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Dem Administrator sei Dank.
“Die Katastrophe fängt damit an, dass man aus dem Bett steigt.”
Thomas Bernhard, “Verstörung”.
Dass Thomas Bernhard kein kleiner Sonnenschein war, soviel ist sicher.
Aber sicher auch ein Schlitzohr - die Mordslustigkeit gewiss ein wenig Attitüde angesichts sich seriös gebender Reporterinnen. Denn:
“Schriftsteller sind Übertreibungsspezialisten.”
Gut, dass der Leser Thomas Bernhard als Mordsersatz und Übertreibungsspezialisten hat - denn boshaft sind wir alle mal, Boshaftigkeit ist gut für die Seelenhygiene und noch besser ist es, wenn einer den Job übernimmt, der das so richtig gut kann.
Raimund Fellinger hat für das insel Taschenbuch “Thomas Bernhard für Boshafte” einige der schönsten Bösartigkeiten des Österreichers zusammengestellt.
Aus dem Verlagstext:
“In einem Interview antwortete Thomas Bernhard auf die Frage »Sind Sie gerne böse?« mit Ja. Aber häufig könne er nicht so böse sein, wie er wirklich wolle. Dabei besteht er auf feinen Unterscheidungen: Bösartig dürfe man sein, da dies ja ein Aspekt der menschlichen Art sei, böswillig, also das Böse als Ziel verfolgend, sei nicht statthaft. Boshafte Personen dagegen seien, wenn sie ihr Anliegen geschickt genug betrieben, Künstlern gleichzusetzen. Der vorliegende Band versammelt, einem alltäglichen Alltag folgend, vom Frühstück über die philosophischen Mittagessen bis zu den entsetzlichen Abendvergnügungen, Beispielstücke für die Boshaftigkeitskunst des Thomas Bernhard.”
Das Buch, erschienen im Januar 2014, ist mir seither ein treuer Begleiter durch den Arbeitsalltag.
insel taschenbuch 4153, Broschur, 73 Seiten, ISBN: 978-3-458-35853-4, 6,00 Euro.
„Die Subskribenten in Paris wurden dank der nahezu täglich in der Presse veröffentlichten Bulletins auf dem Laufenden gehalten. Meine Freunde bei der Zeitung betrachteten den Ulysses – mit vollem Recht – als ein Ereignis von weltweiter Bedeutung, geradezu als ein sportliches Ereignis, und es erschien auch tatsächlich ein Artikel über Ulysses in dem englischen Blatt The Sporting Times, bekannt als The Pink `Un – aber da war das Buch selbst schon herausgekommen.“
Sylvia Beach, „Shakespeare and Company“, Suhrkamp Taschenbuch
Am 16. Juni ist zum 110. Male „Bloomsday“ – jener Tag, an dem Leopold Bloom im “Ulysses” anno 1904 durch Dublin streift. Nun, da sich dieser sagenhafte literarische Feiertag wieder nähert, ist es an der Zeit, auf eine Frau aufmerksam zu machen, die wesentlich zum Erfolg des „Ulysses“ beigetragen hat: Die Buchhändlerin Sylvia Beach. 1917 kommt die Amerikanerin, 1887 in Baltimore geboren, nach Paris – wie viele andere dieser Generation kommt sie, liebt sie, bleibt sie. Und verwirklicht ihren Traum, einen Buchladen zu gründen, eine amerikanische Buchhandlung mit Leihbücherei an der Seine. 1919 wird „Shakespeare and Company“ eröffnet und zu einem Treffpunkt der amerikanischen und französischen Literaturszene. Anekdote an Anekdote reiht sich in Sylvia Beachs 1956 erstmals erschienenen Erinnerungen „Shakespeare and Company“: Alles, was damals Rang und Namen hat, findet sich früher oder später in der Rue de l`Odéon ein oder wird zum Kunden: Ezra Pound, Sherwood Anderson, André Gide, Hemingway, Gertrude Stein, Scott F. Fitzgerald, Paul Valéry…
„Ich lebte zu weit von meinem Vaterland entfernt, um die Kämpfe unserer Schriftsteller um freie Ausdrucksmöglichkeit entsprechend verfolgen zu können, und als ich 1919 meine Buchhandlung eröffnete, ahnte ich nicht, dass sie von den Verboten ihren Nutzen haben würde. Ich glaube, diesen Verboten und der dadurch geschaffenen Atmosphäre verdankte ich viele meiner Kunden - alle jene Pilger der zwanziger Jahre, die über den Ozean kamen, sich in Paris niederließen und das linke Seineufer kolonisierten.“
Wer heute Buchhändler(in) wird, der weiß: Man braucht dazu Leidenschaft, Engagement, Wissen, Belesenheit und auch wirtschaftliches Geschick. Das alles - und noch viel mehr - hat Sylvia Beach in die Waagschale geworfen. Jede Zeile ihrer Erinnerungen an ihr Lebensprojekt spricht davon. Aber vor allem brachte sie eines mit: Ein großes Herz für ihre Kunden. Nicht wenige davon waren eben jene schwierige Spezies, die sich Schriftsteller nennt. Sylvia Beach scheint ihnen - vor allem den Autoren aus Übersee - eine Mischung aus bemutternder Freundin und intellektueller Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Da tischlert dann selbst Ezra Pound für die Einrichtung des Buchladens, André Gide organisiert Lesungen und Hemingway befreit die Rue de l`Odéon symbolisch von den Nazis. Und Sylvia Beach gibt viel zurück - die Buchhandlung wird für manchen zum zweiten Heim, geschickt vermittelt sie Kontakte, schlichtet Streit, glättet Eifersüchteleien - mit wechselndem Erfolg:
„Der letzte ängstliche Besucher, den ich zu Gertrude (gemeint ist Gertrude Stein) führte, war Ernest Hemingway. Er wollte seinen Streit mit ihr beilegen, fand aber nicht den Mut, allein zu ihr zu gehen. Ich billigte sein Vorhaben, redete ihm gut zu und versprach, ihn in die Rue Christine zu begleiten, wo Gertrude und Alice damals lebten. (…) Ein Zwist flammt leicht einmal zwischen Schriftstellern auf, aber ich habe festgestellt, dass er sich gelegentlich einfrisst wie ein Schmutzfleck.“
Die Stein, niemals einfach, lässt sich als eine der Wenigen nicht von der netten Buchhändlerin erweichen - als Sylvia Beach schließlich das Unternehmen ihres Lebens wagt und Verlegerin des „Ulysses“ wird, kündigt ihr die amerikanische Schriftstellerin Freund- sowie die Kundschaft im Buchladen. Das Leben ist manchmal steinhart.
Zwar hätschelt und pflegt Sylvia Beach alle sensiblen Schreiberseelen, aber nur bei einem wird aus der Bewunderung der bescheidenen Buchhändlerin geradezu Heldenverehrung: James Joyce.
„Joyce` Stimme, von einem süßen Klang wie die eines Tenors, bezauberte mich.“
„Es war überwältigend für mich, mit dem größten Dichter meiner Zeit zusammen zu sein, aber Joyce hatte eine so unglaublich einfache Art, dass ich mich trotzdem frei und unbefangen fühlte.“
Wohlgemerkt: Sie spricht von dem größten Dichter ihrer Zeit, da war dessen Jahrhundertwerk noch nicht einmal beschrieben. An dieser Stelle werden die Erinnerungen einer Buchhändlerin auch zur literaturwissenschaftlichen Quelle ersten Ranges. Ganz bescheiden und zurückgenommen erzählt Sylvia Beach von den Schwierigkeiten, die Joyce sowohl auf der Insel als auch in den USA mit der Zensur hat.
„Jede Hoffnung auf eine Veröffentlichung in Ländern englischer Sprache war, zumindest auf lange Zeit, geschwunden. Und da saß nun James Joyce in meinem kleinen Buchladen und seufzte tief.
Auf einmal kam mir der Gedanke, dass man doch etwas unternehmen könne, und ich fragte: Würden Sie Shakespeare and Company die Ehre erweisen, Ihren Ulysses herausbringen zu dürfen?
Er nahm mein Angebot auf der Stelle mit Freuden an.“
Damit beginnt für Sylvia Beach das eigentliche Abenteuer ihres Lebens. 1922 erscheint der Ulysses, „Shakespeare and Company“ wird eine begehrte Adresse. Doch die Zeiten sind nicht danach:
„Die Buchhandlung war berühmt geworden. Sie steckte immer voll von neuen und alten Kunden, und mehr und mehr wurde in Zeitungen und Zeitschriften über sie geschrieben. Man zeigte sie sogar den Touristen der American Express, wenn sie vorüberfuhren - in Autobussen, die ein paar Sekunden vor Nr. 12 stehenblieben. Trotz alledem begann Shakespeare and Company die Wirtschaftskrise ernstlich zu spüren. Die Geschäfte, die schon durch die Abreise meiner Landsleute gelitten hatten, gingen nun rasch immer schlechter.“
Nach der deutschen Besatzung schließt Sylvia Beach den Buchladen für immer. Sie lebt bis zu ihrem Tod 1962 in Paris, begraben ist sie jedoch in den USA. Der Buchladen in der Nr. 12 bleibt zwar geschlossen, später jedoch wird die Buchhandlung Le Mistral in der Rue de la Bûcherie zu Ehren Sylvia Beachs in „Shakespeare and Company“ umbenannt. Auch dieser Laden, ebenfalls von einem US-Amerikaner, George Whitman (inzwischen von seiner Tochter), betrieben, wird zu einem literarischen Treffpunkt - hier verkehrten Henry Miller, Allen Ginsberg, William S. Burroughs und andere.
„Shakespeare and Company - eine Buchhandlung in Paris“: Sicher war es die richtige Entscheidung von Sylvia Beach, das Schreiben anderen zu überlassen. Doch wo die Lebenserinnerungen sprachlich zu wünschen übrig lassen, machte dies die Literaturliebhaberin durch ihre Leidenschaft für Bücher und Schriftsteller wett. So werden das Paris der Zwischenkriegszeit, die intellektuelle Atmosphäre an der Seine, das Leben der literarischen Exilanten aus den englischsprachigen Ländern sowie deren kleinen und großen „Macken“ lebendig - und verlocken zu einem Bummel durch die Buchhandlungen der Stadt der Bücherliebe.
Klaus Krolzig besuchte “Shakespeare and Company” 2: Bilder aus dem Laden
Sie war das It-Girl unter den Intellektuellen, mit “der Präsenz eines Popstars” (Ingeborg Bachmann), die modisch Mondäne und leise, aber wortgewaltige Lyrikerin, die führende Schriftstellerin der deutschen Nachkriegsliteratur: Ingeborg Bachmann. Vor 41 Jahren, am 17. Oktober 1973, verstarb sie in Rom unter Umständen, die den Moll-Schlussakkord eines ebenso zerrissenen Lebens bildeten: Die tabletten- und alkoholabhängige Schriftstellerin erlag den fürchterlichen Brandverletzungen, die sie Ende September in ihrer Wohnung erlitten hatte. Eine nicht ausgelöschte Zigarette hatte das Feuer ausgelöst.
Ingeborg Bachmann wurde nur 47 Jahre alt. Ihr literarischer Stern begann 20 Jahre vor ihrem Tod aufzugehen – 1953 las Ingeborg Bachmann erstmals bei der berühmten Gruppe 47 und setzte sofort Maßstäbe: Literarisch, aber auch als Frau in einer doch sehr von Männern dominierten Literaturwelt.
Sie gewinnt mit ihrem Lyrikband „Die gestundete Zeit“ den Preis der Gruppe. Und sie weckt Beschützerinstinkte: Martin Walser erlebt sie und schreibt am 28. Oktober 1957 an den gemeinsamen Verleger Siegfried Unseld: „Sie strömt Unglück aus wie andere Frauen Parfüm. Ich habe jede Skepsis ihr gegenüber verloren und würde alles tun, ihr ein bißchen helfen zu können.“
„Bachmann fühlt sich fremd in der Welt“, schreibt Ingeborg Gleichauf in ihrem lesenswerten Buch über die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (Piper Verlag, München, 2013). Ja, zu dem komplizierten Innenleben dieser Dichterin passen komplizierte Beziehungen. Reines Glück war ihre Sache wohl nie. 1926 wird Ingeborg Bachmann in Klagenfurt geboren, erstes Kind eines Schuldirektors. Dem Elternhaus entflieht sie früh, studiert ab 1945 Philosophie, Rechtswissenschaften, Psychologie und Germanistik.
Die Welt ist weit (1952, Auszug)
Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr
und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.
Die Fahrt ist zu Ende,
doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
in jedem Schatten zerriß mein Gewand.
Bereits mit ihrem Doktorvater, dem Philosophen Victor Kraft, verbindet sie eine Beziehung. Aber dann lernt sie 1945 Paul Celan kennen – jenen Lyriker, dessen Sprache und ihre so sehr miteinander verwandt sind. Bereits ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung geht Celan jedoch nach Paris. Die beiden beginnen sich brieflich anzunähern – der Briefwechsel dauert an bis Ende 1961, als Celan in eine schwere psychische Krise gerät. Bei Suhrkamp erschien 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ dieser Briefwechsel der beiden bedeutenden Lyriker deutscher Sprache der Nachkriegszeit – ergreifend ist es, anhand der Briefe und Telegramme zu sehen, wie beide nicht miteinander leben, einander aber auch nicht loslassen können und darum ringen, auch durch längere Phasen des Schweigens, wenigstens eine Art der Beziehung haben zu können.
„Habe vergeblich versucht dich anzurufen geheimnummer wird nicht bekanntgegeben bitte ruf mich gegen 10 uhr morgens an oder telegrafiere deine nummer deine ingeborg“ 3.12.1960
Da ist sie bereits in einer, wie man so schön neudeutsch sagt, on-and-off-Beziehung zu Max Frisch. Ihn lernte sie 1958 kennen. Auf den ersten Blick ein ungleiches, unpassendes Paar, Frisch allein schon körperlich und sprachlich ein Antipode nicht nur zu dem feinnervigen Celan, sondern zu der ebenso feinnervigen Bachmann. Max Frisch, uneitel in Äußerlichkeiten, bodenständig und lebenspraktisch erscheinend – sie, die durchaus auf ihr Äußeres achtet, immer auch etwas dem Alltag enthoben. Während sie und Max Frisch sich annähern – auch dies von Beginn an schwierig – ist Paul Celan immer noch ihr Bezugspunkt. Und wird es eigentlich bis zu dessen Freitod 1970 bleiben.
Wie soll ich mich nennen? (1952, Auszug)
Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.
Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.
Bis 1962 hält die Verbindung zu Frisch an. Es kommt zu einem schmerzhaften Bruch. „Ein grandioser Anfang und ein trauriges Ende“, wie Ingeborg Gleichauf in ihrem Buch schreibt. Beide verarbeiten dieses Scheitern literarisch. Ingeborg Gleichauf umkreist dieses Aufeinandertreffen zweier literarischer Größen mit einer behutsamen Sprache, vieles ihres Buches ist jedoch Deutung und Interpretation, doch gerade auch wegen dieser psychologischen Annäherung nicht minder interessant zu lesen. Gleichauf verknüpft Leben und Werk des Autorenpaares und zeigt auf, wie die Beziehung sich letztendlich in deren Werke fortsetzte – bei Ingeborg Bachmann gut zu entschlüsseln in ihrem einzig vollendeten Roman „Malina“.
Wie sehr Ingeborg Bachmann unter der Trennung litt, ja eigentlich daran zerbrach, dies macht Andrea Stoll in ihrer Biografie „Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“ deutlich. „Es ist die größte Niederlage meines Lebens“, sagte die Autorin selbst dazu. Doch Andrea Stoll fokussiert sich nicht nur auf diese Seite der Autorin, sondern zeichnet das ganze Leben und alle Facetten dieser faszinierenden Frau nach: Die Lust an der Selbstinszenierung, die Freude an der Eleganz ebenso wie die Unsicherheiten, die eine unabhängige schriftstellerische Existenz auch materiell mit sich bringt, das Ringen um die persönliche Freiheit zwischen diesen Polen. Und über alledem: Der Anspruch an das eigene Schaffen, ein Absolutheitsanspruch, der Wille und der Kampf um die Schönheit der Sprache. Stoll konnte für ihr Buch auf verlässliche Quellen bauen – neben Gesprächen mit Weggefährten gelang ihr auch der Kontakt zur Familie, Interviews mit Bachmann-Geschwistern, erstmals auch Einblick in einige Briefe der Schriftstellerin an ihre Eltern. So ist ihre Biografie eine seriöse Arbeit, die manche Mythen und Legenden, die sich um die Schriftstellerin ranken, zurechtzurücken vermag.
Eines der Bachmann`schen Lebensthemen tritt in allen genannten Büchern jedoch deutlich hervor: Dieses verzweifelte Ringen um Freiheit und Unabhängigkeit, dessen Kehrseite auch die Einsamkeit ist. Diese Zugehörig-Sein-Wollen und doch die Nähe nicht zu ertragen.
Und über alle dem: Das Schreiben, das Verpflichtung, Qual, Strafe, aber auch Freude, Sinnerfüllung und Lebensinhalt für diese Ausnahmeerscheinung war.
Bücher:
„Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit“,
von Ingeborg Gleichauf, 224 Seiten, ISBN: 978-3-492-05478-2, € 19,99
„Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“,
von Andrea Stoll, 384 Seiten, ISBN 978-3-570-10123-0, € 22,90
„Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel“
399 Seiten, suhrkamp taschenbuch 4115, Broschur, ISBN: 978-3-518-46115-0, € 9,95
Ein Beitrag von Klaus Krolzig
Marcel Reich-Ranicki schrieb einmal, Literaten und Mediziner seien “Fachleute für menschliche Leiden”, und so sei es nur naheliegend, daß es zwischen beiden Berufsgruppen viele Berührungspunkte gebe. In der Tat haben sich die Mediziner um die deutsche Literatur der letzten hundert Jahre wie kein anderer Berufsstand verdient gemacht.
Als jüngster Sproß der schreibenden ärztlichen Zunft darf wohl Uwe Tellkamp gelten, der mit seinem Roman “Der Turm” 2008 den deutschen Buchpreis gewann. Tellkamp reiht sich damit ein in eine erstaunliche Zahl von Autoren, die eine medizinische Ausbildung hatten. So waren drei der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zugleich Ärzte: Arthur Schnitzler, Alfred Döblin und Gottfried Benn.
Arthur Schnitzler war rund zehn Jahre als Arzt tätig, bevor er sich ganz der Literatur widmete. Ein großer Teil seines schriftstellerischen Werks steht unter dem unmittelbaren Einfluß seiner medizinischen Einsichten und Erfahrungen. Als Erzähler deckte er Schichten des Unterbewußtseins auf, die noch nie in einer literarischen Arbeit dargestellt worden waren. Als Beispiel hierfür darf die 1900 erschienene Novelle “Leutnant Gustl” gelten, die sich ausschließlich auf den inneren Monolog beschränkt.
Ein leidenschaftlicher Psychiater und Neurologe war auch Alfred Döblin. Ähnlich wie Schnitzler dringt er in die tiefsten Schichten des Unterbewußten vor, so in der 1910 gedruckten Novelle “Die Ermordung einer Butterblume”. Döblin betrachtete seine Patienten als Romanfiguren. Sie lieferten ihm den Stoff für sein Meisterwerk “Berlin Alexanderplatz” (Eine Besprechung des Romans findet sich unter diesem Link: Berlin Alexanderplatz).
Haben Arthur Schnitzler und Alfred Döblin die Prosa revolutioniert, so gilt dies für Gottfried Benn auf dem Gebiet der Lyrik. Er war rund 40 Jahre als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten tätig. Von der Herz-Schmerz-Dichtung einiger seiner Vorgänger wollte er nichts wissen. In seiner Lyrik dominieren Verfall und Verwesung, wie es schon einige Titel andeuten: “Saal der kreißenden Frauen” oder “Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke”.
Die Liste der weltweit bekannten Autoren, die ebenfalls als Mediziner tätig waren, ist beeindruckend lang: Friedrich Schiller war Regimentsarzt, John Keats Wundarzt, Georg Büchner Anatom. Heinrich Hoffmann, der Vater des “Struwwelpeter” war Chefarzt einer Irrenanstalt. Für Anton Tschechow war “die Medizin meine gesetzliche Ehefrau und die Literatur meine Geliebte”. Diese Liste läßt sich fortführen mit Autoren wie Michail Bulgakow, Sir Arthur Conan Doyle, William Carlos Williams. Nicht praktiziert, aber die Medizin studiert haben u.a. Gottfried Herder, Ludwig Börne, August Strindberg, Bertolt Brecht, Louis Aragon, Henrik Ibsen, André Breton und Stanislaw Lem.
Daß dichtende Ärzte für ihre Patienten nicht immer ungefährlich sind, beweist eine Anekdote über Schiller. Als er an den Räubern schrieb, war er von seinen draufgängerischen Figuren so hingerissen, daß er als Arzt zu ähnlich drastischen Therapien neigte. Als Arzt verschreibe er gerne “starke Dosierungen” und man solle ihm “lieber zehn Pferde zur Behandlung schicken als die eigene Frau.”
Über die Gemeinsamkeiten von Medizin und Literatur schrieb Marcel Reich-Ranicki: “Die Literatur kann niemanden heilen, aber wer erzählt, wer dichtet, will die Zeit aufhalten. Der Arzt und der Schriftsteller – sie rebellieren gegen die Vergänglichkeit. Sie haben stets das gleiche Ziel vor Augen: Die Verteidigung des Lebens. Und einen gemeinsamen Feind: den Tod. So darf man denn sagen, daß sie Geschwister sind – die Medizin und die Literatur.”
„Es glich einem Wunder, daß in der Flußmetropole überhaupt noch eine Schindel auf den Dachstühlen, eine Hauswand senkrecht und eine Glasscherbe in den Fensterrahmen geblieben war. Ein vierteltausend Angriffe – anfangs nachts, später auch bei Sonnenschein – hatten die Stadt umgepflügt. Um die sechstausend Menschen, Einheimische, zu den Fabriken Herverschleppte aus dem Osten, waren auf den Straßen zerfetzt, unter Gemäuer begraben worden, in ausglühenden Schutzräumen erstickt und verschmort. Lodernd waren Lancaster-Bomber in den Rhein gestürzt. In den Cockpits der Feinde, der Bezwinger, der Befreier war noch unter Wasser ein Flammen und verzweifeltes Gestikulieren zu erkennen gewesen.
Kein Wort konnte die Geschehnisse erfassen und zur Ruhe bringen.Das Ausmaß und die Tiefe der Wunde waren vielleicht noch längst nicht erkannt. Wie viele Jahre müßten vergehen? – Zerstörung, Schande waren nun das Erbe der Nation. Wann käme eine neue, bessere Vermischung ihrer Substanz? Daß man als Deutscher wieder zu dem würde, was man ehedem gewesen war: Bürger der Welt, tüchtiger Arbeiter, Faulenzer vor dem Herrn, Verkehrspolizist oder Verliebte ohne Schattenreich im Nacken.
Gottlob gab es den Alltag. Auch wenn er die Nerven aufs außerste strapazierte.“
Das ist Düsseldorf im Jahre 1954, als Thomas Mann in Hans Pleschinskis Roman „Königsallee“ ein déjà vu hat.
Ein Beitrag von Klaus Krolzig
“Geliebte Lippen, die ich küßte.” Mit diesem Tagebucheintrag vom 20. Februar 1942 offenbarte Thomas Mann so deutlich wie nie zuvor seine homoerotischen Neigungen zu dem 17-jährigen Klaus Heuser, den er 1927 bei einem Sylt-Aufenthalt kennengelernt hatte. “Menschlich gesehen war dies meine letzte Leidenschaft, und es war meine Glücklichste”, schrieb er bereits am 9. September 1933.
Was sich genau zwischen dem 52-jährigen Schriftsteller und dem jungen Klaus Heuser abgespielt haben könnte, kann man nur mutmaßen. Denn Thomas Mann hat seine Tagebücher aus den Jahren 1922-1932 vernichtet. So groß war die Angst, sie könnten in falsche Hände geraten und gegen ihn verwendet werden.
Die Spuren dieser Sommerliebe haben den großen Thomas-Mann-Kenner Hans Pleschinski zu “Königsallee” inspiriert, einem unterhaltsamen und manchmal auch berührenden Roman. Die Handlung spielt im Jahre 1954, als Mann ein Jahr vor seinem Tod zum ersten Mal nach seiner Emigration Düsseldorf besucht, um dort eine Lesung abzuhalten. Zufällig hält sich zum gleichen Zeitpunkt auch Klaus Heuser in Düsseldorf, seiner Geburtsstadt, auf. Nach 18 Jahren Asien-Aufenthalt besucht er zusammen mit seinem Lebensgefährten Anwar seine Eltern.
Die Ankunft Thomas Manns im Breidenbacher Hof beschreibt Hans Pleschinski wie folgt:
Im Blitzgewitter näherten sich als dunkle Umrisse, dann überbelichtet, zwei kleinere und eine größere Erscheinung. Erst allmählich ahnten und gewahrten die Anwesenden… es waren die Nobelpreis-Eltern mit der Tochter. Thomas Mann trug Hut, einen beigefarbenen Anzug, ein locker geschwungener Schal ließ die Fliege erkennen.
Der Berühmte! Welche Berühmtheit! Gelesen und ungelesen. Der Schöpfer von Hans Castorp, der Erfinder eines Zwiegesprächs zwischen dem Teufel und einem Komponisten, der Urheber von “Königliche Hoheit”, der Künster, der die Lübeck-Saga in die Welt gesetzt hatte, der Befürworter der Bombardierung Deutschlands, Gastgeber für Albert Einstein und Marlene Dietrich, die Humanitas in persona, der unanfechtbar Gerechte, der Magier, der aus Buchstaben auf Tausenden von Seiten das pharaonisch-biblische Ägypten auferstehen ließ, Josephs-Geschichten, der Heraufbeschwörer schwüler Lust … Der stilistische Meister, der den Führer zum “blutigen Darmwind eines erkrankten Volksrests” degradiert hatte.
Wie konnte ein Deutscher so weit aufsteigen. In solchen Zeitläuften. Höher hinaus als schier jeder. Dies alles war zuviel für die nur äußerlich barsche, insgeheim hoch kultivierte Baurätin von Düsseldorf. Sie griff am Kamin nach halt. “Lotte in Weimar”, ihr Lieblingsbuch, nun traf mit der ordinären Post nicht Charlotte Buff ein, um ihrem einstigen Geliebten Goethe ihr späte Aufwartung zu machen, mit deplaciert rosa Schleifchen am Kleid, jetzt kam der Dichter der melancholischen Begegnung selbst.
Bis dahin entspricht alles den Tatsachen. Aber Pleschinski manipuliert die Wirklichkeit, indem er Klaus und Anwar in das gleiche Hotel einziehen läßt, in dem auch Thomas Mann, seine Frau Katja und Tochter Erika untergebracht sind. Mit dem Resultat, daß die alte, nie gestillte Leidenschaft zwischen Thomas und Klaus wieder aufflammt, obwohl diese erneute Annäherung sich auf sehnsuchtsvolle Blicke und ein nächtliches Gespräch im Benrather Schloßpark beschränkt.
An der Darstellung expliziter Szenen ist Pleschinski nicht interessiert. Er ist ein viel zu großer Thomas-Mann-Verehrer, als daß er ihn ob des delikaten Themas der Lächerlichkeit preis gäbe. Es geht ihm vielmehr um eine Variation auf das Werk Thomas Manns. So spielt sich der Roman wie in “Lotte in Weimar” (der alte Goethe trifft nach vielen Jahren zufällig auf seine Jugendliebe Lotte) größtenteils in einem Hotel ab. Daneben wimmelt es in “Königsallee” nur so von literarischen Mann-Figuren und Anspielungen auf sein Werk, die sich in ihrer Gesamtheit nur dem passionierten Mann-Leser zu erkennen geben. Mit dem Versuch, auch noch im Stil Thomas Manns zu schreiben, hat sich Pleschinki dann doch etwas verhoben. Da wäre weniger wohl mehr gewesen.
An Mann’schem Humor und Ironie läßt es Pleschinski ebenso wenig fehlen. Klaus Heuser wird in seinem Zimmer von 3 Hotelgästen aufgesucht. Die erste ist Erika Mann, die ihn eindringlich ermahnt, nicht mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen, da die gesundheitlichen Folgen aufgrund seines gebrechlichen Zustands nicht abzusehen seien. Daneben fleht der Kritiker Ernst Bertram (ein guter Freund von Thomas Mann, der sich auf die Seite Hitlers geschlagen hat) Heuser regelrecht an, er möge bei Thomas Mann für ihn ein gutes Wort einlegen. Und zum guten Schluß ist da noch der Sohn Golo Mann, der sich von seinen Eltern mißverstanden und gehaßt fühlt. Klaus Heuser soll für Golo’s neues Amerikabuch Reklame beim Vater machen.
So unterhaltsam diese Passagen auch sein mögen, der Zwang zum Kommödiantischen wirkt stellenweise langatmig und hat mich nicht immer überzeugt. Meisterhaft weiß Pleschinski am Ende von “Königsallee” die haßerfüllte Stimmung wiederzugeben, die Thomas Mann in Deutschland entgegenschlug, als man ihn des Landesverrats durch Emigration bezichtigte.
Das Bild, das Pleschinski von Klaus Heuser in diesem Roman zeichnet, ist beeinflußt von bislang unbekannten, nicht veröffentlichen Briefen Heusers, die ihm von der Nichte zur Verfügung gestellt wurden.
Hans Pleschinski, Königsallee, C.H.Beck-Verlag, 394 Seiten, 19,95 €
Der Gefangene
Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!
Ich soll? Ich muß? - Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen bessre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!
Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!
Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann’s euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!
Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen - Tyrannei!
dann ruf ich’s in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!
Das Gedicht entstand im August 1919.
„Erich wie? Mühsam. Erich Mühsam. Tatsächlich wissen heute Viele mit dem Namen nichts mehr anzufangen. Auch in den Reihen der Buchhandlungen sucht man meist vergeblich nach ihm. Ein Symptom dafür, dass die kulturelle Erinnerungsarbeit außerhalb einiger kleiner linksintellektueller Kreise hier jahrzehntelang geschlafen hat. Oder - schlimmer Verdacht - gar schlafen wollte?“
So stand es 2003 in der „Zeit“ zu lesen, als zum 125. Geburtstag des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam zumindest die Stadt München diesem Menschen, der sich nicht brechen ließ, eine Ausstellung widmete. Zehn Jahre später könnte man dieses Zitat wohl unverändert übernehmen – Erich Mühsam wird, wenn überhaupt, von Vielen allenfalls als Revolutionär erinnert, noch lieber stürzt man sich in gelegentlichen Artikeln jedoch auf sein Leben als Kaffeehauslöwe, Bohemian und Frauenflüsterer.
Seine schriftstellerische Bandbreite, die Bemühungen und Ziele seines Lebens und politischen Wirkens: Der Ruch des alle Grundfesten erschütternden Anarchisten hängt ihm an. Wer weiß, was er zu den heutigen Zuständen einer scheinbar satten und saturierten Gesellschaft zu sagen gehabt hätte. Lässt man leichter die Finger davon. Die Auseinandersetzung mit Mühsam ist manchem zu mühsam – albernes Wortspiel, an dem ich trotzdem nicht vorbeikomme.
Wer war dieser Mann, der zeitlebens den aufrechten Gang übte?
Biographisches hier in aller Kürze:
1878 in Berlin geboren, Kind jüdischer Eltern (1926 trat er aus dem Judentum aus), aufgewachsen in Lübeck. Dort wird der sprachlich begabte Schüler, der früh schon eigene Texte schreibt, 1896 vom Gymnasium wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ verwiesen. Nach Lehr- und Wanderjahren ab 1909 in München. Hier gründete er die dem Sozialistischen Bund angehörenden Gruppen „Tat“ und „Anarchist.
1915 Heirat mit „Zenzl“, 1918 erstmals Festungshaft wegen politischer Betätigung, 1919 einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik, nach deren Niederschlagung erneut Festungshaft. Die Verurteilung lautete auf 15 Jahre, 1924 erfolgte die Amnestie. Mühsam geht zurück nach Berlin, nimmt seine politischen Tätigkeiten sofort wieder auf. Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird Mühsam verhaftet. Knapp anderthalb Jahre „Schutzhaft“ übersteht Mühsam, ohne von seinen politischen Überzeugungen einen Deut abzurücken. In der Nacht vom 9. auf 10. Juli 1934 wird er von SS-Leuten im KZ Oranienburg ermordet. Zu Tode geprügelt und dann aufgehängt, erzählen Überlebende der KZ-Haft später.
Seine Worte brennen heute noch:
„Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.
Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen.“
Aufsatz zur Anarchie, erschienen im Kain-Kalender 1912 – die von Erich Mühsam herausgegebene Zeitschrift „Kain“ mit dem Untertitel „Zeitschrift für Menschlichkeit“ erschien von 1911 bis 1919, allerdings nicht in den Kriegsjahren.
Weiterlesen zu Werk und Biographie lässt sich auf zwei Internetseiten, die sich intensiv mit Mühsam auseinandersetzen:
http://www.erich-muehsam-gesellschaft.de/ und hier: http://www.muehsam.de/.
(Auch Quelle der untenstehenden Texte und Illustrationen).
Die Tagebücher Erich Mühsams sind ebenfalls online lesbar – Zeitdokumente von hoher Bedeutung und Eindringlichkeit:
http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php
An dieser Stelle hier nur noch ein kleiner Streifzug durch die Werke des Schriftstellers. Ich will damit nicht nur seine unheimliche Produktivität aufzeigen, sondern auch die Vielfalt seines Könnens, das ebenfalls in Vergessenheit geraten ist.
Erinnernswert sind beispielsweise seine Schüttelreime:
„Man wollte sie zu zwanzig Dingen
in einem Haus in Danzig zwingen.“
Mühsam wird selten zitiert – vielleicht, weil er aufgrund seiner politischen Haltung nach wie vor nicht als zitierfähig gilt. Dabei schüttelte Mühsam neben (oder auch trotz) der zeitaufwändigen politischen Agitationsarbeit scheinbar mühelos noch zahlreiche humorvolle, satirische oder auch ganz liebevolle Texte aus dem Ärmel.
So das Kindergedicht „Der Faulpelz“:
Der Faulpelz
Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!
Tust du es nicht gerne,
Hilft’s dir dennoch nicht.
In der Schule morgen
Weißt du dir es Dank. -
Otto sitzt in Sorgen
Auf der Gartenbank.
Otto sitzt in Kummer
Unterm Lindenbaum;
Und er sinkt in Schlummer,
Weiß es selber kaum.
Fanny und Lenore
Treiben mit ihm Spaß,
Kitzeln ihn am Ohre
Mit dem Zittergras.
Otto’s Geist ist ferne,
Und er merkt es nicht; -
Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!
Eheleute, seid doch bloß vernünftig!
Liegt euch doch nicht dauernd in den Haaren!
Wenn’s nicht anders geht, dann mögt ihr künftig
lieber einen Hausfreund um euch scharen.
Eintracht! Ruhe! schreibt auf eure Fahne.
Das die Atmosphäre ihr entgiftet,
ruft die Götter an nach Ledas Schwane.
Dieser kennt die Kunst, die Frieden stiftet
Vermöchten wir’s, mit einem jeden
Geschöpf von Gott und Welt zu reden,
wir staunten wohl in Permanenz
ob manchen Tiers Intelligenz,
zum Beispiel, wieviel Intellekt
entwickeln könnt’ selbst ein Insekt.
Doch lassen lieber wir’s beim Alten.
Denn sollten wir ihm Vortrag halten,
wo bliebe da bei dem Insekt
Vor Menschenweisheit der Respekt?
So warb der Sportsmann Max sein Weib Marie:
“Willst du es mit mir wagen, meine Teure?
Begleite mich zur ewigen Kahnpartie:
Ich rudre dich durchs Leben, und du steure!”
Bilder: www.muehsam.de
Noch eine Nachreichung - dank des Kommentars von Gerhard von http://www.form7.wordpress.com erneut in Erinnerung gerufen.
Aber dieses Gedicht, das Mühsam 1907 der deutschen Sozialdemokratie widmete, erscheint in Zeiten der nahenden großen Koalition einfach wieder hochaktuell:
Der Revoluzzer
War ein mal ein Revoluzzer
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.
Und er schrie: “Ich revolüzze!”
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.
Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.
Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus.
zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revoluzzer
schrie: “Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehn,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! -
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!”
Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.
Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
Bild: Iris Jahnke
Herbstabend
Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.
Verlassen stehn Wiese und Weiher,
Es schimmert kein Segel am See.
Am Himmel nur Wildgans und Geier
Verkünden den kommenden Schnee.
Schon rüttelt der Wind an der Scheune.
Im Dunkel ein Nachtkäuzchen schreit.
Ich sitze alleine beim Weine
Und vertreib mir die Jahreszeit …
Im Gasthaus verlischt eine Kerze.
Verspätet spielt ein Klavier.
- Dem ist auch recht bange ums Herze.
Adagio in Moll - so wie mir.
Der Abend ist voller Gespenster,
Es poltert und knackt im Kamin.
Ich schließe die Läden am Fenster
Und nehme die Schlafmedizin.
Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz
EIn Beitrag von Klaus Krolzig
Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.
Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.
1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.
1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.
1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.
Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:
Das Rezept
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.
Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Dein eignen Schatten nimm
zum Weggefährten.
Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruss mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.
Zerreiss deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.
Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.
Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html
Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/
Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/
„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“
Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999
„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“
Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013
In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.
Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley (“Lügen in Zeiten des Krieges”), Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.
Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.
Elternlos, heimatlos, sprachlos.
Otto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.
Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:
„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“
Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.
Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen, mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.
„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“
Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst. Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.
Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:
„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.
Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.
Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.
„Landschaften der Metropole des Todes“, Deutsche Verlagsanstalt DVA, 192 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04593-5
Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.
„Geschichte eines Lebens“, rororo-Taschenbuch, 208 Seiten, 8,99 Euro, ISBN 978-3-499-24247-2
Aufmerksam machen möchte ich noch im Zusammenhang mit der Heimatstadt von Aharon Appelfeld auf das Projekt „Zeitzug“: http://www.zeitzug.com
“Schwarzes Pferd, weißes Pferd,
eine einzelne Menschenhand zügelt das Rasen beider.
Wie heiter die Fahrt mit halsbrecherischem Tempo.
Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt.
Verbirg dich im Licht.”
Albert Camus.
Vorangestellt dem Roman “Wie wir verschwinden” von Mirko Bonné.
Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig.
Der 100. Geburtstag von Albert Camus ist sicher ein Anlass zur Erinnerung. Zumal ich schon lange nicht mehr in seinem Werk geblättert habe. Es mögen vielleicht schon mehr als 30 Jahre her sein, als “Der Fremde” und “Die Pest” auf mich als junger Mensch großen Eindruck gemacht haben. Zuletzt wurde mein Interesse an Camus 1995 durch seinen posthum erschienenen Roman “Der letzte Mensch” neu entfacht. Damals war er wieder in aller Munde, selbst das Literarische Quartett mit Marel Reich-Ranicki hat sein Erscheinen als ein literarisches Meisterwerk gefeiert. Ich möchte an dieser Stelle auf dieses Buch noch einmal aufmerksam machen und auf seine Nachwirkung in einem 2009 erschienenen Roman von Mirko Bonné.
Der Mutter mit den Worten gewidmet: “Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können”.
Am 4. Januar 1960 befindet sich Camus als Beifahrer im Auto seines Verlegers Michel Gallimard auf der Rückreise von der Côte d’Azur nach Paris. Aus ungeklärten Gründen kommt der Sportwagen bei hoher Geschwindigkeit von der schnurgeraden Straße ab und prallt gegen einen Baum. Camus ist sofort tot, Gallimard stirbt später in einem Krankenhaus. Neben dem Wrack findet man das Manuskript eines unvollendeten Romans mit dem Titel “Der letzte Mensch”. 144 eng beschriebene Seiten, an denen Camus bis zuletzt geschrieben hat. Als das Fragment 1994, also 34 Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers in Frankreich veröffentlicht wird, ist es eine literarische Sensation. Es ist die ergreifende Reise in seine armselige Kindheit in Algerien. Ein Jahr vor seinem Tod begann Camus mit der fast atemlosen Niederschrift.
Camus bedient sich des Ich-Erzähler Jacques Cormery, eines vierzigjährigen Mannes, offenkundig Schriftsteller, auch wenn dies nie explizit gesagt wird. Cormery ist aber nicht das alter ego von Camus. Er ist Camus. Dies ist kein Roman mit autobiographischen Elementen, sondern eine Autobiographie in der Form eines Romans.
Im ersten, 1913 spielenden Kapitel, wird die Welt der Eltern in Algerien zur Zeit der Geburt des Sohnes geschildert. Mit einem Planwagen kommen sie als Kolonisten von Algier auf das Land. Der Vater ist ein schweigsamer Mann, die Mutter schön, aber halb taub. Diese Welt wird in den nächsten Kapiteln verlassen. Vierzig Jahre später besucht der Sohn das Grab seines 1914 gefallenen Vaters, den er also nie kennengelernt hat. Er fährt nach Algier und besucht Mutter, Onkel und den alten Lehrer, der ihn als Jugendlicher aus der geistigen Armut und Sprachlosigkeit seines bücherlosen Zuhauses erlöste und ihm den Zutritt zum Gymnasium verschaffte. Ihm verdankt er somit seine Entwicklung zu einem der prägenden Intellektuellen. Mehr und mehr gerät dabei in ausführlichen Rückblenden die Welt des Jungen in der Familie, in der Schule, im Viertel, auf dem Gymnasium und bei Arbeiten in einer Eisenhandlung in den Blick des Erzählers. Der Onkel arbeitet als Böttcher, die Mutter als Putzfrau und Wäscherin. Es ist eine Welt der Armut. Wo man nicht lesen und schreiben kann, herrscht die Sprache der Sinne und Gebärden.
Das Viertel im Maghreb mit seinen Katzen und dem Hundefänger, das Böttchern, die Jagd, die Schule, das Fussballspielen mit genagelten Schuhen, aber auch das Klima, der Wind, Sonne und Sand – alles weiß Camus mit wenigen Sätzen unvergeßlich zu machen, und nichts wirkt wie gehetzt. Das wäre schon genug für ein gutes Buch, aber einmalig und ergreifend ist dieser Roman in seinem pathetischen Grundgestus: Er ist, die Widmung sagt es, für die Mutter geschrieben, die nicht lesen kann. Er setzt ihr darin ein Denkmal mit den Worten: “Die, die Liebe erwecken, selbst wenn sie Verworfene sind, sind die Könige der Welt und rechtfertigen sie.”
Mit der Ernennung zum Torwart seiner Schulmannschaft endet Camus’ Roman-Fragment. Das letzte Kapitel heißt “Sich selber unklar” und handelt vom Abschied von der Kindheit und dem schmerzhaften Aufbruch in die Kälte der Erwachsenenwelt.
Erst nach der Lektüre dieses Buches, das in ausgeführter Form wohl sein schönstes geworden wäre, läßt sich ermessen, welch riesigen Verlust der frühe Tod von Albert Camus wirklich bedeutet hat.
Mirko Bonné hat den Unfall Camus’ in die Handlung seines 2009 erschienenen Romans “Wie wir verschwinden” eingebaut.
Der 4. Januar 1960, an dem der Nobelpreisträger bei einem Autounfall starb, ist zugleich der Tag, an dem die Jugendfreundschaft zwischen dem Erzähler Raymond und seinem Freund Maurice endete. Beide Ereignisse stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang, der Unfall geschah zufällig in der Nähe des Dorfs, in dem die Freunde aufwuchsen. Bonné verbindet das historisch verbürgte Ereignis des Unfalls so geschickt mit der fiktiven Handlung, daß eine vielschichtige Komposition entsteht.
Mirko Bonné setzt verschiedene Erzähltechniken ein. Besonders kunstvoll versteht er das Dehnen der Zeit in den Camus-Kapiteln in Sprache umzusetzen. Einen nur wenige Minuten dauernden Vorgang wie den Autounfall schildert er hier auf mehreren Seiten. Am Anfang scheinen die Handlungsfäden nur lose verschlungen zu sein, doch allmählich verknüpfen sie sich und werden schließlich zusammengeführt. Am Schluß gilt für die Protagonisten, was Camus am Ende von “Der Mythos von Sisyphos” betont: Wir müssen ihn uns als glücklichen Menschen vorstellen. Also das Leben trotz allem zu lieben.
Einen Einblick in das Buch ermöglicht die Verlagsseite: http://www.schoeffling.de/book2look/436
„Und Ödon überwand seine Angst und ging die Stufen hinab in den feuchten Keller, wo die Äpfel lagerten, die sündigen Äpfel, wo der Wein an der Wand ruhte, Blut von meinem Blut, in den Gefriertruhen das Fleisch vom Eis wartete, wo die Schinken an der Decke hingen, überzogen mit Zeit, wo die Fallen aufgestellt waren, wo die alten Koffer, aufeinandergeschichtet, eine Höhle gaben, wo die Zahlenschlösser alle Geburtstage verrieten, wo ein Raum verschlossen blieb, ein Raum, der tiefer führte, noch tiefer hinab, ein Raum (…)
Und die Sauna war dort, wo sie zusammen schwitzten, gegen die Sanduhr schwitzten, wo er allein saß, obwohl er es nicht durfte, und sich vorstellte, Gott ließe den Stuhl neben der Tür umfallen (…)“
Und so geht der Text fort, wo er fortgeht, wo diese Zitate nur Beispiele sind von vielen, vielen Zitaten, die zeigen, wie der Stil dieses Buches ist, dieses spannend gemeinten Buches, das ein Thriller sein soll, dieses geschriebenen Buches, das da…
Okay, jetzt ernsthaft: Albert Ostermaier liebt ganz offenbar Nebensätze. Er (oder sein Lektor) weiß, wie man Kommas richtig setzt. Das ist an sich schon eine bewundernswerte Kunst. Aber: Man muss sie nicht überstrapazieren. Wenn man beim Gang in den Keller am Ende der Treppe nicht mehr richtig weiß, was Ödon dort wollte (und wer ist überhaupt dieser Ödon?), dann muss das nicht allein an der mangelnden Aufmerksamkeit des Lesers liegen.
Albert Ostermaier, Dramatiker und Lyriker, ist in die Sprache verliebt. So sehr, dass er angesichts seiner Wortspielereien vergisst, seine Geschichte zu schreiben. „Seine Zeit zu sterben“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen. „Ein packender, sprachmächtiger Thriller aus der Glitzerwelt Kitzbühels“, so verkündet es der Klappentext. Ich hätte gewarnt sein können.
„Niemand nimmt für bare Münze, was sich ein Verlag zur Anpreisung seiner Neuerscheinungen ausdenkt. Wenn jetzt ein neues Prosawerk des Münchner Schriftstellers Albert Ostermaier bei Suhrkamp als “rasanter Thriller” angepriesen wird - was soll’s? Ärgerlich allerdings, wenn die Literaturkritik den Faden aufnimmt und angesichts “dieses packenden Romans” (“FAZ”) in Begeisterung ausbricht. Das Buch mit dem dramatischen Titel “Schwarze Sonne scheine” ist weder spannend noch rasant und von einem Thriller Lichtjahre entfernt. Das, was Ostermaier, 43, mit kaum überbietbarer Redundanz erzählt, füllt auch keinen Roman.“ - So war es im Spiegel am 30. Mai 2011 zu lesen (Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-78689661.html) zum Vorgängerroman „Schwarze Sonne scheine“.
Und was dort geschrieben ward, hat leider auch für den Kitzbühel-Roman seine Gültigkeit. Zwar wird jede Menge hochdramatisches Personal herangezogen – russische Mafiabosse samt Leibwächter und Killer, Schickeria in auffälligen Outfits, merkwürdige Priester, Skirennfahrer unter Pädophilie-Verdacht sowie ein wohlstands-verwahrlostes Kind. Der Plot dreht sich um eine Kindesentführung während der Streif, dem berühmten Abfahrtrennen. Ansonsten wedelt die Geschichte mal hierhin, mal dorthin. Was eine rasende Schussfahrt sein sollte, wird zum mühseligen Slalom durch Wortspielereien bis hin zum Sturz in die Klischee- und Kitschfalle:
„Die Sonne verspielte sich in den Eiswürfeln und labte sich an den Gesichtern der beiden Frauen, die sich ihr entgegenstreckten wie Blumenkelche zu Beginn des Frühlings nach einem unerbittlichen Winter.“
Dazu muss man wirklich nicht mehr viel sagen. Für mich war dieser Roman eine Enttäuschung. An Worten: Zuviel des Guten. Die FAZ hat dagegen einmal mehr sehr wohlwollend interpretiert. Das soll nicht vorenthalten werden: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/albert-ostermaier-seine-zeit-zu-sterben-die-erogenen-zonen-der-skipiste-12561424.html.
Freilich, das gibt auch Rezensent Jan Wiele zu: die Metaphorik der Lawine werde ziemlich überstrapaziert. Man könnte auch so sagen: Das Buch wird unter Metaphorik-Lawinen begraben.
PS: Der Roman hat mich persönlich sehr interessiert, weil Albert Ostermaier nicht nur einer der Träger des Bertolt-Brecht-Preises ist, den die Stadt Augsburg vergibt, sondern auch das 2006 ins Leben gerufene abc-Festival (http://www.augsburgwiki.de/index.php/AugsburgWiki/Abc-Festival) als künstlerischer Leiter verantwortete. Er stand für ein hervorragendes Programm, das Brecht nicht nur einer Kulturelite, sondern vielen Zielgruppen frisch und modern vermittelte.
Den Bertolt-Brecht-Preis verleiht die Stadt Augsburg seit 1995 in dreijährigem Turnus an Persönlichkeiten, die sich in ihrem literarischen Schaffen durch die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart auszeichnen. Bisherige Preisträger waren: 1995 Franz Xaver Kroetz, 1998 Robert Gernhardt, 2001 Urs Widmer, 2004 Christoph Ransmayr, 2006 Dea Loher (zum 50. Todesjahr Brechts um ein Jahr vorgezogen), 2010 Albert Ostermaier und heuer, 2013 Ingo Schulze.
Vielleicht ist die „Langstrecke“ des Romans keine Gattung, die sich für jeden eignet. Albert Ostermaier hat sich als Lyriker und Dramatiker einen hervorragenden Namen gemacht, seine Romane scheinen jedoch nicht auf dieselbe Resonanz zu stoßen. Nochmals ein Blick auf Brecht: Dieser selbst schrieb zwar 48 Stücke, über 2300 Gedichte, über 200 Erzählungen - aber eben nur drei Romane.
„Heutzutage glaubt kein Mensch mehr, dass ein vierzehnjähriges Mädchen mitten im Winter sein Elternhaus verlassen könnte, um den Mord an seinem Vater zu rächen; aber damals erschien einem das nicht so seltsam – wenn ich auch sagen muss, dass es sicher nicht alle Tage vorkommt.“
Charles Portis, „True Grit“, erstmals erschienen 1968, rororo-Taschenbuch 2010.
Jeder Mann, der einen Liebesroman geschrieben hat, muss anschließend etwas Ordentliches tun, meint Alex Capus. Nämlich einen Western schreiben. Er hat es getan: http://saetzeundschaetze.com/2013/07/11/jeder-mann-will-einen-western-schreiben/.
Ab und an muss man dann auch als Leser(in) etwas Ordentliches tun. Nämlich einen Western lesen. Als Kind habe ich – wie viele Kinder auch – diese Geschichten geliebt. In eine chaotische Welt brachten sie Gesetz und Ordnung. Wichtiger aber war vor allem: Man wusste einfach, wo man dran war, mit den Menschen. Ein Mann, ein Wort, ein Colt, ein Tomahawk. Der Wunsch nach Eindeutigkeit verliert sich mit den Jahren. Helden stürzen von ihrem Sockel. Die Bedürfnisse sind nicht mehr naiv, von Geschichten wird nicht mehr die Erfüllung dieser Bedürfnisse erwartet.
Doch, siehe da: Auch der Western ist erwachsen geworden. Aufgefallen ist mir dies zunächst über das Kino – Lone Ranger, Django Unchained, The Good, The Bad, The Weird, Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford: Man spricht von einer Wildwest-Renaissance. Mit den stereotypen Klischees wird nebenbei gründlich aufgeräumt – der tapfere Held, der edle Wilde, der zynische Kopfgeldjäger, deren Zeiten sind vorbei. Helden haben Ecken und Kanten. Oder sind 14 Jahre alt und ein Mädchen.
Der Roman „True Grit“, veröffentlicht 1968, bereits 1969 unter dem Titel „Die mutige Mattie“ in deutscher Übersetzung erschienen, erzählt die Geschichte dieses Mädchen, das mit einem versoffenen Marshall und einem trottelig erscheinenden Texas-Ranger auszieht, den Mörder seines Vaters zu finden. Niemand ist in diesem Roman so, wie er nach gängigen Konventionen sein sollte, und auch die „Gerechtigkeit“ ist nicht mehr das, was sie einmal war: Mattie erreicht ihr Ziel, verliert dabei jedoch einen Arm und jede Menge Illusionen. Nur glaubensfest, das bleibt die redegewandte, altkluge, manchmal äußerst nervige Göre bis ins hohe Alter.
Mattie hat echten Schneid (true grit). Die trockene, lakonische Ausdrucksweise, schwarzer Humor und herrliche Dialoge – ein Lesegenuss für einen literarischen nachmittäglichen Rachefeldzug. Bereits 1969 wurde das Buch, das zunächst in der Saturday Evening Post erschien, mit John Wayne verfilmt. Für seine Rolle als „The Marshall“ erhielt er dann endlich den ersehnten Oscar. Zur Abrundung der Lektüre ist jedoch die 2010-er Verfilmung der Coen-Brüder eher zu empfehlen. Jeff Bridges einmal mehr in einem Coen-Film – den verlotterten Marshall gibt er ebenso lässig-verspult wie seinerzeit den großen Lebowski. Für die Coens war dies erst die zweite Literaturverfilmung nach „No country for old men“, der 2007 ins Kino kam. Auch dieser Film eine hervorragende Adaption des Romans von Cormac McCarthy – auch ein Autor, der den neuen, den anderen wilden Western schreibt.
Star des Buchs, Star des Films ist jedoch die redselige, halsstarrige Mattie, Sturkopf bis zur letzten Seite, Jahre später nach dem Geschehen:
„Ich hätte mich nicht sonderlich anstrengen müssen, um mich zu verheiraten. Es geht aber keinen Menschen etwas an, ob ich geheiratet habe oder nicht. Ich kümmere mich nicht um das Gerede. Wenn ich wollte, könnte ich einen alten Pavian heiraten – und ihn zum Kassierer machen! Ich hatte ganz einfach nie Zeit für solche Spielereien. Eine Frau, die Grips im Kopf hat und kein Blatt vor den Mund nimmt, ist da vielleicht ein bisschen im Nachteil; besonders wenn sie einen Ärmel hochgesteckt trägt und eine kranke Mutter zu versorgen hat.“
„Und, Ernest, ich kann das nicht mal als eine literarische Fingerübung akzeptieren. Es scheint mir, das alles müsste sorgfältig gekürzt werden, sogar neu geschrieben. Unsere arme alte Freundschaft wird das kaum überleben, aber was lässt sich tun? Besser ich sage Dir das als irgend so ein Niemand von der Literaturkritik, der sich weder um Dich noch um deine Zukunft sorgt.“
Die arme alte Freundschaft hat auch diesen Brief aus dem Jahre 1929 überlebt (der Brief bezieht sich übrigens auf den Roman „In einem anderen Land“). Was Wunder nimmt: Denn allgemein galt Ernest Hemingway als nachtragend und Kritik gegenüber als äußerst empfindlich. Nun, vielleicht hat er später Rache genommen – indem er diese von Beginn an wunderliche, wundersame Freundschaft zu dem anderen großen Literaten dieser Zeit, F. Scott Fitzgerald, in späteren Jahren relativierte, die Rollen neu schrieb.
Unter anderem in „Paris, ein Fest fürs Leben“. Hier bin ich erstmals auf diese Verbindung zwischen zwei Literaten, wie sie vom Typ, vom Habitus unterschiedlicher nicht sein könnten, gestoßen. Die von Hemingway geschilderte Anekdote spricht Bände über seine spätere Inszenierung dieser Freundschaft:
„Schließlich, als wir die Kirschtorte aßen und eine letzte Karaffe Wein dazu tranken, sagte er (F. Scott Fitzgerald):
“Du weißt, dass ich mit niemand außer mit Zelda geschlafen habe.”
“Nein. Das wusste ich nicht”.
“Ich dachte, ich hätte es dir erzählt.”
“Nein. Du hast mir `ne Menge Sachen erzählt, aber das nicht.”
“Das ist es, worüber ich dich etwas fragen muss.”
“Schön, weiter.”
“Zelda hat gesagt, dass ich, so wie ich gewachsen bin, nie eine Frau glücklich machen könne, und das war`s, was sie zuerst aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Sie sagte, es sei eine Frage der Maße. Seit sie das gesagt hat, bin ich nie wieder der alte gewesen, und ich muss es wahrheitsgemäß wissen.”
“Komm raus, ins Büro”, sagte ich.
“Wo ist das Büro?”
“Das WC.”
Hola, die Waldfee! Erzählt man dieses über tote Kumpels? Macht man die so posthum zur Minna? Oder ist es eben das typische Konkurrenzgehabe kleiner Jungs? Denn selbstverständlich hat Hemingway den Überblick. Nicht nur an dieser Stelle zeigt er sich F. Scott Fitzgerald leicht gönnerhaft-überlegen, der Freund und Konkurrent wird als hypochondrisches Weichei charakterisiert.
Einige Briefe erstmals in deutscher Übersetzung
Dieses Ungleichgewicht wird nun etwas aufgewogen durch den Briefwechsel der Beiden, der sich immerhin 15 Jahre hinzog. Erschienen bei Hoffmann und Campe unter dem Titel „Wir sind verdammt lausige Akrobaten“, herausgegeben von Benjamin Lebert („Crazy“), der einige der Briefe Fitzgeralds erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Umfangreich ist das Buch nicht – etliche der Briefe blieben wohl nicht erhalten -, die editorische Leistung ist eher mäßig: Das Vorwort ist mehr von persönlicher Begeisterung als von Fachinformation geprägt, die Ergänzungen zu Werk und Leben sowie erwähnten Personen könnten ausführlicher sein.
Aber die Briefe an sich sind es, die dieses Zirkusstückchen ausmachen: Zwei Wortakrobaten, die sich gegenseitig in schwindelnde Höhen hochschaukeln, Witz-Kapriolen schlagen, den traurigen Clown mimen. Der „Schriftverkehr“ wirft ein neues, ungeahntes Licht auf diese Kumpanei zwischen dem eleganten Lebemann und dem trinkfesten Macho.
Kennengelernt haben sie sich 1925 in Paris – F. Scott Fitzgerald bereits berühmt durch „Der große Gatsby“ und durch seinen Lebensstil – er und seine Frau Zelda verkörperten die Roaring Twenties, das Jazz Age. Hemingway noch ein no name, der als Korrespondent die Nähe der von ihm bewunderten Literaten in der französischen Metropole sucht: Gertrude Stein (die ihn in der „Autobiographie von Alice B. Toklas“ recht giftig als willigen Schüler darstellt), James Joyce, Sherwood Anderson, und anderen.
Stark in der Kunst, schwach im Leben?
Die Freundschaft zu Fitzgerald hält am längsten – in der Nachbetrachtung, da man ihrer beider Schicksale kennt, verwundert dies nicht: Zwei hochtalentierte Menschen, die stark in der Kunst, aber schwach im Leben waren.
Sie tauschen sich aus über ihren Alltag, Geldsorgen, Probleme mit Frau (Fitzgerald), Frauen (Hemingway), die Liebe zu den Kindern, über Freunde, Trinkgelage, Reisen, aber vor allem über eines: Das Schreiben. Und dabei geben sie sich, trotz allem literarischen Wettbewerbs, gegenseitig Unterstützung und Hilfe.
Fitzgerald 1928 an Hemingway:
„Nichts ist annähernd so gut. Wann wirst Du mich davon erlösen, Deine Sachen auswendig zu lernen, weil ich sie zu oft gelesen habe, und endlich etwas Neues fertig schreiben? Denk dran, Proust ist tot.“
In großem Futterneid von Kumpan und Klatschtante Scott
Hemingway 1934 an Fitzgerald:
„Vergiss Deine persönliche Tragödie. Wir sind alle von Anfang an verflucht, und besonders Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor Du ernsthaft schreiben kannst. Aber wenn Du diesen verdammten Schmerz fühlst, nutze ihn, und betrüge nicht damit. Sei damit so gewissenhaft wie ein Wissenschaftler - aber bilde Dir nicht ein, irgendetwas sei nur deshalb von Bedeutung, weil es Dir zustößt oder jemandem, der zu Dir gehört.“
Vor allem Fitzgerald geht in seiner literarischen Kritik fast gnadenlos mit dem Freund um:
„Nun ja, jedenfalls finde ich einige Teile von Fiesta nachlässig erzählt, Du erzielst keine Wirkung…Dein erstes Kapitel enthält ungefähr zehn Stellen dieser Art, und es übermittelt sich mir beim Lesen das Gefühl einer herablassenden Gleichgültigkeit…Wie ich Dich kenne, würdest Du dergleichen bei anderen als halb Stil, halb Pferdescheiße bezeichnen.“
Diese Ehrlichkeit tut der Freundschaft in den ersten Jahren jedoch keinen Abbruch – vielmehr versichern sich die Beiden immer wieder, in beinahe schon zärtlicher Manier, ihrer gegenseitigen Zuneigung.
Ernest an Scott:
„Gott, ich wünschte, ich könnte Dich sehen. Du bist der einzige Kerl in und außerhalb Europas von dem (oder gegen den) ich das sagen kann, aber ich würde Dich wahrhaftig gern sehen.“
Scott an Ernest:
„Ich kann Dir gar nicht sagen, wie viel mir Deine Freundschaft die letzten anderthalb Jahre über bedeutet hat. Von ihr ist für mich auf unserer Europareise das meiste Licht ausgegangen.“
Mit der Zeit werden die Kontakte zwischen dem „lieben Papa, Stierkämpfer, Gourmand“ und dem „Mr. Fizzgeral“ (eine Anspielung auf die Rechtschreibschwächen des großen Gatsby-Autors) weniger, die Anzahl der Briefe geringer. Aus dem Jahre 1940 ist nur ein Schreiben Scotts an Ernest erhalten – kurz vor seinem Tod im Dezember verfasst. „Ich bin nie dazu gekommen, Dir zu sagen, dass mir Haben und Nichthaben ebenso gut gefallen hat…“. Dann verstummt der große amerikanische Autor.
Nachgestellt ist diesem ein Brief von Hemingway 1954 an Harvey Breit, in dem er sich von dieser Freundschaft, die vielleicht nur in Briefen wirklich lebte, distanziert:
„Manchmal war es lustig. Aber in Ordnung war es nie.“
Was diese Freundschaft also vor allem Hemingway bedeutete – man wird es niemals wissen können, die Spuren seiner Zuneigung zum Akrobatenfreund hat er später gut verwischt. Doch was bleibt, sind die Briefe – und in dem Moment, als er Sätze schrieb wie diesen, waren diese wohl auch wahr:
„Doch wenn Du nichts dagegen hast, Du bist mein allerbester Freund.“
„Wir sind verdammt lausige Akrobaten“, Hoffmann und Campe, 2013
Eine weitere Besprechung gibt es bei Notizhefte: http://notizhefte.wordpress.com/2013/10/06/briefwechsel-hemingway-fitzgerald/
„Wenn er im Kino sah, wie sich ein Mann und eine Frau leidenschaftlich küssten, fragte er sich stets, ob das ein Land war, dass er schon am nächsten oder übernächsten Tag verlassen musste.“
John Cheever, „Ach, dieses Paradies“, erschienen 1969, in neuer Übersetzung 2013 bei DUMONT.
Den letzten Roman des 1982 verstorbenen US-Amerikaners als ökologisches Lehrstück zu beschreiben, wie es auch schon geschehen ist, greift viel zu kurz. Sicher, vordergründig ist dies der Plot. Lemuel Sears, ein alternder Geschäftsmann, zieht seine Kreise auf Kufen über den vereisten Lake Beasley seiner Kindheit. Kurz darauf wird der Teich zur Mülldeponie erklärt, ein Kampf um den Erhalt Arkadiens beginnt.
Dieser Kurz-Roman (Cheever, der zunächst durch seine Erzählungen berühmt und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, bestand auf die Bezeichnung „Roman“) ist jedoch mehr als eine Lang-Erzählung über die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Die Vermüllung der Kindheit – das ist eine Metapher, ein Sinnbild für die andauernde Suche des Menschen nach dem Paradies. Auf dem Weg dorthin macht das Tier auf zwei Beinen sich und den anderen solange das Leben perfekt zur Hölle. Und vor allem ist es eine Erzählung über Verluste: Den Verlust der Unschuld, der Reinheit, der Kindheit, der Liebe, des Verlangens. Erzählt wird der vergebliche Kampf gegen das Altern, das Verschwinden der Schönheit, der Kampf gegen die kindlich-menschliche Urangst vor der Vertreibung aus dem Paradies,
John Cheever beschreibt das Treiben seiner Protagonisten – neben Sears beinhaltet der Roman trotz seiner Kürze noch etliche bemerkenswerte Nebenstories mit ebenso bemerkenswerten Figuren – auf der Höhe seiner Erzählkunst. In seinen ersten, den Wapshot-Romanen, erzählte Cheever die Geschichten aus – von „Die Lichter in Bullet Park“ über „Falconer“ bis hin zum Paradies kann man die Perfektionierung eines Stils, der die hintersinnige Andeutung beherrscht, mit-erlesen.
Im Paradies sind die Fäden sind lose miteinander verknüpft, die Erzählung ist ein wunderbar leichtes Gespinst, kommentiert von einem ironisch-distanzierten Erzähler. Ein bitterschönes Stück Literatur, das Cheever mit vollendetem Understatement durch seinen Erzähler enden lässt: „…und wie ich schon zu Beginn sagte, ist dies bloß eine Geschichte, die sich vortrefflich als Bettlektüre für eine Regennacht in einem alten Haus eignet.“