Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Ein satirischer Roman (1937).

„Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern. Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“. Dennoch wird niemand daran glauben, daß er auch zu ihnen gehört. Er würde sich schämen und belächelt sie verächtlich. Er weiß nicht, daß diese Verachtung ihn selber trifft. Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne. Man hat politisch mit ihnen zu rechnen, wenn man die Welt verändern will, nur darf man sich nie dem Wahn hingeben, als seien sie für das Erringen einer besseren Zukunft brauchbar. Sie sind nicht einmal gärende Gegenwart, nur Vergangenheit und darum die unangreifbarsten Totengräber jeder gerechten Gesellschaftsordnung. Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer unsozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch.“

Der richtige Mann für die Verfilmung des “Anton Sittinger” (1979): Volksschauspieler Walter Sedlmayr

Nein – dies ist kein Portrait einer dieser Menschen, die derzeit durch deutsche Straßen ziehen und skandieren „Wir sind das Volk“. Aber es könnte einer von ihnen sein, der hier beschrieben ist – so genau, so haarscharf hat Oskar Maria Graf (1894 geboren am Starnberger See, 1967 verstorben in New York) den verbitterten Kleinbürger, den opportunistischen Mitläufer gezeichnet. Ein Typ, den es heute gibt, den es morgen immer noch geben wird, den es zu Zeiten von Oskar Maria Graf en masse gab und der letztendlich in all seiner Banalität das Böse zuließ.

„Anton Sittinger. Ein satirischer Roman“ erschien erstmals 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Beide Romane können oder sollten in Zusammenhang gelesen werden – es sind seine „Spießer-Romane“, in denen er scheinbar banale Lebensläufe, durchschnittliche Einzelschicksale nimmt, um an ihnen die Mechanismen der Kleinbürgerseele zu zeigen. Und auch, um deutlich zu machen, wie die Politik sich auf den Einzelnen auswirkt und, wie - vive versa- der Einzelne mit seinen Entscheidungen die Politik mitprägt. Beide Romane sind treffende Charakterisierungen der „kleinen Leute“, die mit ihrer Unterwürfigkeit nach „oben“ und dem Treten nach „unten“ letztlich das gemeinschaftliche Zusammenleben prägen. Eine Variation und spätere Fortsetzung der von Heinrich Mann im “Professor Unrat” und dem “Untertan” beschriebenen Typen.

Titelblatt 1937

Fokussiert sich der Bolwieser noch vor allem auf die Szenen einer Ehe, ist „Anton Sittinger“ ein durch und durch politischer Roman: Graf, ab freiwillig 1933 im Exil, nachdem er zuvor von den Nationalsozialisten verlangt hatte, auch seine Bücher zu verbrennen, zeichnet am Werdegang des Sittinger die Entwicklung eines Postinspektors von der Münchner Räterepublik bis zur Wahl Hitlers und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach.

Sittinger verabscheut sie eigentlich alle – die „roten Revoluzzer“ und den braunen Abschaum. Was er vor allem will, ist seine königlich-bayerische Ruhe – auch vor der gut deutsch-hysterischen Ehegattin, die für schmucke blonde Männer in Uniform entbrennt – und das Zusammenhalten seines Geldsäckels. Den Unruhen in München glaubt er entkommen, als er nach der lang ersehnten Pensionierung ein Haus auf dem Lande erwirbt. Doch auch dort holt ihn „die Politik“ wieder ein: Im Wirtshaus werden die Nachrichten debattiert, das Dorf spaltet sich bald in Anhänger und Gegner Hitlers. Sittinger spürt, er muss sich entscheiden und positionieren, will er an der neuen Zeit teilhaben beziehungsweise nicht der Rachlust des örtlichen Nazis ausgeliefert sein. Da hilft auch sein pseudophilosophisches Spinnisieren nicht, nicht die - freilich meist falsch und für eigene Zwecke mißbrauchte - Inanspruchnahme philosophischer Leitsätze von Seneca über Schopenhauer bis Macchiavelli. Der kleinmütige, eigensüchtige Zögerer, ein Wendehals, springt unter äußerstem Druck letztendlich auf den nationalsozialistischen Zug auf – getrieben vor allem von einem Motiv: Seine Ruhe zu erhalten.

In beiden Romanen zeigt sich Oskar Maria Graf als der kraftvolle Volksschriftsteller, der wie wenig andere das dörfliche und kleinstädtische Leben auf dem bayerischen Lande mit Bildern zu füllen vermochte: Da geht es mitunter durchaus krachledern bis hin zu saukomisch zu, die Figuren sind einerseits satirisch leicht überzeichnet, andererseits lebendig und lebensecht.

“Beim Begräbnis des Toni füllte sich der ganze Friedhof. Grimmig schauten die Bauern drein. Laut weinten Weiber und Kinder, und viele Kränze wurden auf das Grab gelegt. Alle Ehren wurden den Toten erwiesen, doch diesmal kling die Predigt des Pfarrers wehleidig. Der Grimmenmoser hatte eine Grippe vorgeschützt und war nicht zu sehen.
Hernach, in der Postwirtsstube, schimpften die Reitlmooser verdrossen über diese „braune Sauwirtschaft“. Immer wieder hieß es, der Hitler sei nichts für einen Reichskanzler.
„Und überhaupt – Bayern bleibt Bayern! Was wir machen, geht keinen Preußen was an!“ schloß der Pflögl.
Eine mißgünstige Bedrückung machte sich breit.
„Unsere Minister sind auch Hosenscheißer! Wenn`s Männer wären, täten`s einfach vom Reich weggehn und die ganze Hakenkreuzlerschippschaft `nausjagen…Meinetwegen alle zu den Preußen! Alsdann wär` gleich eine Ordnung!“ murrte der Kergler. „Aber mein Gott, wenn nirgends Männer sind!“
Alle nickten und schauten trüb geradeaus.”

Eine Oskar Maria Graf-Werkausgabe erschien beim List Verlag: http://www.ullsteinbuchverlage.de/nc/autor/name/Oskar%20Maria-Graf.html

Das Zitat zu Eingang des Blogbeitrags ist eher atypisch für den Roman – hier, in der Mitte des Buches, nutzt Graf den Raum, um den beschriebenen Typ zu analysieren, auch um seine eigene Haltung diesem Menschenschlag gegenüber, der sich durch Nichthandeln schuldig macht, zu verdeutlichen. Graf beschreibt die „kleinen Leute“ zwar einerseits voller Empathie – jeder habe einen inneren Kleinbürger und Schweinehund in sich: „In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“…“. Andererseits zeigt er sich auch resigniert, glaubt nicht an einen Wandel der Menschheit: „Ich glaube, daß man die Sittingers im besten Falle neutralisieren kann, aber nichts weiter.“

Wie recht er doch hatte, schaut man heute nach Dresden, Leipzig oder anderswo…

Jüdische Autorinnen im Portrait (12): Else Lasker-Schüler (1869-1945).

Für das Buch “Theben” schuf Else Lasker-Schüler eigens Zeichnungen wie den “Prinz Jussuf von Theben”.

Ich liebe Dich

Ich liebe dich
Und finde dich
Wenn auch der Tag ganz dunkel wird.

Mein Lebelang
Und immer noch
Bin suchend ich umhergeirrt.

Ich liebe dich!
Ich liebe dich!
Ich liebe dich!

Es öffnen deine Lippen sich…
Die Welt ist taub,
Die Welt ist blind

Und auch die Wolke
Und das Laub -
- Nur wir, der goldene Staub
Aus dem wir zwei bereitet:

- Sind!

Wieviel ist über Else Lasker-Schüler schon geschrieben worden!
Und immer wieder wird in den Schriften der Biographen und Essayisten deutlich: Entschlüsselungs- und Annäherungsversuche scheitern nicht nur an ihrer vielschichtigen, manchmal schwer greifbaren Person. Sondern vermischen sich häufig auch mit der Verortung der eigenen Haltung des Schreibenden zum Leben - für einen Pragmatiker wird diese schillernde Lyrikerin und Autorin immer ein wenig fremd bleiben, andere schreiben ihr vielleicht auch zu viel Weltflucht auf den Leib. Dem einen erscheint ihre Lyrik, die Prosa und Dramen („Die Wupper“) als Ergebnis eines „wahllos zuckenden Gehirns einer sich überspannenden Großstädterin“ - so das harsche Urteil Franz Kafkas in einem Brief an Felice Bauer (mehr dazu hier). Für andere sind einige ihrer Gedichte „Schlüsseltexte des 20. Jahrhunderts“ (Peter von Matt), für Ruth Klüger ist „Das blaue Klavier“ neben Brechts „An die Nachgeborenen“ „das bedeutendste Zeugnis des Exils der Nazizeit“.

Else Lasker-Schüler, die Rätselhafte - auch 70 Jahre nach ihrem Tod spaltet sie die Gemüter. Es scheint, als gäbe es in der Beschäftigung mit ihr beinahe nur ein Entweder-Oder: Entweder man liebt und verehrt das „Gesamtkunstwerk“ oder wertet es à la Kafka als überspannt. Ein „Dazwischen“ gibt es kaum, eine rein literaturtheoretische Annäherung an diese zeitweise exaltiert auftretende Sirene, die ihr Leben stilisierte und fiktionalisierte, wirkt lau. Leben und Werk flossen in einer Gesamtheit zusammen - das zeigen auch die Kunstwerke der begabten Malerin Lasker-Schüler, die verspielt-versponnenen Briefwechsel mit zahlreichen (Künstler-und Literaten-)Freunden von Franz Marc bis hin zu Karl Kraus, die Affären und Liebesbeziehungen, die sich ebenfalls in dieses „Spiel“ des Lebens einzufügen hatten.

Aber auch am Scheitern, am traurigen Ende wird es deutlich: Else Lasker-Schüler, die, aus gutbürgerlicher, gutsituierter Familie stammend, sich von diesem Milieu emanzipierte und als ein Stern am Himmel der Berliner Bohème strahlte, lebte ab 1933 im Exil. Zunächst in der Schweiz, dann ab 1939 bis zu ihrem Tod in Palästina: Doch ausgerechnet dort sah sich die Jüdin, die als „Prinz von Theben“ Träume vom Orient spann, vom Alltag enttäuscht. Auch wenn in einem ihrer letzten Gedichte, „Jerusalem“, die Hoffnung Raum hat, „das Land der Ahnen“ biete „grünende Hände, die des Lebens Odem säen“: Ihre Schwermut, ihren im Gedicht formulierten „Trübsinn“ überwindet sie nicht. Zu weit entfernt die Freunde, zu wenig fasst sie im Exil Fuß. Zu erschütternd auch die Erfahrungen mit Hass, persönlicher Verfolgung, Entzweiung von einstmals nahen Menschen - vor allem die öffentliche Befürwortung der Nationalsozialisten durch ihren ehemaligen Geliebten Gottfried Benn muss sie getroffen haben. Vor allem aber auch diese gravierendste Erfahrung der Exilanten, deren eigentliche Heimat die Sprache ist - plötzlich abgeschnitten zu sein vom eigenen Sprachraum, von Muttersprache und Vaterland. Else Lasker-Schüler, die immer den Kontakt zu anderen und den Austausch mit ihnen suchte - vielleicht auch andere ein wenig als Publikum und Mitspieler für ihr Spiel benötigte - sie war plötzlich von dieser Umgebung abgeschnitten. „Ich bin verzweifelt in der Einsamkeit!“ schreibt sie 1944 an das Ehepaar Grosshut. Die bittere Realität, der tobende Weltkrieg, die Judenverfolgung - dies ist so allmächtig, dass kein Raum mehr bleibt, um ein Leben zum Kunstwerk zu gestalten. Das Spiel ist aus.

Else Lasker-Schüler, ca. 1915 portraitiert von Lene Schneider-Kainer.

Eine ausführliche Biographie zu Else Lasker-Schüler mit zahlreichen weiterführenden Links und Lesestoff findet sich auf der Internetseite Exil-Archiv - unbedingt lesenswert!
Auch das Portrait zum heutigen Todestag beim Deutschlandradio: “Meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems ist der Lektüre wert.

Ich möchte hier nur noch nach drei Schlagworten geordnet einige Aspekte anhand ihrer Lyrik herausgreifen: Vereinigung, Verzweiflung, Vertreibung.

Vereinigung

Ihren ersten Gedichtband, „Styx“ veröffentlicht Else Lasker-Schüler, als sie bereits über 30 Jahre alt ist. Wohl auch ein Befreiungsschlag, der erste Schritt auf dem Weg einer Selbst-Entdeckung: Die Dichterin hatte den Arzt Berthold Lasker geheiratet, auch um der Enge ihrer Heimatstadt Wuppertal zu entkommen. Die Ehe war jedoch zum Scheitern verurteilt, erst recht, als das Paar sich in Berlin ansiedelte und Lasker-Schüler im Umfeld der Künstlervereinigungen „Neue Gemeinschaft“ und die „Kommenden“ zu verkehren begann. Bald lernte sie ihren zweiten Ehemann, den Pianisten und Komponisten Herwarth Walden (eigentlich Georg Levin) kennen - die Beiden sowie einige Mitstreiter, alle auch Nietzsche-Anhänger, vertraten als avantgardistische Vereinigung das Konzept eines ästhetischen Erotismus. Eine Bühne hierfür sollte das „Teoplasma - Cabaret für Höhenkunst“ sein. Doch öffentliche Vorträge von Gedichten mit den Titeln „Orgie“ respektive „Elegie“ wurden von der Polizeigewalt flugs unterbunden. Vordergründig das Erotische, die Verführung - doch ihre Lyrik drückt vor allem den Wunsch nach Vereinigung nicht nur im körperlichen, vielmehr im geistigen, idealen Sinne aus. So wie sie Geliebte, Freunde, Kollegen, Anhänger in ihr Spiel mit den Identitäten und Welten integrierte: Alle sollten eins sein. Dennoch - so offen-erotisch schrieben bis dahin seltenst Frauen und wenige so schön:

Orgie

Der Abend küsste geheimnisvoll
Die knospenden Oleander.
Wir spielten und bauten Tempel Apoll
Und taumelten sehnsuchtsübervoll
Ineinander.
Und der Nachthimmel goss seinen schwarzen Duft
In die schwellenden Wellen der brütenden Luft,
Und Jahrhunderte sanken
Und reckten sich
Und reihten sich wieder golden empor
Zu sternenverschmiedeten Ranken.
Wir spielten mit dem glücklichsten Glück,
Mit den Früchten des Paradiesmai,
Und im wilden Gold Deines wirren Haars
Sang meine tiefe Sehnsucht
Geschrei,
Wie ein schwarzer Urwaldvogel.
Und junge Himmel fielen herab,
Unersehnbare, wildsüsse Düfte;
Wir rissen uns die Hüllen ab
Und schrieen!
Berauscht vom Most der Lüfte.
Ich knüpfte mich an Dein Leben an,
Bis dass es ganz in ihm zerrann,
Und immer wieder Gestalt nahm
Und immer wieder zerrann.
Und unsere Liebe jauchzte Gesang,
Zwei wilde Symphonieen!

Versöhnung

“Versöhnung”, Holzschnitt von Franz Marc

Das Gedicht mit dem Titel „Versöhnung“ erschien 1910 und 1912 in der Zeitschrift „Der Sturm“, die von Herwarth Walden herausgegeben wurde. Franz Marc ließ sich davon zu einem Holzschnitt inspirieren, der das Titelblatt des Sturms 1912 zierte - Maler und Dichterin kannten sich bis dahin noch nicht. Doch mit „Versöhnung“ war die Basis zu einer besonderen Freundschaft gelegt, ein kreativer, inspirierender Austausch zweier ungewöhnlicher Köpfe konnte sich entspinnen. So wurde Versöhnung auch im Leben zu einer Vereinigung zwischen Menschen - nicht nur im Sinne der erotischen Liebe gemeint, sondern vor allem im Sinne der zwischenmenschlichen Begegnung. Zudem hat das Gedicht auch einen unmittelbaren Bezug zur jüdischen Herkunft von Else Lasker-Schüler. Jom Kippur ist „Der Versöhnungstag“ (so der Titel einer ihrer Erzählungen), „das Wiegenfest der Judenheit“.

Versöhnung

Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen …
Wir wollen wachen die Nacht,

In den Sprachen beten
Die wie Harfen eingeschnitten sind.

Wir wollen uns versöhnen die Nacht –
So viel Gott strömt über.

Kinder sind unsere Herzen,
Die möchten ruhen müdesüß.

Und unsere Lippen wollen sich küssen,
Was zagst du?

Grenzt nicht mein Herz an deins –
Immer färbt dein Blut meine Wangen rot.

Wir wollen uns versöhnen die Nacht,
Wenn wir uns herzen, sterben wir nicht.

Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen.

Verzweiflung

„Mein blaues Klavier“ ist ein Gedicht, das wenige erklärende Worte benötigt. Ein Kunstwerk, das für sich selber spricht, so „fremdschön“ (Emil Raas), so tieftraurig.

Mein blaues Klavier

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.

Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier –
Die Mondfrau sang im Boote.
– Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

Zerbrochen ist die Klaviatur.
Ich beweine die blaue Tote.

Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.

Anstelle interpretierender Worte ein Zitat aus einem Aufsatz von Michael Braun (Gedichte von Else Lasker-Schüler, Interpretationen, Reclam, 2010) - er beschreibt das Leben der Dichterin im Schweizer Exil. Worte, die heute ebenso geschrieben werden könnten über andere Schriftsteller und Menschen auf Asylsuche - wie wenig sich das Schicksal derer, die flüchten müssen, doch bessert im Lauf der Zeit:

„Aber man darf nicht übersehen, dass das Exil ein Leben auf Widerruf war: Für jede Lesung in der Schweiz brauchte Else Lasker-Schüler eine polizeiliche Erlaubnis; einem Erwerb nachzugehen, war ihr nicht erlaubt. In den Akten der Zürcher Fremdenpolizei ist dieser Teufelskreis dokumentiert: Ohne Arbeitserlaubnis fehlte die Verdienstmöglichkeit, ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung musste sie ständig um Verlängerungen der Duldungsfrist bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei in Zürich und im Tessin nachsuchen. Rastlos versuchte sie, „wie ein Tagelöhner“ mit ihren Gedichten und Zeichnungen, durch Lesungen und den antiquarischen Verkauf ihrer Bücher ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Briefe aus jenen Jahren, in denen sie sich „zerfetzt und verhungert innen und außen bezeichnet, sprechen ebenso Bände wie die - zu Lebzeiten unpublizierten - Tagebuchzeilen aus Zürich.“

Jüdische Autorinnen im Portrait (11): Maria Leitner (1892-1942).

„Ein Bankbeamter erzählt mir: Ich bin Jahrgang 1890. Habe den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag durchgemacht. In dem Alter, in dem man sonst um eine sichere Lebensstellung kämpft, lag ich im Dreck und wartete auf den Tod. Anderen erging es auch nicht besser und sie haben sich heraufgearbeitet und ihr Glück gemacht. Das mag stimmen. Aber unter den vielen Tausenden gab es nur einige Glückliche und ich gehöre eben zu den Tausenden, zu dem Durchschnitt. Nach dem Kampf draußen kamen die Kämpfe in der Heimat. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Kampf um ein Gebiß. Das klingt sicher sehr komisch und eher lächerlich. Und doch schien er mir ebenso wenig lächerlich wie der Kampf um Verdun. Meine Zähne wurden im Krieg schlecht. Zahnlos konnte ich keine Stellung suchen. Die Behörden behaupteten, meine Zähne hätten nichts mit dem Krieg zu tun.“

Aus: „Bankbeamter vor dem Abbau“, erschienen in der Berliner Abend-Zeitung Tempo, 5. November 1929

Es sind die Stimmen der Unterprivilegierten, der kleinen Leute, denen sie Gehör verschafft hat. Jede ihrer Reportagen zeichnet ein realistisches, nüchternes Bild der Weimarer Republik im Niedergang – Massenarbeitslosigkeit, Inflation und das keineswegs verdaute Trauma eines Krieges im Rücken. Sie muss eine ungeheuer wache und mutige Frau gewesen sein: Maria Leitner (1892-1942), die das Schicksal so vieler anderer begabter, talentierter Menschen dieser Zeit teilt: Im Nationalsozialismus vertrieben, im Exil verschollen, später vergessen. Dabei zählt sie - berücksichtigt man zudem, dass wohl etliche ihrer Schriften auf der Flucht vor den Nazis für immer verloren gingen - auch zu einer der produktivsten Journalistinnen und Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Vor allem ihre Reportagen vermitteln auch heute noch ein eindrückliches, lebendiges Bild dieser Zeit.

Cristina Fischer schreibt in der Tageszeitung „Die junge Welt“:

„Unscheinbar und voll unbändiger Energie muss Maria Leitner Mitte der 30er Jahre durch das faschistische Deutschland gehuscht sein. Als engagierte Kommunistin aus einer jüdischen Familie war sie 1933 über Prag nach Paris geflohen. Inkognito kehrte sie immer wieder aus dem Exil zurück, um an Schauplätzen der Kriegsvorbereitung brisantes Material zusammenzutragen. Für Reportagen, die ihresgleichen suchen. Es war ihre zweite Emigration. Aufgewachsen war Leitner in Budapest, wo sie die Kommunistische Jugend mitgegründet haben soll. Im August 1919 war die ungarische Räterepublik nach vier Monaten gefallen. Leitner hatte das Land verlassen müssen. So verschlug es sie nach Berlin, wo sie als Journalistin arbeitete. Bekanntheit erlangte sie 1932 mit einem Reportageroman über ihre Erfahrungen als Billigjobberin in verschiedenen Ländern, »Eine Frau reist durch die Welt«. Auch ihr Roman »Hotel Amerika« (1930) über elende Arbeitsbedingungen in einem New Yorker Luxushotel fand Beachtung. Polnische, russische, spanische Übersetzungen erschienen. Heute wäre Leitner gleichwohl weitgehend vergessen, hätte die Publizistin Helga Schwarz nicht seit den 60er Jahren Biographie und Werk erforscht.“

Paris und Prag bleiben ab 1933 nicht die einzigen Stationen dieser Frau auf der Flucht. 1942 stirbt sie, entkräftet und ausgehungert, in Marseille, nachdem sie sich lange vergebens um eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung für die USA bemüht hatte. Lange galt Maria Leitner als verschollen, von der umtriebigen und herumgetriebenen Einzelgängerin sind wenige private Zeugnisse hinterlassen. Erst Helga Schwarz hat ihr Schicksal zur Gänze aufgedeckt.

In der Reihe der „Wiederentdeckten Schriftstellerinnen“ des AvivA Verlages - der auch Lili Grün aus dem Vergessen holte - wurden nun zwei Bände mit journalistischen und belletristischen Arbeiten von Maria Leitner veröffentlicht.

2013 erschien „Mädchen mit drei Namen“: Neben Reportagen aus Deutschland aus den Jahren 1928 bis 1933 enthält der Band auch den titelgebenden Roman. „Der kleine Berlin Roman“ erscheint wie eine ernstere Variation eines im selben Jahr herausgekommenen Buches von Irmgard Keun: Ein „kunstseidenes Mädchen“, weniger flapsig, mehr Moll im Ton. Veröffentlicht wurde er als Fortsetzungsroman im der Zeitung „Die Welt am Abend“, die am 11. Juli 1932 stolz verkündete:

„Die unseren Lesern durch ihre Romane und Reportagen bekannte Schriftstellerin Maria Leitner hat für die Welt am Abend einen Berliner Roman unter dem Titel Mädchen mit drei Namen geschrieben, mit dessen Veröffentlichung wir morgen beginnen. Maria Leitner schildert in diesem Roman, der besonders Frauen interessieren dürfte, die Erlebnisse eines jungen Mädchens, das aus der Provinz nach Berlin kommt, in die Fürsorge gerät, entflieht, neues Mißgeschick erfährt und zuletzt den Weg findet, der allein eine Rettung aus allem Wirrwarr verheißt.“

Fehlgedacht, wer meint, es sei die in den 1930er-Jahren den Frauen nahegelegte Rettung in Ehestand und Mutterschaft, die der Roman zum Ende propagiert: Schließlich war „Die Welt am Abend“ eine kommunistische Boulevardzeitung und Maria Leitner eine linke, feministische Autorin - die Rettung ihrer Ich-Erzählerin lag folgerichtig im Erwachen ihres politischen Bewusstseins und in der Solidarität mit anderen. Ähnlich wie auch bei anderen Autoren - beispielsweise Theodore Dreiser (der später - leider vergeblich - Maria Leitner aus Europa heraushelfen wollte) oder auch bei Upton Sinclair leidet bei Maria Leitner der literarische Stil ein wenig unter der politischen Intension.

Stärker und dezidierter im Stil sind ihre journalistischen Arbeiten: Der „Bankbeamte vor dem Abbau“, der von den Nöten und Ängsten der unteren Mittelschicht erzählt, das Tauentzien-Girl, das für 16 Mark die Woche rund um die Uhr Reklamezettel verteilt, das Warenhausfräulein, dien Stenotypistin, das Dienstmädchen, die Hebamme, die ledige, selbst noch kindliche Mutter: Es sind die Menschen, meist die Frauen, die in den „Berliner Miniaturen“ und den Großstadt-Reportagen, die Maria Leitner zwischen 1928 und 1933 Jahren schrieb, im Mittelpunkt stehen. Maria Leitner muss nicht nur eine aufmerksame Beobachterin gewesen sein, sondern auch jemand, zu dem die Menschen Vertrauen fassten, dem sie sich öffneten - sie erzählen von der Tristesse ihres Lebens, vom Ringen um jeden Pfennig, von der Hilflosigkeit angesichts der zunehmenden Verarmung, von ihrer Wut und ihrem Zorn. In kurzen Portraits zeichnet sie Figuren dieser Zeit – so wie Fräulein Hase, eine in „Ehren ergraute Sekretärin“:

„Man spricht nur noch über „unsere Kolonien“, „unsere Flotte“, „unsere Kriegshelden“. Für dieses „unser“ haben die Kleinbürger teuer zahlen müssen. Sie wurden enteignet und verproletarisiert. Sie leben wie Proletarier, sie ahnen aber nichts von der Sendung des Proletariats. Sie möchten nur zurückkriechen in eine Vergangenheit, die es nur in den Lesebüchern und in ihrer Phantasie gab. Fräulein Hase früh gealtert, mit einem nervösen Tick behaftet, immer ausgebeutet, geplagt von Hunger und Angst vor einem Hauswirt, der sie und ihre Mutter jeden Tag auf die Straße setzen könnte, hat sich trotzdem nicht geändert.
Sie wäre tief verletzt, wenn man sie als eine Proletarierin ansprechen würde. Sie ist stolz auf ihre gute Familie, sie ist stolz auf ihre Tugend, die sie vor Versuchungen schützte, so drückt sie sich aus.“

Auch der 2014 vom AvivA veröffentlichte Band „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ vereint den (erneut) titelgebenden Roman und weitere Reportagen, die zwischen 1934-1939 entstanden sind. Vor allem anhand dieser Arbeiten wird der außergewöhnliche Mut dieser Frau deutlich: Maria Leitner war als gebürtige Ungarin, Linke, Feministin, Revolutionärin, kritische Autorin und Jüdin im „Dritten Reich“ in mehrfacher Hinsicht gefährdet. Doch noch aus dem Exil reiste sie mehrere Male zurück nach Deutschland, um dort unter Lebensgefahr über die Kriegsvorbereitungen vor Ort zu recherchieren und Material für ihre Veröffentlichungen zu sammeln, die sie noch einige Zeit in französischen, tschechischen und russischen Zeitungen platzieren konnte. Undercover recherchiert sie in Berlin, Leverkusen, Wittenberg, schafft es zu den Giftküchen bei Hoechst, berichtet über die Solinger Waffenschmiede und aus dem noch freien Saarland. Neben der Aufrüstung thematisiert sie auch das Alltagsleben der Deutschen, zwischen „Kraft durch Freude“ und Antisemitismus. Wie stark ihre Überzeugungskraft gewesen sein muss, zeigt eine eher anekdotenhafte Geschichte aus Düsseldorf: Es gelingt ihr, in das längst schon für die Öffentlichkeit gesperrte „Heinrich Heine- Zimmer“ in der Stadt- und Landesbibliothek zu kommen.

„Ich gebe mich damit aber noch nicht zufrieden und gehe in die Kartothekräume der Bibliothek. „Könnte ich, bitte, das Heine-Zimmer sehen?“
Alle Anwesenden, Frauen und Männer, es sind die Angestellten der Bibliothek, halten in ihrer Arbeit inne und blicken mich verwundert an. Einer knurrt: „Wissen Sie denn nicht, daß das Heine-Zimmer geschlossen ist? Von wo kommen Sie denn her?“
„Aus Amerika“, sage ich, „und ich bin in Düsseldorf nur ausgestiegen, um das Heine-Zimmer zu sehen.“
Alle starren mich an, als wäre ich ein Wundertier: die kommt aus Amerika und ahnt nichts davon, wie es in Deutschland zugeht! Aber gab es nicht auch Leute im Krieg, die nichts von ihm wussten? Ich blicke heiter und unbefangen vor mich hin.“

Das Lakonische, der pointierte und spritzige Stil ihrer Reportagen bleibt in den Romanen etwas zurück. Spürbar ist, dass die Journalistin, die den Fakten verhaftet ist, ihrer Phantasie Zügel anlegt – vieles bleibt schemenhaft, die Figuren sind eher „Typen“ als deutlich herausgearbeitet. Aber dennoch ist „Elisabeth, ein Hitlermädchen“, lesenswert, wenn man es als wohl wohleinzigartiges Zeugnis dieser Zeit nimmt. Der Roman, ebenfalls ein Resultat der Recherchen, die Maria Leitner in NS-Deutschland unternahm, zeigt Einblicke in eine Welt, die so häufig nicht dokumentiert sind – in die Welt der jungen Frauen, die aus politischen oder anderen Gründen in Arbeitslager abgeschoben wurden. Schon die Tatsache, dass eine jüdische Linke, aus der Sicht eines Hitlermädchens schrieb, ist ungewöhnlich genug.

Die naive Elisabeth, Schuhverkäuferin, lernt einen SA-Jungen aus besseren Kreisen kennen, wird schwanger, muss abtreiben, kommt in ein Arbeitsdienstlager der Landhilfe im Osten. Dort werden junge Frauen gedrillt und gehirngewaschen. Bei Elisabeth, die anfangs noch tapfer dem Glauben an den „Führer“ anhängt, beginnt nach dem Selbstmord einer Freundin langsam ein Sinneswandel.

Der Roman erschien 1937 in der Pariser Tageszeitung. Es ist anzunehmen, dass wenige derer, die Leitner mit ihren Arbeiten erreichen wollte, „Elisabeth“ gelesen haben. Maria Leitner, das wird an ihren Reportagen spürbar, wollte aufdecken, aufrütteln, hatte – das zeigen auch die beiden Romane – den Wunsch, gerade junge Frauen aus der NS-Euphorie, zu reißen. Das Wort – es blieb ohnmächtig. Aber trotzdem: Zumindest wurde es geschrieben.

Ganz vergessen wurde Maria Leitner auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht. In den 80er Jahren erschienen einige Bücher in der DDR. Zu verdanken ist dies Helga W. Schwarz, die mit ihrem Mann Wilfried nun auch die Herausgeberin der beiden Bände im AvivA Verlag ist. Sie erforscht seit Jahrzehnten das Leben der Autorin. Ein umfassender Aufsatz zu Maria Leitner von Helga W. Schwarz findet sich auf der Homepage der Gesellschaft für Exilforschung.

Noch eine persönliche Anmerkung: Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Beitrag unter der Reihe „Portraits jüdischer Schriftstellerinnen“ veröffentlichen soll. Denn, so ein Auszug aus dem Essay von Helga W. Schwarz:

„Sie hat auch nie „das Jüdische“ vordergründig gestaltet, abgesehen von den Konflikten der jungen Sara in der Novelle Sandkorn im Sturm (1929), die auch eine Zigeunerin sein konnte und der Witwe Bronnen in Danziger Gespenstergeschichte (1939). Maria Leitner hat sich selbstbewusst stets als Ungarin präsentiert, und als solche kannte man sie in ihrem Umfeld – was mir wiederholt mündlich bestätigt wurde. Die in letzter Zeit vordergründige Betonung einer jüdischen Abstammung und der nur daraus abgeleiteten besonderen Gefährdung hätte ihr sicher missfallen, (wobei vermutlich noch nicht völlig geklärte familiengeschichtliche Aspekte hineinspielen könnten). Sie war zweifellos auf Grund ihrer politischen Überzeugungen und Aktivitäten nach 1933 in die bekannte lebensbedrohliche Situation geraten, was sie auch in ihrem Brief an Theodore Dreiser erläutert: „. . . dann wurden meine Bücher verbrannt und mein Name erschien auf der schwarzen Liste. Das geschah hauptsächlich, weil viele Berichte von den Lebensumständen in Deutschland und der bereits frühen Manifestierung der geheimen Unternehmungen der Nazis handelten. Ich machte mit dieser Arbeit für antifaschistische Zeitungen weiter, aber natürlich im Geheimen und unter sehr gefährlichen Umständen als die Nazis an die Macht kamen und zeigte die gigantischen deutschen Kriegsvorbereitungen. . . . Ich wurde in verschiedene KZ-Lager gesteckt und ich war in der Gefahr von den französischen Behörden an die Deutschen ausgeliefert zu werden.

Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft und gegen die Nazi’s, die ich als Gefahr für den Weltfrieden betrachtete. . . aber ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. . . helfen Sie mir, wenn Sie können. . . .“

Nach der Lektüre der beiden Bücher kann ich dies nur bestätigen. Dennoch, auch wenn ihre jüdische Herkunft keinen unmittelbaren Einfluss auf ihr Schreiben gehabt hat und keine Rolle für ihre politischen Reportagen spielte, habe ich mich letztendlich doch für diese Rubrik entschieden. Denn: Die in dieser Rubrik veröffentlichten Portraits erhalten von Beginn an die höchsten Zugriffszahlen und werden von den meisten Leserinnen und Lesern aufgerufen - und dies beinahe täglich, kein Beitrag der Reihe gerät ins Vergessen. Und deshalb steht Maria Leitner hier - weil ich dazu ein klein wenig mit beitragen will, was sich die Herausgeber von „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ erhoffen: „Dieses Buch soll dazu beitragen, daß Maria Leitners Stimme nicht wieder verhallt.“

Die beiden Bände im Aviva Verlag: http://www.aviva-verlag.de/autor-innen-co/maria-leitner/

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902 (1928).

„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“

Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“, 1928, wiederaufgelegt und herausgegeben von Christian Klein im Wallstein Verlag, 2014.

Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romane von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ (Besprechung siehe hier) die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.

Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen - dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“ (Besprechung siehe hier), der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:

„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”

Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Sozialismus und die Furcht davor, die konservativ-kaisertreue Klasse, die – bereits am Ende – ihr Heil auch im Krieg sieht und sucht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist:La guerre, ce sont nos parents.

„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.

Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:

„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“

Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“:
„Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges.
Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“

So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.

Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:

„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“

Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird. Eine ausführliche Biographie, geschrieben von Carsten Tergast, ist online hier zu finden: http://blog.zvab.com/2008/04/28/ernst-glaeser-gefeiert-verfemt-vergessen-zur-karriere-eines-deutschen-schriftstellers/

Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“:
“Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“

Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.

Zur Seite des Wallstein Verlags zum Roman: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313361-ernst-glaeser-jahrgang-1902.html
Eine weitere Besprechung gibt es bei den Literaturen: http://literatourismus.net/2014/01/ernst-glaeser-jahrgang-1902/
In der Zeit wurden die Romane Ernst Glaesers und Georg Finks zusammen rezensiert: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jugend-erster-weltkrieg

Erich Kästner - Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?

Erich Käster (1899-1974) ist in dem Land, in dem die Kanonen blühn, geblieben - auch als seine Bücher brannten. Von den 25 deutschen Schriftstellern, deren Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen landeten, waren die meisten schon im Exil - darunter Bertolt Brecht (siehe “Brecht und das Exil”) und beispielsweise Erich Maria Remarque. Als die Nazi diesen nicht holen konnten, rächten sie sich an der Schwester: Im Westen nur Grausames.

Kästner blieb und sah zu:

“Er stand da, vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, und sah die Bücher in die Flammen fliegen. Sein Name wurde gebrüllt, gleich nachdem der Rufer “Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!” gewettert hatte. Kästner sah zu. Als plötzlich eine schrille Frauenstimme rief: “Dort steht ja der Kästner!” Da wurde Kästner “unbehaglich”, wie er es später wohl leicht beschönigend beschrieben hat.”

Volker Weidermann in “Das Buch der verbrannten Bücher”.

Kästner wurde später oft, auch mit einem leichten Unterton des Vorwurfs, gefragt, warum er denn geblieben sei, ja, beinahe zur Rechtfertigung gedrängt. Denn im Land, in dem die Kanonen blühn (das Gedicht schrieb er übrigens 1928) hatte er Berufs- und Publikationsverbot, wurden seine Konten gesperrt, wurde er zweimal von der Gestapo verhaftet, andererseits aber auch vom Regime für das Drehbuch des Münchhausen benutzt. Kann man einem zum Vorwurf machen, dass er bleibt, dass er schweigt, ja, dass er auf diese Weise mit dem Leben davon kommen will?

In einem Gespräch sagt die Lebensgefährtin Kästners, Luiselotte Enderle, dazu:

War es denn nicht mutig von Kästner, sich da mitten in diese breit angekündigte Hass-Aktion zu stellen? Enderle spendiert ein überraschendes Lächeln. “Mutig? Och… ich weiß nich. Mutig hat er sich ja nicht so sehr gesehen. Er war ja auch ein ziemlich schmales Hemd.” Sie reckt sich aus den Kissen hoch. “Der Robert Neumann hat mal gemeint, dass Dichter nicht so mutig sein können - mit der geballten Faust kann man ja nich schreiben.”

Die Quelle - zu finden auf spiegelonline einestages - ist nicht nur wegen der Äußerungen Enderles zur Bücherverbrennung interessant. Die Dame hat selbst im hohen Alter noch Temperament und lässt sich von “Jefühlen” umgraben:

Haben sich Kästner und Enderle in ihrer On-und-off-Beziehung bis zum Tod des Schriftstellers 1974 oft über die Bücherverbrennungen ausgetauscht? On-und-off-Beziehung - für die misstrauische Enderle eine grenzwertige Formulierung. “Junger Mann, nun lassen Se man. Der Erich und meine Wenigkeit waren zwar wie Waschfrau und Nachtwächter - ich tagsüber putzwach, er eher Eule - aber deswegen hatten wir doch jenüjend Zeit, die Jefühle umzugraben.”

Kästner selbst äußert sich mehrfach zu seiner lebensbestimmenden Entscheidung:

“Der Held ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen. Er wird zum Märtyrer. Er stirbt offiziell an Lungenentzündung. Er wird zur namenlosen Todesanzeige.” 

“Ich war nur passiv geblieben. Auch damals und sogar damals, als unsere Bücher brannten. (…) Warum erzähle ich das? (…) Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Keiner weiß, ob er aus dem Stoff gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt.”

Man frage nicht (Karl Kraus).

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (10): Trude Krakauer (1902-1995)

Bild: Rose Böttcher

Lichten Traum

LICHTEN Traum, ihr alten Optimisten,
Immer wußtet ihr ihn zu bewahren.
Kolumbien verlaßt ihr mit Koffern und Kisten,
Hofft, ihr werdet in der Heimat nisten,
Tröstlich winkt sie nach den Trennungsjahren.
Elend, wißt ihr, werdet ihr dort finden,
Not, ihr wollt sie kämpfend überwinden;
BERG und Tal sind noch die sie waren…
Eilt es euch? – Wir lassen euch schon gehen,
Reicht die Hand uns, - mögt ihr glücklich fahren!
Gute Reise und: Auf Wiedersehen!

Trude Krakauer, Bogotá, 5. Februar 1948

Trude Krakauer sah die „alte Heimat“, das „Niewiederland“, nur einmal wieder, 1981 bei einer Reise nach Österreich. Vom „rückwärts gehen“ erwartete sie nicht viel, wie auch dieses beinahe trotzig klingende Gedicht vom lichten Traum erkennen lässt. Andererseits jedoch: Auch das Exil, Kolumbien, war nicht zur Heimat geworden, es gelang ihr in ihrem langen Leben nicht, hier vollständig Wurzeln zu fassen, nur Luftwurzeln blieben ihr, Wurzeln, die keine Erde fanden. Zum Ausdruck kommt dies in einem ihrer späteren Gedichte, „Luftwurzeln“ (Auszug):

Ich hab meinen Halt in der Erde verloren.
Luftwurzeln treib ich, blasse Gedichte,
Die zittern und schwanken und tasten ins Leere.

„Ich habe gerne hier gelebt, aber nie habe ich dieses Land als meine „zweite“ Heimat betrachtet. Man hat nur eine Heimat, so wie man nur eine Mutter hat“, schreibt sie 1993. Dabei verbrachte Trude Krakauer (nicht zu verwechseln mit Trude Dothan, geborene Krakauer) mehr Lebensjahre im kolumbianischen Exil als in der österreichischen Heimat. Am 30. Mai 1902 in Wien geboren, flieht sie nach dem „Anschluss“ Ende 1938 nach Lateinamerika. Hochbetagt, im Alter von 93 Jahren, stirbt sie am 25. Dezember 1995 in Bogotá. Die Heimat hat sie nie vergessen – aber im Gegenzug vergaß die Heimat beinahe sie. Es ist der österreichischen Exilforscherin und Lyikerin Siglinde Bolbecher (1952-2012) zu verdanken, dass Trude Krakauer nicht vollständig aus dem Bewusstsein geriet – und dass ihre Gedichte erhalten blieben und überhaupt veröffentlicht wurden.

Ballade vom Niewiederland

Wer seinen Weg im Niewiederland sucht,
der kommt nirgends an und kehrt nimmermehr heim;
er geht nur und geht, um zu gehen.
Er geht durch die Straßen der Nimmermehrstadt,
da stehen vor den Türen und nicken ihm zu
die kleinen, vergessenen Freuden.
Und jede begrüßt er gerührt und beglückt
und jede hält heimlich das Messer gezückt
und stößt es ihm mitten ins Herz.
Wer seines Wegs im Niewiederland geht,
der weiß es kaum, daß er das Messerlein sucht.
Er geht nur und geht, um zu gehen.

Denn Trude Krakauer teilt – nicht nur in der Zerrissenheit zwischen zwei Welten – das Schicksal vieler Exilanten: Vertrieben, verloren, vergessen. Ihr Name erscheint heute nur marginal in der Literatur, meist in Fachbüchern über die Literatur im Exil. Zu Lebzeiten wurden die Gedichte Trude Krakauers, die bis zu ihrem Lebensende in ihrer Muttersprache schrieb, nur dreimal in österreichischen Publikationen veröffentlicht. Dabei hätte ihr schmales, dafür aber umso intensiveres Werk mehr Aufmerksamkeit verdient. Sicher liegt ihr geringer Bekanntheitsgrad aber auch an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Trude Krakauer prägten. Siglinde Bolbecher, die 1993 die verbliebene österreichische Exilgemeinde in Kolumbien aufsuchte, lernte hier auch Trude Krakauer persönlich kennen. In ihrem Nachwort zur einzigen bislang veröffentlichten Sammlung ausschließlich mit Gedichten von Krakauer, „Niewiederland“, erschienen 2013 in der Reihe „Nadelstiche“ der Theodor Kramer Gesellschaft, zeichnet Bolbecher ein feines Portrait der Dame, die sie in Bogotá kennenlernte:

„Es mangle ihrer Biographie an Leistungen – meint Trude Krakauer mit feiner Ironie -, an denen sich der Lebensfaden festknoten läßt und zugleich ist „Leben“ immer viel mehr als wir erzählen können. „Meine Biographie ist eigentlich in meinen Gedichten enthalten.“ In ihnen nimmt sie die schwierige Kommunikation mit Herkunft, der beglückenden, aber auch tödlichen Mühle der Kindheit und Jugend auf.“

Eines der wenigen Bilder von Trude Krakauer. Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft.

So zurückhaltend wie sie als Person durch diese wenigen Zeilen anmutet, so präzis- unprätentiös ist auch die Sprache ihrer Lyrik. Oftmals mit einer Spur von Bitterkeit angereichert. „Die Zeit heilt alles“ – so der Titel eines Gedichtes – nur die „pochend-wunden Herzen“ nicht.
Ein Auszug:

„Die Zeit heilt alles. Über Massengräber
Weht grünes Gras. Wir halten sie für gütig,
Wenn ihren Schleier unfühlbar und fühllos
Sie über Tote zieht, die uns noch leben,
Und über unsre schmerzhaft wachen Augen
Und unsre wehen, pochend-wunden Herzen.
(…)
Der Tod heilt alles, doch solang ich lebe
Will ich unheilbar sein.

Woher kam die Frau, die später einige der wichtigsten spanischsprachigen Literaten übersetzte (unter anderem Jorge Guillén, Rubén Darío, Blas de Otero) und doch nie viel Aufhebens um sich machte? Die mit anderen Dichtern im Exil befreundet war, aber kaum über ihre eigene Dichtung sprach?

Aufgewachsen war sie in einem liberalen Elternhaus: Ihr Vater, Dr. Heinrich Keller, war nicht nur ein bekannter Kinderarzt, sondern hatte auch mehrere sozialkritische Romane und ein Buch über Pädagogik geschrieben. „Er war sozialdemokratischer Bezirksrat und verstand sich als „Revolutionär“: Freigeist, antiklerikal, dem Fortschritt und dem Humanismus verbunden“, so Siglinde Bolbecher. Eine Haltung, die die Tochter übernahm – doch nicht nur dieses sollte für sie später, im Nationalsozialismus, zur Gefährdung werden. Keller war zwar konvertierter Protestant, dies schützte ihn jedoch vor dem Rassenwahn der Nazis nicht. Der Kinderarzt erzog seine Kinder religionslos. Später, 1938, wird Trude Krakauer Jüdin – als Bekenntnis und Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrem verfolgten Volk. Man sieht an ihrer Biographie – da hat eine bereits in jungen Jahren ihren eigenen Kopf, sucht ihren Weg, will etwas bewegen. Einfach macht sie es ihrer Mutter Nelly, die in ihrer Jugend selbst Gedichte schrieb, nicht. Ein ganz anrührend zartes Gedicht ist dazu zwischen den zuweilen nüchtern bis trotzigen Tönen in ihrer Lyrik zu finden:

Meiner Mutter

Und oft, wenn ich`s zu arg getrieben,
Mein ich, mir sei kein Weg geblieben,
Und alles sei zu Ende.
Und dann kommst du und sprichst ein gutes Wort,
Wie du`s nur kannst und deine lieben Hände
Sie streicheln jedes Leid mir fort.

Vielleicht klingt in diesem undatierten Gedicht auch die Sehnsucht nach dem „Mutterland“, der „Muttersprache“, nach der vergangenen, einigermaßen in Takt gewesen Welt zurück. Doch Trude Krakauer weiß: Es gibt keine Umkehr.

Auch nicht in dieses Wien, in dem sie als junge Frau sich in der sozialistischen Jugendbewegung engagierte, an der Universität ausprobierte – zunächst auf Wunsch der Eltern im Studium der Medizin, dem folgten Staatswissenschaften, zugleich hörte sie Vorlesungen für Karl Kraus, für dessen Sprache sie sich begeisterte und dem ebenfalls Gedichte gewidmet sind. Bereits neben dem Studium arbeitet sie als Englischkorrespondentin für sozialdemokratische Stellen, ist von 1934 an aber für die Kommunisten illegal politisch tätig – ihr Verbleib in Österreich wird lebensgefährlich, bis sie durch ihre Jugendfreundin Thea Weiss ein kolumbianisches Arbeitsvisum erhält.

Dort dann der Aufbau einer neuen Existenz: Sie heiratet den mährischen Chemiker Dr. Emil Krakauer, arbeitet als Übersetzerin und Sekretärin in Bogotá, ist aktiv im “Comité de los Austríacos Libres”, für das sie zusammen mit der deutschen Schriftstellerin Margot Neumann-Hermer Literaturlesungen und andere Vorträge vorbereitet. Ab 1952 bis 1977 ist sie dann in der deutschen Handelsvertretung beschäftigt. Das der nüchterne Rahmen eines Lebens in der „neuen“, der anderen Welt. Die Bezüge zur Heimat werden immer weniger. Und klarsichtig erkennt sie wohl: Das ist Vergangenheit, sie warnt vor „Sehnsuchts-Vergoldungen der alten Heimat“ heißt es in dem Exilliteratur-Buch „Ferne Heimat, nahe Fremde“, herausgegeben von Eduard Beutner:

“Bei der im kolumbianischen Exil gelandeten Lyrikerin Trude Krakauer ist ebenfalls das Realitätsprinzip am Werk: „Erwürge endlich/das Kind in dir,/das spielen will. (…)/Lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen:/plus ist gleich minus,/ Freude ist Schmerz.(…)/Lerne, dass Schönheit brennendes Leid ist,/lerne die Sprache, die nicht verbindet/lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen“, heißt es, vergleichbar mit Jean Amérys bedrängenden Reflexionen über das schwierige Entziffern von Zeichen in der Fremde, bei Krakauer freilich aber zwecks lebensbewältigender Perspektive.”

Lebensbewältigung, nicht zurückschauen, nicht werden zu „Loths Weib“, wie eines ihrer Gedichte heißt. Es gelingt ihr einigermaßen. Und so trägt ihr vermutlich letztes Gedicht vom 12. Jänner 1987 den Titel „Zuletzt“ (Auszug):

Ich gehe mit mir jetzt sehr nachsichtig um,
Eine uralte Frau muß man schonen,
(…)
Der Weg war so kurz – oder war er so weit? -
Ich ging durch so viele Geschichten.

Angaben zum Buch:

Trude Krakauer · Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.)
Niewiederland
Mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher
Theodor - Kramer - Gesellschaft, Wien
2013 · 96 Seiten · 12,00 Euro
ISBN: 978-3-901602-49-8

Erschienen ist der Gedichtband „Niewiederland“ bei der Theodor Kramer Gesellschaft – hier deren eigene Kurzbeschreibung:

Vor fast genau 25 Jahren, am 6. März 1984, wurde die Theodor Kramer Gesellschaft gegründet, um Leben und Werk Theodor Kramers zu erforschen und zur Verbreitung der Literatur des Exils und des Widerstandes beizutragen. Erster Vorsitzender war der Nachlaßverwalter Kramers, Erwin Chvojka. Dem Kuratorium der Gesellschaft gehörten u.a. Erich Fried, Bruno Kreisky und Hilde Spiel an.
Die erste Nummer der Zeitschrift „Mit der Ziehharmonika“, heute „Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“, die sich inzwischen zu einem international anerkannten wissenschaftlichen Forum der Exilliteratur entwickelt hat, erschien im Mai 1984.
1987 erweiterte sich der Interessensbereich der Gesellschaft in Richtung stärkerer Berücksichtigung der gesamten österreichischen Exilliteratur.  Seit 1990 gibt die Theodor Kramer Gesellschaft das Jahrbuch „Zwischenwelt“ heraus. Der Verlag entstand 1995 aus der Notwendigkeit, aus Österreich vertriebenen Autorinnen und Autoren eine Möglichkeit zur Publikation ihrer Werke zu bieten. Wichtig ist uns auch der kritische Blick, den Exilierte oder aus dem Exil Zurückgekehrte auf das Land ihrer Herkunft werfen: Sich mit den Augen anderer und besonders derer sehen zu lernen, die mit Österreich traumatische Erfahrungen verbinden, ist angesichts der offenen Fragen unserer Zeit eine große Aufgabe.
Die Gesellschaft hat bisher eine Reihe wissenschaftlicher Symposien und viele kulturelle Veranstaltungen abgehalten, wie z.B. 2001 “Zur Rezeption des Exils in Österreich” oder in Salzburg “Jiddische Kultur und Literatur aus Österreich”, 2005 und 2006  “Gespräche über die Rückkehr” oder 2009 “Subjekt des Erinnerns” in Wien.
2001 wurde von uns erstmals der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil an Stella Rotenberg (Leeds) verliehen, 2013 geht der Preis an Margit Bartfeld-Feller (Tel Aviv) und Manfred Wieninger (St. Pölten).
Den derzeit 500 Mitgliedern der Gesellschaft aus Österreich, Deutschland, Schweiz, Frankreich, Israel, Italien, den USA, aus Südamerika und Asien stehen ein Archiv und eine umfangreiche Buch- und Zeitschriften-Bibliothek zur Verfügung. Es ist uns gelungen, einen wirklichen Kontakt mit exilierten SchriftstellerInnen und KünstlerInnen aufzubauen; viele unserer Mitglieder sind oder waren im Exil oder in nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Link: http://theodorkramer.at/

Djuna Barnes: Paris, Joyce, Paris (1922).

“Als ich eines Abends aus dieser Kirche kam, schaute ich ins Café Aux Deux Margots hinein und trank ein Glas Wein, während Joyce, James Joyce, der Autor des verbotenen Ulysses, über die Griechen sprach.
Ein ruhiger Mann, dieser Joyce, mit dem Hinterkopf eines afrikanischen Götzen, lang und flach. Dem Hinterkopf eines Mannes, der mit der vulgären Notwendigkeit geistigen Stauraums gebrochen hatte.“

“Joyce lebt in einer Art dem Zufall überlassener Zurückgezogenheit. Es freut ihn, wenn Freunde vorbeischauen, und angeblich geht er dann überall mit hin und trinkt, was sich bietet. Er hat einen Widerwillen gegen Kunstgespräche, und seine Freunde sind ganz gewöhnliche Menschen.
Sein Hauptthema ist die griechische Mythologie, und er wird niemals müde, darüber zu sprechen, was es mit dem Ursprung des namens Orion auf sich hat, ein Stück Aufklärung, das dem streng akademischen Geist höchst anstößig erschiene, denn er macht aus den Griechen `ungezogene Jungs´, und sorgt dafür, dass sie sich, über die Kluft hinweg, mit Rabelais die Hand schütteln.“

Djuna Barnes, „Paris, Joyce, Paris“, insel taschenbuch

Wenn Djuna Barnes (1892-1982) über Joyce in diesem schmalen Buch im Anschluss an das zweite Zitat noch schreibt: „Er gleitet von einem Thema zu nächsten, ohne eindeutige Unterteilungen vorzunehmen“, so ist darin vielleicht auch eine Selbstskizzierung enthalten. Abschweifend, assoziativ, mysteriös ihr Stil. Aber auch: Leichthändige, luftige Skizzen. Das alles sind diese drei Impressionen, dieses Trio kurzer Stücke über die Stadt, in der die amerikanische Schriftstellerin lange Jahre lebte. 1919 kam sie erstmals nach Paris - zuhause bereits eine anerkannte Journalistin, im Auftreten außergewöhnlich und extravagant. Sie blieb, trotz ihrer anfänglichen leichten Enttäuschung (oder enttäuschten Erwartungshaltung) bis 1940.

Paris, so möchte man meinen, war für die Bohémienne aus Greenwich Village, wie gemacht. Doch es ist durchaus nicht Liebe auf den ersten Blick. In „Vagaries Malicieuses“, dem ersten der im Taschenbuch versammelten Prosastücke, wird die Stadt an der Seine einem kritischen, ironisch-distanzierten Blick unterworfen:

„Ich antwortete ihm, der Blumenmarkt lasse mich vergleichsweise kalt. „Denn einmal“, sagte ich, „hatte ich einen Freund, dem ich Blumen schickte, und nun, da ich keine mehr schicken darf, gehören Blumen für mich zu den Dingen, über die ich besser nicht nachdenke“, und ich setzte hinzu, der Vogelmarkt löse in mir Empfindungen aus, denen ich nicht nachgeben könne. Ich hätte nämlich gern fünf zierliche Freundinnen, denen ich sie schicken könnte. Fünf kleine Mädchen, die mit geschlossenen Augen und geöffneten Händen in einer Reihe sitzen müssten, um fünf sich drängende Hänflinge in Empfang zu nehmen. (…)
Und was nun die Gemüsemärkt und Märkte angeht, wo Fisch und Leber und Hirne in Tümpeln ebenso kalten wie schönen Bluts liegen, über all diese Dinge mag ich überhaupt nicht nachdenken…“

Reisepass 1929

Leicht macht Djuna Barnes ihren Lesern den Zugang nicht. Abschweifende Gedanken, herumschweifende Sätze - erst nach und nach erschließt sich der Sinn, wird die Spöttelei in den maliziösen Launen, Einfällen (ihre Biographin Kyra Stromberg weißt im Nachwort des Buches darauf hin, dass Barnes auch aufgrund ihrer bleibend mangelhaften Beherrschung der französischen Sprache oftmals Mutter- und Gastsprache mischte wie in den „Vagaries Malicieuses“) zu einer versteckten Liebeserklärung an die Stadt Paris.

„Spötter behaupten, Djuna Barnes habe mit ihrem feingestochenen Stil, der bombastisch und theatralisch, aber auch kalt und messerscharf sein kann, keine Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und so weiter verfasst, sondern lauter erste Sätze. Wahr ist, dass viele ihrer Sätze so komplex sind, dass man ihre Bedeutung nicht beim ersten Lesen verstehen kann“, so Verena Auffermann in einem biographischen Aufsatz über die Barnes. Deren Pariser Jahre fallen in ihre größte Zeit - später wird sie, eine der bekanntesten „expatriates“, verarmt und vergessen in New York leben. Doch in den 20er Jahren ist sie Mitglied und Vorzeigefrau der amerikanischen Emigranten an der Seine.

Berenice Abbott - Portraits in Paris, 1920er Jahre. Quelle: http://blog.stylesight.com/vintage/berenice-abbott-at-paris-jeu-de-paume

„…in jenem wuseligen Paris, in dem James Joyce lebt, den Djuna Barnes verehrt wie niemanden sonst. Aber auch Ezra Pound, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald haben sich dort eingefunden. Sie haben alle ihre Rolle beim Aufbruch in die Moderne. Die Rolle der Frauen im Kreis der Intellektuellen und Künstler war weit mehr als die der Hebamme bei der Geburt des Modernism. 1922 verlegte Sylvia Beach, die in der Rue de l`Odéon ihre Buchhandlung betrieb, den Ulysses von James Joyce. Die Journalistin Janet Flanner schrieb ihre Letters from Paris, die im New Yorker erschienen. Berenice Abbott fotografierte das Pariser Leben, Gertrude Stein hielt Hof und arbeitete nachts an ihrer eigenen Moderne. Djuna Barnes war 1919 im Auftrag von „McCall`s Magazine nach Paris gekommen.“

Verena Auffermann über Djuna Barnes in „Leidenschaften - 99 Autorinnen der Weltliteratur“, btb Taschenbuch.

So war also Paris. Für Djuna Barnes aber - wie auch für die anderen der genannten Literaten, bis auf die Stein, die Joyce in herzlicher Abneigung verbunden war - war er das Epizentrum: Der Schöpfer des „Ulysses“. Eines der drei Prosastücke ist ausschließlich ihm gewidmet: „James Joyce“, ein Portrait, das 1922 wenige Wochen nach dem Erscheinen des Mammutwerkes in der „Vanity Fair“ erschien. Das erste Zusammentreffen, es wird geradezu mystifiziert:

„Und dann, eines Tages, kam ich nach Paris. Ich saß im Café Aux Deux Margots, das auf die kleine Kirche Saint-Germain-des-Prés hinausgeht, und sah, wie sich aus dem feuchten Nebel ein großer Mann löste, der, den Kopf leicht gehoben und abgewandt, dem Wind ein wohlgeordnetes Durcheinander von rotem und schwarzem Haar überließ, das sich an einem vorgereckten Kinn in einem schütteren Keil fortsetzte.“

James Joyce, gezeichnet von Djuna Barnes

Mit Worten Bilder schaffen, Szenen festhalten - das ist eine Qualität, die der amerikanische Journalismus hatte. Zumal sich Djuna Barnes sich auch nicht um journalistische - oder andere - Konventionen kümmerte, literarische Grenzen überschritt. das Portrait wird zu einer eindeutigen Ergebenheitserklärung:

„Man sagt ihm nach, er sehe gleichzeitig traurig und müde aus. Er sieht zwar traurig aus, und er sieht auch müde aus, doch ist das die Traurigkeit eines Mannes, der ein mittelalterliches Anrecht auf eine Betrübnis erwirkt hat, die ohne Zeit ist und ohne Ort; es ist die Müdigkeit eines Mannes, der sich aus freien Stücken der Schaffung einer Überfülle in der Beschränkung verschrieben hat.“

„Das ist ungefähr Joyce, und man fragt sich doch, ob Irland nicht endlich seinen Mann hervorgebracht hat.“

1941, schon in den USA, erinnert sich Djuna Barnes an ihr Paris, an ihrer Pariser Jahre. Ein wehmütiges „Klagelied auf das Linke Ufer“ entsteht. Erinnerungen an Menschen, Orte, vor allem aber an James Joyce:

„James Augustin Joyce (er war dank der geistigen Verwirrung eines Gemeindeschreibers in Rathgar Augusta getauft worden) wies einem Zeitalter den Ausgang.“

Durch den Tod, die Flucht vor den Nazis, durch einen Ozean getrennt von all jenen, die sie kannte und liebte, entfährt ihr in diesem Essay ein letzter Seufzer:

„Das Schreckliche ist ja nicht, dass all diese Dinge geschehen konnten, sondern, dass sie alle vorbei sind.“

Bertolt Brecht und der Film: Keine einfache Geschichte

Bertolt Brecht war zwar vom Medium Film fasziniert, hatte aber damit kein Glück. BB und der Film – das war weniger episches Theater, sondern ein Drama ohne Ende.

Dabei fing alles so gut an: Bereits 1923 arbeitet Brecht, damals 25 Jahre alt, mit dem Regisseur Erich Engel und mit Karl Valentin zusammen. Die „Mysterien eines Frisiersalons“ erinnern streckenweise an den Surrealismus im „andalusischen Hund“ von Luis Buñuel, sind aber auch komisch, humoristisch und ein wenig chaotisch. Der Film galt lange als verschollen, wurde jedoch in den 70erJahren wiederentdeckt und restauriert.

1930 machte sich Georg Wilhelm Pabst an die Verfilmung der Dreigroschenoper. Brecht, zunächst noch aktiv mit dabei, zerwirft sich mit Regisseur und Produktionsfirma, will den Film, auch vor dem Hintergrund des aufdämmernden Nationalsozialismus, mit eindeutigerem politischen Inhalt versehen. Die Streitigkeiten führen zum sogenannten Dreigroschenprozeß. Brecht schrieb unter dem Titel „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“ eine Analyse des Rechtsstreits, die er zusammen mit dem Filmexposé und dem Text der „Dreigroschenoper“ veröffentlichte.

1931 ist BB jedoch wieder bereit für das Medium Film – er arbeitet am Drehbuch von „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?“ mit. Der 1932 erschienene Streifen von Slatan Dudow ist benannt nach dem Zeltplatz Kuhle Wampe in Berlin am Müggelsee, einer der vielen Originalschauplätze, an denen gedreht wurde. Geschildert wird das Schicksal einer Arbeiterfamilie und eines jungen Pärchens, dessen Verbindung angesichts der ausweglosen Massenarbeitslosigkeit ohne Zukunft erscheint. Der Film hat – auch durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit „echten“ Arbeitslosen neben erfahrenen Schauspielern – streckenweise dokumentarischen Charakter, zeichnet ein realistisches Bild der Verelendung in der Weimarer Republik. Kuhle Wampe war der einzige eindeutig kommunistische Film dieser Zeit – bis hin zu Arbeitern, die das Lieder der „Solidarität“ singen – und wurde nicht nur unter großen Schwierigkeiten gedreht, sondern prompt auch von der Zensur verboten. Nach Protesten wird der Film mit einigen Änderungen freigegeben, Brecht macht dem Zensor das ironische Kompliment, dieser zumindest habe den Film wirklich verstanden - nicht als Darstellung eines individuellen Schicksals, sondern als offene Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen: „Der Inhalt und die Absicht des Films geht am besten aus der Aufführung der Gründe hervor, aus denen die Zensur ihn verboten hat.“

Dann die Zeit des Exils. Letztlich verschlägt es Brecht, wie viele andere Autoren, nach Hollywood. Wie andere ist er gezwungen, dort zu antichambrieren und arbeitet für den Broterwerb an Drehbüchern für die Traumfabrik mit. Seine Erfahrungen in dieser Zeit (siehe auch den Beitrag über Brecht im Exil) hat er in den bitteren Hollywood-Elegien verarbeitet:

1943 jedoch hat Brecht die Chance, an einem ambitionierten Filmprojekt mitzuwirken – unter der Regie von Fritz Lang, ebenfalls einem Exilanten, entsteht „Hangmen also die“ – „Auch Henker sterben“. Die beiden Künstler kannten und schätzten sich bereits in den Tagen der Berliner Zeit. Als Brechts Lage im schwedischen Exil angespannt wird, sorgte Lang, der in Hollywood schnell Fuß gefasst hatte und seine Karriere fortsetzen konnte, mit dem European Film Fund dafür, dass Brecht, Weigel, sowie die beiden Kinder und Ruth Berlau Visa für die USA bekamen, 1941 traf die Familie in Los Angeles ein.

Der Film „Auch Henker sterben“ erzählt bereits ein Jahr nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Prag 1942 eine spannende Geschichte aus dem tschechischen Widerstand und der Fahndung der Gestapo nach dem Attentäter. Doch schon während der Dreharbeiten kommt es zwischen Lang und Brecht zu Differenzen. Der cholerische Lang tobt gegenüber Brecht und dem ebenfalls linksgerichteten Co-Autoren John Wexley, er „scheiße auf Volksszenen“, er wolle ein Hollywoodpicture machen. Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung – Brecht sollte wesentlich weniger als Wexley erhalten -, Kürzungen im Skript, charakterliche Unverträglichkeiten taten ihr weiteres. Die Zusammenarbeit wurde zum Desaster und gipfelte in einer Anhörung vor der „Screen Writer`s Guild“, weil Wexley als der eigentliche Autor genannt werden wollte, Brecht jedoch nur unter ferner liefen aufgeführt wurde. Die Schiedsstelle entschied zugunsten des Amerikaners. Brecht legte danach die Arbeit am Film nieder, begegnete auch Fritz Lang nicht mehr.

Doch was übrig bleibt: Zum einen überstand auch diese Episode die Freundschaft zwischen Brecht und Hanns Eisler, der als Komponist auch an den früheren Filmen mitgearbeitet hatte. Und vor allem: „Hangmen also die“ ist, wenn auch viele der Ideen und Vorstellungen Brechts nicht verwirklicht werden konnten, eines der wichtigsten Filmwerke geworden, das noch während des Nationalsozialismus eindeutig Stellung gegenüber der deutschen Tyrannei bezog.

Lang setzte dem verlorenen Freund BB später noch ein cineastisches Andenken, so der Filmwissenschaftler Peter Ellenbruch:

„Im Gegensatz zu Brecht, der ein Gegner Langs geblieben sein soll, hat sich Lang immer wieder positiv zu Brecht geäußert, ihn als einen wichtigen Autor geschätzt und sich von seinem Werk inspirieren lassen. So baute er 1963 eine Brecht-Hommage in LES MEPRIS von Jean-Luc Godard ein – in welchem er sich selbst spielte – und die Buchstaben „BB“ stehen innerhalb des Films plötzlich nicht mehr für die Hauptdarstellerin Brigitte Bardot, sondern einen Moment lang für Bert Brecht.“

Zum Weiterlesen: Bert Brecht und der Film bei der Defa-Stiftung.

 

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1929).

Bild: Rose Böttcher
Bild: Rose Böttcher

„Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind.“

Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“.

2014 liegt der Beginn des 1. Weltkrieges, der vielfach auch als „Urkatastrophe“ bezeichnet wird, genau 100 Jahre zurück. Dieses Gedenkjahr lässt erneut auf ein Buch zurückgreifen, das als das „Anti-Kriegsbuch“ der deutschen Literatur bezeichnet wird. Über 20 Millionen Mal seit seinem Erscheinen 1929 verkauft, in über 50 Sprachen übersetzt: Ein Weltbestseller.

Ein Buch und seine Geschichte:

Erich Paul Remark, so der eigentliche Name des Schriftstellers, wird 1898 in Osnabrück geboren. Der musisch begabte junge Mann träumt eigentlich davon, Komponist zu werden. Dem voran steht jedoch die Schullaufbahn – überall Klassenbester scheint die Aufnahme in das Lehrerseminar perfekt zu werden. Aus dieser gewöhnlichen Jugend wird Erich Maria Remarque jedoch wie so viele andere seines Jahrgangs gerissen: Noch als Schüler wird er 1916 eingezogen und kommt nach einer kurzen Ausbildung nach Flandern an die Front. Die traumatischen Kriegserlebnisse verarbeitet er später in seinem Buch.

Remarque überlebt das Inferno, arbeitet nach dem Krieg kurz als Lehrer, entscheidet sich dann aber gegen den ungeliebten Beruf und für eine Laufbahn als Schriftsteller. Die ersten Versuche zeitigen wenig Erfolg – um sich über Wasser zu halten, schlägt er sich als Vertreter für Grabsteine und als Organist durch. 1925 kommt Remarque schließlich nach Berlin, hier genießt er die „Goldenen Zwanziger“, soweit es die Mittel erlauben, in vollen Zügen.

Tagsüber Redakteur bei einer Sportzeitschrift, bleibt ihm die Zeit, um weiter literarisch zu arbeiten. Mit „Im Westen nichts Neues“, das er 1928 fertiggestellt hat, ist auch eine der größten Fehlentscheidungen der deutschen Verlagsgesichte verbunden: Der Fischer Verlag lehnt das Manuskript ab, auch beim Ullstein Verlag, wo es dann erscheint, hat man zunächst Zweifel: Die Menschen, so meinte man, haben genug vom Krieg, die Masse an Kriegsliteratur nach 1918 habe den Markt erschöpft. Eine Dekade später wolle das niemand mehr lesen.

Doch schon die Reaktionen auf ein Vorabdruck in der Vossischen Zeitung zeigen: Das Buch wird ein ungeahnter großer Erfolg werden. Innerhalb weniger Wochen wird es zum  Bestseller, 1930 in Hollywood verfilmt – Carl Laemmle, der Schwabe, der Universal Pictures gründete (auch über ihn ist bei Sätze&Schätze ein Portrait zu finden) produziert den Film, der heute ebenfalls im Rang eines Klassikers ist und damals zum Kassenerfolg wurde.

In der Heimat von Erich Maria Remarque beginnen zu dieser Zeit bereits die Folgen der „Urkatastrophe“ ihre Wirkung zu zeigen – die Weimarer Republik, von Beginn an gebeutelt, geht der nächsten, noch größeren Katastrophe entgegen. Bereits bei der Uraufführung des Hollywood-Films in Deutschland kommt es zu Krawallen nationalsozialistischer Störtruppen, angeführt von Goebbels. Gegen den Autoren wird gehetzt. 1932 kehrt Remarque Deutschland den Rücken, zunächst geht er in die Schweiz, dann in die USA, die deutsche Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt. Anders als andere Vertriebene kann der Schriftsteller dort von seinen Honoraren und Einkünften – unter anderem arbeitet er auch an Drehbüchern mit, verfasst weitere Romane, die zwar Verkaufserfolge werden, jedoch nicht mehr an „Im Westen nichts Neues“ heranreichen – komfortabel leben. Er verkehrt mit Hollywood-Größen, hat eine Beziehung zu Marlene Dietrich, heiratet schließlich die Schauspielerin Paulette Godard. In die Schweiz kehrt er immer wieder zurück – dort stirbt er 1970.

Deutschland kehrte er jedoch den Rücken, auch auf die deutsche Staatsbürgerschaft – die ihm zudem auch nicht wieder angeboten wurde – legte er keinen Wert mehr. Denn, da der Verfasser des bekanntesten Antikriegsromans für die Nationalsozialisten nicht mehr fassbar war, so hielten sie sich an seiner in Deutschland verbliebenen Familie schadlos: Seine Schwester Elfriede wurde am 29. Oktober 1943 zum Tode verurteilt, nachdem sie die Damenschneiderin von einer Kundin wegen angeblich kritischer Äußerungen denunziert worden war. Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes, äußerte dazu: “Ihr Bruder ist uns ja entkommen, sie nicht.”

Was hebt nun „Im Westen nichts Neues“ heraus aus den Romanen dieser Jahre? Was macht dieses Buch zu einer Besonderheit, das einerseits Millionen von Menschen so wichtig wurde, andererseits den Hass einer Verbrecherclique heraufbeschwor?

„Ich war außerordentlich überrascht über die politische Wirkung. Ich habe etwas Derartiges gar nicht erwartet“, sagte Remarque später in einem Interview, „mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode gegenüberstellt.“ So wie der junge Paul Bäumer, aus dessen Perspektive die Kriegsteilnahme erzählt wird, fühlten sich Hunderttausende Soldaten um ihr Leben betrogen – und dies betraf nicht nur deutsche Soldaten, was den weltweiten Erfolg des Buches erklärt. Die schlichte Ich-Erzählung zieht mit ihrer simplen, fast schon reduzierten Sprache den Leser in ihren Bann – man meint, die Enge der Schützengräben, den Schmutz, den Lärm, den Geruch fast mitzuerleben. Die beinahe lakonische Schilderung des Frontgeschehens wird durchbrochen durch fast schon poetische Reflektionen, kleine Fluchten, die sich Paul alias Erich Maria gedanklich erlaubt.

Letztendlich sind es Passagen wie diese, die einmal gelesen, nicht zu vergessen sind:

„Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen von Hunderttausenden existieren.“

Das Tragische daran ist: Als Remarque dies schrieb, konnte noch nicht einmal geahnt werden, wie wenig die Kultur erst recht wenige Jahre später der Gewalt und der Ermordung von Millionen entgegenzusetzen hatte.

Nachtrag:
Eine informative, ausführliche und wohlformulierte Besprechung von “Im Westen nichts Neues” findet man beim Blog “aus.gelesen”.

Paradise lost. Enemy alien. Brecht und das Exil.

“… ein Flüchtling, der schon zahllose Bahnhöfe verlassen hat, zu schüchtern für einen Weltmann, zu erfahren für einen Gelehrten, zu wissend, um nicht ängstlich zu sein, ein Staatenloser, ein Mann mit befristeten Aufenthalten, ein Passant unserer Zeit, ein Mann namens Brecht…”
Max Frisch begegnete Bertolt Brecht erstmals 1947. Spürbar beeindruckt schreibt der junge Schweizer über den Rückkehrer in sein Tagebuch. Brecht hatte wenige Wochen vorher mit geradezu Schweijkscher List den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe in einem mehr als dreistündigem Verhör Schachmatt gesetzt. Die amerikanischen Behörden erschwerten zunächst seine Ausreise, dann, in der Schweiz, verweigerten sie ihm die Einreise nach West-Deutschland. Mit Hilfe von Egon Erwin Kisch kam Brecht schließlich nach Ost-Berlin. Mit offenen Armen hätte man den Exilanten im Westen zudem kaum empfangen. Viele, die zurückkamen aus dem Exil, wurden auch nach der Rückkunft wieder das, was sie im Exil gewesen waren: Misstrauisch beäugte Fremde.

Auf der Flucht werden nicht nur die Wurzeln gekappt. Es wird die Heimat genommen. Die Sprache. Vaterland und Muttersprache, heißt es.

“Was nützt einem Fremden Erkenntnis, wenn ihm die Sprache fehlt? Das ist die eigentliche Tragik des Fremden, die nicht nur Jean Améry, sondern eine ganze Generation von Emigranten, die der Nationalsozialismus vertrieben hat, immer wieder ansprach. Vor allem jene, deren Beruf die Sprache war, sahen es deutlich: Die fremde Sprache, gleichgültig, wie gut sie sie beherrschten, blieb eine Prothese, etwas Abgeleitetes, Sekundäres. Für viele Emigranten bleibt der Ursprung ihrer Sprache dort, wo Jean Améry Heimat ortet, im unbewußten Spracherwerb der frühen Kindheit.“

So schreibt es Anna Mitgutsch in „Die Gesichter des Fremden“. Dieser Essay ist enthalten in dem Buch „Die Welt, die Rätsel bleibt”. Einen Link zur Buchbesprechung gibt es hier:
http://saetzeundschaetze.com/2013/12/16/anna-mitgutsch-die-welt-die-ratsel-bleibt/.

Das Exil: Neue Kleider, die nicht passen.
Fast immer verliert der Flüchtling auch den Anspruch auf Würde. “Sozialtourismus”. Als sei die Flucht vor Armut, Elend, Hunger, Gewalt oder Krieg sein persönliches Versagen. In der Zufluchtsstätte, sei sie nun Provisorium und Übergang (“Schlage keinen Nagel in die Wand. Wirf den Rock auf den Stuhl!” ermahnt Brecht sich selbst) oder tatsächlich Ziel aller Hoffnungen, ist man zunächst sprachlos, beziehungslos, und eben alles andere als willkommen.

Über die Bezeichnung Emigranten
Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
Das heißt doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.
Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
ist noch nicht gesprochen.

Bertolt Brecht, 1937, Svendborger Gedichte.

Zunächst muss Brecht, der Deutschland unmittelbar nach dem Brand des Reichtags 1933 verließ, die Hoffnung auf eine Rückkehr vertagen. Fast 16 Jahre dauert sein Exil, Stationen sind unter anderem Prag, Wien, Dänemark, Schweden, Finnland, zuletzt die USA. Dort landet er in Santa Monica, arbeitet auch für Hollywood, der Lebensstil bleibt ihm fremd, erscheint ihm abstoßend:

“Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen,
Fahre ich zum Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mein ein unter die Verkäufer.”

Bertolt Brecht, 1942, “Hollywood”.

Die hoffnungsvolle Einreihung, eine sarkastische Anmerkung. Brecht weiß: Es wird nicht jeder so aufgenommen wie der großbürgerliche Schriftsteller, der Großschriftsteller, der die Flucht denn doch recht komfortabel unternimmt, begleitet vom gewohnten, unverzichtbaren Mahagoni-Schreibtisch. Materiell geht es Brecht so schlecht nicht. Aber er hat nicht die Bekenntnisse eines Unpolitischen im Gepäck. Auch auf der Flucht begleitet von seinen Überzeugungen, die ihn zum “enemy alien” machen. Jahrelang wird er abgehört und bespitzelt in den USA. Der Fremde, und kommt er noch so unauffällig daher, bleibt verdächtig - das ist das Wesen der Xenophobie. Erwartet wird vom Flüchtling, damals wie heute, eines: Passe dich an.

Was Brecht vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe äußert, ist keine Anpassung. Tatsächlich war er niemals Mitglied einer kommunistischen Partei. Seine vorsichtige Redeweise, seine abgewogenen Sätze sind Ausdruck eines listigen Widerstandes:  “Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!” Die Wahl wäre gewesen: Aussageverweigerung, Haft und oder Ausweisung wie es Hanns Eisler geschah, oder das Auftreten als “freundlicher Zeuge”, Verrat und Denunziation von Weggefährten. Brecht meisterte diese Situation anders. Er habe, so ein Zeuge der Anhörung, sich verhalten wie ein “Zoologe unter Affen”.

Noch einmal Anna Mitgutsch:
„Der Assimilationsdruck, dem sich jeder Einwanderer ausgesetzt sieht, wertet alles, was im unangepaßten Zustand verharren möchte, als unbrauchbar ab. Und damit wird auch alles, was den Fremden ausmacht, seine ganze transportable Heimat aus Traditionen, Sprache, Denk- und Wahrnehmungsmustern von der gedankenlosen Unwissenheit der Eingesessenen als überflüssig und minderwertig beiseite geschoben. Ihre Zustimmung gilt jenen, die alles, was ihre Identität bisher ausgemacht hat, möglichst schnell überwinden.“

Vierzig Jahre nach dem Brecht-Verhör erlebt eine andere Schriftstellerin, was es heißt, ein enemy alien zu sein.

Herta Müller schreibt über ihre Ausreise aus Rumänien 1987:
„In Nürnberg kamen wir ins Übergangsheim >Langwasser<. Und prompt fand eine Verwandlung statt: Am Vortag in Österreich noch Dissidentin, galt ich jetzt in Nürnberg als Agentin. Der BND und der Verfassungsschutz verhörten mich mehrere Tage lang. Schon das erste Gespräch war surreal.
Der Beamte fragt: Hatten Sie mit dem dortigen Geheimdienst zu tun?
Ich sage: Er mit mir, das ist ein Unterschied.
Der Beamte: Lassen Sie die Unterscheidung mal meine Sache sein, dafür werde ich bezahlt.
Quelle: Herta Müller, „Herzwort und Kopfwort. Erinnerungen an das Exil“. Vollständig zu lesen hier: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-90638332.html

Viele derer, die ihr Heil in der Flucht suchen mussten, sind heute vergessen. Die Nationalsozialisten haben ganze Arbeit geleistet: Vertrieben, die Werke verbrannt, jede Erinnerung gelöscht. Herta Müller schreibt davon, es müsse ein Exil-Museum geben. Ein virtueller Platz für Künstler im Exil ist seit einigen Monaten im Aufbau und nimmt stetig zu: http://kuenste-im-exil.de/KIE/Web/DE/Home/home.html

Die Vereinten Nationen berichten:
Derzeit befinden sich weltweit fast 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht. 15,4 Millionen von ihnen gelten nach völkerrechtlicher Definition als Flüchtlinge. Vier von fünf Flüchtlingen (80 Prozent) leben in Entwicklungsländern, da die meisten Flüchtlinge lediglich in ein angrenzendes Nachbarland fliehen. Den weit größeren Teil – 28,8 Millionen – bilden jedoch sogenannte Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons – IDP). Sie fliehen innerhalb ihres eigenen Landes, ohne dabei internationale Landesgrenzen zu überschreiten. Auch wenn Binnenvertriebene - anders als Flüchtlinge - nicht durch internationale Abkommen geschützt sind und das Mandat von UNHCR offiziell nicht für diese Personengruppe gilt, kümmert sich UNHCR dennoch seit vielen Jahren um die Bedürfnisse von Binnenvertriebenen. Denn oftmals befinden sie sich in sehr ähnlichen Situationen wie Flüchtlinge und haben einen ähnlichen Hilfsbedarf. Momentan unterstützt UNHCR 17,7 Millionen Binnenvertriebene. Insgesamt kümmert sich UNHCR um 35,8 Millionen Menschen. Dazu zählen Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge, Asylbewerber, Rückkehrer und Staatenlose.

Die wenigsten dieser Menschen sind Schriftsteller oder Journalisten. Letztere können zumindest formulieren, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Sie sind die Stimmen für die Massen, die im Migrantenstrom stumm untergehen.
Der Gedanke, dass äußere Umstände einem den Boden unter den Füßen wegziehen können, macht bodenlos schwer. Deswegen zum Abschluß eine kleine Volte hin zu einem leichteren Empfinden der Fremdheit, die Begegnung mit einem legal alien:

Bertolt Brecht - Zufluchtsstätte. Atemholen vor kälteren Zeiten

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Ein Augenaufmerker am Wegesrand: In der Brechtstadt Augsburg ist man schon gerüstet. Es kommen, frei nach Ingeborg Bachmann, vielleicht doch noch kältere Tage. Vorsorge ist alles – ob in der Heimat oder auf dem Weg.

Zufluchtsstätte

Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind
Wird das Stroh nicht wegtragen.
Im Hof für die Schaukel der Kinder sind
Pfähle eingeschlagen.

Die Post kommt zweimal hin
Wo die Briefe willkommen wären.
Den Sund herunter kommen die Fähren.
Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn.

Bertolt Brecht (1937)

Brecht hält sich zu der Zeit, als das Gedicht entstand, tatsächlich an einer Zufluchtsstätte auf – im Exil, geflohen vor den Nationalsozialisten. Er ist mit Helene Weigel und anderen in Dänemark, an einem eigentlich idyllischen Ort, der Insel Fünen.

Der neue Ort zwischen Heimat und Provisorium: Für die Kinder muss gesorgt sein. Gegen die Stürme, auch gegen die politischen, muss man sich wappnen. Wetterfest machen. Aber doch bleibt man in Bereitschaft, auf dem Sprung. Denn die Deutschen rücken näher. Vier Himmelsrichtungen, vier Türen stehen offen zur weiteren Flucht. Vorsorge ist alles.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (4): Ilana Shmueli (1924-2011)

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Tollen im Neuschnee

blendendes Weiß wie nie wieder
und wie’s frostig im Kindermund schmilzt

Flieder von damals
der Duft verborgener Veilchen
Gras frisch gemäht
glühende Sonne
träumen im Nussbaum
kleine grün-braune Finger
auf rauer Rinde

all das – darf man es nennen

es zieht

es zieht
die Hand meiner Schwester
die so früh wieder losließ

Ilana Shmueli (1924-2011)
Zwei Frauen, ein Ausgangspunkt: Wie Selma Meerbaum-Eisinger ist auch Ilana Shmueli in Czernowitz geboten, beide 1924. Wie Selma, die 18jährig in einem Arbeitslager starb, kommt Ilana aus einer jüdischen Familie, wächst in dieser rumänischen Stadt auf, denkt, spricht und wächst jedoch in einer deutsch-österreichischen Umfeld heran. Man kann davon ausgehen, dass die beiden sich kannten. Doch während die eine, Selma, früh dichtete und früh starb, kann sich Ilana Shmueli zwar retten, findet aber erst spät zu einer eigenen Sprache: Einer Lyrik, die von anderen Verlusten geprägt ist - dem Verlust einer unbeschwerten Jugend, dem Verlust der Heimat, dem Verlust der Wurzeln, dem Verlust der Heimatsprache. „Ich bin in keiner Sprache wirklich ganz zu Hause“, äußert sie einmal. „Ich begann hebräische Gedichte zu schreiben. Später kam ich wieder aufs Deutsche zurück.“

“In spärlicher Wortlandschaft” - so beginnt eines ihrer Gedichte, die auf http://www.lyrikline.org nachgelesen und angehört werden können: http://www.lyrikline.org/de/gedichte/spaerlicher-wortlandschaft-6545#.UrlB97QSOe4

Bildcollage: Paul Celan und Ilana Shmueli
Bildcollage: Paul Celan und Ilana Shmueli

Dass die gebürtige Liane Schindler, aus der später Ilana Shmueli wird, doch noch zu dieser Sprache findet, das hat auch mit einer Begegnung zu tun: 1965 trifft sie in Paris Paul Celan wieder, inzwischen schon ein berühmter Dichter, für sie ein Jugendfreund, der wie sie in Czernowitz aufgewachsen ist. Die Querverbindungen sind vielfach - Paul Celan ist wiederum mit Selma Meerbaum-Eisinger verwandt, nicht verschwiegen werden darf Rose Ausländer, die ebenfalls aus der Bukowina kam. Als die Deutschen 1941 Czernowitz besetzen, finden sich diese jungen Menschen im Ghetto zusammen - Gedichte und Musik bilden die Gegenwelt zur grausamen Realität. Sie erleben mit, wie andere deportiert und in die Zwangsarbeit verschleppt werden, sie erleiden täglich Demütigungen, Verfolgung und Brutalität. Das sich gegenseitige Aufrichten durch Kultur, die Flucht vor der Realität in Gedichte - diese Stimmung nimmt Ilana Shmueli in das Exil mit, bewahrt sie ein Leben lang auf, bis die Sprache sich wieder Bahn bricht. Ihre Gedichte sind daher auch Ausdruck der Exilerfahrung, der Zerrissenheit zwischen zwei Welten, das Reflektieren auf eine unwiederbringliche Vergangenheit. Anrührend des Gedicht “Neige dich zu deinen Toten”, das auch die Schuldgefühle der Überlebenden, die Zweifel artikuliert: Ich hab Leben gewählt/mit dem ganzen Ballast.

Ilana Shmueli gelingt mit ihren Eltern 1944 die Flucht nach Palästina. Hier baut sie sich ein neues Leben auf, studiert Musikerziehung und Sozialpädagogik, heiratet den Musikwissenschaftler Herzl Shmueli, arbeitet als Sozialpädagogin in Tel Aviv. Nach außen hin erscheint dies wie ein Leben, das nach einem Bruch seinen erneuten Lauf nimmt. Doch dann die Wiederbegegnung mit Paul Celan 1965 in Paris, 1969 besucht er sie in Israel, es ist seine einzige Reise dorthin. Auch für Celan wird dieser Besuch zu einer Art Heimat- und Sprachsuche, er erlebt, wie seine ureigene deutsche Dichtersprache ihn zum Außenseiter macht - während Ilana Shmueli dabei ist, ihre Muttersprache zu verlieren. Die Exilerfahrung an unterschiedlichen Orten und die gemeinsame Verortung in Czernowitz verbindet sie - Ilana Shmueli wird Paul Celans letzte große Liebesbeziehung.

Für sie führt diese Lebens- und Liebeserfahrung jedoch auch sprachlich wieder in die Heimat zurück: Sie übersetzt später Paul Celans Gedichte in das Hebräische und beginnt dadurch, selber zu schreiben. Fast schon wortkarg anmutende Gedichte, die um diese Themenlandschaften des Exils, des Verlustes, der Konfrontation mit dem Tod, des Entkommens, der Flucht, des Weiterlebens, das Glück und Bürde zugleich ist, kreisen.

Im Jahr 2000 erscheint ihr Buch über Paul Celan „Sag, dass Jerusalem ist“. Der bewegende Briefwechsel, der bis zum Freitod des Dichters 1970 andauert, wird 2004 beim Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Ilana Shmueli arbeitet daran als Herausgeberin mit. In der Zwischenzeit sind erste Gedichte von ihr erschienen,  weitere Veröffentlichungen folgen, verlegt werden ihre Werke beim Rimbaud Verlag.

2009 erhält Ilana Shmueli den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. In der Begründung heißt es: “Spät und tief sind die Gedichte Ilana Shmuelis auf uns gekommen, wie aus einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Ortlosigkeit und
Wortlosigkeit, die Erfahrung, unbeheimatet und sprachlos zu sein, ist eine der Wurzeln, aus denen ihre Dichtung hervorwächst. Und dennoch verbinden sich ihre Verse in äußerster Verknappung des Ausdrucks mit einem reichen Strom von Vorstellungen. Es ist eine große Lebendigkeit, die hier von sich zeugt, die gegen Enge, Kälte, Vorurteil anrennt. Shmuelis Dichtung ist “Zwischenruf, Einspruch, Widerwort, Aufschrei” (Matthias Fallenstein). Sie bezieht sich vielfältig auf die Poesie des Freundes Paul Celan und widersetzt sich ihr zugleich. In ihren Erinnerungen an eine Jugend im Czernowitz der Zwischenkriegszeit und ihrem Briefwechsel mit Celan öffnet Shmueli zugleich den Blick auf den bedeutenden kulturellen Hintergrund ihres Schreibens im Exil.”

Sie stirbt am 11. November 2011 in Jerusalem. Reden von Toten:/der Wortbruch am Unmitteilbaren/mit unkluger Zunge

Weitere Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger - Blütenlese

Mascha Kaléko - Sozusagen grundlos vergnügt

Sozusagen grundlos vergnügt

Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen
Und daß es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.

Mehr über die Lyrikerin findet sich hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/16/mascha-kaleko-ein-herbst-leben/

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (1): Mascha Kaléko (1907-1975)

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Bild: Iris Jahnke

Herbstabend (Auszug)

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept (Auszug)

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

(…)
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

Bild

Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html

Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/

Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/