„All diese alten, schönen Städte wimmelten von verwilderten Menschen. Doch es war eine andere Art von Verwilderung, als ich geträumt hatte. Eine Art Stadtbann beherrschte diese Städte, eine Art mittelalterliches Stadtrecht, jede ein anderes. Eine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus den durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden, sofern das Lösegeld nicht zur Stelle war oder ein fuchsschlauer Rechtsgelehrter, der bisweilen seinen unmäßigen Lohn für die Befreiung mit dem Hundefänger selbst teilte. Daher gebärdeten sich die Menschen, zumal die ausländischen, um ihre Pässe und ihre Papiere wie um ihr Seelenheil.“
Anna Seghers, „Transit“, 1944
Ich könnte aus diesem Roman so vieles zitieren – und alles wäre hochaktuell. Jedes Zitat weckt Assoziationen zur Jetzt-Zeit. Schiffe voller Flüchtlinge, die sinken. Das Warten in den Städten am Meer auf die nächste Möglichkeit zur Reise. Das Ringen um Papiere, Visen, Aufenthaltsgenehmigungen, die Erlaubnis zur Weiterreise. Flüchtlingsgespräche:
„Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“
„Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, daß wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.“
Aber vor allem immer auch: Die Ungewissheit, wohin es einen verschlägt. Was werden wird, wenn man überlebt. Was übrigbleibt vom alten Leben. Was mit denen ist, die man verlassen musste.
„Dreimal bin ich geschlagen worden, dreimal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere.“
„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“
„Und wenn mein Leben vorerst nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden, so wollte ich wenigstens in die schönsten Städte geschleudert werden, in unbekannte Gegenden.“
Anna Seghers hat den Roman in den Winter 1940/41 angesiedelt: Nach der Invasion der Deutschen im Sommer 1940 flüchtet sie mit ihren Kindern aus Paris nach Marseille. Es gelingt ihr, Einreisegenehmigungen für Mexiko zu erhalten: 1941 besteigt sie mit ihrer Familie ein Schiff, dass sie in das rettende Land bringt. 1947 kehrt sie nach Berlin zurück. Ihr Roman „Transit“ ist da bereits in verschiedenen Sprachen erschienen, erstmals 1944 in englischer Sprache. Erst 1948 kommt er auch in deutscher Sprache heraus: Eine bewegende Darstellungen dessen, was Exil und Flucht für den Einzelnen bedeutend kann.
Allerdings ging es der Schriftstellerin „um mehr und anderes als um ein dokumentarisches Abbild der Realität jener Zeit“, betont Sonja Hilzinger 1993 in einem Nachwort in einer Ausgabe des Romans im Aufbau Verlag. „In diesem Roman stehen (…) das Schreiben, das Erzählen, die Aufgabe und die Verantwortung des Schriftstellers zur Diskussion.“ An Georg Lukács schreibt Seghers: „Diese Realität der Krisenzeit, der Krieg usw. muß (…) erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden.“
So ist „Transit“ zugleich ein Zeitdokument, das heute wieder an Aktualität gewinnt und eine literarisch anspruchsvolle und bewegende Erzählung. Anna Seghers stellt einen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, um den eine Vielzahl von anderen Figuren gruppiert ist: Alles Menschen auf der Flucht, Dutzende von Einzelschicksalen, für die das Exil vor allem eines bedeutet – Verlust. Verlust nicht nur in emotionaler und materieller Hinsicht, sondern auch an Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zur Nummer, deren Wert sich an ihren Papieren misst. Sie werden zu Opfern von „Fluchthelfern“, deren Geschäft die Not der anderen ist. Und aus den Opfern werden ebenfalls Täter: Sie lassen, um eines Stempels, einer Möglichkeit willen, andere im Stich, verkaufen und verraten Freunde und Angehörige.
Seghers nutzt wie in das „Das siebte Kreuz“ die Episodentechnik: So gelingt es ihr anhand der einzelnen Protagonisten ein umfassendes Bild der Existenzbedingungen im Exil zu zeichnen, aufzuzeigen, was das bedeuten kann, der Weg in die Emigration. Der immer auch ein Weg der Ent-Menschlichung ist. Wo der Wert eines Menschen an seinen Papieren gemessen wird, wie es Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ zum Ausdruck bringt:
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Der Identitätsverlust kann noch weiter reichen - wie es Seidler, dem Ich-Erzähler, beinahe geschieht, bis hin zur Auflösung des eigenen Ichs. Seidler, ein antifaschistischer Arbeiter, gelangt in Paris durch Zufall an die Papiere eines toten Schriftstellers, dessen Identität er in Marseille (fast ebenso zufällig) annimmt. In der Hafenstadt verliebt er sich jedoch in Marie – die Frau jenes Schriftstellers, die mit einem anderen Mann auf Papiere und eine Schiffspassage wartet, zugleich jedoch auch auf den verstorbenen ehemaligen Geliebten. Seidler kann letztlich Marie zur Ausreise bewegen – er selbst bleibt zurück, um wenig später zu erfahren, dass das Schiff, auf dem Marie sich befand, im Atlantik versenkt wurde.
Doch, so Sonja Hilziger, der Erzähler lernt, die Transit-Welt und seine Rolle zu durchschauen: „So gelingt es ihm, seine Identität zu bewahren. Transit ist das Zeichen dieser Zeit im umfassenden Sinn; gemeint ist nicht nur das Papier, das Visum, sondern das Transitäre dieser Welt, in der jeder jeden im Stich läßt. Der Erzähler lernt, solidarisch zu handeln; die Grundform dieses sozial-kommunikativen Verhaltens ist das Zuhören.“
Ich wünschte mir, viele Menschen würden dieser Tage Erzählern der Emigration vergangener Tage zuhören.
Allen voran Anna Seghers.
„Ich aber, ganz elend von dem Transitgeflüster, ich staunte sehr, wenn ich derer gedachte, die in den Flammen der Bombardements und in den rasenden Einschlägen des Blitzkriegs zugrunde gegangen waren, zu Tausenden, zu Hunderttausenden, und viele waren daselbst auch zur Welt gekommen, ganz ohne Kenntnisname der Konsuln. Die waren keine Transitäre gewesen, keine Visenantragsteller. Die waren hier nicht zuständig. Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“
Weitere Bücher von Anna Seghers:
„Aufstand der Fischer von St. Barbara“ (1928).
„Über den Tisch weg sahen die Frauen in den Augen ihrer Männer ganz unten etwas Neues, Festes, Dunkles, wie den Bodensatz in Ausgeleerten Gefäßen.“
Als einer von außen, ein geübter Revolutionär, nach St. Barbara kommt, kommt kurz Hoffnung auf - Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch der Widerstand der Fischer und ihrer Familien, die für eine Reederei mit Monopolstellung für einen Hungerlohn arbeiten, wird gebrochen. Alles bleibt, wie es ist. Und dennoch: Trotz des Scheiterns hinterlässt diese schmale Erzählung den Eindruck einer Kraft, die nicht so schnell gebrochen werden kann.
Die Erzählung ist das erste Buch, mit dem Anna Seghers in die Öffentlichkeit trat. Wenig später erhielt sie für diese in nüchterner, spröder Sprache erzählten Geschichte eines gescheiterten Aufstandes den Kleist-Preis. Von den reaktionären Medien wurden Seghers und Hans Henny Jahn, 1928 Vertrauensmann der Kleist-Stiftung, heftig angegriffen, bei anderen traf sie auf großen Beifall: Mit ihrer Erzählung, die örtlich und historisch unbestimmt bleibt, erfasste sie eine Stimmung, die in der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik spürbar war.
Hans Henny Jahn in seiner „Rechenschaft über den Kleistpreis“:
„Ein gutes Buch mit knapper und sehr deutlicher Sprache, in dem auch die geringste Figur Leben gewinnt. In dem die Tendenz schwächer ist als die Kraft des Menschlichen. Es ist ein Daseinsvorgang in fast metaphysischer Verklärung. Das nenne ich Kunst.“
Weiterführende Informationen:
http://www.seghers-werke.germanistik.uni-mainz.de/aufstand.shtml#
Liebe Birgit, Anna Seghers „Transit“ werde ich mir umgehend besorgen - vielen Dank für den Tipp und überhaupt für den informativen wie einfühlsamen Beitrag!
Mir ist es es kürzlich auch so gegangen, dass ich einen (sehr kurzen) Text las und verblüfft, auch irritiert war, weil er nicht als ein „realistischer“ geschrieben wurde und jetzt aber in einigen Redefiguren jeden Tag bestürzend realistischer wird. Es handelt sich um einen Text von Reinhard Lettau „Klage des Einwanderungsbeamten“ - ich werde dazu noch schreiben … Dir einen schönen Sonntag!
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Liebe Jutta,
danke zurück - für den Hinweis auf Lettau (und die Tipps zu den Schriftstellerseiten, ich komm erst jetzt dazu, die ganzen Antworten zu lesen). Ich kann Dir auch mein freilich zerlesenes Seghers-Taschenbuch senden - musst es dir also nicht besorgen, wenn Dir Unterstreichungen etc. nichts ausmachen. Dir auch einen schönen Sonntag - hier sind schon 15 Grad, die Sonne lacht, der PC wird gleich wieder geschlossen! LG Birgit
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Würde mich über deine Unterstreichungen - plus Buch sehr freuen! Und denke nicht, nur der Süden hätte Sonne, wir auch 😉
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Ok, ich stecks morgen in die Post. Samt Sonne.
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Gleich zwei Lichtblicke im November … Besten Dank!
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Falls jemand Interesse an Anna Seghers Aufstand der Fischer von St. Barbara / Die Gefährten hat, einfach Bescheid geben. Musste kürzlich wegen Überfüllung ausmisten und Frau Seghers sucht ein neues Zuhause. In gute Hände abzugeben 🙂 Schönen Sonntag ….
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Das Buch habe ich schon…aber vielleicht findet es jemand anderen! Auch Dir einen schönen Sonntag!
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Liebe Birgit,
Dein Lektüretipp zeigt: das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ein altes, eines, das wir aber überhaupt nicht loswerden, das es immer wieder gibt und geben wird, weil es immer wieder Lebenssituationen gibt und geben wird, die die Menschen nicht mehr aushalten. Und wir tun grad immer noch so, als ob wir damit nichts mehr zu tun haben - und wollen gar nicht wissen, was es für den einzelnen Menschen bedeutet „im Transit“ zu leben. Dabei, du schreibst es so treffend, brauchen wir nur in unsere ältere Literatur zu schauen - in dem Zusammenhang erinnere ich mich auch an Deine tollen Gedichte, die Du vor geraumer Zeit hier veröffentlicht hast.
Viele Grüße, Claudia
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alles ausgezeichent: Besprechung, Zitatauswahl, weiterführende Gedanken. Danke.
Ich fand die Lektüre bedrückend, den kafkaesken Aspekt, das zähe Mühen, diese feindselige Welt, die entstand.
Als Zusatzlektüre empfehle ich Musil, „Die andere Seite“. Beiden gemeinsam ist der philosopohische Ansatz, die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft / Gesellschaft. Ziemlich viel Stoff zum Nachdenken. Übrigens sind heute im Kirchenjahr die Geschichten von dem Scherflein der Witwe und dem Ölkrüglein der Witwe dran, was eine eigene Art von Kommentar dazu ist, wie eine Gesellschaft bestehen kann. Und in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung wird „Völkerwanderung“ und „Untergang Roms“ diskutiert, mit Reizbegriffen wie Elite und Parallellgesellschaft.
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Danke!
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Ja, leider ein altes Thema. Und auch eines, das zeigt, wie wenig die Menschheit lernt. DIe Gedichte (Max Hermann-Neiße) hab ich leider in einem blödsinnigen Anfall von Aufräumwut auf dem Blog gelöscht…aber sie sind ja irgendwo noch zu finden…
Viele Grüße Birgit
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Vielen Dank für die Erinnerung an Anna Seghers. Ich habe in der Schule ihren Roman „Das siebte Kreuz“ gelesen, seit langem habe ich nichts mehr von ihr in der Hand gehabt. Das sollte sich ändern. Viele Grüße
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Vielen Dank für diese Rezension . Habe mir das Buch daraufhin gekauft und verschlinge es gerade.
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Das freut mich! Als weitere Empfehlung dieser Art: Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque.
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