William Faulkner illustriert the Jazz Age.

A Poplar

Why do you shiver there
between the white river and the road?
You are not cold,
With the sun light dreaming about you;
And yet you lift your pliant supplicating arms as though
To draw clouds from the sky to hide your slenderness.

You are a young girl
Trembling in the throes of ecstatic modesty,
A white objective girl
Whose clothing has been forcibly taken away from her.

William Faulkner - aus der Sammlung “The Marble Faun”

Bevor William Faulkner 1929 mit „Schall und Wahn“ internationales Aufsehen erregte, stand etwas ganz anderes als der „Südstaatenroman“, den er gewissermaßen prägte, auf seiner kulturellen Agenda. Seine erste Veröffentlichung war ein Gedichtband, „The Marble Faun“, der Titel angelehnt an den letzten Roman von Nathaniel Hawthorne. Das 1924 erschienene Büchlein stieß nicht gerade auf Begeisterung. Der meist melancholische Schwanengesang auf unerfüllte Lieben blieb weitestgehend unbeachtet, das mit finanzieller Unterstützung eines Freundes herausgegebene Buch wurde zum Ladenhüter.

Doch Faulkner konnte sich auf ein weiteres Talent stützen: In seinen frühen Jahren verdiente er etwas dazu als Illustrator und Zeichner. Eine Begabung, die später aufgrund des Erfolges seiner Romane und Erzählungen, für die er 1950 den Literaturnobelpreis erhielt, in den Hintergrund trat. Schon während seines Studiums an der University of Mississippi hatte Faulkner für Studentenmagazine gezeichnet – Illustrationen im Art Deco-Stil, geprägt vom Jazz Age. Man sieht förmlich F. Scott Fitzgerald seine Zelda schwingen…Ein Vorbild war ganz offensichtlich der englische Künstler Aubrey Vincent Beardsley (1872-1898). Auch im Privaten hinterließ Faulkner in späteren Jahren noch in Briefen oder auf Postkarten oftmals eine ganz persönliche Note mit kleinen Zeichnungen und Illustrationen.

After Fifty Years

Her house is empty and her heart is old,
And filled with shades and echoes that deceive
No one save her, for still she tries to weave
With blind bent fingers, nets that cannot hold.
Once all men’s arms rose up to her, ‘tis told,
And hovered like white birds for her caress:
A crown she could have had to bind each tress
Of hair, and her sweet arms the Witches’ Gold.

Her mirrors know her witnesses, for there
She rose in dreams from other dreams that lent
Her softness as she stood, crowned with soft hair.
And with his bound heart and his young eyes bent
And blind, he feels her presence like shed scent,
Holding him body and life within its snare.

TRIO 14: Isaac Bashevis Singer - Die Freiheit will Liebe.

„Die Bibel und der Talmud sind voll von Sex-Stories. Wenn diese Heiligen sich nicht dessen schämen, warum soll ich es tun, ich bin doch kein Heiliger? Wenn es einen Gott gibt, so stelle ich ihn mir als einen Liebhaber vor. Gemäß der Kabbala lieben alle Seelen im Himmel.“

Isaac B. Singer

Hadern mit Gott, ringen mit Wörtern, schwelgen in und leiden an der Liebe, und unterworfen dem Sex – das sind die Leitmotive des Isaac Bashevis Singer (1904 – 1991). Und das Festhalten an einer Sprache, der der Untergang prophezeit wurde und wird. Singer erhielt 1978 den Literaturnobelpreis, als erster und bisher noch immer einziger Schriftsteller, der Jiddisch schreibt. „Sie enthält Vitamine, die es in anderen Sprachen gar nicht gibt“, sagte er. Sie sei die wortreichste Sprache, die es gibt. Bis auf wenige Ausnahmen: So hätten die meisten anderen Sprachen beispielsweise zahllose Wörter für „verrückt“ – wahnsinnig, umnachtet, irre, geistesgestört, durchgeknallt, tollwütig – aber im Jiddischen käme man mit einem einzigen Wort aus: „Meschugge“.

„Meschugge“ ist nicht nur der Titel eines Alterswerkes, sondern ein wenig auch eine Grundcharakterisierung seiner Helden. Vor allem wenn es um die Leidenschaften der Leidenschaften geht. Der Sex, die Hormone machen sie alle verrückt – sei es nun der wankelmütige Hermann Broder, der in „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ (1973) zwischen mehreren Frauen hin- und hergerissen wird, sei es „Max, der Schlawiner“, der sich - zurückgekehrt in das Warschau seiner Kindheit - dort in eine ganze Reihe von Affären stürzt, um den Tod seines Sohnes zu vergessen und seine Impotenz zu überwinden, oder sei es der Schriftsteller Aaron Greidinger, der religiös und politisch zwischen allen Stühlen sitzt und dann auch noch der Geliebten eines älteren Mentors verfällt – einfach „Meschugge“. Die letzteren beiden Romane stammen aus dem Nachlass des Autors und erschienen erst Mitte der 90erJahre. Literarisch reichen sie an „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ nicht heran – aber als Alterswerk greifen sie nochmals die Themen auf, die Isaac B. Singer zeitlebens umtrieben.

„Der Pessimismus einer schöpferischen Gestalt ist nicht Dekadenz, sondern das mächtige Verlangen nach Erlösung des Menschen. Indem der Dichter unterhält, fährt er fort, nach ewigen Wahrheiten zu suchen, nach dem Wesen des Seins. Er versucht auf seine ureigene Weise, das Rätsel von Zeit und Wandel zu lösen, eine Antwort auf das Leiden zu finden, in den Abgründen von Grausamkeit und Ungerechtigkeit die Liebe wiederzuentdecken.“

(Link zur Rede von Isaac B. Singer am 8. Dezember 1978 in Stockholm: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1978/singer-lecture.html)

Nobelpreis-Urkunde - Quelle: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1978/singer-diploma.html

Dieses literarische Programm formulierte er bei seiner Nobelpreisrede in Stockholm. Letztendlich sind die Singer-Helden immer Gefangene zweier Höllen: Der ihres Verlangens, der ihrer Identität – als Jude, als Holocaust-Überlebende, als Entflohene, oftmals als Exilanten und als Suchende. Suchend sowohl in der Liebe als auch im Glauben: Sowohl die bedingungslose Treue zu einer Frau als auch die bedingungslose „Unterwerfung“ unter einen Gott sind ihre Sache nicht. Sie sind die ewigen Zweifler – meist auch geographisch zwischen mehreren Orten verhaftet, geflohen aus der Welt des ostjüdischen „Schtetls“ in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Weder beheimatet im orthodoxen Judentum noch in der zionistischen Bewegung, pendeln diese Helden – eigentlich Antihelden – spirituell, mental, psychisch hin und her. Und auch die Liebe bietet keine Erlösung, sondern mündet meist, so wie in den genannten Romanen, in eine mittlere bis große Katastrophe. Nur „Meschugge“ bildet hier eine Ausnahme – ausgerechnet. Dazu aber später mehr.

Dass er die Geschichten seiner Romane aus der eigenen Erfahrungswelt schöpft, daraus machte Isaac Bashevis Singer nie ein Geheimnis:

„Wenn auch nicht alles, was in meinen Büchern steht, wirklich genau so geschehen ist – es hätte halt so geschehen können.“

Als Icek Hersz Zynger in Leoncin als Sohn eines Rabbiners geboren, wuchs Singer ab 1908 in der damals größten jüdischen Ansiedlung der Welt, in Warschau auf. Aus wirtschaftlicher Not zog die Mutter Batsheva mit ihm und einem Bruder 1917 nach Bilgorai zu ihren Brüdern, ebenfalls Rabbiner. Hier lernte Singer die traditionellen Lebensformen der polnischen Juden kennen. Das „Schtetl“ und seine Geschichten – auch sie prägen sein späteres Schreiben. Singer, der selbst eine Ausbildung zum Rabbiner abgebrochen hat, kann 1935 seinem älteren Bruder nach New York folgen, muss sich jedoch von seiner ersten Frau trennen. Nach Anfangsschwierigkeiten beginnt er, wie sein Bruder, für jiddische Zeitungen zu schreiben, eigene Erzählungen und Romane (oft als Fortsetzungsgeschichten) zu veröffentlichen, immer mit dabei: Die Schreibmaschine mit jiddischen Buchstaben.

Die berühmte Schreibmaschine. Quelle: http://www.fsgworkinprogress.com/2012/03/the-archives-i-b-singer/

1940 heiratet er die aus Deutschland geflohene Alma Wassermann (1907-1996): Eine lebenslange Liebe und Ehe, aber treu blieb er ihr nie. Auch das eines seiner literarischen Motive.

Drei Beispiele für spätere Singer`sche Dreiecks- (bzw. Mehrecks-) Geschichten:

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ (1973) wurde bereits auf dem Blog vorgestellt:

„Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

http://saetzeundschaetze.com/2014/03/23/isaac-b-singer-oder-auch-das-uber-leben-die-liebe-die-literatur-und-katzencontent/

„Max, der Schlawiner“ (1994/1995, aus dem Nachlass).

„Zirele neigte den Kopf zur Seite und musterte Max argwöhnisch und zugleich neugierig. Plötzlich sagte sie: „Dann haben Sie diese Reise gemacht, um Ihre Verzweiflung zu vergessen.“ Es war schon lange her, seit Max das deutsch-jüdische Wort Verzweiflung gehört hatte, aber er verstand, was es bedeutete, und es gab ihm einen Stich.“

Tatsächlich ist Max ein Verzweifelter und ein Zweifelnder. Ausgewandert von Warschau nach Argentinien schlägt er sich, obwohl aus einer orthodoxen, strenggläubigen Familie stammend, als Kleingauner im halbseidenen Milieu durch, fängt sich zunächst, wird „seriös“, gründet eine Familie. Der Tod seines Sohnes Arturo, die Entfremdung von seiner Frau, eine eintretende Impotenz – all dies bringt die brüchige Fassade ins Wanken. Max reist zurück in den Ort seiner Kindheit – auf Spurensuche, auf der Suche nach den Wurzeln, nach Heilung. Die Reise endet in einem Desaster: Fast begeht er Bigamie, ausgerechnet mit der Tochter eines Rabbiners, verfängt sich in den Schlingen einer femme fatale, wird verhaftet. Offen bleibt, was mit ihm geschieht, ein gutes Ende wird er nicht nehmen.

„Wozu habe ich das nötig? In was für ein teuflisches Spiel bin ich hineingeraten? Ihm fielen die Worte seiner Mutter ein: Der schlimmste Feind des Menschen ist er selbst…Zehn Feinde können ihm nicht so viel antun, wie er sich selbst antut.“

 

Quelle: http://www.fsgworkinprogress.com/2012/03/the-archives-i-b-singer/

„Meschugge“ (1994, aus dem Nachlass).

“Das ganze Gerede von Monogamie ist eine einzige Lüge. Es ist von Weibsbildern und puritanischen Christen erfunden worden. Bei den Juden hat es so etwas nie gegeben.”

So großspurig redet in diesem schmalen Roman der Ostjude Max daher – am Ende wird ihn der Schlag treffen. Zuvor aber bringt er noch das Leben seines rund 20 Jahre jüngeren Freundes Aaron durcheinander. Aaron fristet ein Dasein als Schriftsteller, im Gegensatz zum lebenslustigen Lebemann Max eine traurige Figur:

„Gott der Gerechte – Ende Vierzig war ich noch genauso wie mit zwanzig Jahren: faul, konfus, zutiefst melancholisch. Kein Erfolg, den ich verbuchen konnte (auch wenn es nur geringe Erfolge waren) schien meine Depression vertreiben zu können. Ich lebte von einem Tag zum anderen, von einer Stunde, einer Minute zur anderen.“

Die beiden, die sich noch aus Polen kennen, treffen sich in New York wieder – und prompt erwacht Aaron aus seinem Dämmerzustand. Ursächlich dafür ist auch Maxens Geliebte Miriam:

„Als wir an diesem Abend die Cafeteria verließen und den Broadway entlang gingen, empfand ich zum ersten Mal die innere Ruhe, die uns wahre Liebe schenken kann.“

Lang währt die Ruhe jedoch nicht – für Turbulenzen sorgen weitere Frauen und amouröse Verwicklungen, fehlgeschlagene Finanzspekulationen, ein Schlaganfall, eine Reise nach „Erez Israel“, aber vor allem Miriams Vergangenheit. Sie, so stellt sich heraus, konnte dem Holocaust nur entgehen, indem sie Geliebte und Handlangerin eines Nazis wurde. Ein Tabu. Doch letzten Endes entscheidet sich Aaron (wie auch Max ein Alter Ego des Autoren) für Miriam – anders als in „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ und „Max, der Schlawiner“ ein Ende für die Liebe. Wenn auch mit Fragezeichen. Und als Ergebnis eines Aktes sowohl der Leidenschaft als auch des Willens:

„Ich war nach wie vor Pantheist, nicht im Sinne Spinozas, eher im Sinne der Kabbala. Ich setzte Liebe mit Freiheit gleich. Wenn ein Mann eine Frau liebt, so lautete meine Theorie, dann ist das ein Akt der Freiheit. Die Liebe zu Gott kann nicht durch Gebote, sondern nur durch einen Akt der Willensfreiheit bewirkt werden. Die Tatsache, dass fast alle Lebewesen der Vereinigung eines männlichen und eines weiblichen Partners entspringen, war für mich ein Beweis, dass das Leben ein Experiment in Gottes Freiheitslaboratorium ist. Die Freiheit will nicht passiv bleiben, sie will schöpferisch sein. Sie will unzählige Varianten, Möglichkeiten, Kombinationen. Sie will Liebe.“

Vom Zweifler Herman Broder über Max den Schlawiner bis hin zu Aaron: Liest man die drei Romane in Abfolge, so lässt sich eine Entwicklung erkennen. Herman, der sich nicht entscheiden kann, entflieht der Situation. Max, der sucht und flieht, ohne zu wissen, was und vor wem, scheitert. Nur Aaron gelingt – durch einen bewussten Akt der Entscheidung – letztendlich (und zumindest vorübergehend) das Experiment „Leben/Lieben“.

Toni Morrison: Heimkehr (2014).

„Lotus, Georgia, ist der übelste Ort dieser Welt, übler als jedes Schlachtfeld. Auf dem Schlachtfeld gibt es wenigstens ein Ziel, Erregung, Mut und die Möglichkeit des Siegs, wenn auch begleitet von vielen Möglichkeiten der Niederlage. Der Tod spielt immer mit, aber auch das Leben hat eine Chance. Dumm nur, dass man nicht vorher weiß, wie es ausgeht.
In Lotus wusste man`s vorher, weil es gar keine Zukunft gab, nur lange Strecken des Zeit-Totschlagens. Es gab kein anderes Ziel als das Atmen, es gab nichts zu gewinnen und außer den stillen Toden der anderen gab es nichts, was man überleben konnte oder was das Überleben wert gewesen wäre.“

Toni Morrison, “Heimkehr”, Rowohlt Verlag, 2014

Quelle: sparecandy.com

Frank Money, Mitte Zwanzig, bleibt auch, nachdem er Lotus, Georgia, verlassen hat, wenig mehr, was des Überlebens wert wäre. Er, der Kriegsfreiwillige, kehrt traumatisiert aus Korea zurück und findet eine Heimat vor, die ihn nur aufzunehmen bereit war, solange er bereit war, für sie zu sterben. Toni Morrisons jüngster Roman „Heimkehr“ spielt in den zutiefst rassistischen USA der 50er Jahre. Und obwohl es einer ihrer kürzeren, schmäleren Romane ist, ja fast schon formal eher einer langen Erzählung gleichkommt, ist auch dieses Buch vollgepackt von Leben und Tod, Hass, Verzweiflung und Liebe, Hoffnung und Resignation. Ein kleines Meisterwerk im Blick auf eine gespaltene Gesellschaft, im Blick auf das „andere Amerika“.

Nobelpreisrede von Toni Morrison

Ihre Kernthemen sind das Leben der afroamerikanischen Bevölkerung und die Familie. Letztere gibt es jedoch nie in der Bilderbuch-Form, häufig ist sie, neben dem Rassismus (oder wegen) mit ein Kern des Übels, mit ein Grund, warum ihre Figuren mit dem Leben ringen, am Leben scheitern. Auch Frank Money ist einer dieser gebrochenen Menschen – traumatisiert, alkoholisiert, narkotisiert begegnet er dem Leser zunächst als in einer Psychiatrie Gestrandeter. Er flieht und nimmt den Leser mit auf eine „Heimkehr“ im doppelten Sinne – zurück in den Süden der USA, immer ein wenig auf der Flucht, immer bemüht, nicht aufzufallen, um nicht auch den durchaus im Norden vorhandenen Rassenhass zu wecken. Ein Priester gibt ihm dieses mit auf den Weg:

„Du wirst für jeden Bissen dankbar sein, denn nirgends, wo dein Bus auch hält, wirst du dich an einer Imbissbude hinsetzen können. Hör zu, du bist aus Georgia, und du warst in einer Armee, in der die Rassentrennung aufgehoben ist, und du denkst vielleicht, im Norden geht`s ganz anders zu als im Süden. Aber glaub das bloß nicht und zähl nicht drauf. Die Gewohnheit ist so mächtig wie das Gesetz, und sie kann genauso gefährlich sein.“

Und Frank Money unternimmt eine Heimkehr im übertragenen Sinn – er, der sich im Töten des Krieges, in seinen Alpträumen, in den Alkoholabstürzen verloren hatte, scheint sich wiederzufinden. „Heimkehr“ hat, im Gegensatz zu etlichen vorhergehenden Büchern der Literaturnobelpreisträgerin, ein Ende mit hoffnungsfrohem Ausgang. Die beiden Geschwister Frank und Cee, vom Schicksal gebeutelt, finden in der Heimat ihren Frieden.  Grund für die Reise Frank Moneys ist seine jüngere Schwester Cee, für die er stets Vaterersatz, großer Bruder und Beschützer, bester Freund und Seelenverwandter war. Cee ist in einer Notlage – der einzige Grund, um zurück nach Georgia zu fahren, um diese Heimkehr zu unternehmen.

„Mike, Stuff und ich konnten es kaum erwarten, rauszukommen, raus und weit weg. Dem lieben Gott sei Dank für die Army. Ich vermisse nichts aus diesem Kaff, außer den Sternen. Nur, dass meine Schwester in Not war, konnte mich zwingen, an eine Rückkehr auch nur zu denken. Schildere mich nicht als irgend so einen idealistischen Helden. Ich musste hin, aber mir graute davor.“

Von Georgia in die Army und wieder zurück – vom Regen in die Traufe und wieder zurück: Alles, was einem Schwarzen im Amerika der 50er Jahre bleibt, ist die Gewissheit, dass man nirgends lange bleiben kann, ohne irgendeinen Tod zu sterben. Und dass letztendlich keine Sicherheit gegeben ist – außer in den wenigen Bindungen, die Bestand haben.

„Genug Menschen, die ich nicht zu retten vermocht hatte. Genug davon, Menschen sterben zu sehen, die mir nahe sind. Genug! Und auf keinen Fall meine Schwester. Niemals.
Sie war der erste Mensch, für den ich je Verantwortung übernommen habe. Tief in ihr schlummerte das Bild, das ich insgeheim von mir selbst hatte – ein gutes, starkes Ich (…).“

Erst als Frank sich den eigenen Taten stellt, als er und Cee zudem einen unschuldigen Toten begraben, hat das gute, starke Ich wieder eine Chance:

„Lange stand ich da und starrte auf den Baum.
So stark sah er aus.
So schön.
Mit einer Wunde mittendurch.
Aber gesund und voll Leben.
Cee fasste mir an die Schulter.
Frank?
Ja?
Komm, Bruder. Kehren wir heim.“

Diese Poesie der Sprache, die so beiläufig daherkommt wie die Schilderung alltäglicher, grausamster Gewalt, ob rassistisch oder sexistisch motiviert, ist es, was Toni Morrison zu einer ganz großen Schriftstellerin macht. In „Heimkehr“ hat sie dies, vielleicht gerade wegen der Verdichtung auf knapp 158 Seiten, zu einer meisterhaften Form gebracht.

Laut Booksmarks ist Heimkehr „ein beeindruckendes Puzzlestück in Toni Morrisons literarischem Lebensprojekt: einer Archäologie des Schwarzen Amerika. Seit ihrem Debüt Sehr blaue Augen (1970) hat sich Morrison unablässig mit «black history» beschäftigt, mit Sklaverei, Segregation und Rassismus, mit Armut, Verwahrlosung, Gewalt und Rebellion. In konzentriertester Form finden sich diese Basics der Morrison’schen Poetik in ihrem Roman Menschenkind (1987). Dieses bahnbrechende Epos, notierte Ijoma Mangold in Zeit Literatur, «hat all das, was Toni Morrison niemand nachmacht: die Härte, das Bohrende, die Musikalität, die Beweglichkeit der Erzählerstimme, den raffinierten Wechsel der Perspektiven und eine emotionale Dichte, die jeden Satz zu einem Pfahl im Fleisch des Lesers macht.» Gewidmet ist der Roman Toni Morrisons 2010 an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorbenen Sohn Slade.“

Anders als in „Menschenkind“, „Paradies“ oder „Teerbaby“ verzichtet die Literaturnobelpreisträger jedoch auf den Einbau magischer Elemente: Frank und Cee reisen in ihren (Alp-)Träumen zwar auch in das Unterbewusste, sind jedoch bereits schon Kinder der Moderne. Doch ein anderes Leitmotiv setzt sich auch in diesem Roman fort: Der Zusammenhalt starker Frauen, die sich vom Schicksal weit weniger beugen lassen als ihre männlichen Begleiter.

Vorangestellt sind Heimkehr einige lyrische Liedzeilen. Das Haus ist Amerika, das Toni Morrison, Literaturnobelpreisträgerin und Bürgerrechtlerin, nie eine Heimat bot.

«Wessen Haus ist das?
Wessen Nacht hält das Licht fern
Hier drinnen?
Sag, wem gehört dieses Haus? Meins ist es nicht.
Ich hab von einem anderen geträumt, wohnlicher, heller,
Mit einem Blick auf Seen, befahren in bunten Booten,
Auf Felder, weit wie Arme, ausgebreitet für mich.
Dieses Haus ist fremd.
Seine Schatten lügen.
Sag mir, warum mein Schlüssel hier passt.»

Kleiner literarischer Streifzug durch England

In den letzten Monaten lag mein Leseschwerpunkt in der englischen Literatur der Nachkriegszeit. Die wenigsten Bücher haben es zu einer Blogbesprechung gebracht – aber manche sind dennoch, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen, im Gedächtnis haften geblieben. Ein kurzer literarischer Streifzug durch die britische Moderne - natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Einen fundierten Überblick über die englische Literatur ab den 60er Jahren kann ich nicht bieten - so viele erwähnenswerte Autoren, zu wenig Zeit zum Lesen. Daher ist dieser Spaziergang wirklich nur eines: eine ganz subjektive Betrachtung.

Jeder Literaturnobelpreisträger ist umstritten. Das gehört zum Preis wie das Händeschütteln mit den schwedischen Königs. Albern ist es jedoch, wenn einige notorische Nörgler an Alice Munro, der diesjährigen Preisträgerin aus Kanada, zu bemängeln haben, sie schreibe zu „gefällig“, zu schön. Jenen wünsche ich als Hausaufgabe die Pflichtlektüre aller Romane der beiden britischen Literaturnobelpreisträger William Golding und Harold Pinter. Wobei Pinter nur einen schrieb. Was mir ausreichend erscheint.

goldingWilliam Golding erhielt den Nobelpreis 1983. Im Wesentlichen wohl für seinen 1954 erschienenen Roman „Herr der Fliegen“. Die Jurybegründung wirkt auch heute noch etwas gezwungen. Den „Herr der Fliegen“ habe ich mal wieder gelesen, wieder mit gemischten Gefühlen. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und dass bereits auch bei Kindern dieses Wölfische in Extremsituationen herausbricht, das ja. Der Sprachstil des Romans dagegen: weniger ja…und dies gilt zwiefach für ein späteres Werk Goldings, das ich abbrechen musste: Der 1964 herausgegebene „Turm der Kathedrale“. Decan Jocelin will für seine Kathedrale einen Turm gebaut haben, der einfach zu hoch ist – das Scheitern ist im Beginn angelegt. Das gilt vielleicht auch für den Roman: Ehrgeizig gedacht, aber die sprachlichen Mittel reichen nicht aus…

Ebenso rieb man sich bei der Nobelpreisvergabe 2005 an Harold Pinter etwas die Augen. Seine Theaterstücke erinnern an die sozialkritischen britischen Filme der 60er Jahre, in schwarzweiß und die ganze Tristesse des Molochs London und der Industriegebiete aufzeichnend. Wer Beckett mag, findet zum Theatermann Pinter eventuell einen Zugang - wobei im Umgang mit dem Absurden zwischen beiden Autoren Welten liegen, wie ich meine. Die Stücke lesen, statt im Theater zu sehen, eröffnet noch einmal einen anderen Blick auf den Text. Seinen Roman „Zwerge“ musste ich abbrechen.

Noch ein Abbruch: „Der schwarze Prinz“ (1973) von Iris Murdoch. Das Buch sei in Ironie getaucht, schrieb Ruth Klüger, die ich als Autorin sehr schätze, einstmals in der Zeit. Vielleicht ist die Ironie in der deutschen Übersetzung verloren gegangen, vielleicht habe ich einen anderen Sinn dafür. Ich fand die Reflektionen (vornehmer für: Selbstbemitleidungen) eines alternden Einzelgängers, der sich – ja, halt dich fest, ganz was Neues! – in eine jüngere Frau verliebt, irgendwie nur: mühsam.

AmisEbenso zwei erfolglose Versuche mit Martin Amis. „Gierig“ -  da ist die Ironie in einer Geschichte um einen Typen, für den nur Geld zählt, zu dick aufgetragen. Slapstick-Gesellschaftskritik. „Die Hauptsachen“, eine Annäherung an seinen Vater Kinsley Amis, ebenfalls Schriftsteller, wird vielfach auch als sein Hauptwerk bezeichnet. In Erinnerung bleibt mir vor allem: Eine Hauptsache erschien mir bei Amis seine Reflektionen über sein schlechtes Gebiss. Er schreibt verdammt viel über seine schlechten Zähne. Außerdem schreibt er sprunghaft – mal hier ein Schnipsel aus der Familiengeschichte, dann wieder zurück aufs College, dann wieder vorwärts in die Gegenwart. Manche können das, andere nicht: Es ergab sich kein Gesamtbild aus dem Puzzle, allenfalls der Eindruck, dass so Schriftsteller wahnsinnig viele andere Schriftsteller und Promis kennen. Name dropping und Zähne ziehen. Da hieß es beim Lesen Zähne zusammenbeißen oder abbrechen – ich brach ab.

zadie„Zähne zeigen“ dagegen kann jedoch Zadie Smith. Das 2000 erschienene Debüt ist eine zum Teil wirklich herrlich absurde, komische, aber auch liebevoll geschriebene Spiegelung der modernen Verhältnisse in der britischen Gesellschaft. Die Konflikte und Probleme, die beim Aufeinanderprallen der Kulturen im Einwanderungsland England entstehen, werden mit viel Witz aufgespießt und eigentlich auch wieder ad absurdum geführt. Sie ist damit eine würdige Kollegin von Hanif Kureishi, dessen „Buddha in der Vorstadt“ (1990) ein ebenso witziger multikultureller Lesetripp ist. Auch hier die Geschichte einer multikulturellen Familie, alles in der Art des wunderbaren Waschsalons, diesem Theaterstück von Kureishi, das 1985 so herrlich von Stephen Frears verfilmt wurde.

Nochmal zurück zum Herrn der Fliegen – in neuer Übersetzung (bei Klett-Cotta) erschien unlängst „A Clockwork Orange“ (1962) von Anthony Burgess. Ebenfalls ein Buch über das Böse im Menschen, aber mit, wie ich meine, mehr philosophischen Gehalt und einer weitaus größeren sprachlichen Stilsicherheit als Goldings Werk. Wenn ich nur beim Lesen die Bilder der Kubrick-Verfilmung aus dem Kopf bekommen würde…

Wenn das Kino die Lektüre überlagert, hilft nur noch Humor. Schwache Überleitung zu zwei Autoren, die ich genossen habe zwischen den Ausflügen in das ganz Düstere à la Golding und Burgess – zwar ist Muriel Spark auch eine, die rabenschwarz und bitterböse schreibt, aber eben auch so herrlich exzentrisch. „Memento mori“ (1959) ist ein Roman, in dem keine der Hauptfiguren unter 70 Jahre alt ist. Was nicht heißt, dass da Leidenschaften, Laster und Intrigen durch Altersweisheit abgemildert wären. Man könnte fast von einer Art Subkultur-Roman sprechen – denn das Buch zeigt auch auf, wie unsere Gesellschaft mit den Älteren umgeht: Abgeschoben, aufs Abstellgleis, abseits.

David Lodge hingegen widmet sich in „Ortswechsel“ (1975) eher Männern in der Midlife-Crisis. Ein englischer und ein amerikanischer Professor tauschen ihre Wirkungsstätte. Und letztlich auch die Ehefrauen. Herrlich komische Veralberung des akademischen Betriebes.

barnesImmer wieder gerne gelesen von mir: Ein Buch von Julian Barnes. Irgendeines. Es ist immer ein intellektuelles Vergnügen. Dieser Autor kann schreiben, unterhalten und den Horizont erweitern…was will man mehr? „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ (1989) wäre denn auch eines der Bücher, die ich mit auf die Arche Noah nehmen würde. Kunstvoll verknüpft Barnes hier zehn Geschichten um die Arche Noah, Weltuntergangsszenarien und Überlebensstrategien, um Weltfluchten und Horizonterweiterungen. Das eine halbe Kapitel ist für mich eine der schönsten Liebeserklärungen, die ein Schriftsteller der Moderne für seine Frau schrieb. Nicht minder hingerissen bin ich von seinem 2011 erschienenen Roman „Vom Ende einer Geschichte“. Ich hoffe, Barnes ist damit noch lange nicht am Ende SEINER Geschichten.

Seine „dunkle“ Seite enthüllt Julian Barnes unter dem Pseudonym Dan Kavanagh. Als Kriminalautor. Auch da nicht weniger intelligent und klug, man lese beispielsweise „Duffy“. Auch wenn es etwas seltsam anmutet, wenn ein brutaler Gangster intellektuell daher schwadroniert – das hat seinen Reiz.

Und zuletzt noch eine wahre Neuentdeckung für mich: Der Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor, dessen Bücher in deutscher Übersetzung vom Dörlemann Verlag herausgegeben werden. Der Brite, der auch einmal Spion im Dienste Ihrer Majestät war, schrieb einen einzigen Roman: „Die Violinen von Saint-Jacques“ – eine Kurzbesprechung des Buches von mir erscheint im Januar im neuen „Bücher Magazin“.

Alice Munro – viele Tricks gegen zu viel Glück

Bild„Sylvia brachte Mr. Crozier in ein gemietetes Ferienhaus am See, wo er starb, bevor die Bäume ihr Laub abwarfen. Die Familie Hoy zog weiter, wie es die Familien von Autoschlossern oft taten. Meine Mutter kämpfte mit einer Krankheit, die sie verkrüppelte und all ihren Träumen vom großen Geld ein Ende machte. Dorothy Crozier erlitt einen Schlaganfall, erholte sich aber und kaufte Unmengen von Halloween-Süßigkeiten für die Kinder, deren älteren Brüdern und Schwestern sie die Tür gewiesen hatte. Ich wurde erwachsen und alt.“
Aus dem 2009 erschienenen Erzählband „Too much happiness“, das Ende der Kurzgeschichte „Manche Frauen“.

„Ich wurde erwachsen und alt“: So spröde und lakonisch könnte die Nobelpreisträgerin des Jahres 2013 das Leben der Mehrzahl ihrer Figuren auf den Punkt bringen. Zu viel Glück? Das haben ihre Menschen sicher nicht. Glück, das ist bei Alice Munro allenfalls flüchtig oder das Glück, dass zumindest der Alltag einigermaßen funktioniert.

Und genau das ist es, was mich mit der kanadischen Autorin hadern lässt: Die anhaltende Beschneidung des Glücks. Die Begrenzung auf ein inhaltliches Kernthema – Kurzgeschichte für Kurzgeschichte fokussiert auf menschliche Unglücksraben und alltägliche Unglückseligkeiten.

Nach der Entscheidung des Nobelpreiskomitees habe ich nun drei ihrer Erzählbände gelesen: „Runaway“, 2004, in deutscher Sprache unter dem Titel „Tricks“ erschienen, „Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage“, 2001, deutsch „Himmel und Hölle“, und das oben zitierte „Zu viel Glück“. Die Titel sind Programm: Erzählungen von alltäglichen Menschen, Beziehungen, die zerbrechen, Familien, die auseinanderbrechen, gebrochenen Versprechen, zerbrochenen Hoffnungen.

Die Entscheidung in Stockholm: Nachvollziehbar. Stilistisch sind die Geschichten top. Von einer spröden Sprache mit Sogwirkung – auch in der Übersetzung. Die Kurzgeschichte in meisterhafter Form. Aber die Überdosierung dieser Unglücksversprechen – selbst als Dauermedikation gegen die Glücksrittermentalität unserer Tage ist diese Lektüre zu viel des Unguten (wohlgemerkt: nur auf die Inhalte bezogen!).

Alice Munro ist der Gegenpol zu der Flut an Lebenshilfelektüre, die uns vorgaukelt, wir hätten eine Pflicht zur pursuit of happiness, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, Glück sei machbar und wenn nicht, dann eine Form des persönlichen Versagens. Das ist das eine Extrem.

Das andere Extrem jedoch lässt die Kanadierin in ihren Erzählungen erklingen: Lasset alle Hoffnung fahren, Glück ist, wenn man irgendwie gerade so durchkommt.

Ja, man weiß das ja:
Das Leben hat seine Tricks, einem Steine in den Weg zu legen.
Der Alltag ist oft Himmel und Hölle zugleich.
Zu viel Glück kann auch Gefahren in sich bergen.

Was mich an dieser Botschaft in so geballter Form, Wort für Wort, Satz für Satz, Geschichte für Geschichte jedoch stört: Letztendlich ist auch das Teil der heutigen Glücksindustrie, Ausdruck einer gewissen Sozialisation.

Die Gesellschaft will ein gesellschaftsfähiges, und nicht das individuelle Glück. Die Kirche braucht das Glück als Heilsversprechen für das Jenseits – im Diesseits ist es für das Individuum eher geschäftshindernd. Die Politik will ein normiertes Glück – zu viel Individualität stört.

Der Mensch, der von vornherein nicht zu viel Glück erhofft und erstrebt, wird handsamer und bescheidener bleiben. Bescheidenheit, sich bescheiden: Eine zweischneidige Tugend.

Alice Munro schreibt in „Kinderspiel“, dass:  „…es völlig klar ist, dass sich auf dieser Welt nichts ändern lässt“. Vielleicht ist dies die Einsicht, die ein langes Leben bringt. Einsehen will ich sie trotzdem nicht.

#Portrait. Pablo Neruda - Chiles traumatischer September

REBELLION

Ausgepeitscht vom Regen und vom Wind
richten die Pappeln sich auf und klagen wild,
stehen am schwarzen Firmament und sind
mit zottiger Mähne aus grünem Astwerk ein Schild.

Doch bald sind sie müde, das Unerreichbare zu wollen,
nur einmal noch zeigt Rebellion ihre Statur,
wenn sie an dem verzweifeln, was sie sollen,
und in ihrem Wunsch nach Größe zeigt sich die Natur.

Der Kampf ist wild und gilt allen Gewalten,
und in Schönheit können sie ihre Größe halten,
die allen gehört, die eine Rebellion erhebt.

Doch immer wird man sich zu den Besiegten zählen,
und mit bösem Zischen wird der Wind sie quälen,
der Sieger, unter dessen Hand der fügsame Ast erbebt.

Pablo Neruda

Bild

Das Jahr 1973 hat für Chile eine tragische Bedeutung:
Am 11. September wurde Präsident Salvador Allende durch einen brutalen Militärputsch gestürzt, Diktatur und Unterdrückung unter dem Pinochet-Regime stürzten das Land in einen Abgrund.

Am 23. September verstummte zudem die lyrische Stimme Chiles für immer – Pablo Neruda (geboren 1904) starb vor 40 Jahren in Santiago de Chile, mutmaßlich an Herzversagen.

 Doppeltes Trauma

Für das Land war dies ein doppeltes Trauma, an dem es bis heute noch trägt – erst jetzt, im April 2013, wurde Nerudas Leiche exhumiert. Zwar wurde fortgeschrittener Prostatakrebs diagnostiziert, doch die Gerüchte um eine Ermordung des Nationaldichters halten sich bis heute.

Für mich war Pablo Neruda zunächst vor allem als politischer Dichter und Denker ein Begriff, als Vertreter einer „literarischen Besonderheit“, wie es sie vor allem in Südamerika gibt – Schriftsteller und Politiker in einer Person, so wie Alejo Carpentier, Ernesto Cardenal, Miguel Asturias, meist dem Sozialismus und/oder „bürgerlichem Kommunismus zuzuordnen. Und natürlich Vargas Llosa, der sich als „liberalen Demokraten“ bezeichnet, als Präsidentschaftskandidat in Peru aufstellen ließ und sich mit Gabriel Garcia Marquez wegen dessen Freundschaft zu Fidel Castor und dessen Eintreten für Kuba entzweite. In dieser Zweieinigkeit von Schriftsteller und Politiker ist Neruda in Südamerika keine Einzelerscheinung. Mit Asturias (Guatemala) verbindet Neruda zudem nicht nur die politische Aktivität, der Kampf gegen Diktatur und Faschismus, die Exilerfahrung, sondern auch der Literaturnobelpreis: 1971 war Neruda erst der dritte Südamerikaner, der diese Auszeichnung erhielt, nach Asturias (1967) und Gabriela Mistral (1945) – letztere war übrigens die erste Lehrerin Nerudas am Gymnasium von Temuco.

Die politische Bedeutung von Literatur

Auffällig häufig übernehmen lateinamerikanische Schriftsteller aktive politische Ämter. Nur als Nebenbemerkung gedacht – in der bundesrepublikanischen Demokratie dieser Tage fällt mir dazu kein Beispiel ein. Dass Schriftsteller sich politisch äußern und engagieren – Juli Zeh, Trojanow, Grass  sowieso – dieses ja, aber aktiv in Amt und Würden? Mag das daran liegen, dass die Themen in einer politisch ruhigen Phase eines Landes nicht der Schriftsteller bedürfen? Ist politische Literatur nur eine Sache von Sturm und Drang? Oder haben bei uns die Literaten ihren Stellenwert als moralische bzw. politische Instanz schon lange verloren? Werden sie von einer Mehrheit einfach nicht mehr wahr- beziehungsweise ernstgenommen? Braucht es diese Stimmen der Vernunft in scheinbar geregelten Verhältnissen nicht mehr?

Neruda jedoch wurde gebraucht und geliebt – sein Tod löste nicht nur Bestürzung aus, sondern auch Volkstrauer, soweit sie überhaupt noch gezeigt werden durfte. Sein Begräbnis wurde zu einem Protest gegen die Diktatur. Im Ausland war man entsetzt und bestürzt: Hatte die Diktatur es wagen können, Neruda zu ermorden? Isabel Allende, eine Nichte des entmachteten Präsidenten, der seinen Schergen durch Selbstmord entkommen war, beschreibt in „Das Geisterhaus“ Nerudas Begräbnis als „symbolisches Begräbnis der Freiheit“.

Magisch und politisch

Seine Literatur sprach die elementaren Bedürfnisse, Wünsche und Träume der Menschen an, ohne durchgängig in den Duktus polit-agierender Aufklärer zu verfallen, seine Lyrik blieb von sprachlicher Schönheit geprägt. Neruda – ein Pseudonym nach dem tschechischen Schriftsteller Jan Neruda - brachte die Stimme des einfachen Volkes zum Erklingen: Die der armen Landbevölkerung, der Indios in den chilenischen Anden, dem ausgebeuteten Proletariat in den Städten. Seine Gedichte sind nicht gefärbt vom sozialistischen Pathos oder vom Pragmatismus einer neuen Sachlichkeit, sondern vermitteln stilistisch den Glanz des in Südamerika geprägten magischen Realismus. Sie gebraucht Metaphern und Symbolik, die, so das Nobelpreis-Komitee in seiner Begründung, „eine Dichtung ist, die mit der Macht natürlicher Kraft Schicksal und Träume eines Kontinents zum Leben erweckt“.

Der große Gesang

Als Nerudas wichtigstes Werk gilt der „Canto General“, ein Gedichtzyklus über Südamerika, insbesondere über die Folgen und die notwendige Befreiung vom Kolonialismus. Es wurde auf Anregung von Salvador Allende von Mikis Theodorakis vertont. Anbei ein Interview mit dem Musiker: http://de.mikis-theodorakis.net/index.php/article/articleview/207/1/46/

In seiner Autobiografie „Ich bekenne, ich habe gelebt” beschreibt Neruda seinen “Großen Gesang” als die „Idee eines zentralen Poems, das die geschichtlichen Ereignisse, die geografischen Bedingungen, das Leben und die Kämpfe unserer Völker umschließt.“ Mit prachtvollen Bildern werden die Schönheiten des Kontinents nachgezeichnet: “Es war die Morgenhelle der Leguanechse … die Affen flochten einen unendlich erotischen Faden, indem sie Wände von Blütenstaub niederrissen… die Nacht der Kaimane, die unberührte Nacht…”. Die Anaconda-Schlange, gigantisch, gefräßig, mörderisch, symbolisiert den Kapitalismus in Folge des Kolonialismus, den destruktiven Eingriff in die unberührte Natur. Anaconda ist auch der Name einer chilenischen Kupfermine. Die Schlange verschlingt das Beste des Paradieses, der Ausverkauf beginnt „an die Coca-Cola Inc., die Anaconda, die Ford-Motors und andere Wesenheiten”.

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Mein persönliches Schlüsselerlebnis, mein Einstieg zu Neruda: 1991 oder 1992 bekam ich auf der Frankfurter Buchmesse am Stand eines kleinen Verlages „Maremoto – Beben des Meeres“, Neruda-Übersetzungen von „tia“ in die Hand gedrückt. Herr „tia“ war so erfreut, dass jemand an seinem Stand stehen blieb, dass er mir auf jede dritte Seite mit fettem Kohlenstift eine Widmung schrieb. Ich hab das Büchlein lange erst so als Art „Souvenir“ an einen unterhaltsamen Ausflug behandelt – bis ich im Kino Philippe Noiret als Neruda (siehe unten) begegnet bin. Der Film ist ein bisschen kitschig, ich gebe es gern zu. Aber ich brauchte ihn als Erinnerung an das Buch und als Einstieg, um Neruda nicht nur als Kämpfer für die Freiheit im Gedächtnis zu haben, sondern um ihn endlich auch zu lesen. Daher nun, als verspätetes Dankeschön an Herrn „tia“ eine seiner Übersetzungen:

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Muscheln

Leere Muscheln im Sand
Verlassen vom Meer, als es ging,
als es ging, das Meer auf die Reise,
auf die Reise zu anderen Meeren.
Es verließ seine Muscheln,
perfekt von ihm poliert,
bleich von den nie endenden Küssen
des Meeres, das ging auf die Reise.

Die Werke des Dichter-Diplomaten und lyrischen Kämpfers erscheinen beim Luchterhand Verlag – auf dessen Internetseite noch zahlreiche weitere Informationen über Neruda zu finden sind: http://www.randomhouse.de/specials/neruda/neruda01.htm

Und auch diese Homepage lohnt sich für alle, die den Dichter kennen lernen wollen: http://www.el-poeta.de/

Eine liebenswerte Hommage an Pablo Neruda ist der Roman „Mit brennender Geduld“ von Antonio Skármeta, erschienen beim Piper Verlag. Skármeta, wie Neruda Chilene, ist im Übrigen auch einer jener dichtenden Politiker – ab 1973 im Exil in Berlin lebend, kehrte er 1989 wieder in sein Heimatland zurück und wurde später, im Jahr 2000, für die demokratische Regierung chilenischer Botschafter in Berlin. Poet und Diplomat – in Südamerika nichts Ungewöhnliches. „Mit brennender Geduld“ wurde 1994 verfilmt und unter dem Titel „Der Postmann“ ein Kassenerfolg – Philippe Noiret als liebenswerter Neruda, der einem schwärmerischen Briefträger zur großen Liebe verhilft.