort-Schätze“, dtv, 2014, 224 Seiten, Buchleinen, 9,90 Euro, ISBN 978-3-423-28023-5.

Verlagsangabe: Aber ›Shakespeares Wort-Schätze‹ bieten viel mehr als berühmte Zitate: Erst in längeren Abschnitten erschließen sich Gemeintes und die sprachliche Virtuosität des Dichters aus Stratford am eindrucksvollsten. Dazu gehört natürlich auch der Originaltext, der parallel zur Übersetzung dargeboten wird.

Mein Hinweis: Für das schnelle Kennenlernen der Übersetzungskunst von Frank Günther sicher geeignet, auch das Nachwort des Übersetzers ist lesenswert. Ansonsten aber eher hübsches Beiwerk, kann man, muss man aber nicht haben.

Leseprobe aus „Unser Shakespeare“: William Shakespeare. Licht meines Lebens, Befeurer meiner Leidenschaften. Meine Sucht, meine Seele. Wwwil-li-ammm-shake-spppeare:Die Zunge rollt schmiegsam über den Gaumen, dreimal schließen die Lippen sich kosend um Deinen Namen und rufen Dich bei drei im Explosivlaut in die Welt – Will. Jemm. Shake. S-pear. O Du Einzigartiger, Du Weltweiser, Du Weltschöpfer, Du Weltverzauberer, Du Menschheitserfinder, Du Seelenabgrundergründer, Du Alles-immer-schon-gewusst-Habender, Du Alles-Beweisender, Du Halt in Untiefen, Du Leuchtfeuer im Grauen der Welt, Du Mein-dein-sein-unser-euer-ihr-Shakespeare, der Du je dem alles bist, was Du ihm sein sollst, Du Unfassbarer, Du Dich Entziehender, Du allen Zwecken Dienender, Du Chamäleon, Du proteischer Verwandler, Du Angepasster, Du Zwangsthema für Hausarbeiten, Seminararbeiten, Dissertationen und Habilitationen, Du Stoffgeber für Aufsätze, Essays und Bücher, Du Motto für Festschriften und Gedenkfeiern, Du Anreger für Weltentwürfe und Gedankengebäude, Du Paradeplatz für Theorieexerzierer und Hypothesenbauer…

William Shakespeare - Sonett 18

Sonnet 18

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate;
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date;
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm’d;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature’s changing course untrimm’d;
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st;
Nor shall Death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st:
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

William Shakespeare

Wenn sich Tilmann von 54books nicht gerade in Hamburger Verlagshäusern aufhält (hier klingt durchaus leichter Neid durch), dann stellt er auch einmal ganz unterschiedliche Übersetzungen Shakespear`scher Sonette zusammen:
http://www.54books.de/sonett/. Und kommt mir damit um Monate zuvor.

Weitere Varianten des Sonetts 18 sind hier zu finden:
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_18.htm.

Und, weil er so schön den Schmacht in der Stimme hat, hier die Interpretation von Brian Ferry:

TRIO 10: Ian McEwan – Schuld und Unschuldige

Der jüngste Coup des britischen Schriftsteller Ian McEwan machte Furore: „Honig“, jene Geschichte um Liebe und Verrat zwischen einer jungen Spionin und einem Schriftsteller, wurde in Zeitungsrezensionen und in der Bloggerwelt hoch gelobt. In „Honig“ kommt Ian McEwan, der in frühen Jahren als Talent ebenso wie als „enfant terrible“ der britischen Literaturszene gefeiert wurde, auf ein Thema zurück, um das etliche seiner Romane kreisen: Serena, die 20jährige MI5-Spionin, die im Namen Ihrer Majestät einen jungen Schriftsteller für den Geheimdienst einspannen soll, muss im Laufe der Geschichte ihre moralischen Überzeugungen stetig überprüfen, revidieren, über Bord werfen. Es ist auch die Geschichte einer Entwicklung, einer Reifung – eine Geschichte vom Erwachsenwerden, wie sie McEwan häufig schreibt.

Bild: Annalena McAffee

Immer wieder stellt er in seinen Büchern Jugendliche und junge Erwachsene in den Mittelpunkt, die mit den ganz existentiellen Fragen – ohne es selbst konkret zu wissen oder benennen zu können – konfrontiert sind: Was ist gut? Was ist böse? Ist jedes Handeln außerhalb der gesellschaftlichen Normen ungesetzlich oder gar moralisch schlecht? Wo stehen die eigenen Werte den sozialen Normen entgegen? Die Jugend ist die Zeit, in der man seine persönlichen Wertmaßstäbe entwickelt. Selten jedoch in der Dramatik und den Ausnahmesituationen der McEwan`schen Welt. Doch gerade deshalb schätze ich seine Romane (trotz mancher Mängel, beispielsweise einer zeitweiligen Langatmigkeit oder auch seiner Detailverliebtheit bei mir fernstehenden Themen) sehr: Der Leser wird zurückgeworfen auf Fragen, die im Alltag des Erwachsenenlebens oftmals verschüttet sind. Über allem steht die Frage: Wie hätte ich gehandelt?

Aufgezeigt sei dies an drei seiner älteren Romane.

„Der Zementgarten“:
Ian McEwan, 1948 geboren, veröffentlichte 1975 zunächst einen Erzählband. „Erste Liebe, letzte Riten“ war sofort erfolgreich. 1978 sein zweites Buch – „Der Zementgarten“. Ein verstörendes Buch.  Vier Geschwister bleiben allein in einem abgelegenen Haus zurück. Der cholerische Vater von einem Schlaganfall dahingerafft, die Mutter stirbt einige Zeit später an Krebs. Um dem System der Waisenpflege zu entkommen, beschließen die Geschwister, die Mutter im Keller einzuzementieren. Fortan sind sie auf sich allein gestellt. Ohne „Führung“, Anleitung, Vorbildfiguren gerät der Kinderhaushalt in Chaos und Unordnung, der Jüngste der Geschwister, ein Schulkind, retardiert, verhält sich wie ein Säugling, auch andere Geschehnisse symbolisieren den Verlust anerzogener Werte. Schleichend langsam übernehmen die beiden älteren Geschwister die Elternfunktion - und damit auch die Paarbeziehung. McEwan lässt den Leser mit einem irritierenden Ende zurück: Während die Außenwelt in das einsam gelegene Haus der Kinder eindringt, vollziehen die beiden Geschwister einen inzestuösen Geschlechtsakt. Sie spielen die Welt der Erwachsenen nach – ohne zu wissen, dass das, was für die Eltern legitim ist, als Akt zwischen Bruder und Schwester von der Gesellschaft verdammt wird. Vielleicht will McEwan damit zeigen: Ohne gesellschaftliche Normen (die in einer Familie von den Eltern vorgegeben werden), im Naturzustand des Menschen, ist er ein moralfreies Wesen – das ist zunächst weder guten noch schlecht. Im Zusammenleben erst ergeben sich die Spielregeln, Grenzen, auch Konventionen – ein zivilisatorischer Entwicklungsprozess, hier aufgezeigt an einer „führungslosen“ Familie.

„Unschuldige“:
Der Buchtitel passt. 1989 erschienen, ein Liebes- und Spionageroman, der zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg im geteilten Berlin spielt. Der 25jährige, jungmännliche Brite Leonard kommt in die immer noch vom Krieg gezeichnete Hauptstadt, um als Techniker für die amerikanische Army und das britische Militär zu arbeiten. Vor Ort wird ihm klar, dass er mit dazu beiträgt, Abhöraktionen gegen die Sowjetunion zu organisieren. Doch nicht nur politisch verliert der junge Mann seine Unschuld – er verliebt sich in die ältere Deutsche Martha. Bei einer Auseinandersetzung mit deren Mann, von dem Martha bereits getrennt lebt, einem gewalttätigen Kriegsheimkehrer, stirbt dieser. Das Paar zerstückelt die Leiche und versucht die Einzelteile in Koffern zu „entsorgen“. Mit dem Ehemann ist jedoch auch die Liebe Leonards zu Martha gestorben – er verlässt sie, kehrt nach England zurück und holt sie, entgegen seinem Versprechen, nicht nach. Drei Jahrzehnte später holt ihn die Vergangenheit wieder ein – auf Umwegen erreicht ihn ein Brief der früheren Geliebten. Leonard kehrt noch einmal nach Berlin zurück – ein melancholisches Wiedersehen, unwiederbringlich hat er sein Leben vertändelt.

Es ist nicht McEwans überzeugendster Roman, auch wenn die Spionagegeschichte heute angesichts des NSA-Skandals wieder einen gewissen Reiz gewinnt. Die absurde Wendung des Geschehens – letztendlich kommen die Russen in Besitz der Koffer mit den Leichenteilen, die Leonard im Abhörtunnel deponiert hat – täuscht nicht über gewisse Längen hinweg. Interessanter ist unter dem Aspekt der verlorenen Unschuld die Figur Leonard zu betrachten: Im Lauf der Liebe entwickelt der junge Mann zum Teil auch sadistische Phantasien, schaltet von Anbetung zu Erniedrigung Marthas um, glüht und erkaltet. Zunächst ein unbeschriebenes Blatt in Liebesdingen testet Leonard an Martha gleichsam alle Facetten der Liebe aus – ohne viel Gefühl für das von ihm angebetete Objekt, so erscheint es mir. Zunächst bereit, aus Liebe alle Normen zu übertreten, erschreckt ihn der Totschlag und der ungeschickte Versuch, ihn zu vertuschen. Dies treibt ihn in die Enge seiner Herkunft zurück. Am Ende ist er es, der mehr als nur die Unschuld verloren hat – ein ganzes Leben nach Berlin erscheint umsonst gelebt.

„Abbitte“:
Erschienen 2001. Für mich immer noch der beste Roman, den Ian McEwan bislang schrieb. Hier kommt, so formulierte es seinerzeit die FAZ, „das Böse in Form eines zwölfjährigen Mädchens daher“. Der Roman ist in drei Abschnitte unterteilt – in einen langen Sommertag in der Vorkriegszeit, der dramatisch endet, in die Kriegserlebnisse der Protagonisten und in die Erinnerungen der Hauptfigur im Alter, Jahrzehnte später. Briony, die zwölfjährige, eigensinnige, auch verwöhnte Tochter aus gutem Hause, steigert sich in der Hitze des Sommertages in eine unsinnige Abneigung und einen fatalen Verdacht hinein. Auf ihre Aussage hin wird am Ende des Tages fälschlicherweise ein enger Freund, der Geliebte der Schwester, wegen Vergewaltigung verhaftet. Eine Schuld, an der sie ihr Leben lang zu tragen haben wird. Das Mädchen verliert seine (moralische) Unschuld, indem es halbbewusst den Pfad der Bosheit beschreitet. Sie zerstört zudem die Unschuld einer erst aufkeimenden Liebe zwischen den beiden jungen Leuten. Und gewissermaßen verliert auch das Leben an diesem überhitzten Tag, den McEwan so fulminant beschreibt, seine Unschuld – von der Hitze des Sommers geht das Geschehen über in die Hitze der Front. Europa erlebt ein zweites Mal nach der „Urkatastrophe“ des 1. Weltkrieges, was der Mensch dem Menschen sein kann.

So wenig, wie Briony sich selbst verzeihen kann, so wenig konnte ich mit ihr beim Wiederlesen dieses Buches Nachsicht üben: Sie hätte Gelegenheiten gehabt, das einmal gesagte Wort zurückzuholen, doch viel zu spät kommt ihr Schuldeingeständnis. So bleibt das Mädchen mit der Falschaussage als einer der unsympathischsten literarischen Figuren in einem der besten englischen Romane der letzten Jahrzehnte zurück. Schuld kann vielleicht abgetragen werden. Der Zustand der Unschuld ist nicht wiederherstellbar.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt (2013).

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„Es liegt eine merkwürdige Kraft in Dingen: Sie können, einmal hergestellt, unser Leben verändern.“

Neil MacGregor, „Shakespeares ruhelose Welt“

Seltsam ist`s, im Nebel zu wandeln…seit Tagen hängt eine Nebelwand über der Fuggerstadt. Von der Straße dringen die Geräusche nur wie in Watte gepackt in mein Arbeitszimmer. Selbst das Augsburger Rathaus, sonst vom Bürofenster fast handgreiflich nah, bleibt in ein diffuses Licht gehüllt. Das Wahrzeichen der Stadt im Nebelkleid. Ich überlege, ob vor 400 Jahren, als der Grundstein für diesen Bau, der, so ein neuzeitlicher Slogan, „Bürgersinn und Bürgerstolz“ repräsentieren soll – und – so ist doch anzunehmen – auch in der freien Reichsstadt zum Repräsentationszweck der wenigen Privilegierten, der wenigen wirklich „Freien“, vor allem auf dem Rücken des städtischen „Unterbaus“ erhoben wurde, ein Bau, der wahrscheinlich Leben&Kraft der Handwerker, Arbeiter, Arbeitssklaven kostete – gut, ich überlege, ob dieser Bau auch schon vor vierhundert Jahren wochenlang im Nebel versank. Und warum sich die Augsburger Patrizier darin überschlugen, Florenz, die mächtige Konkurrentin im Handel, durch Kopieren des Renaissancestils zu übertrumpfen, statt Eigenes zu gestalten, und ob auch an der Themse heute Nebel herrscht…

Vom nebeligen Augsburg 2014 zur Grundsteinlegung 1615 in der freien Reichsstadt sind es nur wenige Schritte zurück in das London der 1590er Jahre. Ein Denkmal wie das Augsburger Rathaus vermag immer noch Geschichten zu erzählen vom Ehrgeiz und den Ambitionen reicher Kaufleute, von Machtbewusstsein und Machtdemonstrationen, von Konkurrenz und Wettbewerb in einer bereits globalisierten Welt.

9783406652875_largeEiner, der solche Geschichten ebenfalls trefflich wiedergibt, ist Neil MacGregor. Der Kunsthistoriker war Leiter der National Gallery in London, seit etlichen Jahren ist er der oberste Hüter des Sammelsuriums im British Museum. Bereits mit seiner „Geschichte der Welt mit 100 Objekten“ landete er einen Bestseller. Zum Shakespeare-Jubiläumsjahr kam nun ein „Sequel“ – bewusste Wortwahl, denn dieses Buch lebt mit und vom Medium Bild und der multimedialen Weiterverwertung als Radioreihe und Hörbuch. „Shakespeares ruhelose Welt“, ein schön aufgemachter Bildband, der am Beispiel von 20 Objekten mitten hineinstößt in das turbulente, von der Pest gebeutelte, von den Iren und Schotten in die Zange genommene, den Spaniern und Katholiken unterwanderte, Magie-gläubige, nach Italien schielende und von aufständischen Lehrlingen gerüttelte London unter Elisabeth I.

Neil MacGregor erhebt nicht den Anspruch, Shakespeares Dramen zu analysieren oder Neues aus dem Dichterleben zu enthüllen.

„Vom Charisma der Dinge bewegt, unternimmt dieses Buch zwanzig Reisen in eine vergangene Welt – dies aber nicht in der Absicht, uns irgendeinem bestimmten Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht der Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. Wir wissen über das, was er tat, recht wenig, können nicht hoffen, mit auch nur annähernden Sicherheit aufzudecken, was er dachte, woran er glaubte. Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunkeln. Stattdessen aber erlauben uns die Objekte in diesem Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben (…).“

Wahren Shakespearianern bietet dieser opulente Bildband also keine neuen Erkenntnisse zu Leben und Werk. Es ist aber auch weitaus mehr als nur ein „coffee table book“, das sich im Jubiläumsjahr hübsch auf dem Wohnzimmertisch ausmacht. Kein „biopic“ auf Papier to go ohne inhaltlichen Anspruch – sondern ein fundiert und lebendig geschriebener Führer durch die englische Geisteswelt und Geschichte dieser dramatischen Zeit. Das Buch eröffnet einen Blick auf die Welt, in der der Dichter und seine Anhänger lebten. Unterstützt von den Shakespeare-Kennern des British Museums, das im vergangenen Jahr die Ausstellung „Shakespeare: Staging the world“ zeigte, verknüpft Neil MacGregor historisches Geschehen, Zeitkolorit, Dokumentiertes mit den Dramen und der Gedankenwelt Shakespeares. Und zeigt damit auch auf, wie modern der Dichter zu seiner Zeit war…

Ein Beispiel: Noch die Eltern des Dramatikers, mutmaßt Neil MacGregor, hatten wohl nie das Ticken einer Uhr gehört. Zimmeruhren waren um 1590 etwas Neues, ein Statussymbol. „Zeit des Wandels, Wandel der Zeit“ ist dieses Kapitel überschrieben. Mit den Uhren wird das Diktat der Zeit ein anderes, wird sich der Alltag der Menschen verändern. Reflektionen über die Zeit – sie sind auch ein fester Bestandteil Shakespearscher Werke. MacGregor verknüpft dieses geschickt, zeigt, was die Stunde geschlagen hat – sowohl im Alltag der Leute, als auch auf der Bühne des „Globe“.

Weil man vom Schöpfer von „Romeo und Julia“, „Othello“, „Hamlet“ und „Macbeth“ so wenig wissen kann, bringt der MacGregor die Welt, in der Shakespeare lebte, auf andere Weise nahe - mit Gabeln, Mützen, Kelchen, Spiegeln. In einem, dem letzten Kapitel macht der Kunsthistoriker das Shakespear`sche Werk zum Objekt: Denn nicht nur die Dinge haben die Macht (siehe Eingangszitat), das Leben der Menschen  zu verändern.

Auch die Worte, die Sprache können es auf den Kopf stellen, uns zu Taten bewegen, eine Welt zum Einsturz bringen. So mancher ist in ein Shakespeare-Stück gegangen und kam, wie nach einem Sommernachtstraum, als ein anderer heraus. Und auch  450 Jahre nach seiner Geburt ist der große Dramatiker und Lyriker William Shakespeare immer noch ein großer Weltveränderer - der Zauber und die Macht seiner Worte ungebrochen. Sein Werk hat die Jahrhunderte überlebt, und viel mehr als das: Es ist immer noch in uns lebendig. Dies verdeutlicht Neil MacGregor eben vor allem im letzten Kapitel „Shakespeare erobert die Welt“. Lauten könnte es auch: „Shakespeare hilft, in der Welt zu bestehen“. Denn selbst in den dunkelsten Winkeln hilft und trägt das Dichterwort weiter - sei es bei der Trauung von Marcel Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto, sei es im Gefängnisalltag auf Robben Island. Für ein einziges Buch durften sich die Gefangenen rund um Nelson Mandela für die lange Dauer der Haft entscheiden – die Wahl fiel auf Shakespeares gesammelte Werke.

Neil MacGregor, „Shakespeares ruhelose Welt“, C. H. Beck, 2013, 347 Seiten mit 125 farbigen Abbildungen, 29,95 Euro.

TRIO 7: Von reisefreudigen Briten und einige Sätze in eigener Sache

„Ich könnte sagen, daß mich keine menschliche Begegnung wirklich überrascht, wäre da nicht diese eine Sorte von Mensch, auf die ich fortgesetzt stoße und die in mir jedesmal ein belustigtes Staunen auslöst. Ich meine die alte Engländerin, die meistens mit entsprechenden Mitteln allein lebt und überall in der ganzen Welt zu finden ist, selbst an Orten, wo man sie am wenigsten vermutet. Man wundert sich schon kaum mehr, wenn man hört, daß in der Villa auf dem Hügel am Rande einer kleinen italienischen Stadt eine Engländerin wohnt, die einzige, die es weit und breit gibt, und wenn einem eine einsame Hazienda in Andalusien gezeigt wird, muß man beinahe darauf gefasst sein, daß dort seit vielen Jahren eine alte Engländerin lebt. Mehr ist man schon überrascht zu erfahren, daß die einzige weiße Person in einer gottverlassenen Stadt mitten im ländlichen China kein Missionar, sondern eine Engländerin ist und da für sich lebt, keiner weiß, weshalb.“

W. Somerset Maugham, aus der Erzählung „Die alte Engländerin“.

Es sind jedoch nicht nur die alten Engländerinnen, die an jeder Ecke des Globus auf einen lauern – auch deren männliches Pendant ist weit verbreitet. Eine Reise ohne Anekdoten von Zusammentreffen mit Engländern kann eigentlich nicht wahrhaft als Reise bezeichnet werden. Gleichwohl an welche Ecke der Welt es einen verschlägt, man kann sich sicher sein: Ein Angehöriger des Vereinigten Königreiches war bereits da, ist immer noch da oder wird gleich kommen. Als ob ihnen die eigene Insel immer wieder zu eng wird, zählen sie mit Sicherheit zu den reiselustigsten Völkern.
Unter Elizabeth I. & Co. eroberten sie die Welt noch mit ihrer Flotte, unter der heutigen Lizzie mit ihren Badelaken. Und nicht von ungefähr machte der Franzose Jule Vernes in seinem Klassiker „In 80 Tagen um die Welt“ einen britischen Gentleman, Phileas Fogg, zur Hauptfigur.
Mag man den „Playa del Ingles“ jedoch innerlich verfluchen und vermeiden, die Reisefreudigkeit der Briten hat auch ihre guten Seiten: Nicht nur die englische Küche, auch die englische Literatur wurde dadurch unendlich bereichert. Im literarischen Trio stelle ich heute drei Beispiele solcher reisender und schreibender Briten vor – drei Männer, drei Generationen, und doch durch eine literarische Tradition und freundschaftliche Bande miteinander verknüpft. Und zwischendrin schmuggle ich noch eine Information in eigener Sache rein, über die ich mich freue wie über jedes Treffen mit einem Reise-Briten…

maugham 001William Somerset Maugham:
„Was kann einer von England wissen, der nur England kennt?“, diese Frage lässt William Somerset Maugham in einer seiner Erzählungen fallen. Maugham (1874-1965) selbst war ein Kosmopolit, wie er im Buche steht: Geboren als Sohn eines englischen Anwalts in Paris, studierte er später in Heidelberg, dann in London. Als Mitglied des MI5 kam er im Ersten Weltkrieg durch ganz Europa und die USA, aber auch als Zivilist unternahm er immer wieder ausgedehnte Reisen, unter anderem in die Südsee. Maugham, der als Kind zunächst nur französisch sprach und nach dem frühen Tod seiner Eltern erst im Alter von zehn Jahren zu Verwandten nach England kam, starb letztendlich in seiner wahren Heimat – an der französischen Riviera.

Unter den zahlreichen Erzählungen, die er neben seinen Romanen (zu denen mit „Der Menschen Hörigkeit“ einer meiner Favoriten zählt) schrieb, dominieren jene, die in die weite Welt entführen. Allerdings: Ein Zuckerschlecken, so scheint es, ist der Aufenthalt in tropischer Hitze oder der Südsee-Sonne für die meisten seiner Protagonisten nicht. Da sieden die Leidenschaft, da kocht das Blut. Mord, Mesalliancen und Malaria strecken reihenweise Ladies&Gentlemen nieder, es wird geliebt, gelitten, gestritten, gemeuchelt, gemordet und dazu vor allem viel gesoffen, um der Langeweile des Kolonialalltags zu entkommen. Neben den Kolonialgeschichten dominieren das erzählerische Werk des W. S. Maugham die Erzählungen rund um den Schriftstellerspion Ashenden: Einige der schreibenden Kollegen und Nachfolger Maughams haben sich da abgeguckt, wie man wirklich schön schreibt. Denn William Somerset Maugham war nicht nur ein lakonischer, aber immer auch freundlich gestimmter Beobachter menschlicher Umtriebe, sondern daneben auch einer, der ebenso elegant wie bissig-humorvoll schreiben konnte.

William Somerset Maugham, „Gesammelte Erzählungen“, Zwei Bände in Kassette, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-06490-2

Zwei Kostproben:

Aus der Erzählung „Das runde Dutzend“:
„So ist das mit dem Ruhm“, meinte er bitter. „Wochenlang war ich der Mann in England, über den am meisten gesprochen wurde. Schauen Sie mich doch an. Sie müssen meine Fotografien in den Blättern gesehen haben. Mortimer Ellis.“
„Tut mir furchtbar leid“, sagte ich und schüttelte den Kopf.
Er machte eine kleine Pause, um seiner Eröffnung Wirkung zu verleihen.
„Ich bin der berühmte Bigamist.“

Aus der Erzählung „Der schöpferische Impuls“:
„Denn es muß festgestellt werden, daß es bei Mrs. Albert Forrester ungewöhnlich gutes Essen, ausgezeichnete Weine und vorzügliche Zigarren gab. Jedem, der literarische Gastfreundschaft genossen hat, muss dies bemerkenswert erscheinen, denn literarische Menschen denken in der Regel hoch und leben einfach; ihre Seele ist mit geistigen Dingen beschäftigt, und sie bemerken nicht, daß der Braten hart ist und die Kartoffeln kalt. Das Bier mag noch angehen, aber der Wein ist eher ernüchtern, und sich an den Kaffee heranzuwagen ist nicht ratsam.“

Patrick Leigh Fermor:Jubeledition-US-4.indd
Wie William Sommerset Maugham war auch Patrick Leigh Fermor (1915-2011) ein Reisender, ein Schreibender und ein Spion – er arbeitete für den SOE (Special Operation Executive). In Griechenland gilt er bis heute noch als Held – Fermor organisierte aus dem Untergrund heraus den Widerstand gegen die Nazis und war 1944 wesentlich beteiligt an der Entführung des dortigen Befehlshabers Heinrich Kreile nach England.

Fermor, Sohn eines Geologen, reiste schon früh durch die Welt – auch ihm war die Wanderlust in die Wiege gelegt worden. Die Wanderlust pflegte er im buchstäblichen Sinne: Sein Hauptwerk sind jene drei Bücher, in denen er seine Fußwanderung nach Konstantinopel festhält. Die Reisebücher, allesamt erst lange nach der Wanderung geschrieben und erschienen, sind nicht nur für Wandervögel ein Genuss. Bereichert durch das immense politische und kulturelle Wissen des Schriftstellers sind sie wahrhaftige Literaturreisen, auf die man gerne mitgenommen wird.

Unter diesen Perlen ragt der einzige Roman, den der Autor, Spion im Dienste Ihrer Majestät, der 2004 geadelt wurde, wie ein kleines schillerndes literarisches Juwel hervor. “Die Violinen von Saint-Jacques” (das englische Original erschien 1953) erzählt vom Untergang einer Antilleninsel Ende des 19. Jahrhunderts. Vom Vulkanausbruch, der eine französische Kolonialgemeinschaft mit sich reißt, berichtet Jahrzehnte später die einzig Überlebende. Ihren jungen Zuhörer entführt sie ebenso wie die Leser dieses Romans zu einem sprachlich opulenten Ausflug in eine buchstäblich versunkene Welt. Patrick Leigh Fermor schwelgt in Dekor und Details im Stil eines Oscar Wilde. Französische Eleganz, karibische Exotik, Liebe, Leidenschaft und Lavahitze: Eine kleine Geschichte (190 Seiten), ganz nah am Kitsch im positiven Sinne, die einen mit ihrer Anmut vollständig aus dem Alltag entreißen kann.

Patrick Leigh Fermor, „Die Violinen von Saint-Jacques“, Neuauflage 2013, Dörlemann Verlag, ISBN 9783908777977.

Für mich als Bloggerin eine wunderschöne Sache - das Bücher Magazin (www.buecher-magazin.de) veröffentlichte meine Besprechung des Romans in seiner aktuellen Ausgabe. Die Anfrage, eine Rezension über ein Buch meiner Wahl zu schreiben, löste bei mir bereits helle Freude aus. Damit jedoch nicht genug – vorgestellt wird in einem eigenen Beitrag von der Redaktion auch der Literaturblog Sätze&Schätze. Ich fühle mich richtig gebuchpinselt!

3-596-10364-9Bruce Chatwin:
Am 18. Januar 2013 jährt sich sein viel zu früher Tod zum 25. Mal. Chatwin blieb wenig Zeit zu schreiben: Der 1940 in Sheffield geborene Schriftsteller starb bereits 1989 in Nizza. Mit 18 Jahren begann Chatwin als Botenjunge bei „Sotheby`s“ – und war wenige Jahre später dort verantwortlich für die Abteilung für impressionistische Kunst. Dort wie später bei seiner Stelle bei der Sunday Times hielt es ihn jedoch nicht lange. Ihn zog es auf Reisen und zum Schreiben: Sein Vorbild war Patrick Leigh Fermor, zu dem ihn eine enge Freundschaft verband. Chatwins Asche wurde neben einer kleinen Kirche auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, wo Patrick Leigh Fermor lebte, beigesetzt.

Titel seines ersten Buches war „In Patagonien“, wo er sich nach der Kündigung bei der Sunday Times aufhielt, eine Besprechung seines bekanntesten Buches, „Traumpfade“, findet sich auf dem Blog unter diesem Link:
http://saetzeundschaetze.com/2013/11/23/bruce-chatwin-traumwandlerisch-schreiben-vom-reisen-und-der-ruhelosigkeit/

Kurt Kreiler: Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt (2013).

„Empfanget, werte Dame, den roh und rauhen Vers,
leiht der Erzählung Euer Ohr, mit der ich vor Euch tret.“

Edward de Vere

Am 26. April 2014 wird – allen Zweiflern und Skeptikern zum Trotz – sein 450. Tauftag gefeiert: William Shakespeare, der wohl berühmteste Dramatiker und Dichter der Welt, manche sagen auch: „der Beste“, soll drei Tage zuvor das Licht der Welt erblickt haben, gesichert ist nur der Taufeintrag im Kirchenregister in Stratford-upon-Avon. Bevor ich jedoch den kompletten Beitrag im Konjunktiv verfasse und hätte, könnte, wäre schreibe: Gehen wir davon aus, dass es so ist, dass Shakespeare tatsächlich geboren wurde, und zwar in diesem April anno 1564 und zwar in der bei Birmingham gelegenen Stadt - es kann auch anderes behauptet werden, wie dieser Beitrag noch zeigen wird.

Vieles liegt im Dunkeln über Leben und Wirken des William Shakespeare: Schlug am 23. April tatsächlich die Geburtsstunde des „Gulielmus filius Johannes Sakspere“? Wo ging er zur Schule? Wann heiratete er? Wo sind die berühmten „verlorenen acht Jahre“? Und: Welche der überlieferten Sonette sowie der „Comedies, Histories and Tragedies“, die sich in „First Folio“ (herausgegeben von Freunden Shakespeares nach seinem Tod 1616) befinden, sind tatsächlich von ihm? War der Mann aus Stratford gar nur die Lerche, ein anderer jedoch die Nachtigall? Sein oder Nichtsein - Fragen über Fragen.

So hält der Dramatiker noch heute nicht nur das Theaterpublikum in Atem, sondern auch Scharen von Wissenschaftlern. Mit Wortfeldanalysen werden seine Texte und Zeitgenössisches auf den Ursprung hin untersucht, Historiker kramen in Archiven, Literaturwissenschaftler studieren hingebungsvoll Quellen. Nur eines scheint gewiss: Auch im 450. Geburtsjahr werden neue Theorien und Sensationen zu Shakespeares Leben und Sein die Runde machen.

Die Zuordnung Shakespear`scher Werke zu Francis Bacon oder Christopher Marlowe kursiert schon seit langem. Doch aller guten Dinge sind drei: Seit den 1920er Jahren gibt es auch die sogenannte „Oxford-Bewegung“, die nun durch einen deutschen Autoren weiter befeuert wird: Shakespeare war nicht Shakespeare, sondern Edward de Vere, Earl of Oxford, alias „Meritum petere grave“ alias „Master Fortunatus Infoelix“ alias „Spraeta tamen vivunt“ alias „Ferenda Natura“. Unter diesen Pseudonymen – „Es ist schwer, das Verdiente erbitten zu müssen“, „Der unglücklich Beglückte“, „Das Verschmähte lebt dennoch“ und „Die zu ertragende Natur“ – soll der lebenslustige Earl of Oxford (1550-1604) seine Gedichte veröffentlicht haben.

Dass zwischen den Lebensjahren, den vermeintlichen, des Shakespeare aus Stratford-upon-Avon und des Earls eine Lücke klafft und auch ansonsten die Oxford-These nicht allzu sehr gestützt wird, ficht Kurt Kreiler nicht an. Bereits 2009 veröffentlichte der Münchner Schriftsteller das Buch „Der Mann, der Shakespeare erfand“ – und heimste damit ein wenig Lob, vor allem aber viel Kritik und auch Häme ein. Von „Verschwörungstheorien“, „ausgemachtem Humbug“ und „obskurem Geniekult“ war in den Rezensionen die Rede, kurzum: Kreilers Theorie wurde von den Anglisten zunichte gemacht, bestenfalls als exotische Randnotiz zur Kenntnis genommen.

devereDoch Kurt Kreiler bleibt dabei: Es war die Lerche, und nicht die Nachtigall. In einem neu erschienenen Gedichtband beim Insel Verlag – „Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt“ – veröffentlicht Kreiler hundert Gedichte des Earls, die er herausgefunden, übersetzt und kommentiert hat. Und wiederholt seine These: „Ein einmaliger Vorgang: Der Dichter – Edward de Vere, Earl of Oxford (1550-1604) – verbirgt seinen Namen von Anfang an hinter einem Schleier. Sein poetisches Werk, das sich von der mausgrauen Dutzendware der Zeit abhebt, wird aus dem Verkehr gezogen, weil es die höfische Gesellschaft provoziert – und entschwindet die nächsten Jahrhunderte den Blicken der Leser. (…) Allerdings gewinnen die Oxfordschen Gedichte ihren Wert nicht durch die mögliche Zuschreibung an William Shakespeare. Umgekehrt: Ihre Qualität stützt die These, dass Edward de Vere, Earl of Oxford, ab 1593 unter dem Pseudonym WILLIAM SHAKESPEARE publizierte.“

Wie Urs Jenny in seinem kenntnisreichen Spiegel-Essay „Der Dichter und sein Doppelgänger“ 2009 so trefflich schreibt: „Die Debatte wird weitergehen. Vielleicht ist das Geheimnis des Autodidakten Shakespeare aus der Provinz ganz einfach: Eben weil man nichts über ihn weiß, traut man dem Mann aus Stratford alles zu.“

Sei es, wie es will – wer „Venus & Adonis“, die vermutlich 1592 entstandene Versdichtung Shakespeares liebt, der wird auch die 100 schönen Gedichte am Faden des Edwards de Vere schätzen.  Shakespeare oder nicht Shakespeare: Gleichwohl, die Verse, zumeist der Liebe gewidmet, sprühen vor Sinnlichkeit, Witz, Lebendigkeit und Übermut.

„Ich weis nicht, ob ich Ew. Gn. beleidigen werde, indem ich Ihnen diese ungefeilten Zeilen zueigne…“ so Shakespeare (vermutlich) in seiner Widmung an den Grafen von Southampton und Freiherrn von Tichfield. Mit diesem Understatement läutet er eines der sinnlichsten Versepen der Literatur ein.

Auszug:
„Der Schweis begann der schönen Stirn
Der liebesiechen Liebesgöttin
Jetzt zu entquillen. Denn
Der Schatten war dem Ort entwichen,
Wo sie mit ihrem Liebling lag;
Und Titan, von der Mittagshitze müd,
Schos einen glühnden Blick auf sie,
Und wünschte dem Adon
Die Zügel seines feurigen Gespanns
Und sich des Knaben Plaz.-
(In der Übertragung von Heinrich Christoph Albert, aus der deutschen Erstausgabe 1793).

Und so schmachtet und spöttelt Edward de Vere:

Und wenn ich`s tat, was dann?

Und wenn ich`s tat, was dann?
Seid Ihr darum betrübt?
Das Meer hat Fisch für jedermann.
Und Ihr? was wollt ihr mehr?

So sprach sie, die ich liebt,
so hat sie mich verwirrt:
und warf mir dies als Frage hin,
in der ich mich verirrt.

Da sagte ich zu ihr:
Ein Fischer wünscht sich wohl,
daß allzeit auf hohem Meer
er ganz alleine wär.

So wünscht` auch ich: umsonst.
Doch da es nicht sein kann,
laßt andre ausfahr`n nach dem Fang
und leer laßt meinen Kahn.

Ein tiefer Abgrund war das Meer (Auszug)
Ein Liebender, den das Meer von seiner Lady trennt, beklagt sich

Ein tiefer Abgrund war das Meer,
das Hero von Leander trennte,
doch kein Bedenken hielt ihn mehr,
es gab nichts, das ihn retten konnte.
Schuldlos gab er sich selber hin,
den Willen Neptuns zu erfülln.

O gier`ger Schlund, verhexte Wellen,
O grause Flut, schmählicher Pfuhl,
gewillt, die Liebenden zu quälen
und Mann und Frau Gewalt zu tun.
Das offne Maul bleibt aufgesperrt,
bis es sein in die Tiefe zerrt.

Wie auch immer man Edward de Vere und die Theorie von Kurt Kreiler einordnen will – unterhaltsam zu lesen sind beide Bücher:

Kurt Kreiler, „Der Mann, der Shakespeare erfand“, insel taschenbuch 4015
Broschur, 595 Seiten, ISBN: 978-3-458-35715-5

Edward de Vere, „Der zarte Faden, den die Schönheit spinnt“, Insel Verlag, gebunden, 401 Seiten, ISBN: 978-3-458-17587-2

TRIO 5: Very british – der Landhausroman.

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Was im deutschen Roman das pommersche Großgut war, ist bei den Briten das Landhaus: Statussymbol des Adels, Metapher für eine niedergegangene Klasse.

„Beim Kalksteinbruch überholte ihn ein Auto. Darin saß wieder ein anderer Menschentyp, dem die Natur wohl will: der Imperialist. Bei seiner Gesundheit und unermüdlichen Tatkraft hofft er, das Erdreich zu ererben. Er zeugt ebenso viele und gesunde Nachkommen wie der Freisasse, und groß ist die Versuchung, ihn als König der Freisassen zu feiern, der die Tugenden seines Landes über die Meere trägt. Doch der Imperialist ist nicht, was er zu sein glaubt und zu sein scheint. Er ist ein Zerstörer. Er bereitet dem Kosmopolitismus den Weg, und wenn sein ehrgeiziger Wunsch vielleicht auch wirklich in Erfüllung geht, so wird es doch nur eine grau gewordene Erde sein, die ihm als Erbteil zufällt.“

Edward M. Forster (1879-1970), „Wiedersehen in Howards End“.

Edward M. Forster, der große britische Romancier, veröffentlichte diesen Abgesang auf das viktorianische England bereits 1910. Ein Abgesang auf die Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der alten parlamentarischen Demokratie, Götterdämmerung im Vorfeld des 1. Weltkrieges, der Schwanengesang für den britischen Adel. Auch in Großbritannien löste der Geld- den Erbadel ab, Kapitalismus statt noblesse oblige. Forster übrigens, ein überzeugter Demokrat, lehnte 1949  den Ritterschlag und den Adelstitel ab.

3-596-15898-2In „Howards End“ geht die alte, viktorianische Epoche unter, sie verschwindet in der Moderne. Statt Adel dirigiert Geld die Welt, der neue Snob, der auf Klasse und Unterschied pocht, ist der Imperialist, verkörpert durch die Wilcox-Männer, die im Auto über Landstraßen rauschen.
Im Mittelpunkt des Romans stehen jedoch die beiden Schlegel-Schwestern und ihr jüngerer Bruder. Sie führen, elternlos, ein der Kunst und Kultur zugewandtes Leben. Ihre Abkunft von einem deutschen Vater sowie eine – relative – Mittellosigkeit machen sie für die „besseren“ Kreise suspekt. Demgegenüber die Familie Wilcox, Verkörperung viktorianischer Korrekt- und Steifheit, Geschäftsleute auf dem Weg nach oben. „Howards End“, das Landhaus der Wilcox`, wird zum Kulminationspunkt: An ihm entzünden sich die Geister, hier kommen schlussendlich die beiden Welten zueinander. „Inseln der Seligkeit und der ersehnten Gelassenheit zwischen allen Verwerfungen dieser mehrsträngigen Liebesgeschichte bleiben das Haus und der Garten von Howards End. Dieses Domizil symbolisiert ein Merry Old England, in dem Narren, Welteroberer, Snobs und Wahrheitssucher in diskussionsfreudiger Gemeinschaft ihre Roastbeefscheibe anschneiden“, schreibt Hans Pleschinski.

Ein stilistisch eleganter Roman, der sowohl durch seine Orts- und Landschaftsbeschreibungen glänzt als auch durch die geschliffenen Dialoge – und der optimale Einstieg für jene, die auch die weiteren Romane des Schriftstellers und Reisenden genießen wollen. Ihre Zahl ist überschaubar – Forster schrieb trotz seines langen Lebens „nur“ sieben Romane, daneben jedoch auch zahlreiche Essays, eine Literaturtheorie, Biographisches und einige Erzählungen.

Die Erbauer ahnten nicht, wie sehr man ihr Werk einmal missbrauchen würde. Sie bauten ein neues Haus aus den Steinen einer alten Burg, und Jahr für Jahr, Generation um Generation bereicherten sie und vergrößerten es. Jahr für Jahr reifte das Holz im Park heran, bis bei einem unerwarteten Frost Hoopers Zeitalter anbrach. Das Haus verkam und das ganze Werk wurde zunichtegemacht; Quomodo sedet sola civitas. Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“

Bereits hier ausführlichst und begeistert besprochen: Wiedersehen mit Brideshead (Link)von Evelyn Waugh, der Landhaus-Roman per se.

„Meiner Ansicht nach erkannte unsere Generation etwas, das der Aufmerksamkeit aller früherer Generationen entgangen war: daß nämlich die großen Entscheidungen dieser Welt nicht einfach in den Parlamenten getroffen werden oder während der vier, fünf Tage einer internationalen Koferenz im vollen Scheinwerferlicht von Öffentlichkeit und Presse. Die Debatten werden vielmehr geführt und die wichtigen Entschlüsse gefasst in der privaten Sphäre der großen Häuser dieses Landes.“

Kazuo Ishiguro, „Was vom Tage übrig blieb“.

Was der Ich-Erzähler, der Butler Stevens, dabei jedoch unterschlägt: Es können auch die falschen Entscheidungen getroffen werden, die falsche Wahl – so wie die seines ursprünglichen Hausherrn, der sich zum Fürsprecher der Nationalsozialisten macht.

wasvomtageDer Landsitz als Schauplatz für den Zeitenwandel – nicht minder eine Metapher für Untergang und Wechsel ist auch Darlington Hall in „Was vom Tage übrigblieb“. Wie in Stein gemeißelt ist in diesem Roman jedoch nicht nur das weiträumige Gebäude – sondern dies sind auch die Gesichtszüge des Butlers Stevens, der sozusagen zum Inventar gehört. Erzählt wird der Roman aus der Retrospektive, der Erzähler reflektiert kurz nach dem 2. Weltkrieg das Geschehen, das zwischen den Kriegen angesiedelt ist. Ein auch zeitlich perfekter Abschluss für dieses Trio also. Der Niedergang der Adelsklasse scheint vollendet – der Landsitz durch einen Amerikaner erworben (ein britisches Trauma, dieses Verhältnis zum „großen Bruder“), der Ruf des Vorbesitzers durch dessen deutschfreundliche Politik und Nähe zu Nazigrößen beschädigt. Stevens hat seine Rolle als Diener und Schatten auf Darlington Hill so sehr internalisiert, dass kein Raum für persönliche Gefühle bleibt. Selbst dann nicht, als die Haushälterin Miss Kenton zu seiner Vertrauten wird. Jahre später möchte er sie zurückholen – doch die einmal vergebene Chance auf ein privates Glück ist vertan. „Was mich interessiert, ist der Drang in den Menschen, ein gutes, das heißt erfülltes Leben zu führen, und wie sie versuchen, sich eine Art von Würde zu bewahren, wenn sie merken, dass das Leben nicht im entferntesten so erfolgreich war, wie sie angenommen hatten“, sagte der Autor später. Dies macht die große Melancholie dieses Romans aus: Stevens erfüllt die Konventionen seines Berufs perfekt – und versäumt damit die eigentliche Erfüllung eines Lebens, die nicht in der kalten Professionalität der Berufsausübung liegt. Mag das Tischsilber glänzen – das Gold des Lebens ist stumpf geworden, den „Schlüssel zu menschlicher Wärme“ sucht er zu spät.

Erstaunlich an diesem Roman ist, dass sein Autor weder ein gebürtiger Brite ist noch das Buch selbst aus der geschilderten Zeit heraus entstand: Kazuo Ishiguro wurde 1954 in Nagasaki geboren, kam jedoch schon als sechsjähriges Kind nach London. „Was vom Tage übrigblieb“ wurde 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichnet und zum Welterfolg.

„Was vom Tage übrigblieb“ als auch „Howards End“ wurden beide von James Ivory verfilmt – und sind, wenn man diese Form der Literaturadaption mag, sehenswert. Aber sie können die Fülle der beiden Bücher nicht gänzlich erfassen – ein literarischer Landsitz-Ausflug empfiehlt sich also allemal.

Kleiner literarischer Streifzug durch England

In den letzten Monaten lag mein Leseschwerpunkt in der englischen Literatur der Nachkriegszeit. Die wenigsten Bücher haben es zu einer Blogbesprechung gebracht – aber manche sind dennoch, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen, im Gedächtnis haften geblieben. Ein kurzer literarischer Streifzug durch die britische Moderne - natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Einen fundierten Überblick über die englische Literatur ab den 60er Jahren kann ich nicht bieten - so viele erwähnenswerte Autoren, zu wenig Zeit zum Lesen. Daher ist dieser Spaziergang wirklich nur eines: eine ganz subjektive Betrachtung.

Jeder Literaturnobelpreisträger ist umstritten. Das gehört zum Preis wie das Händeschütteln mit den schwedischen Königs. Albern ist es jedoch, wenn einige notorische Nörgler an Alice Munro, der diesjährigen Preisträgerin aus Kanada, zu bemängeln haben, sie schreibe zu „gefällig“, zu schön. Jenen wünsche ich als Hausaufgabe die Pflichtlektüre aller Romane der beiden britischen Literaturnobelpreisträger William Golding und Harold Pinter. Wobei Pinter nur einen schrieb. Was mir ausreichend erscheint.

goldingWilliam Golding erhielt den Nobelpreis 1983. Im Wesentlichen wohl für seinen 1954 erschienenen Roman „Herr der Fliegen“. Die Jurybegründung wirkt auch heute noch etwas gezwungen. Den „Herr der Fliegen“ habe ich mal wieder gelesen, wieder mit gemischten Gefühlen. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und dass bereits auch bei Kindern dieses Wölfische in Extremsituationen herausbricht, das ja. Der Sprachstil des Romans dagegen: weniger ja…und dies gilt zwiefach für ein späteres Werk Goldings, das ich abbrechen musste: Der 1964 herausgegebene „Turm der Kathedrale“. Decan Jocelin will für seine Kathedrale einen Turm gebaut haben, der einfach zu hoch ist – das Scheitern ist im Beginn angelegt. Das gilt vielleicht auch für den Roman: Ehrgeizig gedacht, aber die sprachlichen Mittel reichen nicht aus…

Ebenso rieb man sich bei der Nobelpreisvergabe 2005 an Harold Pinter etwas die Augen. Seine Theaterstücke erinnern an die sozialkritischen britischen Filme der 60er Jahre, in schwarzweiß und die ganze Tristesse des Molochs London und der Industriegebiete aufzeichnend. Wer Beckett mag, findet zum Theatermann Pinter eventuell einen Zugang - wobei im Umgang mit dem Absurden zwischen beiden Autoren Welten liegen, wie ich meine. Die Stücke lesen, statt im Theater zu sehen, eröffnet noch einmal einen anderen Blick auf den Text. Seinen Roman „Zwerge“ musste ich abbrechen.

Noch ein Abbruch: „Der schwarze Prinz“ (1973) von Iris Murdoch. Das Buch sei in Ironie getaucht, schrieb Ruth Klüger, die ich als Autorin sehr schätze, einstmals in der Zeit. Vielleicht ist die Ironie in der deutschen Übersetzung verloren gegangen, vielleicht habe ich einen anderen Sinn dafür. Ich fand die Reflektionen (vornehmer für: Selbstbemitleidungen) eines alternden Einzelgängers, der sich – ja, halt dich fest, ganz was Neues! – in eine jüngere Frau verliebt, irgendwie nur: mühsam.

AmisEbenso zwei erfolglose Versuche mit Martin Amis. „Gierig“ -  da ist die Ironie in einer Geschichte um einen Typen, für den nur Geld zählt, zu dick aufgetragen. Slapstick-Gesellschaftskritik. „Die Hauptsachen“, eine Annäherung an seinen Vater Kinsley Amis, ebenfalls Schriftsteller, wird vielfach auch als sein Hauptwerk bezeichnet. In Erinnerung bleibt mir vor allem: Eine Hauptsache erschien mir bei Amis seine Reflektionen über sein schlechtes Gebiss. Er schreibt verdammt viel über seine schlechten Zähne. Außerdem schreibt er sprunghaft – mal hier ein Schnipsel aus der Familiengeschichte, dann wieder zurück aufs College, dann wieder vorwärts in die Gegenwart. Manche können das, andere nicht: Es ergab sich kein Gesamtbild aus dem Puzzle, allenfalls der Eindruck, dass so Schriftsteller wahnsinnig viele andere Schriftsteller und Promis kennen. Name dropping und Zähne ziehen. Da hieß es beim Lesen Zähne zusammenbeißen oder abbrechen – ich brach ab.

zadie„Zähne zeigen“ dagegen kann jedoch Zadie Smith. Das 2000 erschienene Debüt ist eine zum Teil wirklich herrlich absurde, komische, aber auch liebevoll geschriebene Spiegelung der modernen Verhältnisse in der britischen Gesellschaft. Die Konflikte und Probleme, die beim Aufeinanderprallen der Kulturen im Einwanderungsland England entstehen, werden mit viel Witz aufgespießt und eigentlich auch wieder ad absurdum geführt. Sie ist damit eine würdige Kollegin von Hanif Kureishi, dessen „Buddha in der Vorstadt“ (1990) ein ebenso witziger multikultureller Lesetripp ist. Auch hier die Geschichte einer multikulturellen Familie, alles in der Art des wunderbaren Waschsalons, diesem Theaterstück von Kureishi, das 1985 so herrlich von Stephen Frears verfilmt wurde.

Nochmal zurück zum Herrn der Fliegen – in neuer Übersetzung (bei Klett-Cotta) erschien unlängst „A Clockwork Orange“ (1962) von Anthony Burgess. Ebenfalls ein Buch über das Böse im Menschen, aber mit, wie ich meine, mehr philosophischen Gehalt und einer weitaus größeren sprachlichen Stilsicherheit als Goldings Werk. Wenn ich nur beim Lesen die Bilder der Kubrick-Verfilmung aus dem Kopf bekommen würde…

Wenn das Kino die Lektüre überlagert, hilft nur noch Humor. Schwache Überleitung zu zwei Autoren, die ich genossen habe zwischen den Ausflügen in das ganz Düstere à la Golding und Burgess – zwar ist Muriel Spark auch eine, die rabenschwarz und bitterböse schreibt, aber eben auch so herrlich exzentrisch. „Memento mori“ (1959) ist ein Roman, in dem keine der Hauptfiguren unter 70 Jahre alt ist. Was nicht heißt, dass da Leidenschaften, Laster und Intrigen durch Altersweisheit abgemildert wären. Man könnte fast von einer Art Subkultur-Roman sprechen – denn das Buch zeigt auch auf, wie unsere Gesellschaft mit den Älteren umgeht: Abgeschoben, aufs Abstellgleis, abseits.

David Lodge hingegen widmet sich in „Ortswechsel“ (1975) eher Männern in der Midlife-Crisis. Ein englischer und ein amerikanischer Professor tauschen ihre Wirkungsstätte. Und letztlich auch die Ehefrauen. Herrlich komische Veralberung des akademischen Betriebes.

barnesImmer wieder gerne gelesen von mir: Ein Buch von Julian Barnes. Irgendeines. Es ist immer ein intellektuelles Vergnügen. Dieser Autor kann schreiben, unterhalten und den Horizont erweitern…was will man mehr? „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ (1989) wäre denn auch eines der Bücher, die ich mit auf die Arche Noah nehmen würde. Kunstvoll verknüpft Barnes hier zehn Geschichten um die Arche Noah, Weltuntergangsszenarien und Überlebensstrategien, um Weltfluchten und Horizonterweiterungen. Das eine halbe Kapitel ist für mich eine der schönsten Liebeserklärungen, die ein Schriftsteller der Moderne für seine Frau schrieb. Nicht minder hingerissen bin ich von seinem 2011 erschienenen Roman „Vom Ende einer Geschichte“. Ich hoffe, Barnes ist damit noch lange nicht am Ende SEINER Geschichten.

Seine „dunkle“ Seite enthüllt Julian Barnes unter dem Pseudonym Dan Kavanagh. Als Kriminalautor. Auch da nicht weniger intelligent und klug, man lese beispielsweise „Duffy“. Auch wenn es etwas seltsam anmutet, wenn ein brutaler Gangster intellektuell daher schwadroniert – das hat seinen Reiz.

Und zuletzt noch eine wahre Neuentdeckung für mich: Der Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor, dessen Bücher in deutscher Übersetzung vom Dörlemann Verlag herausgegeben werden. Der Brite, der auch einmal Spion im Dienste Ihrer Majestät war, schrieb einen einzigen Roman: „Die Violinen von Saint-Jacques“ – eine Kurzbesprechung des Buches von mir erscheint im Januar im neuen „Bücher Magazin“.

Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead (1945).

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„Die Erbauer ahnten nicht, wie sehr man ihr Werk einmal missbrauchen würde. Sie bauten ein neues Haus aus den Steinen einer alten Burg, und Jahr für Jahr, Generation um Generation bereicherten sie und vergrößerten es. Jahr für Jahr reifte das Holz im Park heran, bis bei einem unerwarteten Frost Hoopers Zeitalter anbrach. Das Haus verkam und das ganze Werk wurde zunichtegemacht; Quomodo sedet sola civitas. Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“

Evelyn Waugh, „Wiedersehen mit Brideshead“, 2013 in neuer Übersetzung als Schmuckausgabe mit Schuber und Lesebändchen beim Diogenes Verlag erschienen, 544 Seiten, ISBN 978-3-257-06876-4.

Quomodo sedet sola civitas: Und wie liegt die Stadt so wüst! Wie einst der Prophet Jeremiah in seinen Klageliedern, so klagt auch Captain Charles Ryder bei seinem „Wiedersehen mit Brideshead“: Wie liegt der Landsitz, der ihm wenige Jahre zuvor die Welt bedeutete, so wüst, von seinen Bewohnern verlassen, von Soldaten als vorübergehende Unterkunft belegt, niedergekommen und missbraucht vor ihm.

„Wiedersehen mit Brideshead“ ist ein seltsames Buch. Es weckt Enthusiasmus oder aber Verdruss. Andere Leser empfahlen mir es wärmstens: „Ein einzigartiges Lesevergnügen, ein Genuss, sagenhaft!“  Auf dem Blog eines anderen Lesers war zu sehen, er habe sich selten so gelangweilt und gequält mit einem Buch. Bei seinem Erscheinen 1944 erntete der Autor Kritik und böse Worte. Heute gilt es als das englische Gegenstück zu „The great Gatsby“: Die brillante Schilderung des Niedergangs einer bestimmten Klasse.

Seit ich aus dem Leserausch wieder aufgetaucht bin, bin auch zwischen den Polen gefangen. Die Rezension musste einige Wochen warten. Ich war mir nicht schlüssig, ich war irritiert.

Tatsächlich – beim Wiedersehen mit Brideshead kann man die Welt vergessen. „Die heiligen und profanen Erinnerungen des Hauptmanns Charles Ryder“, so der Untertitel, entwickeln eine magische Sogwirkung. Die Sprache, mich hat vor allem die Sprache (und hier muss auch der Übersetzer unter dem Pseudonym (?) „pociao“ erwähnt werden), der Stil, die Atmosphäre gefangen genommen. Die Sprache in diesem opulenten Roman, der sich um eine Familie im Niedergang und die unheilbare Liebe des Aufsteigers Charles Ryder zu deren Mitgliedern dreht, ist wirklich von einer einzigartigen Macht und stilistischen Schönheit. Voller unverwechselbarer und unvergesslicher Momente – seien es die Dialoge zwischen Charles Ryder und seinem skurril-exzentrischen und lieblosen Vater, die düstere Kulisse im afrikanischen Exil des alkoholkranken Jugendfreundes oder auch die erste Begegnung mit seiner späteren großen Liebe.

Die eigentliche Hauptrolle spielt – neben der Religion, dazu aber später mehr  - tatsächlich ein Haus, besser gesagt einer dieser typischen englischen Landsitze mit Brunnen, Butler, Kindermädchen und allem was dazu gehört. Als Waugh das Buch 1944 schrieb, da „war der heutige Kult um die englischen Landsitze unmöglich vorauszusehen“, so der Autor in einem 1959 verfassten Vorwort.

„Damals schien es, als wären die uralten Stätten, die zu den bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften unserer Nation gehören, dazu bestimmt, wie die Klöster des sechzehnten Jahrhunderts der Plünderung und dem Zerfall anheimzufallen“.

Waugh setzte mit seinem Buch diesen einzigartigen Landgütern ein literarisches Denkmal – das zunächst auf Skepsis und Kritik stieß.

Bild: Die Verfilmung des Romans von Julian Jarrold 2008 – der Landsitz ist schön, die Darsteller gutaussehend, doch dem Streifen fehlt die Seele.

Zum einem lag der Misserfolg wohl daran, dass Waugh mit seinem Buch zu offen an die englische Nationalwunde rührte: Das Ende des Empires, der Niedergang des Adels, eine gewisse Erstarrung in den 1920er und -30er Jahren, in denen der Roman hauptsächlich spielt.

Zum anderen thematisiert Waugh eine Minderheit im anglikanischen Großbritannien: Die aristokratische Familie Flyte ist geprägt von ihrer streng katholischen Moral, Abweichungen und Sünden werden geahndet, schwarze Schafe aus der Herde verbannt, selbst die Liebe hat sich dieser Konvention zu beugen. Somit wird „Wiedersehen mit Brideshead“ zu einem der traurigsten, aber auch unbegreiflichsten Liebesromane des letzten Jahrhunderts. Dass Kirche und Klassenbewusstsein den menschlichsten Gefühlen entgegenstehen können – das war für mich irritierend an einem Roman, der in den 1930ern und zumal noch in Großbritannien spielt. Ungeduld, ja Ärger und fast Zorn empfand ich dabei stellenweise – ich wollte Julia, Charles` große Liebe rütteln, sie anherrschen, einen Gott fahren zu lassen, der die Menschen auf Erden unglücklich macht.
(Na, wenn das kein Zeichen für die stilistische Qualität eines Buches ist: Dass man beim Lesen mit den Figuren nicht nur lebt, sondern auch mit ihnen spricht.)

Kurz zum Handlungsablauf: Charles Ryder kehrt als Captain der englischen Armee nach Jahren nach Brideshead zurück. Während seiner Studienzeit in Oxford lernte er zunächst den jüngsten Sohn der Familie, Sebastian, kennen (und lieben). Dieser leidet, wie alle der Kinder der Familie Flyte, unter den strikten religiösen Normen und Regeln, die vor allem von der Mutter, Lady Marchmain, vorgegeben werden. Lord Marchmain ist bereits vor Jahren nach Venedig geflüchtet, lebt dort mit einer Geliebten, die Ehe besteht nur noch auf dem Papier und der Form halber. Letztendlich scheitern alle Protagonisten an den selbstgewählten Konventionen und Pflichten: Sebastian wird alkoholkrank und verkümmert im Ausland, Julia, seine Schwester, versagt sich nach einer unglücklichen Ehe dem möglichen Glück mit Charles und jener – der sicher auch von der Faszination des Reichtums und des Adels angezogen wurde – bleibt allein und zwischen allen Klassen haften.

Es wird in diesem Roman viel getrunken unter den Männern, und so kommen auch weinselige Wahrheiten auf den Tisch:

„Ich habe dich ausdrücklich und detailliert vor der Flyte-Familie gewarnt. Charme ist die große englische Plage. Außerhalb dieser feuchten Insel existiert sie nicht. Sie erfasst und zerstört alles, was sie berührt. Sie zerstört die Liebe, sie zerstört die Kunst, und sie hat, so meine große Befürchtung, auch dich zerstört, Charles.“

Zerstört, allein, gebrochen: das sind sie am Ende alle. Ein Buch, das von Verlusten handelt, solchen, die unausweichbar sind, solchen, die unnötige Opfer sind. Julia und Charles bei ihrem Abschied:

„Jetzt werden wir beide allein sein, und ich kann dir nicht dabei helfen, es zu verstehen.“
„Ich möchte es dir nicht leichter machen. Ich hoffe, es bricht dir das Herz, aber ich verstehe es.“
Die Lawine war herabgestürzt, die Bergflanke blieb kahl zurück. Die letzten Echos verhallten auf den weißen Hängen; der neue Eishügel funkelte und lag still im schweigenden Tal.

Abbild eines Landadeligen: Evelyn Waugh mitsamt Gattin und Kinderschar.

Die irritierende Thematik des Romans ist eng mit der Biographie seines Schöpfers verknüpft: Evelyn Waugh, ein Exzentriker, Dandy, Ekelpaket zuweilen. 1903 in London geboren, die Familie gehört dem britischen Bildungsbürgertum an, bereits der Vater ist ein bekannter Journalist und Publizist. Auch Waugh studiert unter anderem in Oxford, schlägt zunächst den Weg des Journalisten ein, fällt aber vor allem durch Trinkgelage und einen exzessiven Lebensstil auf. 1928 heiratet er, trennt sich aber bereits ein Jahr später, veröffentlicht die ersten satirischen Romane und kehrt dann genauso konsequent, wie er zuvor den Lebemann markierte, dieser Lebensweise den Rücken. 1930 konvertiert er zum Katholizismus. Seine erste Ehe wird 1936 aufgelöst, er heiratet ein zweites Mal, und bezieht mit seiner zweiten Frau, mit der er sieben Kinder hat, einen englischen Landsitz. Waugh stirbt 1966 auf seinem Landsitz in Sommerset.

„Wiedersehen mit Brideshead“ gilt als vollendete Gestaltung eines Grundthemas, das Waugh auch in seinen satirischen Romanen immer wieder aufgreift: Die Kluft zwischen der Verklärung einer idealisierten Vergangenheit und der Gegenwart, die die Figuren auf die nüchternen Tatsachen des Lebens zurückwirft.

Zwei weitere Bücher des Autors kann ich aus eigener Leseerfahrung wärmstens empfehlen – darüber hinaus zeigen sie die Vielgestaltigkeit dieses Schriftstellers:

„Tod in Hollywood“ ist eine 1948 erschienene Satire, eigentlich von ihm als „angloamerikanische Tragödie“ bezeichnet. Während der romantische Realismus von „Brideshead“ in seiner Heimat auf Kritik stieß, war die amerikanische Unterhaltungsindustrie von dem Roman begeistert – Waugh reist nach Hollywood, um über eine eventuelle Verfilmung zu verhandeln. Heraus kommt jedoch ein Buch, mit dem dieser bissige Brite den ewigen Kult der Amerikaner um Jugend und Schönheit bis auf die Spitze karikiert. Ein junger britischer Schriftsteller, als Autor in den Filmstudios gescheitert, strebt eine Karriere als Tierleichenbestatter bei den „Ewigen Jagdgründen“ an, bei denen die Reichen und Gelangweilten ihren überfütterten Schoßtieren einen würdigen Abschied geben. Was absurd klingt, könnte heute durchaus Realität sein…

„Befremdliche Völker, seltsame Sitten“ erschien in „Die Andere Bibliothek“ und ist eine köstlich zu lesende Reisereportage, wenn auch nicht frei von der Perspektive eines snobistischen Angehörigen einer Kolonialmacht.

Aus dem Verlagsprogramm:
»Ein englischer Snob in Afrika«
Als Evelyn Waugh am 10. Oktober 1930 von London aus nach Addis Abeba aufbrach, wusste er nicht recht, was ihn erwarten würde. Aus einer Laune heraus hatte er beschlossen, aus dem fernen Afrika über die Krönung von Haile Selassie zum König der Könige in Äthiopien zu berichten. Alle bedeutenden Weltmächte reisten zu den Feierlichkeiten in die unfertige Hauptstadt Äthiopiens - und bauschten das Ereignis gewaltig auf. In Europa klangen die Berichte von der ungeheuerlichen Prachtentfaltung bei der Krönungszeremonie des Königs der Könige wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Waugh dagegen fühlte sich wie ein englischer Gentleman inmitten geschmackloser Barbarei und sah ganz andere Dinge als seine Journalisten-Kollegen - und auch bei seiner Heimreise über Aden, Sansibar, Kenia, Belgisch-Kongo und Südafrika zeigte sich Waugh als Mann totaler Illusionslosigkeit mit staubtrockenem Humor.

Nachtrag:
Verglichen wird “Wiedersehen mit Brideshead” oftmals mit “The great Gatsby”.
Dazu ein uneingeschränktes JA!