Ich möchte noch drei „Nachzügler“ kurz und knapp vorstellen, die mich Ende des Jahres 2016 stark beschäftigt haben – drei ganz unterschiedliche Bücher, drei, die mich, jedes auf seine Weise, beeindruckt haben. Nicht unbedingt die literarisch stärksten Bücher, die ich im vergangenen Jahr las, aber Bücher, die in meiner Gehirnbibliothek haften bleiben werden.
Bohuslav Kokoschka, „Ketten in das Meer“, 1919 - 2016 „edition atelier“
Dem unabhängigen Wiener Verlag habe ich schon einige Entdeckungen zu verdanken. Und so wurde ich richtig hellhörig, als dort der Roman von Bohuslav Kokoschka (1892 – 1976), dem jüngeren Bruder von Oskar, im Herbstprogramm angekündigt wurde.
Kokoschka, der selbst im 1. Weltkrieg bei der österreichischen Marine gewesen war, schrieb dieses Buch nach Kriegsende 1919 – und musste bis 1972 auf die erste Veröffentlichung warten.
Der Roman ist durchaus eine Herausforderung an den Leser, will konzentriert gelesen werden – verschachtelte Erzählebenen, eine Vielzahl von auftretenden Figuren, häufig wechselnde Handlungsorte, auch mancher Erzählfaden, der im Meer versinkt…
Doch die Konzentration macht sich bezahlt: Vor den Augen des aufmerksamen Lesers entfaltet sich ein Kaleidoskop der österreichischen k.u.k.-Monarchie, von den Küsten des damaligen Jugoslawiens bis zu den Kaffeehäusern Wiens. Seine skizzenhaftigen Episoden in diesem Roman, der wirkt, als wolle er eine ganze Epoche umfassen, schildern ebenso das Elend der verarmten, hungrigen durch Wien streichenden Mädchen wie den Kasernendienst mitsamt seinen Schikanen und Phasen der Langeweile, das Leben an Land und Bord, er erzählt von hungernden Studenten, armen Geigern, käuflichen Mädchen, von den Härten des Lebens auf dem Land, in den harschen Bergen, in der alles verschlingenden Stadt, auf dem Meer. Dies alles in einem poetisch-melancholischen Stil, in den harten Schnitten zwischen den Begebenheiten beinahe expressionistisch. So reiht sich Bohuslav Kokoschka, wie auch Adolf Opel, Herausgeber des Romans bei edition atelier in seinem Nachwort betont, in die Liga der Chronisten der untergegangenen Donaumonarchie ein.
Mehr zum Roman bei edition atelier:
http://www.editionatelier.at/ketten-in-das-meer.html
Und eine Besprechung von Constanze Matthes bei Zeichen & Zeiten:
https://zeichenundzeiten.com/2016/11/19/vor-anker-bohuslav-kokoschka-ketten-in-das-meer/
Ilse Rau, „Meine Mara-Jahre“, 2016, Libelle Verlag
Was mich an diesen Erinnerungen, die die Psychotherapeutin im Alter von über 80 Jahren zunächst nur als Privatdruck für ihre Familie und ihren Freundeskreis vorgesehen hatte, vor allem beeindruckte, das war die Haltung dieser Frau: Trotz des frühen Verlustes des geliebten jüdischem Vaters, dem Verlust von Vaterfigur und Vaterland durch die notwendige Flucht aus Nazi-Deutschland, trotz vielen erzwungenen Abschieden – aus diesen Lebenserinnerungen spricht ein mutiger, wacher Geist, spricht auch der Wille zur Versöhnung.
In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Ilse Rau, was für viele Menschen heute wieder (beziehungsweise immer noch) Realität ist: Die waghalsige Flucht auf illegalen Wegen, der Neubeginn in Belgien, die Unsicherheit der Existenz, erst recht, als das Land 1940 von den Nazis besetzt wird.
Ilse Rau hinterließ mit ihren Lebenserinnerungen ein wichtiges und ein anrührendes Vermächtnis: „Meine Erinnerungen können, so hoffe ich, nun mit einer neuen Aktualität gelesen werden in einer Gegenwart, in der wir mit immer mehr geängstigten Menschen zu leben haben, die mit ihren anderen Fluchtgeschichten bei uns ankommen.“
Die Autorin starb, wenige Monate nach dem Erscheinen ihres Buches, im Alter von 88 Jahren in Tübingen.
Mehr zu den Lebenserinnerungen beim Libelle Verlag:
http://www.libelle.ch/backlist/905707656.html
Colm Tóibín, „Nora Webster“, OA 2014, 2016 erschienen beim Hanser Verlag
Eine ganz andere, eine fiktive Frauengeschichte zog mich Ende 2016 noch in ihren Bann – das Buch lag unterm Weihnachtsbaum, mein erster Roman des irischen Schriftstellers. Die Mitte vierzigjährige Witwe Nora Webster fühlt sich, „als lebte sie unter Wasser und hätte den Versuch, sich wieder nach oben, an die Luft zu kämpfen, aufgegeben.“ Wie in einem Nebelland von Trauer gefangen erlebt die Mutter von vier Kindern ihre Umwelt, doch die Erfordernisse der Realität stehen nicht still. Ganz leise, ganz zurückgenommen schildert der Schriftsteller, wie diese Frau sich langsam häutet und innerlich befreit – die Traurigkeit um den Verlust eines geliebten Menschen bleibt, doch Schritt für Schritt löst sich Nora Webster auch aus dem Schatten ihres Mannes, löst sich ebenso aus den Konventionen der irischen Kleinstadt, in der sie lebt, entdeckt neue Interessen und Leidenschaften, beispielsweise an der klassischen Musik. Das Buch spielt zudem vor dem Hintergrund des Nordirland-Konfliktes, der Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er zu einer Eskalation der Gewalt führte. Auch Nora Webster verfolgt die Ereignisse in Derry („Bloody Sunday“) und bildet sich langsam ihre eigene Meinung heraus – so erinnert der Roman auch an eine wichtige, tragische Zeit irischer und nordirischer Geschichte.
Kein Buch, das einen gewaltig umhaut und mitreißt – sondern eines, das einen mit seiner unspektakulären, ruhigen Erzählweise gefangen nimmt und das auch nach der letzten Seite noch lange sanft nachhallt…
Mehr zum Roman beim Hanser Verlag:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/nora-webster/978-3-446-25063-5/
Wie schön, „Nora Webster“ werde ich ganz bald auch lesen!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Mein allererster Roman von ihm - und ich bin hingerissen!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Du magst doch auch Henry James. Toibin hat einen wunderbaren Roman über ihn geschrieben „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“. Eine Empfehlung!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ja, da wurde ich jetzt von mehreren Seiten aufmerksam gemacht - da habe ich echt wohl was versäumt bisher! Danke Dir! Das Buch steht jetzt ganz oben auf dem Einkaufszettel - vor der Hühnerbrühe zur Eindämmung der winterlichen Erkältung🙂
Gefällt mirGefällt 1 Person
Oje, dann gute Besserung! Aber Literatur hilft!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Bei fast allem🙂
Gefällt mirGefällt mir
Diese Post klingt sehr interessant. Moment ich lese „Hotel Savoy“ von Josef Roth und die auch die Zeitgeist nach dem Erste Weltkrieg -aber im Lviv - die Heimat von Roth. Danke für alle Drei!!
Gefällt mirGefällt mir
Danke Dir! Dann könnte Dir der Roman von Kokoschka sehr gefallen, auch er erzählt von der Stimmungslage der Menschen während des 1. WK. Hotel Savoy von Joseph Roth ist freilich literarisch sehr viel anders (besser), aber das ist eben ein ganz Großer: https://saetzeundschaetze.com/2014/07/03/joseph-roth-hotel-savoy-das-hotel-als-sinnbild-einerr-zerfallenden-epoche/
Gefällt mirGefällt mir