Und wie geht es dem Fisch heute?

Manchmal versagt die Sprache. Man findet nicht die richtigen Worte. Oder nur die falschen. Ist sprachlos und stumm wie ein Fisch. Jedes Wort ein Tonnengewicht. Dann könnte dieses Buch, hätte man es bei sich, hilfreich sein. Man würde einfach die entsprechende Seite aufschlagen. Nicht viel Worte machen, sondern nur eine seiner Seiten zeigen.

"Heute bin ich": Zufrieden.

Alles klar. Der Fisch ist zufrieden, seine Schweigsamkeit kein bedenkliches Signal. Soll er in Ruhe weiterdümpeln dürfen. Vorsicht ist geboten, wenn diese Seite aufgeschlagen wird:

Besser, man lässt den kleinen Piranha in Ruhe. Soll er vor sich hinbrüten. Oder toben. Es kommen wieder bessere Tage. “Heute bin ich” ist ein Buch der niederländischen Kinderbuchillustratorin Mies van Hout. Ich habe es bei einer Freundin entdeckt, die im therapeutischen Bereich unter anderem mit Kindern arbeitet. Dort kommt es zum Einsatz, wo die kindliche Sprache (noch) nicht benennen und ausdrücken kann, was ist. Jeder Fisch ein akuter Gefühlszustand.

Das Buch ist nicht nur was für Kinder. Wortlosigkeit packt auch Erwachsene, vor allem, wenn es um die großen Themen geht: Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Eifersucht, Sorgen und wer jetzt endlich mal den Abwasch macht. Die Bilder sind charmant - leuchtende, farbenfrohe Fische knallen auf schwarzem Hintergrund so richtig hervor. Ein wenig abgekupfert ist das freilich - aber manchmal ist auch eine gute Imitation schön.

Paul Klee, Der Goldfisch.

Irgendwo habe ich über das Buch gelesen, Mies van Hout habe wahrscheinlich Fische zum Objekt gemacht, weil diese für ihre starre Mimik und somit das Unvermögen, Gefühle auszudrücken, bekannt seien. Eine glatte Fehlinterpretation, meine ich.
Mies van Hout wird die Fischgeborenen kennen. Anfällig für jede Gefühligkeit.
Es fehlen im Buch eigentlich nur zwei Seiten: Himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt.

Die besten Tage sind jedoch, wenn sich diese Fische-Seite zeigt:

“Heute bin ich”: Vergnügt. Wie ein Fisch im Wasser.

Mies van Hout, “Heute bin ich”, aracari Verlag, 2012. Gebunden, 48 Seiten. 13,90€. ISBN 978-3905945300

A. F. Th. van der Heijden: “Tonio – Ein Requiemroman”. Vom Verlust eines Kindes.

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Am frühen Morgen des 23. Mai 2010, am Pfingstsonntag, wird Tonio, der einzige Sohn des niederländischen Schriftstellers A.F.Th. van der Heijden und seiner Frau Mirjam, auf seinem Fahrrad von einem Auto erfasst. Der 21-Jährige ist in Amsterdam auf dem Heimweg von einer Party. Als die Eltern wenige Stunden später in der Klinik eintreffen, befindet sich der Sohn “in kritischem Zustand”; die Ärzte ringen noch einen halben Tag vergeblich um sein Leben.

Genau ein Jahr später veröffentlicht van der Heijden das Buch “Tonio”. Er selbst nennt es einen “Requiemroman”, es ist eine Mischung aus Totenklage, Erinnerung, Reflexion und autobiografischem Trauerprotokoll.

Heute, am fünfzehnten Juni 2010, wäre Tonio zweiundzwanzig geworden. Er ist nun sogar seines Geburtstags beraubt. Wir können vom fünfzehnten Juni jetzt nur noch von dem Tag seiner Geburt sprechen und dessen alljährlich gedenken. Merkwürdige Vorstellung, daß dieses Datum, der fünfzehnte Juni 1988, immer weiter in die Vergangenheit taumeln wird, an einen Tonio gekoppelt, der nicht mehr älter werden wird. Sein Leben ist am dreiundzwanzigsten Mai 2010 erstarrt. Sogar in seinem Todesdatum, das künftig treu mit dem Kalender mitreisen wird, steckt mehr Leben als in Tonio selbst. Er ist so endgültig in seinem Tod versteinert, daß wir uns keine Vorstellung von seiner Entwicklung nach dem Pfingstsonntag 2010 machen können.

A.F.Th. van der Heijdens Buch “Tonio” ist keine leichte Kost. Der Autor  hat sich seinen Kummer  von der Seele geschrieben und  damit weder sich noch den Leser geschont. Er hat Worte für etwas gefunden, für das es  keine Sprache  zu geben scheint. In hochpoetischen Bildern schildert er die Seelenzustände trauernder  Eltern. In ähnlich eindruckvoller Weise hat bereits die Schriftstellerin Joan Didion  in ihrem Buch “Das Jahr magischen Denkens” den Verlust eines ihr nahestehenden Menschen literarisch verarbeitet.

Am Morgen des 15. Juni 1988 hatte ich gesehen, wie er, unterstützt von den behandschuhten Händen einer Gynäkologin, aus seiner Mutter herauskam. Er riß ihren Damm auf, um sich den Weg hinaus zur Welt zu bahnen.  Knapp zweiundzwanzig Jahre später war ich Zeuge, wie er wieder in seiner Mutter verschwand – nicht in Gestalt eines Toten, sondern in Form einer dunklen Trauerwolke, die sich ihrer unauflöslich bemächtigte.

Akribisch bemüht sich van der Heijden, die letzten Stunden und Minuten im Leben seines Sohnes zu rekonstruieren. Selbst die Betrachtung und Kommentierung jeder einzelnen Bildsequenz einer zufällig mitlaufenden Überwachungskamera, die den Unfall aufgezeichnet hat, erspart er sich und dem Leser  nicht. Schon in seinem Romanzyklus “Die zahnlose Zeit” versteht es van der Heijden meisterhaft mittels einer Schreibtechnik die mehr auf die die Breite als auf die Tiefe abzielt, den Augenblick fast endlos zu dehnen. Hier habe ich den Verdacht, als wolle er durch seine Beschreibungswut seinen Sohn so lange es geht, noch am Leben erhalten und damit den unumkehrbaren Zustand des Todes hinauszögern. Durch Befragungen in Tonio’s  Freundeskreis kommt er einem Geheimnis auf die Spur, das diesen Tod in einem umso tragischeren Licht erscheinen läßt.

Van der Heijden  beschönigt nichts und läßt uns teilhaben an seinen Alkohol-Exzessen, mittels denen er seinen Schmerz zu betäuben sucht. Seine Gedanken kreisen immer wieder um Begriffe wie Schuld, Verantwortung und Zufall. Herzzereißend und von großer Intensität sind auch die Beschreibungen seiner inneren Gemütszustände, die ihn in seiner Verzweiflung manchmal sogar bis hin zu suizidalen Absichten treiben.

Wir wehren uns gegen den eigenen Untergang und machen uns weis, Tonio hätte uns durch seinen Tod niemals in seine Vernichtung mitreißen wollen, doch vielleicht gehen wir, ob wir uns wehren oder nicht, ganz selbstverständlich trotzdem daran zugrunde.

 Mit Selbsthilfemaßnahmen bekommen wir Tonio nicht zurück und mit unserem Untergang genausowenig. Für einen lebenden Tonio lohnte es sich, mit aller Kraft zu überleben. Gerade weil wir ihn so springlebendig erlebt haben, ist es verführerisch, an einem gestorbenen Tonio zu zerbrechen.

 An Tonios Vernichtung zugrunde zu gehen: Das bleibt in seiner ganzen verzweifelten Bitterkeit ein verlockender Gedanke. Im nächsten Augenblick wehre ich mich dagegen. Dieses eine, unersetzliche Leben muß zu Ende gelebt werden.

Man gewinnt den Eindruck, van der Heijden hat “Tonio” weniger für den Leser als vielmehr für sich selbst zur Überlebenshilfe geschrieben. Mit eingestreuten Rückblenden auf das kurze Leben seines Sohnes hat er ihn dem Vergessen entrissen, wird er in unserer Vorstellung für den Augenblick der Lektüre wieder lebendig  und hat ihm somit ein ewiges Andenken  bewahrt. Damit ist es aber auch zu einem Trost- und Trauerbuch für alle geworden, die einen lieben, nahestehenden Menschen verloren haben.

Tonio

Das Titelfoto der niederländischen Ausgabe (siehe Abbildung) zeigt das Bild seines Sohnes im Alter von 17 Jahren, auf dem er für einen Fotowettbewerb die Pose Oscar Wildes einnimmt. Schade, daß der deutsche Verleger einem neutralen Coverbild den Vorzug gegeben hat.

Mirjams Ermunterung, mein Elend herauszuschreien, hat offenbar etwas in mir gelöst. Heute morgen kam im Radio das alte Lied “My son, my son”  von Vera Lynn. Es beginnt mit einem ziemlich altbackenen klingenden Männerchor, aber dann ist auf einmal die Stimme von Vera Lynn da mit diesem anschwellenden Schluchzer. Der Song traf mich wie ein Hieb in den Magen und erlöste mich von einem Krampf irgendwo zwischen Kopf und Herz. Jetzt brach unter heftigem Schluchzen alle Nässe aus mir heraus, bis hin zu unaufhaltsam laufendem farblosen Rotz.

My son, my son von Vera Lynn:

My son, my son you’re everything to me
My son, my son you’re all I hoped you’d be
My son, my son my only pride and joy
God bless and keep you safe
My own, my precious boy

For all the care and heartache
Life has brought to me
One precious gift has made it all worthwhile
For heaven blessed and with great joy rewarded me
For I can look and see my own beloved son

My son, my son just do the best you can
Then in my heart I’m sure
You’ll face life like a man

My pride and joy
My life, my boy
My son, my son

Die  Aufnahme aus dem Jahre 1954 kann man sich bei youtube  anhören: http://www.youtube.com/watch?v=8BTeKk36-Ys

Nachtrag:
Während der Lektüre an diesem Buch erreicht mich die folgende  Nachricht eines lokalen Fernsehsenders: “Ein 17-jähriger Jugendlicher, der bei einem Autounfall in Maasbracht schwer verwundet wurde, ist seinen Verletzungen am Mittwochabend erlegen. Der Radfahrer wurde in der Nacht von Montag auf Dienstag von einem Taxifahrer angefahren und in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert.”  Welche Dublizität der Ereignisse, nur daß sich das Drama dieses Mal nicht in literarisierter Form in meinem Kopf abspielt, sondern  “in Echtzeit” beinahe vor meiner Haustür.

A.F.Th. van der Heijden, “Tonio – Ein Requiemroman”, Suhrkamp, 670 Seiten

Adri van der Heijden ist wohl der sprachmächtigste Dichter, den die Niederlande augenblicklich besitzen. Mit seinem 7 Bände umfassenden Zyklus “Die zahnlose Zeit” gilt er als ein Chronist der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Niederlanden. Das Werk A. F. Th. van der Heijdens wurde vielfach ausgezeichnet.

Trio (6): Literarisches Menü mit Truman Capote, Herman Koch und Birgit Vanderbeke

“Expressing a human need, I always wanted to write a book that ended with the word Mayonnaise.”
Richard Brautigan

Beginnen wir mit einem leichten Gang, einem Appetithäppchen:

Rusty Trawler kam mit einem Martini; er gab ihn mir, ohne mich anzusehen. „Ich habe Hunger“, verkündete er, und seine Stimme, zurückgeblieben wie alles Übrige an ihm, klang wie das nervtötende Greinen eines kleinen Bengels, der Holly Vorwürfe machte. „Es ist halb acht, und ich habe Hunger. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.“

“Frühstück bei Tiffany” von Truman Capote. Eine wunderbar federleichte, amüsante Erzählung, gewürzt mit einer Prise Melancholie und Traurigkeit – man weiß, die Geschichte von Holly Golightly und ihrem namenlosen Kater ist eine bittersüße, auch was die filmische Umsetzung des 1958 erschienen Buches anbelangt. Zwar hat man bei der leichtfüßigen und (nur scheinbar) leichtlebigen Dame stets die bezaubernde Audrey Hepburn vor Augen, doch in der Verfilmung wurden wesentliche Elemente ausgespart beziehungsweise nur angedeutet. So die Homosexualität des Schriftstellers, der die Geschichte der Holly aus der Retrospektive erzählt, so die zeitweilige Prostitution, der Holly nachgeht und die Kinderehe, die letztlich der Schlüssel für ihr Unabhängigkeitsstreben, ihren Freiheitsdrang, aber auch für die Beziehungsunfähigkeit ist. Im Buch, mit dem Capote berühmt wurde, steckt also weitaus mehr Gehaltvolleres, als der Film, von dem sich der Schriftsteller distanzierte, verspricht. Lesens- und sehenswert ist beides.

„Es muss sein wie bei Tiffany“, sagte sie. „Nicht, dass ich mir was aus Schmuck mache. Aus Diamanten schon. Aber es ist geschmacklos, Diamanten zu tragen, bevor man vierzig ist; und selbst dann ist es gewagt. Sie sehen erst bei sehr alten Frauen richtig gut aus. Maria Ouspenskaya. Knochen und Falten, weiße Haare und Diamanten. Ich kann`s gar nicht erwarten. Aber deshalb bin ich nicht verrückt nach Tiffany. Weißt du, kennst du die Tage, wo du das rote Elend hast?“

„Genau wie das graue Elend?“

„Nein“, sagte sie langsam. „Nein, das graue Elend ist, weil man zu dick wird oder es zu lange regnet. Man ist traurig, das ist alles. Aber das fiese rote ist schrecklich. Man fürchtet sich, und man schwitzt wie ein Schwein, aber man weiß nicht, wovor man sich fürchtet. Bloß, dass etwas Schlimmes passieren wird, aber man weiß nicht was. Hast du das Gefühl schon mal gehabt?“

„Ziemlich oft. Manche nennen es Angst.“

Truman Capote, „Frühstück bei Tiffany“, 2006 im Rahmen der „Zürcher Ausgabe“ in einer Neuübersetzung beim Verlag Kein & Aber erschienen.

Hauptgang - ein heißes Dinner tischt uns Klaus Krolzig
mit seinem Gastbeitrag auf:

angerichtet“Angerichtet” ist das erste Buch von Herman Koch, das aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt wurde, nachdem er bereits fünf Romane in den Niederlanden veröffentlicht hatte. Nach Harry Mulisch mit “Die Entdeckung des Himmels” ist es außer Herman Koch keinem Autor mehr gelungen, länger als ein halbes Jahr auf dem ersten Platz der niederländischen Bestsellerliste zu stehen. 2009 wurde “Angerichtet” mit dem Preis “Bestes Buch des Jahres” ausgezeichnet.

Koch tischt uns ein Abendessen auf, dessen sieben Gänge diese Tragikomödie strukturieren. Er bringt vier Personen an die Tafel: den berühmten niederländischen Politiker Serge Lohmann und seine Gattin Babette sowie seinen Bruder Paul (Erzähler des Romans) mit seiner Frau Claire.

Paul hat an allem etwas auszusetzen. Er rechnet gnadenlos ab mit dem verlogenen Verhaltenskodex der besseren Gesellschaft und der Scheinheiligkeit seines Bruders als Politiker. Nichts entgeht seiner beißenden Polemik, wobei dem Leser das Schmunzeln manchmal im Halse stecken bleibt. Die vier Protagonisten sitzen in einem Edel-Restaurant der gehobenen Klasse, um über ihre Kinder zu sprechen, die eine grausame Tat auf ihrem Gewissen haben. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Bagatelle, sondern um einen schwerwiegenden Fall von Jugendkriminalität. Das grausige Verbrechen gerät immer wieder nach Abschweifungen in Pauls und Serges zwielichtige Vergangenheit in den Blickpunkt der Gespräche und wird uns häppchenweise serviert. Die Eltern wissen bereits mehr als die Polizei und beraten darüber, wie man ihre Kinder vor einer polizeilichen Verfolgung schützen kann. Dabei erscheint keine Handlung und keine Aussage ohne Bedeutung für den weiteren Verlauf zu sein. Es geht um die Zukunft ihrer Söhne und da ist den Eltern jedes Argument recht, die Gewalttat ihrer Kinder zu verharmlosen. Unablässig spitzt sich die Handlung zu und mündet in einen Showdown, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Das Setting des Romans erinnert mich an den Film “Bennys Video” von Michael Haneke, worin Vati und Mutti die Leichenteile eines Mädchens verschwinden lassen, um eine Tat zu verschleiern, die ihr pubertierender Sohn begangen hat. Daran droht die ganze Familie zu zerbrechen.

Bei aller Leichtigkeit drängt sich bei der Lektüre dieses Buches immer wieder die Frage auf, welchen Einfluss Eltern, die in ihrer Vorbildfunktion versagen und selbst nicht vor Gewaltexzessen zurückschrecken, auf die emotionale Teilnahmslosigkeit und Verrohung ihrer Kinder haben. Herman Koch versteht es, bei einem so ernsten Thema wie der Jugendkriminalität den Leser sowohl zu unterhalten, immer mit einem Schuss Sarkasmus, aber gleichzeitig auch nachdenklich zurückzulassen.

Der Maître d’hôtel deutete mit dem kleinen Finger auf etwas auf unserem Tisch. Ob er das Teelicht meinte, überlegte ich zunächst – auf allen Tischen stand statt einer Kerze oder Kerzen ein Teelicht. Nein, der kleine Finger zeigte auf ein Schälchen mit Oliven, das er dort offenbar gerade hingestellt hatte.

“Das hier sind griechische Oliven von der Peloponnes, zart beträufelt mit einem Olivenöl erster Ernte extra vergine aus Nordsardinien und bekrönt mit Rosmarin aus…”

Normalerweise konnte mir eine solche Information zwar gestohlen bleiben, von mir aus kam der Rosmarin aus dem Ruhrgebiet oder aus den Ardennen, aber ich fand das Geschwafel wegen einer Schale Oliven doch ziemlich übertrieben, und ich hatte keine Lust, ihn einfach so davonkommen zu lassen.

“Bekrönt? “ staunte ich.

“Ja, bekrönt mit Rosmarin. Bekrönt heißt, dass…”

“Ich weiß, was bekrönt heißt”, zischte ich scharf und vielleicht auch etwas zu laut, denn am Nachbartisch unterbrachen ein Mann und eine Frau kurz ihr Gespräch und sahen in unsere Richtung.

“Bekrönt”, fuhr ich etwas leiser fort. “Mir ist durchaus klar, dass die Oliven nicht alle ein Krönchen tragen und mich wie die Könige anglotzen.”

Herman Koch, “Angerichtet”, Taschenbuch, 320 Seiten, KiWi-Paperback

Schwere Kost, gehaltvoller Abschluss – der letzte Gang bleibt stehen:

Muschelessen„Ich habe gefragt, hört ihr denn nichts, hört doch mal. Das sind die Muscheln, hat meine Mutter gesagt, und ich weiß noch, daß ich gesagt habe, ist das nicht furchtbar, dabei wußte ich ja, daß sie noch leben, ich hatte mir nur nicht vorgestellt, daß sie das Schalenklappergeräusch machen würden, ich hatte mir gar nichts vorgestellt, als daß man sie kocht und ißt und fertig.“

„Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke ist eine schmale Erzählung, doch wiegt sie schwer. Fast ohne Atempause, ohne Punkt und Komma, wird von der etwa 18jährigen Erzählerin von den Vorbereitungen auf ein Familienessen berichtet. Die Muscheln, ein Wunsch des abwesenden Vaters, sind angerichtet – doch der sonst so pünktliche Patriarch erscheint nicht. Während die Muscheln erkalten, reden sich Ehegattin, Tochter und Sohn langsam in Hitze – das Essen ist angerichtet, das Familienoberhaupt wird verbal hingerichtet. Sympathisch wirkt keine der Figuren, nicht nachvollziehbar erscheint es zunächst, warum die Rebellion gegen sein innerfamiliäres Diktat nur in seiner Abwesenheit stattfinden kann. Der Vater kommt nicht, dafür ein Telefonanruf, die Muscheln wandern kalt in den Müll - ein offenes Ende mit Symbolgehalt. Die Erzählung, 1990 veröffentlicht und mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, kann jedoch auch als Parabel auf die ehemalige DDR verstanden werden, die familiären Strukturen – Bespitzelung und Unterordnung – als bissige und bitterböse Beschreibung politischer Verhältnisse.

Birgit Vanderbeke, „Das Muschelessen“, Taschenbuch, 128 Seiten, Piper Taschenbuch.