„Ich schaue sie mir an. Vor mir steht ein Mädchen mit wunderschönem hellen Haar, mit hübschen Brüsten unter einem sommerlichen Batistblüschen, mit einem klugen, reifen Blick. Sie steht da, schaut mir direkt in die Augen und wartet. Was soll ich ihr sagen? Daß dort die Gaskammer ist: der gemeinsame Tod, widerlich und häßlich? Und dort das Lager: der Kopf kahlgeschoren, bei der Hitze in einer wattierten sowjetischen Hose, der widerliche, übelkeiterregende Geruch des schmutzigen, erhitzten Frauenkörpers, der tierische Hunger, die unmenschliche Arbeit und dann doch die gleiche Gaskammer, nur ist der Tod dann noch widerlicher, noch häßlicher, noch schrecklicher. Wer hier einmal hineingeraten ist, den bringt nichts, nicht einmal seine eigene Asche, an der Postenkette vorbei nach draußen, der kehrt nicht mehr in das Leben draußen zurück.“
Tadeusz Borowski, „Bei uns in Auschwitz“, Erzählungen, 1946 – 1951
1943 wird der junge polnische Dichter Borowski, der in Warschau im Untergrund agitierte, verhaftet. Er wird Häftling Nummer 119 198 in Auschwitz, überlebt und durchleidet noch weitere Stationen bis hin zur Befreiung in Dachau. So wenig wie die Tätowierung, so wenig wird er in der Nachkriegszeit jedoch die Bilder aus dem Lager los. In wenigen Jahren entstehen etwa 25 Erzählungen, Versuche, das Grauen in Worte zu fassen, auch Versuche, mit oder trotz der Bilder weiterzuleben. Der Versuch misslingt: 1951 nimmt Borowski, gerade 28 Jahre alt, sich das Leben.
Er konnte nicht mit ihnen leben, mit diesen Bildern,
„die mich hartnäckig verfolgen, daß ich in meiner Erinnerung zum Beispiel noch immer die Schreie dieser Menschen, das Gewimmer der Kinder und das feige, unterwürfige Schweigen der Männer höre, daß ich zuweilen, als wäre es Wirklichkeit, den unerträglichen, sich mit Schweiß vermengenden Modergeruch von Menstruationsblut verspüre oder den nassen, fetten Gestank brennender Menschen (…)“
die er, so früh wie kein anderer und so intensiv wie kein zweiter, dennoch in Worte zu fassen versuchte. Die Erzählungen, die um die Lagererlebnisse, das Leben in Warschau während der Besatzungszeit und um die Rückkehr in eine „steinerne Welt“, in das „wirkliche“ Leben kreisen, sie sind, so Imre Kertész, „klare, selbstquälerisch gnadenlose Erzählungen.“ Sie halten in einem fast schon dokumentarisch-distanzierten Stil fest, was geschah – auch für den ungarischen Literaturnobelpreisträger Kertész waren sie eine wichtige Quelle der Erinnerung, wie er in seiner Rede in Stockholm betonte:
„Doch wie viele Berichte, Aussagen, Erinnerungen von Überlebenden ich auch las, sie stimmten fast sämtlich darin überein, daß alles sehr schnell und unübersichtlich abgelaufen sei: Die Waggontüren wurden aufgerissen, sie vernahmen Gebrüll und Hundegebell, die Frauen und Männer wurden voneinander getrennt, in diesem wilden Durcheinander gelangten sie vor einen Offizier, der sie mit einem raschen Blick in Augenschein nahm und mit ausgestrecktem Arm auf etwas zeigte, und kurz darauf fanden sie sich in Häftlingskleidung wieder.
Ich hatte diese zwanzig Minuten anders in Erinnerung. Nach authentischen Quellen suchend, las ich zum ersten Mal die klaren, selbstquälerisch gnadenlosen Erzählungen Tadeusz Borowskis, darunter „Bitte, die Herrschaften zum Gas!“.“
Borowski schildert die alltäglichen Grausamkeiten, deren Zeuge er wurde, beinahe nebensächlich und lapidar. Er zeigt auf, wie perfide die Lagerorganisation war, die aus Opfern zugleich auch Täter machte – Menschen, die um einer Brotrinde willen, Freunde verraten, Mütter, die an der Rampe ihre Kinder verleugnen, um dem Gas zu entgehen, Häftlinge, die andere Häftlinge quälen, erniedrigen, töten. Er erzählt von Menschen, die, um nicht zu verhungern, zu Kannibalen werden. Er erzählt von jenen, die in den Gaskammern arbeiten und beinahe stolz darüber berichten, wie sie es einrichten, dass Menschen besser brennen. Er erzählt davon, wie jeder um sein bisschen Leben kämpft, wie Werte aus der alten Welt – Freundschaft, Mitleid, Solidarität – zu einer teuren Münze werden:
„Im Lager herrscht nämlich eine neidvolle Gerechtigkeit: Wenn ein Reicher fällt, sorgen die Freunde dafür, daß er möglichst tief fällt.“
„Es ist ein Gesetz des Lagers, daß die Menschen, die in den Tod gehen, bis zum letzten Moment getäuscht werden. Das ist die einzige zulässige Form von Mitleid.“
Nur ab und an durchbricht Borowski die scheinbar moralische Indifferenz in seinen Erzählungen: Immer wieder dann, wenn die Frage aufbricht, nach dem „Warum?“, wenn die eigene Ohnmacht und die seiner Mitleidenden deutlich hervortritt. Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit machen sich Raum:
„Einmal kehrten wir mit den Kommandos ins Lager zurück. Ein Orchester spielte im Takt der marschierenden Trupps. Dann kamen die Leute von den DAW und Dutzende anderer Kommandos und warteten vor dem Tor: zehntausend Mann. In dem Moment kamen Lastwagen vom FKL herangerollt, vollgeladen mit nackten Frauen. Sie streckten die Arme aus und riefen:
„Rettet uns! Wir fahren ins Gas! Rettet uns!“
Und sie fuhren an uns vorbei, an zehntausend schweigenden Männern. Nicht einer rührte sich, nicht eine Hand hob sich.
Denn die Lebenden haben stets recht gegen die Toten.“
In der Erzählung „Wir waren in Auschwitz“ schreibt Borowski an seine Verlobte und spätere Ehefrau über sich selbst reflektierend: „Du hast gesagt, der Tadeusz sei ein fröhlicher Kerl, aber er schreibt nur von bedrückenden Dingen.“
Das Lager, auch wenn man vom Überleben träumt, noch Überlebenswillen hat - „nach dem Krieg, wenn ich ihn überlebe, möchte ich in einem hohen Haus mit Fenstern aufs Feld wohnen“ - veränderte jeden fundamental, tötete bei vielen Überlebenden die Fröhlichkeit, die Lebenslust, die Lebensfähigkeit ab. Auch Borowski konnte mit dem Schreiben nicht gegen das Erlebte angehen, auch solche Sätze halfen nichts:
„Und wenn man uns auch nur den Körper auf der Spitalspritsche gelassen hat, so bleiben uns doch unsere Gedanken und Gefühle. Und ich glaube, daß die Würde des Menschen auf seinen Gedanken und Gefühlen beruht.“
„Bei uns in Auschwitz“ wurde von der „Zeit“ in deren Kanon der wichtigsten Bücher der europäischen Nachkriegsliteratur aufgenommen. In ihrem Beitrag dazu schreibt Katarina Bader:
„Borowski zwingt uns, in Abgründe der menschlichen Psyche zu blicken: Mitgefühl ist situationsbedingt, jeder Mensch kann zur Waffe gemacht werden. Nach dem Krieg wurde der Autor von katholischer Kirche und Kommunisten gleichermaßen als Zyniker kritisiert. Aber ein Zyniker war Borowski nicht. Er war einer, der seines Glaubens an die Empathiefähigkeit der Menschen brutal beraubt worden war, einer, der mutig genug war, den Verlust dieses Glaubens zu bekennen, und zugleich einer, der zu idealistisch war, um ohne diesen Glauben leben zu können: 1951 nahm er sich im Alter von 28 Jahren mithilfe von Gas das Leben. Damit ging nicht nur ein wichtiger Zeuge verloren, sondern auch ein literarisches Genie, dessen Werk nicht genug Beachtung erhalten kann.“
danke hierfür! gerade heute.
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Ja, das wollte ich auch gerade schreiben, danke, dass du gerade heute über diesen Schriftsteller berichtest, viele Sätze berühren mich und dem hier stimme ich einfach nur zu: „Und ich glaube, daß die Würde des Menschen auf seinen Gedanken und Gefühlen beruht“
herzliche Grüsse
Ulli
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Dieser Zynismus-Vorwurf, an dem habe ich gerade zu sehr kauen. Was
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… für eine Ignoranz gegenüber der Not, gegenüber der vollständigen Überforderung, der existentiellen Erschütterung … Ich grüße dich herzlich!
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Das hat mich auch sehr beschäftigt - wie unmenschlich man dann (hier also die Institutionen Kirche und „Partei“) mit den Menschen umging, die durch die Hölle gegangen waren. Ich denke, das war sicher auch ein Auslöser für den Suizid: Wie die Welt „danach“ auf ihn wirkte, mit ihm umging. Das schimmert auch durch die Erzählungen der späteren Zeit durch.
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Liebe Birgit, ich habe es ja (nachdem ich den Tipp von Kai erhielt) schon gelegentlich erwähnt: das großartige Buch mit dem nicht so tollen Titel: „Rette dich, das Leben ruft“ von Boris Cyrulnik. Darin geht es explizit um das, was du ansprichst: Wie entscheidend für das Weiterleben nach einem Trauma die Möglichkeit ist, darüber sprechen zu können, es in die eigene (erzählbare) Lebensgeschichte zu integrieren …
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Ich bin einfach dankbar, dass ich nicht so verzwiefelt und hungrig bin, um jemanden wegen einer Brotrinde zu verraten. Liebe Grüsse Martina
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Zumal man nicht weiß, zu welchem Verhalten man selbst fähig wäre, wäre man in dieser Situation. Dankbarkeit ist sicher angebracht - wir leben nicht in solchen finsteren Zeiten.
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Ein eindrucksvolles und erschütterndes Zeitzeugnis und noch dazu große Literatur. Danke für die Worte und dafür, dass du mir dieses Buch wieder ins Gedächtnis gerufen hast.
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