Buch

Have yourself a merry little Christmas…

Have yourself a merry little Christmas
Let your heart be light
From now on
our troubles will be out of sight
Have yourself a merry little Christmas
Make the Yule-tide gay
From now on
our troubles will be miles away

Here were are as in olden days
happy golden days of yore
Faithful friends who are dear to us
gather near to us once more

Through the years we all will be together
If the Fates allow
Hang a shining star upon the highest bough
And have yourself a merry little Christmas now…

Ich gebe zu: Spätestens mit dieser Filmszene gerate ich in heillose Weihnachtssentimentalität. Und muss zu Taschentüchern greifen. Wohlwissend, dass für viele der Wunsch nach einem merry little Christmas auch heuer nicht in Erfüllung geht. Und dennoch bleiben die Hoffnung und der Wunsch: Troubles out of sight.

Hier kehrt nun der Winterschlaf ein. Lesestoff und Unterhaltung findet ihr derweil unter

www.ringelnatz.org.

Dort dreht sich derzeit alles um Ringelnatz und die Frauen: Was denken Sie über Frauen? Ähnlich.
Wir lesen uns nach der Weihnachtspause wieder mit verschämten Lektüren, literarischen Trios, Flutschbüchern und der ein oder anderen ernstzunehmenden Buchbesprechung.
Wer Lust hat, einen Beitrag zu den verschämten Lektüren beizusteuern:
Hier geht es zu den Spiel- und Spaßregeln: http://saetzeundschaetze.com/2014/11/21/verschamte-lekturen-spiel-und-spasregeln/.

Und Euch allen wünsche ich mit Judy Garland ein frohes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und für nächstes Jahr: ALLES WIRD GUT!

Verschämte Lektüren (16): Dramen unter Damen mit Lesegelage

Sabine zeigt sich auf ihrem Blog “Binge Reading & More” als wahre Bücherverschlingerin. Die Lesegelage werden von ihr frech, fröhlich, frei, aber eben nicht fromm und brav präsentiert. Amüsierfaktor beim Lesen inklusive. Worauf ich ein wenig neidisch bin: Sie liest amerikanische und englische Literatur nicht nur im Original, sondern schreibt darüber auch in eloquentestem Englisch. Und das, obwohl sie in Bayern lebt - was da die Sprachpolizei der CSU wohl dazu zu sagen hätte?
Mit ihrem Beitrag zu #VerschämteLektüren bringt Sabine nochmals einen weiteren Gesichtspunkt in die ganze Reihe:
price_of_salt-f“Also, meine gelegentliche heimliche Leidenschaft: Liebesschmonzetten und zwar - Dramen unter Damen. Da ist der Begriff coming-out doppelt treffend. Ist schon eine Weile her, aber schon der Kauf der Lektüre hatte es in sich, das Herumstreichen um die Bücherregale mit den gefährlich interessanten Titeln. Das Schauen, ob die Luft rein ist und dann, wenn keiner guckt: Buch schnappen, halb unter der Jacke versteckt zur Kasse schleppen, abwarten, bis niemand in der Nähe ist und dann zack Patricia Highsmith’ “The Price of Salt /Carol” auf die Theke geschuppst und inständig gehofft, die knallrote Rübe fällt nicht weiter auf, Kommentare und Blicke bleiben weg und die Tür kann im Stechschritt und ohne Hindernisse erreicht werden.
Jaaaa, das nenne ich doch dann mal Lektüre, die die Herzen höher schlagen lässt. “Carol” war dann aber auch einfach wirklich wunderbar. Kein Krimi, wie man es sonst von Frau Highsmith gewohnt ist, sondern eine wunderbare Liebesgeschichte und dann auch noch - ganz unglaublich MIT Happy End!
Ganz und gar nicht selbstverständlich. Üblicherweise und lange Zeit endeten solche Romane damit, dass eine der Damen einen Mann heiratet und die andere daraufhin vom Dach springt oder Schlaftabletten nimmt oder ins Kloster geht. Da war das schon sehr fortschrittlich. Es war auf jeden Fall der Beginn einer gelegentlich heftig brennenden Schmonzetten-Leidenschaft und Frau Highsmith ist Schuld. So schaut`s aus.
Sag ich mir, wenn ich mal wieder auf jeglichen literarischen Vollwert-Gehalt pfeife und auf dem Sofa liegend einem Happy End entgegenfiebere.
Frau Highsmith hat den Roman in den 50ern unter dem Pseudonym Claire Morgan veröffentlicht und erst in den 1990er Jahren ist er unter ihrem Namen erschienen. Mein Carol-Exemplar hab ich natürlich noch immer, es darf jetzt auch ganz munter und offen im Regal herumstehen, aber den verräterischen Schutzumschlag, den hab ich damals gleich vor der Buchhandlung entsorgt.
Verfilmt wird er jetzt gerade, der Roman, mit Cate Blanchett und ich freue mich schon sehr auf den Kinoabend.
Hier noch ein Link zu meiner bislang einzigen Schmonzetten-Rezension auf meinem blog:  Landing - Emma Donoghue.
Also, auf zu Binge Reading & More: http://bingereader.org/

#VerschämteLektüren (13): Elementares Lesen in den Niederungen der Steinzeit

Petra ist mit ihrem Blog “Elementares Lesen” für mich die Queen des Sachbuchs. Nicht nur, weil es in der deutschsprachigen Blogosphäre wohl kaum etwas Vergleichbares gibt. Sondern vor allem, weil sie es schafft, mit ihren Beiträgen selbst meine Aufmerksamkeit für Themen wie Biologie, Physik, Astronomie zu fesseln, bei denen ansonsten meine Konzentration schnell auf bodenlos tiefes Niveau sinkt. Petra hat  durch ihre anschaulichen und kompetenten Buchbesprechungen wieder einiges an Interesse bei mir geweckt. Darüber hinaus kommen bei ihren Sachbuch-Besprechungen auch andere Disziplinen zum Zuge - das zeigt ein Blick auf das erstaunliche Blogregister: https://elementareslesen.wordpress.com/sachbuch-archiv/ .

Wie sie es schafft, daneben noch ganz elementare #VerschämteLektüren zu lesen, ist mir ein Rätsel. Aber auch da hat sie was Feines zu bieten. Und nicht zuletzt hat das ja auch mit ihren Interessensgebieten zu tun - wird in vielen Sachbüchern doch ebenfalls hinreichend über die Entwicklung des Menschen und das Leben und Treiben unserer Vorvorvorvorvorfahren spekuliert:

Auel Ayla“Die Aktion finde ich großartig! Es hat mir viel Spaß gemacht, meine Regale nach verschämten Lektüren durchzuchecken. Aber wie schon andere vor mir stelle ich fest, dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen. Jedes noch so schlechte Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es mich für eine gewisse Zeit in seinen Bann geschlagen oder mich einfach saugut unterhalten hat. Und nur durch die Lektüre “schlechter” Bücher entwickelt man allmählich ein Gefühl dafür, was wirklich gute Literatur ausmacht. Gibt es eine bessere Ausrede?

Das Ergebnis meiner Suche:

Als der Heyne Verlag 2002 den fünften Band der Kinder der Erde-Saga von Jean Auel herausbrachte, wurden gemeinerweise auch die älteren Bände neu aufgelegt. Die alten Bände habe ich immer ignoriert, denn sie sahen extrem kitschig aus und ich hatte damals schon eine ausgeprägte Kitschallergie. Aber die Neuausgaben mit Höhlenzeichnungen auf dem Cover fand ich einfach zu schön! Schon beim ersten Band “Ayla und der Clan des Bären” war ich fasziniert von dieser Geschichte aus der Steinzeit. Ayla, das Menschenkind, wird nach dem Verlust seiner Familie von einem Neandertalerclan aufgezogen. Dort bleibt Ayla aufgrund ihrer Andersartigkeit eine Außenseiterin, wird zur Heilerin ausgebildet, leidet unter den Angriffen einiger Clanmitglieder, schafft es aber zunächst, dort ihren Platz zu finden. Natürlich findet sie in den Folgebänden auch ihre große Liebe, aber wie so häufig in typischen Frauenromanen, verhindern endlose Missverständnisse ein glückliches Zusammenleben mit ihrem Geliebten. Das zieht sich bis Band 6 hin, den ich mir allerdings erspart habe. Bei Wikipedia habe ich folgendes Zitat gefunden: “Die häufige Beschreibung von Geschlechtsverkehr und Sexualität hat dazu geführt, dass der Romanzyklus von der American Library Association auf der Liste der 100 zwischen 1990 und 2000 am häufigsten zensierten Bücher steht.”  Gut, dass wir in Europa nicht so prüde sind, denn es war ja auch alles relativ authentisch, der Unterschied zwischen Neandertalern und modernen Menschen, die Lebensweise, die Jagdmethoden! So eine starke Frauenfigur, die ein Pferd, einen Löwen und einen Wolf zähmen kann und das Überleben in der rauen Natur erlernt, das hat mir imponiert.

Tja, und das andere Extrem sind die Vampirromane von Anne Rice, die einzigen Vampirbücher, die mich je interessiert haben. Da kann ich nicht mit historischer Wahrheit punkten. Die gefielen mir, weil sie so schön düster und melancholisch sind und eine eigene Welt schaffen, in der ich versinken kann. Was habe ich gelitten mit dem armen Louis, der von Lestat de Lioncourt zum Vampir gemacht wurde und es hasst, töten zu müssen. Ach, all die Ammenmärchen über Vampire, die man mit Sonnenlicht und Knoblauch bekämpfen kann. Hier steht, wie sie wirklich sind! Hier steht, wie schwer es ist, sich nach einem langen Schlaf in der Gegenwart zurechtzufinden und wie leicht wir Menschenfleisch zu täuschen sind. Und das alles ist so elegant erzählt.

Wenn ich noch länger suchen würde, fände ich bestimmt noch mehr geeignete Bücher, aber ich denke es reicht.”

Hier geht es zum Sachbuch-Blog “Elementares Lesen”: https://elementareslesen.wordpress.com/

Andy Warhol: 25 Cats Name Sam and One Blue Pussy (1954).

Sam1Nach den ganzen verschämten Lektüren ist es einfach einmal wieder an der Zeit für einen ordentlichen, richtig seriösen Katzencontent. Zumal bei Benn Wederwill erst jetzt von einem “pinken Kätzchen” geträumt wurde, das sich als grauer Kater entpuppte. Wer weiß, vielleicht sogar der bessere Kompagnon fürs Leben als die rosa Traumkatze?

Hier aber ist sie: Pink Cat. Zugegeben: Ich habe mich an den Warhol-Katzen schon ein wenig sattgesehen. Aber die Geschichte zum Buch (oder eher Heft) finde ich ganz spannend: Etliche Zeit bevor Andy Warhol die Pop Art-Kunst berühmt machte (und sie ihn), schlug er sich mehr schlecht als recht als freiberuflicher Illustrator von Kinderbüchern durch. Anfang der 1950er Jahre lebte er mit seiner Mutter, der Künstlerin Julia Warhola, und einer Menge Katzen beengt in einem kleinen Apartment in New York. Die Katzen hießen alle, bis auf eine Ausnahme, Sam.

Sam2

1954 veröffentlichten Mutter und Sohn ein gemeinsames Werk im Eigenverlag: „25 Cats Name Sam and One Blue Pussy“. Eigentlich ein völlig falscher Titel: Denn statt 25 Katzen sind nur 16 in dem Büchlein enthalten und Mama Julia vergaß ein „d“. Was soll`s. 190 signierte und nummerierte Exemplare wurden an Freunde und Kunden verschenkt – die lachten sich später sicher ins Fäustchen, als alles von Warhol in astronomische Höhen stieg.

Sam4

Julia Warhola ließ später noch für ihre Katze Hester ein zweites Buch folgen, „Holy Cats by Andy Warhol`s Mother“, außerdem arbeitete das Mutter-Sohn-Gespann noch beim Kochbuch „Wild Strawberries“ zusammen. Dann aber wurde Andy Warhol zu Andy Warhol und hatte für Kindereien keine Zeit mehr.

Während das Katzenbuch mit der Frau Mama als Nachdruck nur für viel Geld erhältlich ist, hat nun der Deutsche Kunstbuchverlag ein Warhol-Malbuch für Kinder herausgebracht.
Verlagstext: “Es ist hinlänglich bekannt, dass Andy Warhol in den 1960er Jahren seine Factory gründete. Weniger bekannt hingegen sind seine Colouring Parties, die er bereits in den 50er Jahren für Bekannte veranstaltete. Im Rahmen dieser Treffen ließ er die Gäste Reproduktionen seiner Zeichnungen ausmalen und mitgestalten. Dieses Malbuch mit Bildern von Andy Warhol lädt Kinder ein, den Bekannten des Künstlers zu folgen und die Zeichnungen mit Farbe zu beleben. Die Bilder für das Kindermalbuch schuf Warhol im Jahr 1961 für die Lederwarenfabrik Fleming-Joffe, Ltd. Die vorliegende Version mit den deutschen Übersetzungen ist dieser Ausgabe nachempfunden und lockt Kinder in eine skurrile Welt aus Echsen, Wasserbüffeln und Alligatoren.”

Hier geht es zu den Buchangaben auf der Verlagsseite: http://www.deutscherkunstverlag.de/buch/malerei-und-skulptur/++/buchid/1370-ein-malbuch-mit-zeichnungen-von-andy-warhol/buchdetail/1/seite//

Sam3Samsam

#VerschämteLektüren (12): Peggy und ein “beschämender” Büchertausch in Phnom Penh

Wer England entdecken will, der ist bei Peggy wirklich in besten Händen. Auf ihrem Blog „entdecke england“ berichtet sie von Land und Leuten, Kultur und Natur, Geschichte und Geschichten und allerlei Bemerkenswertem – immer ergänzt durch wunderbare Fotos und persönlichen Anmerkungen, so dass man sich fast wie vor Ort fühlen kann beim Lesen. Very, very british – und mit viel Liebe zur Nation der Exzentriker. Und ihre #VerschämteLektüren haben natürlich auch mit einem der vielen, vielen Exzentriker auf dem englischen Thron zu tun…

Philippa Gregory: “The Other Boleyn Girl” und “The Boleyn Inheritance”

„Früher habe ich gerne historische Romane gelesen. Ich sage früher, nicht, weil ich heute nicht hin und wieder mal einen zur Hand nehme. Aber seit ich historische Sachbücher lese, was ich erst nach meinem Umzug nach England begonnen habe, werde ich immer kritischer. Und das verdirbt mir immer öfter den Spaß am Lesen. Viele historische Romane habe ich mittlerweile ausrangiert, aber von diesen beiden konnte ich mich noch nicht trennen.

Peggy1Ja genau, hier geht es um die immer wieder faszinierende Geschichte von Henry VIII und seinen sechs Frauen. Das erste Buch wird aus der Perspektive von Mary Boleyn erzählt, Anne Boleyn’s Schwester und Geliebte des Königs. Im zweiten Buch erzählen abwechselnd Lady Jane Grey, Katherine Howard und Anne of Cleves über ihre Erfahrungen am Tudor-Hof. Die Bücher haben alles, was man von einem Schmöker erwartet: Liebe, Intrigen, Spannung, Verrat und natürlich jede Menge Hinrichtungen. Warum ich mich von den Büchern noch nicht trennen konnte, liegt aber vor allem daran, dass mich Philippa Gregory mit ihrer Erzählkunst gefühlt mit die Tudorzeit genommen hat. Altertümliche Redewendungen wie „breaking the fast“ statt „breakfast“ geben zumindest mir als Laien das Gefühl von Authentizität und nach den Beschreibungen mancher Hygienerituale hatte ich das dringende Bedürfnis, duschen zu gehen.

Peggy2„The Boleyn Inheritance“ habe ich übrigens damals auf unserer Weltreise in einem Backpacker-Café in Phnom Penh gefunden. Um meine Schmach komplett zu machen, habe ich es gegen (wohlgemerkt ausgelesene) Kurzgeschichten von Herman Melville eingetauscht. Es hat mich einige Überzeugungskraft gekostet, bis die Cafébesitzerin bereit war, so ein dünnes Buch gegen ein dickes (obwohl es so dick auch wieder nicht ist) einzutauschen. So schätzt eben jeder den Wert von Büchern anders ein.“

Wer mit Peggy England kennenlernen möchte, der findet den Blog hier: http://entdeckeengland.com/

#VerschämteLektüren (8): Normans lässliche Jugendsünden und literarische Abwege

In den Notizheften von Norman geht es kulturell überaus gepflegt zu: Beiträge über Bücher, Musik, Geschichte, Politik, überwiegend aus dem Bereich der klassischen Literatur, der Oper, es fallen unter anderem die Namen von Goethe, Thomas Mann, Max Weber, Fontane und anderen Geistesgrößen. Doch auch der Weg zur Hochkultur kann mit Schmonzetten gepflastert sein, wie Norman in der Beschreibung seiner literarischen Abwege zeigt:

schneiderbuchIch bekenne, als Kind und Jugendlicher alles Mögliche gelesen zu haben, aber keine bedeutende Literatur. Aus einfachen Verhältnissen stammend, war mein Lesehunger an sich für die Familie schon überraschend. Also las ich geschlechterrollenprägende Schneider Bücher – genau: Die Jungen von Schloß Schreckenstein – und das Gesamtwerk Karl Mays. Ich verschlang alles von Agatha Christie und sämtliche Schullektüren.

Dann lernte ich, dem Gymnasium sei Dank, Goethe und Schiller ebenso kennen wie Böll und Brecht, Günter Eich und Theodor Fontane, Emile Zola und Madame de Staël. Die Bücherregale in unserer Wohnung nahmen nun also auch Bücher solcher Autoren auf; dazu allerlei Historisches. Mit achtzehn Jahren subskibierte ich ein fünfzehnbändiges Lexikon.

1283019Aber dazwischen standen eben auch Omas und Mutters Schmonzetten und – wohlverdiente! – Entspannungslektüren. Hier erinnerte ich mich, als Birgits Anfrage kam, sogleich an Susan Howatch, die dort mit „Die Erben von Penmarric“ und „Die Reichen sind anders“ bis heute vertreten ist. Das zweite ist eine Familiensaga mit reichlich Mondänität und dezent-direkten Sexanteilen, Liebe, Haß, Eifersucht, Gier, etc. Aber toll! Dachte ich zumindest früher mal. Ich weiß nicht, ob es mir beim Wiederlesen noch oder erneut gefallen würde. Möglicherweise nimmt man, älter geworden, andere Elemente stärker wahr, etwa den Erzählstrang über die Epilepsie der männlichen Hauptfigur, oder erkennt den Bezug zu Cäsar und Cleopatra.

Erstaunlich ist ja, daß mir sofort dieses Buch eingefallen ist, um es hier, unter dieser Überschrift vorzustellen. Allein um das herauszufinden, sollte ich das Buch noch einmal lesen. Dabei könnte ich dann auch überprüfen, ob es wirklich schlecht geschrieben, einfach nur Massenware oder vielleicht doch ganz gut ist.

Recherchen haben mir jetzt gezeigt, daß Howatch jahrzehntelang eine echte Produzentin von mehrbändigen Sagas, Zeit- und Sittenbildern war. Im Jahr 2012 wurde sie vom Hope College ausgezeichnet; auf der dortigen Seite findet man auch eine nette Würdigung.

Und hier geht es zu den Notizheften von Norman: http://notizhefte.wordpress.com/

#VerschämteLektüren (6): Die Verschämung kam nach dem Drittgedanken

Ganz begeistert bin ich von einer Entdeckung neueren Datums in der Blogosphäre: Bei Drittgedanke, den Sonja mit vielen erstklassigen Gedanken füttert, findet man richtige Schätze zu Kunst, Musik und Literatur außerhalb des Mainstreams. Aber zur Leichtigkeit des Lebens gehört eben doch manchmal auch die Seichtigkeit des Lesens. Und da hat Sonja nach dem dritten Gedanken darob bei sich doch noch eine kleine Schwäche entdeckt:

gable

“Menschen, Tiere, Sensationen - derzeit spielt sich Sonderbares ab auf Sätze und Schätze: Unter dem Hashtag #VerschämteLektüren darf man dort endlich ungestraft der Freude an seinen aufs Allerheimlichste verschwiegenen Lieblingen frönen, was reihenweise Stoßseufzer auslöst und gekiekste Kommentare provoziert. Ich bin schon jetzt Fan dieser Rubrik; speziell der liebevolle Beitrag von Buchpost über James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh löste einen hartnäckig anhaltenden und vom herbstlichen Gemütlichkeitswahn unterstützten Britishness-Anfall bei mir aus. Bezüglich eigener verschämter Lektüren äußerte ich mich in meiner unendlichen Hybris anfangs reichlich naiv: Gibt´s nicht. Peinliche Lieblingslieder? Schuldig, reihenweise - dazu stehe ich problemlos. Filme fürs Herz? Zerknirschtes Ja, allerdings mit Seltenheitswert. Heimlicher Hang zu nostalgischen Kitsch-TV-Serien? Volltreffer! Aber Banal-Literatur? Niemals. Dann jedoch kam das Thema Historischer Roman auf den Tisch und mir schwante die Fehlerhaftigkeit meiner Selbsteinschätzung.

Der Name Ingrid Krane-Müschen steht für atemlose Spannung vor mittelalterlicher Kulisse, heimlich ins Spitzentaschentuch verdrückte Tränen der Rührung und der Trauer, mitreißende Plots im schottisch-englischen Adelsmilieu und unüberwindliche Schicksalshürden, die mit Liebe und Edelmut schließlich doch überwunden werden. Bevor sich nun jemand in Spott und Häme angesichts meiner Lieblingsschmonzettenautorin ergeht, sollte er sicherheitshalber zunächst im eigenen Regal nach ihrem Künstlernamen Ausschau halten, unter dem sie sich so erfolgreich verkauft, dass ich schlechterdings unmöglich allein mit ihren Büchern dastehen kann: Rebecca Gablé.

An langen Winterabenden oder während des beruflichen Pendelns zwischen Buchhandlung und Zuhause ließ ich mich von ihrer vieltausendseitigen Waringham-Saga vollkommen hingerissen einlullen. Als Unterhaltungsmittel taugt diese Lektüre ungemein, Frau Krane-Müschen/Gablé beherrscht ihr Handwerk souverän, gestaltet lebendige Charaktere und Settings, produziert keine Längen, verknüpft die Kapitel mit kunstvollen Cliffhangern und baut trickreich Spannung auf. Für mich ist und bleibt sie die unangefochtene Königin des historischen Schmökers.

Die Familiengeschichte der Waringhams erstreckt sich über mehrere Generationen, beginnend im Jahr 1360 mit Stammvater Robin of Waringham, der in Das Lächeln der Fortuna die angekratzte Familienehre wiederherstellen muss. Als Sohn des ehemaligen Earls ist er den Schikanierungen durch Mortimer, den Sohn des neuen Earls, ausgesetzt und muss sich seinen Weg zurück in den Adels- und Ritterstand unter selbstredend größten Entbehrungen abenteuerlich erkämpfen. Angesichts solch hartnäckigen Edelmuts bleiben entflammte Damenherzen nicht aus. Weiter geht es in Die Hüter der Rose. Dort büxt John of Waringham, Sohn Robins,  aus Angst davor zwecks klerikale Karrierevorbereitungen ins Kloster gesteckt zu werden von Zuhause aus und setzt sich nach Westminster ab, wo er zufällig König Harry begegnet. Eine Freundschaft mit dem Königshaus, eine glanzvolle Laufbahn als Ritter während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich sowie zahlreiche amouröse Verwicklungen sind damit vorgezeichnet. In Das Spiel der Könige müssen sich die Waringham-Sprösslinge Julian und Blanche im Konflikt zwischen den Adelshäusern York und Lancaster für eine Seite entscheiden und geraten in fiese Intrigen, hundsgemeine Machtspielchen und dramatische Verwirrungen des Herzens. Im vierten Band, Der dunkle Thron, stellen die machtpolitischen Auswirkungen der Reformation den Waringham-Erben Nick vor die knifflige Aufgabe seine Familie durch kluge Bündnispolitik auf die sichere Seite zu bringen - Querelen des Herzens und Vater-Tochter-Konflikte sabotieren dabei einige seiner Bemühungen.

Neben der Waringham-Saga hat Rebecca Gablé einen meterbreiten Schwung weiterer nur wärmstens zu empfehlender Historienschinken verfasst. Wie sonst auch, wenn ich beim Beitragsbild auf Ersatzabbildungen ausweiche (in diesem Fall musste es unbedingt diese betörende Rossetti-Postkarte sein), habe ich das besprochene Buch inzwischen entweder weiter verliehen oder selbst wieder zurückgegeben. Dass ich nicht einen einzigen Gablé-Roman für ein Beitragsbild vor meine Linse bekommen habe, liegt in folgendem Mechanismus begründet: Sobald ich mich dabei hatte erwischen lassen, eine neue Gablé zu lesen, wurde sie mir - teilweise noch während ich die letzten drei Sätze unter Kampfanstrengungen zu Ende las - von Gablé-hungrigen Bestien aus den Händen gerissen, so dass ich froh bin, heute noch alle zehn Finger zu besitzen. Meine Mutter war die einzige unter den Raublesern, die vorher immerhin höflich um Leiherlaubnis gefragt hat. Auch Männer gehören zu den Ausleihern, in deren Regalen in einer verschämten Ecke sich nun meine Gablés finden, die ich wohl nie wieder zurückbekommen werde.

Der Winter kommt. Deckt Euch ein mit ein paar Pfund Earl Grey, kramt die Blümchentassen heraus, backt ein paar Scones und stellt das Telefon ab. Ich gebe zu, ich schäme mich gar nicht so ehrlich dafür, mir diesen Schmus gegeben zu haben - ich würd´s wieder tun.”

Und hier geht es zum tollen Blog der Autorin: http://drittgedanke.wordpress.com/

Formenschatz der Heimat (1922)

In den 1920er Jahren gab der württembergische Lehrerverein ein Buch für den Zeichenunterricht in der Grundschule heraus: „Formenschatz der Heimat“.
„Der Bildsprache des Lehrers, dem illustrierenden Wandtafelzeichnen, soll unser Formenschatz in erster Linie dienen.“ Das von der Fachpresse günstig beurteilte Buch – so steht es auf der Rückseite der fünften Auflage zu lesen – sollte dazu beitragen, die Bildsprache des Schülers (und wie im Vorwort zu lesen ist, auch die der Lehrer) zu fördern. Die Tafeln seien allenfalls zum Erarbeiten eines Formenschatzes, nicht aber für das „Abschreiben von Vorlagen oder kleinliches Kopieren der Natur!“ gedacht.
Das Buch, herausgegeben von Fritz Freytag und August Lust, beide vermutlich Lehrer, scheint seinen Zweck erreicht zu haben: Immerhin gab es mehrere Auflagen. Ob ein Schüler damit jedoch seine eigene Bildsprache fand, entzieht sich meiner Kenntnis. Heute, fast 100 Jahre später, ist es jedoch ein anschauliches Dokument vergangener Zeit. Die „bibliotheca Augustana“ hat es digitalisiert und somit öffentlich zugänglich gemacht.

“geBucht”: Ein Buchhandelsprojekt mit sozialer Seite

Heute möchte ich meine Literaturseite einmal nutzen, um auf ein besonderes Projekt aufmerksam zu machen. Auch wenn das Projekt “geBucht” für viele der Leserinnen und Leser nicht um die Ecke liegt - vielleicht gibt es ähnliches im eigenen Umfeld, vielleicht gibt das Impulse, so etwas vor Ort anzuleiern oder zu unterstützen, vielleicht stößt ja auch mancher über den Online-Verkauf per booklooker auf “geBucht” als Alternative zum “handelsüblichen” Branchenriesen und nutzt künftig diese Möglichkeit. “geBucht” hat seinen Standort in der bayerischen Stadt Günzburg.

“geBucht” ist ein Projekt, das Menschen mit einer psychisch Erkrankung eine Arbeitsmöglichkeit gibt. Der Text stammt von einem Freund von mir, Bernhard Gattner, der ihn mir zur Veröffentlichung hier überlassen hat:

“Die ärztlichen Untersuchungen führten zu einem klaren Ergebnis. Auch wenn man es ihm nicht ansieht, er keine erkennbaren körperlichen Einschränkungen hat, er ist erwerbsgemindert. Und das obwohl er erst Mitte 40 ist. Er, der verständlicher Weise kein Interesse daran hat, namentlich genannt zu werden, ist psychisch krank. Er hielt den alltäglichen Druck an seinem früheren Arbeitsplatz nicht mehr aus. Der „innere Antrieb“ sich zur Arbeit auf den Weg zu machen, ist in ihm weggebrochen. Er wurde erwerbsunfähig, weil er so, wie er ist, nicht mehr am Arbeitsmarkt „gebraucht“ wird.  Alle Mühen, alle Tabletten waren umsonst. Dennoch will er das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Er will etwas tun können, was ihm auch hilft, durch den Alltag zu kommen. Diese Möglichkeit bietet die Caritas in Günzburg seit nunmehr fünf Jahren. Sie hatte das Zuverdienstprojekt. „geBucht“ gestartet. Um auf sich aufmerksam zu machen, bietet „geBucht“ zu seinem 5. Geburtstag Sonderpreise für die Bücher an.

„geBucht“ hat inzwischen ein reiches Sortiment an unterschiedlichsten Büchern. Die kleine Leseecke lädt zum Schmökern ein. Foto: Caritas.

Die Sozialpädagogin Simone Hiller ist für das Projekt verantwortlich, das in Günzburg in der Hockergasse 12 direkt gegenüber der Begegnungsstätte Lichtblick des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes seine Adresse hat. Hiller führt damit ein kleines Team von elf sogenannten Projektteilnehmern, erwerbsgeminderten Frauen und Männern im Alter zwischen 30 und 65 Jahren mit einer psychischen Erkrankung, und einer ganzen Reihe von Ehrenamtlichen. „geBucht“ ist ein modernes Antiquariat bzw. ein „Gebrauchtbüchermarkt“. Es kann auf stolze Zahlen verweisen. Rund 6.000 Bücher, die mindestens noch sechs Euro wert sind, werden online zum Verkauf angeboten. Der Laden selbst birgt einen Schatz von etwa 10.000 Büchern. „Wir liegen in der Hockergasse zwar etwas versteckt, aber es lohnt sich bei uns vorbei zu schauen.“

Die Bücher stammen von Bürgerinnen und Bürger aus Günzburg und Umgebung. „Diese Zulieferung läuft inzwischen super“, freut sich Hiller. Die Projektteilnehmer nehmen sie in Empfang, sortieren sie, ob es sich um Belletristik, wissenschaftliche oder religiöse Literatur handelt, ob es ein Kinder- oder ein Sachbuch ist.

Im Internet recherchiert das Team, zu welchen Preisen die Bücher gehandelt werden, die sie selbst auf www.booklooker.de online zum Verkauf anbieten wollen, und bringt sie zum Versand zur Post. „Das verlangt Genauigkeit, keiner von uns darf schludern“, betont Hiller. Ein ehemaliger Buchhändler, selbst erkrankt, prüft auch mit seinem Fachwissen, was sich verkaufen lässt und nicht. „Unser Buchbestand ist auch immer wieder neu, weil wir regelmäßig jene Bücher aussortieren, die sich nicht verkaufen lassen“, unterstreicht Hiller.

Das Zuverdienstprojekt sieht vor, dass die Teilnehmer am Tag nicht mehr als drei Stunden am Tag mitmachen. Diese Beschäftigung soll ihnen dabei helfen, eine feste Tagesstruktur in ihrem Leben einzuhalten. „Was wann und wie viel dem einzelnen Projektteilnehmer in die Hand gelegt wird, orientiert sich an dessen Belastungsfähigkeit“, erklärt Hiller. Um das gemeinsam mit dem Projektteilnehmer herauszufinden, finden regelmäßig Beratungsgespräche mit der Sozialpädagogin statt.  Dass ein Teilnehmer anruft und mitteilt, dass er nicht kommen könne, weil es ihm nicht gut gehe,  komme immer wieder mal vor. „Ein psychisch kranker Mensch ist nicht dauerhaft psychisch stabil“, erklärt Hiller. Manche „tauchen“ dann wochenlang ab. „Und wenn sie wieder kommen, ist es uns wichtig, sie wissen zu lassen, wie wichtig sie uns sind“, sagt die Projektleiterin.

Etwas versteckt liegt der Gebrauchtbüchermarkt „geBucht“ der Caritas in der Hockergasse 12 in Günzburg. Foto: Caritas.

Ein Teilnehmer, der Buchhändler war, ist dankbar für dieses Angebot. „Ich kann an etwas anderes denken, nämlich an die Bücher. Und ich komme raus aus meiner Wohnung“, sagt er. Seine Kollegin, bereits über 60 Jahre alt, „hasst es allein zu sein“. Das mache sie nur „krank“. So freut sie sich, mit anderen Menschen reden zu können und gleichzeitig einer sinnvollen Arbeit nachzugehen. Einer ihrer Kollegen, ebenfalls ein Projektteilnehmer, ist dankbar dafür, etwas zu tun zu haben und zu wissen, wo man hingehört. Und der erkrankte Buchhändler meint, zuhause würde ich nur Trübsal blasen. „Meine Arbeit hier hilft mir, aus eigener Kraft so gut wie möglich durch den Tag zu kommen.“

Sonderpreisaktion bis Ende 2014:

1 kg Bücher für 2 Euro

Bis 5 kg für 5 Euro

Bis 10 kg für 8 Euro

Online-Bookshop: http://www.booklooker.de

50 Prozent Rabatt bis Ende 2014

 

 

Lane Smith: Das ist ein Buch!

Als bekennende Liebhaberin des GEDRUCKTEN Buches habe ich an diesem kleinen Geschenk von einer Freundin eine große Freude. Ein Kinderbuch für kleine UND große Leser.
Ganz simpel und charmant wird erklärt, was ein Buch alles kann - beziehungsweise nicht kann: Bloggen, scrollen, twittern, simsen. ABER: Bücher (das ist jetzt meine Hinzufügung) kann man anfassen, riechen, streicheln, in der Hand wiegen.
Smith_23937_7.Aufl._MR1.inddUnd wie der amerikanische Illustrator Lane Smith bemerkt: Es braucht keinen Nickname, kein Passwort, man muss es nicht aufladen, und überhaupt - gedruckt ist schön.
Der kleine Affe im Buch liest übrigens ein ganz tolles Buch: Die Schatzinsel. Auch deswegen findet das hier auf Sätze&Schätze seinen Platz.

backWie er auf die Idee zu seinen Zeichnungen kam, erklärt Lane Smith auf seinem Blog selbst: http://curiouspages.blogspot.de/2010/07/lane-smith-on-its-book.html

Und hier gibt es das Buch: http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/das-ist-ein-buch/978-3-446-23937-1/

Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff (2009).

„Jedes Erdgeschoß, jeder Keller ist in einen Souvenirshop umfunktioniert worden. Früher waren das kühle Räume für die Waren mit vielleicht ein paar Bottichen neben dem Eingang oder Wassertröge, in denen glubschäugige Fische schwammen. Heute quellen die Erdgeschosse über, quellen mit unsäglichem Ramsch zum Eingang hinaus, übermannshoch ist das Zeug gestapelt; vor allem beschallt jeder Ladenbesitzer in absolut irrsinniger Lautstärke die Straße. Eine Ohrhölle.“

Für den Roman “Apostoloff” erhielt Sibylle Lewitscharoff 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse. Also lange, bevor sie mit ihren rhetorischen Ausfällen im März 2014 in Dresden für einen Eklat sorgte. Wer ihren preisgekrönten Roman unter dem Eindruck der Dresdner Rede nochmals liest, wird feststellen: Die Grundmisanthropie bis hin zum Weltekel sind schon in diesem Werk zu finden. Geht man davon aus, dass die Ich-Erzählerin des Romans autobiographische Züge trägt, so ist vieles von dem, was die Autorin seither öffentlich äußerte, in diesem Buch bereits angelegt: Eine gewisse Arroganz gemischt mit Minderwertigkeitskomplexen, stets eine explosive Mischung. Verdruckte Sexualität, unausgelebte Sehnsüchte und eine allgegenwärtige Verdrossenheit, sich austobend am Leben und der Welt.

Sibylle Lewitscharoff läuft dann zu Hochform auf, wenn sie ihre Protagonistin über das Mutterland Bulgarien schimpfen lässt: Eine heruntergekommene Ohrhölle, bebunkert mit scheußlichen Fassaden am Schwarzen Meer, bevölkert mit suspekten Gestalten, ein Land, in dem man Charme und Liebreiz lange suchen muss. Zwei längst erwachsene Schwestern lassen sich durch dieses Land, die Heimat des verstorbenen Vaters, chauffieren. Von einem, dessen Vater ausgerechnet den Namen „Kristo Apostoloff“ trägt.

Wie ein guter Apostel will Rumen, der Sohn, Apostoloff jr., durchaus missionieren, sprich, die verlorenen Töchter für dieses Bulgarien einnehmen. Keine Chance, nicht mal durch Liebeständelei: Die zwei Damen, ausgerechnet aufgewachsen und schwäbisch sozialisiert in Degerloch, haben, so unterschiedlich sie sind, eines gemeinsam: Ein Vaterproblem. Dieser, der Bulgare, entschied sich, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Das hinterlässt Lücken, das hinterlässt Fragen. Aber eine Klärung und Analyse der Familientristesse darf man vom Buch nicht erwarten. Dem Unglück wird begegnet durch das Komödiantische und Groteske. Durch Wortkaskaden und Sprachfassaden einer begabten Schwätzerin.

Man kann begeistert sein– eine, die erzählen kann, die fabuliert, dass es eine Lust ist. Man kann aber auch müde werden vom Monologisieren um des gut formulierten Monologs willen. Kein Buch für jede Stimmung. Die sprachliche Bravour bringt die Fassade zum Bröseln, die Mauersteine der Geschichte werden einfach zusammengeschwätzt.

Eloquent und rastlos - ein rhetorischer Sturm.

Im Lichte der späteren Ereignisse haftet dem Urteil von Elmar Krekeler in der Welt am Sonntag über den Roman inzwischen etwas Zwiespältiges an. Er schrieb über Lewitscharoff und Apostoloff: “Wenn sie wütend ist, wenn sie Gift und Galle spuckt, wenn sie rast, dann wird sie immer größer, richtig gut und unheimlich komisch.” Vielleicht gab es zuviel Anerkennung der Kritik für das Wüten der Autorin, die inzwischen darin wenig Grenzen mehr zu kennen scheint. Und verunsichert reagiert, wenn ihr Empörung entgegenschlägt - denn wofür sie sich einstmals hochgelobt glaubte, dafür kassiert sie nun öffentliche Prügel. Sie habe doch nur geäußert, was sie denke, und das müsse doch erlaubt sein - diese Reaktion der Autorin auf den Sturm der Empörung spricht Bände. Sie hat, so scheint es mir, eine wesentliche Grenze nicht erkannt.

Denn es ist die eine Seite, über fiktive Gestalten so zu schreiben: “sie spottet, hetzt, zetert, singt, kichert, schimpft, schwärmt, deklamiert, agitiert und zieht sämtliche Register der aristotelischen Redekunst. Ein Sturm geht auf uns nieder, ein töchterliches Redegeprassel … ” (Maike Albath über “Apostoloff” in der Frankfurter Rundschau). Doch spotten, hetzen, zetern, schimpfen und deklamieren über “echte” Menschen, sich in diesem Modus in gesellschaftliche Themen einzumischen, ist eine ganz andere Kategorie.

Am öffentlichen Umgang mit der Causa Lewitscharoff lassen sich etliche Doppelmoralitäten erkennen - wie einer zum literarischen Star gepuscht und dann wieder fallengelassen wird wie eine heiße Kartoffel. Wie sich die Feuilletonisten meist einheillig einig sind im positivem Urteil und ebenso einhellig der Boulevard in der öffentlichen Verurteilung. Den Unsäglichkeiten der Aussagen der Sibylle Lewitscharoff folgten die  Unsäglichkeiten der medialen Reaktionen.

Doch, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wer aufmerksam las, konnte die Verbitterung und Weltablehnung der Autorin bereits im hochgelobten “Apostoloff” erkennen.

„Ebenso eloquent wie rastlos“, urteilte die Zeit über die Ich-Erzählerin. Sibylle Lewitscharoff habe für diesen Roman allem Anschein nach tüchtig in der Kiste mit Familienstoff gekramt. „So geht die Romanfahrt flott voran, vorbei an ostsozialistischen Scheußlichkeiten sonder Zahl, die Schwarzmeerküste ist eine einzige Enttäuschung, nur den Ikonen von Arbanassi wird ein gewisser Zauber und dem Schafskäse eine einzigartige Qualität bescheinigt. Sibylle Lewitscharoff kann schreiben und schäumen, ohne Frage. Sie formuliert einfalls- und anspielungsreich, bissig, launig verspielt und aus einem Geist, wie er nicht nur in den Bezirken weiblichen Schreibens eher selten vorkommt. Da herrscht ein kaltblütiges Sprachregiment, dem jede Schandtat recht ist, solange sich damit nur Sätze erzeugen lassen, die strotzen vor Witz, Gescheitheit und Schlagfertigkeit.“

Literaturästhetisch betrachtet, so urteilte Eberhard Falcke 2009 in der Zeit, „erscheint das schön und schrecklich, bewundernswert und nervtötend zugleich. Ganz abgesehen davon, dass die erzählerische Opulenz gedanklich doch etwas mager ausfällt und die virtuose Rhetorik zuweilen ein wenig hohl tönt. Wenn zum Beispiel ein Essen mit dem Satz beschrieben wird: »Mit unseren Genicken hängen wir müde über den Tellern«, dann fragt sich doch, wo da die Köpfe geblieben sind.“

Die Köpfe waren beim Quasseln, ist doch klar.

Ruth Klüger: unterwegs verloren (2008).

„Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist.

Ruth Klüger, „unterwegs verloren“, 2008, Zsolnay Verlag

Ruth Klüger ist 61 Jahre alt, als 1992 im Literarischen Quartett ihre Erinnerungen „weiterleben“ vorgestellt werden. Mit einem Mal wird die amerikanische Literaturprofessorin und Germanistin auch einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt. „weiterleben“ erzählt von ihrer Kindheit in Wien, dem Überlebenskampf in den Konzentrationslagern, der Flucht mit der Mutter in die USA.

 „unterwegs verloren“ setzt Jahre später ein – ebenso ein Buch über das Weiterleben. Mit einer ruhigen Sprache, manchmal bis an die Grenze zur Emotionslosigkeit, erzählt Ruth Klüger von einer doppelten Diskriminierung: Als Jüdin und als Frau im amerikanischen Literaturbetrieb. Sie erzählt von weiteren Verlusten, der Entfremdung von den Söhnen, von der Familie, von Freunden. Bis hin zum Bruch mit Martin Walser, den sie als junge Frau noch vor der Emigration in die USA kennenlernete, in ihm einen engen, lebenslangen Freund sah, dem sie jedoch die Darstellung eines jüdischen Kritikers in dem umstrittenen Werk `Tod eines Kritikers´ nicht nachsehen kann.

Wie sehr die traumatischen Erfahrungen ein Leben lang prägen, auch das verdeutlicht diese Autobiographie. Und über alledem überwiegt dennoch eine anhaltende Liebe zur deutschen Sprache, zur deutschen Literatur.

Und bei allem, was Ruth Klüger „unterwegs verloren“ hat, bleibt ein Gewinn am Ende: Das Wissen, dass sie dort, wo Diskriminierung geschah – sei es ihr oder anderen gegenüber – den Mut und das Rückgrat hatte, dagegen einzutreten.

Siehe auch ihr Portrait unter der Rubrik “Jüdische Lyrikerinnen”: http://saetzeundschaetze.com/2014/02/16/judische-lyrikerinnen-im-portrait-6-ruth-kluger-unbestechlich-bedingt-versohnlich/

Xavier de Maistre: Die Reise um mein Zimmer (1794).

„Heute wollen gewisse Leute, von denen ich abhängig bin, mir meine Freiheit wiedergeben, als ob sie mich ihrer beraubt hätten! Als ob es in ihrer Macht stände, sie mir einen einzigen Augenblick zu entziehen und mich zu hindern, durch den unendlichen, mir stets zugänglichen Weltenraum nach meinem Belieben zu reisen! – Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt, zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeiten stehen zu meinen Diensten.“

Xavier de Maistre, Die Reise um mein Zimmer, 1794, Aufbau Verlag.

Leider schon vergriffen (und darüber hinaus und sowieso leider auch außerhalb meiner Bücherkasse): “Die Reise um mein Zimmer”, gestaltet von Helmut Schulze. Die Künstlerbücher der edition officin parvus sind aber allemal einen Blick wert: http://www.offizinparvus.de/

Wenn man vom Reisen und dessen Nachteilen spricht, dann kommt unter Garantie jemand daher, der Blaise Pascal zitiert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“ Und dann im selben Atemzug darauf verweist, dass es da doch dieses Buch gäbe. Höchste Zeit also, einmal dieses Buch zu lesen.

Die größten Reisen finden, so sagt man, im Kopf statt. Und wenn der Körper unfrei ist, dann können doch die Gedanken umso freier sein. 42 Tage Stubenarrest – das bekam Xavier de Maistre (1763-1852) wegen eines Duells aufgebrummt. Doch der wackere Soldat ließ sich davon nicht ausbremsen: Xavier, allein zuhause, lässt seinen Ideen freien Lauf.

“Man möge mir nicht vorwerfen, ich verlöre mich in Einzelheiten; Reisende machen das so. Wenn man aufbricht, um den Montblanc zu ersteigen, wenn man das Kratergrab des Empedokles aufsuchen will, unterlässt man es nie, die nebensächlichsten Begleitumstände genau zu schildern: Die Zahl der Personen, diejenige der Maulesel, die Qualität des Mundvorrats, den ausgezeichneten Appetit der Reisenden, kurz alles, selbst die Fehltritte der Reittiere, wird zu Belehrung für jedermann daheim sorgfältig ins Tagebuch eingetragen. Nach diesem Prinzip habe ich beschlossen, zu sprechen …”

Aber er spricht eben weniger über Reiseproviant, Maulesel und Fehltritte, sondern im  Parlandostil über die Welt der Ideen. Und die kreisen um all jenes, was den Chevalier jener Tage bewegte: Kleine Liebeshändel und größere politische Fragen, Erinnerung an Waffengetümmel und Liebesschlachten, Philosophisches und Handfestes. In seiner Imagination diskutiert er mit Platon und Perikles, korrigiert ganz nebenbei den Eid des Hippokrates und trifft Werthers Lotte.

Der Zimmerausflug führt zu einer tour de force durch den Stand der Philosophie, Naturwissenschaft, aber auch Waffenkunst dieser Tage – de Maistre macht in seinen Gedankenflügen vor keinem Thema halt.

Dies alles ist mit leichter Feder geschrieben – charmant, aber sprunghaft. Mir ist es eine Spur zu leichtfedriggewichtig und zu sprunghaft: De Maistre legt ein Tempo an den Tag, das nur erfahrene Reisende mit guter Konstitution mithalten können. Hier reist er seinem großen literarischen Vorbild Laurence Sterne hinterher – ohne allerdings dessen Reiseerfahrungen zu erreichen.

Da wird beispielsweise das Abtauchen in die Schreibtischschublade zum Ausflug mit überraschendem Ausgang: „Ähnlich einem Reisenden, der im Eiltempo flüchtig ein paar oberflächliche Eindrücke sammelnd, durch einige Provinzen Italiens fährt, um sich für ganze Monate in Rom niederzulassen.“ So tat es Goethe im Land, wo die Zitronen blühen, so tat es de Maistre in seinem Schreibtisch, wo die Gedanken blühen.

Auf das Buch wird oft verwiesen und oftmals auch weckt der Titel falsche Vorstellungen: De Maistre reist nicht gedanklich um die Welt, sondern um die Welt der Gedanken. Das Äußerste an wirklicher Aktion sind Schäkereien mit Hündchen Rosine und ein Sturz vom Stuhl. Es braucht nicht mehr, um Reisen zu können, wenn man de Maistre heißt. Als Leser bereut man es nicht sehr, einige Zeit sein Reisegefährte gewesen zu sein – schließlich ist de Maistre ein eloquenter Reiseführer. Man hätte aber ebenso gut mit Blaise Pascal zuhause bleiben können. So ist das mit dem Reisen im eigenen Zimmer.

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang (2014).

„Sie erkennt ihn an seiner Haltung, an seinem Ausdruck, sie ist sich sicher und trotzdem überrascht, wie jung er ist, wie hübsch und wie müde. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover. Keine Jacke mehr, trotz der frühabendlichen, frühsommerlichen Kälte. Sie kann nicht sehen, was in seinem Pappkarton drin ist, was er kauft. Er macht noch einen Schritt vor und stellt den Pappkarton aufs Förderband, dann schaut er auf, vielleicht weil er spürt, dass er angesehen wird. Sein Blick geht suchend über die Leute hin. Trifft Stellas Blick.
Mister Pfister sieht sie an.
Stella sieht Mister Pfister an, sie denkt, spürst du das, der ganze Weg, den man zum anderen hin auf sich nehmen kann, ist ja in diesem Blick. Der Weg hin, der Weg zurück auch.
Zorn, Höflichkeit, noch was anderes.“

Judith Hermann, „Aller Liebe Anfang“, 2014, S. Fischer Verlag.

Es gibt einen Judith Hermann-Sound. Die Schriftstellerin, die sich erfreulicherweise so viel Zeit lässt mit ihren Büchern, die zwischen den Werken stille Jahre einfließen lässt und nicht wie andere, die - wie sie auch - schon mit dem Debüt als literarische Sensation gefeiert wurden, dann eines nach dem anderen abliefern. Und doch, nimmt man nach diesen Pausen ein neues Buch von ihr in die Hand, erklingt da eine vertraute Stimme wieder, taucht man in diese unaufgeregte Sprache ein, eine ruhige Sprache, die selbst dann beruhigt, wenn sie von beunruhigenden Dingen erzählt. Wie in ihrem jüngsten Buch: „Aller Liebe Anfang“.

Drei Bände mit Erzählungen hat Judith Hermann, 1970 geboren, bislang veröffentlicht: 1998 „Sommerhaus, später“, 2003 „Nichts als Gespenster“, 2009 „Alice“ – beinahe im fünfjährigen Rhythmus, viel Zeit dazwischen, eine, die sich offenbar nicht vereinnahmen lässt von einem hektischen Literaturgetriebe, das immer und stets nach Neuem schreit. Doch nicht nur damit entspricht sie wenig dem Zeitgeist – auch in der Sprache, die in ihrer zarten Bedächtigkeit, mit dieser leisen Melancholie manches Mal beinah schon
altmodisch klingt.

Dagegen waren manche ihrer Erzählungen jedoch durchaus in einem „zeitgeistischen“ Milieu angesiedelt, eine Mischung aus Studentenleben, Künstlerkreisen, ein bisschen Bohème und Biokost, irgendwo zwischen Prenzlauer Berg und Friedrichshain verortet.

Aus einer früheren, kurzen Besprechung ihrer Erzählbände hier auf dem Blog:
„Als „Sommerhaus, später“ 1998 erschien, wurden eine Viertelmillion Exemplare davon verkauft, eines auch an mich. Die Renaissance der deutschen Kurzgeschichte wurde gefeiert. (…) Judith Hermann schreibt viel über Menschen, die irgendwo während einer Reise, bevorzugt in nordische Länder, melancholisch Kaffee aus zerknitterten Plastikbechern trinken. Oder im Zug mit einem Freund sitzen, der Bier aus der Dose und den Parka aus der Kleiderkammer für modische Accessoires hält. (…) Bei Liebespaaren ist die Trennung – niemals dramatisch, sondern lapidar – schon vorgezeichnet, und selbst wenn die Menschen sagen, dass sie glücklich sind, klingt das ziemlich traurig. Soviel Melancholie kann in einem Erzählband ganz schön sein. In dreien wird es ermüdend.“ (Zur vollständigen Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/07/30/judith-hermann-vs-clemens-j-setz/)

Jetzt also erstmals ein Roman. Ich war gespannt, ich war interessiert – würde dieser spezielle Hermann-Sound eine längere, rundere Geschichte tragen oder würde das Buch in schöner Melancholie versickern? Vorweggenommen: Der Sound trägt einen durch das ganze Buch, ein Sprach- und Lesefluss, der durchaus mitnimmt. Dazu trägt zudem der Plot bei, der durchaus Spannungsmomente in sich birgt. Ein schön geschriebenes, lesbares Buch, ein Roman, der Leichtigkeit und Schwere vereint – vielleicht kein Roman, der lange nachhallt, aber auch alles andere als verschwendete Lesezeit.

Die Figuren der Judith Hermann sind erwachsener geworden. Sie leben in einem Vorort, Mann, Frau und Kind, er wochentags auf Baustellen unterwegs, sie pflegt alte Menschen. Scheinbar eine Kleinstadtidylle.

Äußere Beschreibungen wie bei einer Kamerafahrt:
„Ein Haus aus Backstein mit einem moosigen Ziegeldach. Eine Haustür mit eingefassten Bleiglasscheiben, zur Linken eine Bank aus Holz, neben der Bank ein Olivenbäumchen in einem Tontopf, unter der Bank Avas Gummistiefel, Stella weiß gar nicht, wie die da hingekommen sind, seit wann sie schon da stehen. Rechts von der Haustür das Panoramafenster, deutlich sichtbar der Sessel, die zerknautschte Decke über der Armlehne, die Bücher in Stapeln und auf dem breiten Fensterbrett Kissen, ein Stoffzebra und ein Teeglas, eine Flasche Wasser und etwas Kleines, von dem Stella glaubt, dass es Jasons Brillenetui ist. All das ist zu sehen, einen Augenblick lang ist sie fassungslos über diese Ausstellung von Privatem, über ihre Gedankenlosigkeit.“

Würde nicht bereits angedeutet, dass nicht hinter, aber vor der Fassade nicht alles stimmt – so wäre dies beinahe ein wenig zu viel Idyll, knapp am Kitsch vorbeigeschrammt: Öko-Links wird bürgerlich, richtet sich ein in der Behaglichkeit. Doch eben so leise, wie Hermann als Autorin wirkt, so leise schleicht sich auch die Unbehaglichkeit, das langsam zum Grauen wird, in das Vorstadtidyll ein, in Person des Mr. Pfister. Ein Stalker, der beginnt, in Stellas Alltag zu dringen, aber schlimmer noch, in ihre Gedanken. Der plötzlich Raum einnimmt und eindringt vor allem in die Beziehungen zu anderen – zum Ehemann, zur Tochter, zur Kollegin, zu ihren Patienten. Stella kommt an ihre Grundfesten – erinnert sich an die Anfänge ihrer Liebe zu Jason, muss sich auch dieser Liebe immer wieder vergewissern, erinnert sich an alte Zeiten, als alles noch unbelastet war, erinnert sich an Träume vom Leben, die verschüttet wurden vom Alltag. Die positive Botschaft: Letztendlich setzt diese Grenzerfahrung wieder Prozesse frei, ermöglicht einen Re-Start, einen neuen Anfang aller Liebe.

Dennoch: Stalking ist ein Phänomen unserer Zeit, das oftmals Betroffene, aber auch deren Umwelt in Rat- und Hilflosigkeit versetzt. Judith Hermann beschreibt den Ablauf, vom ersten unerwünschten Kontakt, dem Klingeln an der Haustür, dem Wunsch nach einem Gespräch mit Stella, bis zur Eskalation (ungewöhnlich spektakulär für Hermann`sche Verhältnisse) in ihrer zurückgenommenen Sprache so, als habe sie es beinahe selbst erlebt. Sie muss die Gefühlswelten, die Stella durchlaufen muss, nicht „ausschreiben“, um ein Bild dessen zu malen, was im Inneren der Betroffenen vorgeht. Hermann, „Meisterin der Beschneidungskunst“, lässt Stella die ganze Gefühlspalette durchleben – Angst, Verunsicherung, Wut, Zorn, das Bemühen, zu verstehen: „Warum gerade ich?“. Wie erstaunlich viele Menschen, die dies erleben, gibt es keinen Anlass, der das Verhalten eines Stalkers rechtfertigt, ist das Ziel oftmals nur zufällig ausgelöst – bedingt durch einen einmaligen Kontakt, durch eine zufällige Nähe (hier die Nachbarschaft), das Opfer eine Folie für die unerfüllten Lebensziele und Träume des psychisch angeknacksten Verfolger.

Zunächst hatte ich mich über das Thema dieses Romanerstlings gewundert – vieles hätte ich von Judith Hermann erwartet, aber keinen Roman über Stalking. Doch beim Lesen wurde mir klar: Gerade das passt. Weil dies eine zwischenmenschliche Grenzerfahrung ist. Weil es Gefühle auslöst, die so schwer fassbar sind. Weil sich diese Erfahrung des eigenen Lebens bemächtigen könnte. Und weil ein Stalker Unerklärbares tut, sich selbst wahrscheinlich auch kaum erklären könnte.

Das Unerklärbare in den Beziehungen zwischen Menschen – genau das ist Judith Hermanns Metier.

Christopher Isherwood: Kondor und Kühe (1945).

„Ich habe noch nie so viele Buchhandlungen gesehen. Zusätzlich zu Dutzenden von lateinamerikanischen Autoren, von denen ich noch nie gehört habe, haben sie auch zahllose Übersetzungen auf Lager – alles von Platon bis Louis Bromfield. Bogotá ist natürlich berühmt für seine Kultur. Es gibt einen Ausspruch, soweit ich weiß, dass hier sogar die Schuhputzjungen Proust zitieren. Es ist schön, sich einen von ihnen vorzustellen, wie er Bürste in der Hand, innehält, um zu bemerken: Tatsächlich liegt in der Liebe beständiges Leiden, das die Freude zwar neutralisiert, in bloß potenziellem Zustand erhält und aufschiebt, das aber jeden Augenblick werden kann, was es seit Langem wäre, wenn man nicht das erlangt hätte, was man wollte: entsetzlich…“

Christopher Isherwood am 12. Oktober 1947 in Bogotá in: „Kondor und Kühe“, Liebeskind Verlag, 2013.

Der britische Schriftsteller Christopher Isherwood (1904-1986) war, wie zahlreiche seiner Landsleute, lebenslang auch ein Reisender. Seine Reisebücher und Essays darüber sind hierzulande jedoch weitgehend unbekannt – Isherwood ist vor allem im Gedächtnis für seinen Roman „Leb wohl, Berlin“, die Vorlage für das berühmte Musical „Cabaret“ und für „A single man“, 2009 atemberaubend auf die Leinwand gebracht von Tom Ford, das gelungene Filmdebüt des Modedesigners.
So dauerte es leider bis 2013, dass ein Verlag so mutig war, das südamerikanische Reisetagebuch Christopher Isherwood ins Deutsche übersetzen zu lassen: „Kondor und Kühe“, übersetzt von Matthias Müller, erschienen im Münchner Liebeskind Verlag. Ein Gewinn für alle, die gerne lesend reisen und für jene, die sich in lateinamerikanischer Politik und/oder Kultur auskennen. Und das (freilich vom Autor noch vor Erscheinen redigierte) Tagebuch eines großen Stilisten: Isherwood beobachtet genau, analysiert messerscharf, schreibt brillant.

1947 besteigen er und sein Reise- wie Lebensgefährte, der Fotograf William Caskey, mit dem ihn eine fünfjährige, teils destruktive Beziehung verband, ein Schiff in New York.

„Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, ein Ire aus Kentucky. Wahrscheinlich würde Dr. Sheldon ihn als einen kleinen viscerotonischen Mesomorphen klassifizieren. Seine Freunde vergleichen ihn oft, durchaus nett gemeint, mit einem Schwein. Dem brauche ich nichts hinzuzufügen. Er wird sich wahrscheinlich selbst beschreiben, ganz allmählich, in dem Maße, wie der Bericht unserer Reise fortschreitet. Er ist Fotograf von Beruf und begleitet mich, um Fotos für das Buch zu machen.“

Nun: Die Fotos sind es nicht, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dagegen Isherwoods Beobachtungen. Er sagte von sich selbst: „I am a camera“. Und so saugt er auf dieser Reise, die bis März 1948 währt, Bilder eines Kontinents im ewigen Unruhezustand auf, die er zu Papier bringt. Auf teils abenteuerlichen Routen, mit dem Schiff, Zug, Bus, seltener mit dem Flugzeug, reisen die beiden Männer über Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien bis Argentinien. Freilich erleichtert seine Bekanntheit als Schriftsteller Isherwood den Kontakt zu Land und Leuten und ermöglicht ihm Einblicke, die einem Rucksacktouristen nicht gewährt werden. Da hält er Vorträge vor literarischen Zirkeln, wird von den jeweiligen amerikanischen und britischen Botschaftern gerne auch mal betüttelt, trifft alte Freunde aus Berliner Zeit, Exilanten, die vor den Nazis fliehen mussten und in Südamerika eine neue Heimat fanden.

Freilich ist Isherwood jedoch intelligent und ironisch genug, um sich von den Fassaden der oberen Gesellschaftsschichten nicht blenden zu lassen – in langen Passagen setzt er sich mit den politischen Unwägbarkeiten Lateinamerikas auseinander, mit der Rolle der Kirche, der Armut der Landbevölkerung und der Stellung der Indios. Und immer wieder wird die Faszination für das Andere, das Fremde, selbst dessen grausame Seite, deutlich:

„Es ist ein gewalttätiges Land. Donner und Lawinen in den Bergen, riesige Überschwemmungen und Gewitter auf den Ebenen. Vulkane explodieren. Die Erde bebt und teilt sich. Die Wälder voller wilder Tiere, giftiger Insekten und tödlicher Schlangen. Ein falsches Wort, und ein Messer wird gezogen. Ganze Familien werden ohne Grund ermordet. Unruhen sind überraschend und blutig und oft sinnlos. Autos und Lastwagen werden mit einer Gleichgültigkeit, die schon beinahe selbstmörderisch ist, ineinander oder über Felsvorsprünge gefahren. Solch eine Energie in Zerstörung. Solche eine Apathie, wenn es darum geht, etwas zu reparieren oder zu bauen. So viel Humor in Verzweiflung.“

Die Reise liegt nun beinahe 70 Jahre zurück. Warum also ein Reisetagebuch lesen, von dem man annehmen könnte, alle Beobachtungen darin sind bereits überholt, alle Entdeckungen, die Bücher wie diese interessant machen könnten, waren bereits schon zuvor gemacht?
Nun, zum einem: Die Natur bleibt, wo sie nicht mutwillig vom Menschen zerstört werden kann, unabänderlich – noch immer kreisen Kondore, noch immer ist Argentinien geprägt von ihrer Pampa, schüchtern die Schneegipfel der Anden mit ihrer Mächtigkeit ein, birgt die von Isherwood geprägte Route atemberaubende Anblicke. Obwohl bekennende Reisemuffelin, kann ich dies doch aus eigener Anschauung bestätigen – einen Teil der Route, wenn auch einen kleineren mit weniger Zeit, nahm auch ich einstmals auf mich und ward überwältigt.
Und nachvollziehen kann ich auch die Todesängste, die Isherwood bei manchem Reiseabschnitt durchlitt und humorvoll kommentiert: Busfahrer, die mit Höchstgeschwindigkeiten Haarnadelkurven am Abgrund nehmen, Piloten, die durch den Nebel stochern, Buse, die notorisch unpünktlich kommen und dich irgendwo im Nirgendwo aussetzen – auch das ist eine Konstante.
Vor allem aber sind Isherwoods Bemerkungen über die politische Entwicklung dieses Kontinents, der lange in Abhängigkeiten gehalten wurde – von den spanischen und portugiesischen Eroberern und deren verlängertem Arm, der Kirche, später von den Weltmächten USA und UdSSR – hellsichtig und – leider – immer noch höchst aktuell.

„Doch die neuen Republiken sind noch nicht wirklich frei, nicht wirklich einheitlich. Sie sind noch keine Nationen geworden. (…) Um Nationen zu werden, müssen sie aufhören Kolonien zu sein. Die Natur arbeitet an diesem Projekt, vermischt allmählich Indios mit Latinos. Doch die Natur arbeitet sehr langsam. Und währenddessen fegt eine große Flut sozialer Revolutionen über die Welt. Eine Flut, die Kommunisten und andere zu lenken und zu kontrollieren versuchen. In Kolonialländern muss dieser gesellschaftliche Aufstand der Unterprivilegierten auch die Form eines rassischen Aufstands annehmen (…). Die unmittelbaren Aussichten sind beängstigend. Jahrzehnte der Unruhe. Militärherrschaft. Herrschaft des Pöbels. Endlose Gewalt, unterbrochen nur durch Perioden schierer Erschöpfung. Ausländische Intervention, die vielleicht für eine Weile eine unpopuläre Disziplin auferlegt. Dann noch mehr Revolten, noch mehr Blutvergießen…Oder bin ich zu pessimistisch? Es gibt Kräfte auf der anderen Seite, die friedliche Veränderung und Entwicklung betreiben. Sie sind vielleicht viel stärker, als sie aussehen.

Noch, so scheint es, ist diese Entwicklung nicht abgeschlossen.

Reto Hänny: Blooms Schatten (2014).

Alleswahr (3)„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag: http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html

Stephan Thome: Grenzgang (2009)

“Die Kuppen ihrer Finger streifen über seine Handflächen, bevor sie sich mit den anderen Fingern verschränken. So stehen sie still für einen Moment, ein Zwei-Personen-Rahmen für den enger werdenden Raum zwischen ihren Körpern. Spielraum.“

Stephan Thome, “Grenzgang”, 2009.

Eine Frau, ein Mann. Mitte 40. Lebensentwürfe gescheitert. Gestrandet in der Provinz. Treffen einander. Irrungen und Wirrungen. Kommen trotzdem zusammen. Ein Ende, das sich nur zögernd happy anfühlt. Aber immerhin das. Und: Das Beste kommt zum Schluß. Das ahnt man schon. Die Beschreibung der Annäherung (daraus das Zitat): Wunderschön, bitterzart. Soviel zum Inhalt.

Auf den ersten Blick kein „Burner“. Doch Stephan Thome hat in seinem Roman das Provinzgetümmel so schön mit feiner Ironie gezeichnet, dass Elmar Krekeler in der Welt gar schwärmte: „In keinem Roman wohnt man so gern wie in diesem.“

Thome schreibt schön, schon in diesem ersten Roman, dem “Fliehkräfte” folgten, im Herbst wird sein dritter Roman beim Suhrkamp Verlag erscheinen.

Die Enge knistert zwischen allen Zeilen. Thome beschrieb neulich im Stern in einer Kolumne sein von Fernweh angetriebenes Leben. Einer, der meist unterwegs zu sein scheint, hat offensichtlich einen besonders unverstellten Blick auf die Heimat. Der Philosoph Thome hat promoviert über „interkulturelle Hermeneutik und die Herausforderung des Fremden“. Schön, dass er das Fremde in der deutschen Provinz als Herausforderung für seinen Debütroman angenommen hat.

Befremdlich für “Zugereiste” vielleicht auch die Tradition des Grenzgangs - bei “Schöne Seiten” findet sich eine besonders lesenswerte, weitaus ausführlichere Besprechung des Romans. UND!!! Caterina hat sogar einen Grenzgang mitgemacht - das ist wahre Literaturleidenschaft…: http://caterinaseneva.wordpress.com/2012/08/18/stephan-thome-grenzgang/

“Das muss doch seine Mutter geschrieben haben” - Iris Radisch im Video über diesen “Provinzroman”

Georges Simenon: Die Katze (1967).

„Marguerite hatte ihren ärgsten Feind bereits beiseitegeschafft, die Katze, deren bloße Gegenwart eine Beleidigung für das Geschlecht der Doises und ihre Empfindsamkeit darstellte. Warum sollte sie nicht eines Tages auch ihren Mann beiseiteschaffen? Die meisten Giftmorde, das hatte er in der Zeitung gelesen, wurden von Frauen verübt.“
Georges Simenon, „Die Katze“, Diogenes Verlag

Welche rätselhaften Wege die menschliche Seele einschlägt, das zeigt sich meist daran, wenn zwei sich in absoluter Abneigung verbunden sind. Welche Finten und Finessen sich das menschliche Hirn einfallen lässt, um einen anderen Menschen zu verletzen, zu treffen, zu quälen. Und ich spreche (vielmehr schreibe) dabei nicht von den markerschütternden Bluttaten, sinnlosen Metzeleien, grausamen Morden aus den Schlagzeilen. Sondern von den ganz gewöhnlichen, alltäglichen Allerweltsgemeinheiten.
Einer, der diese Abgründe in der Psyche der sogenannten „Menschen wie Du und Ich“ festhalten, schriftstellerisch erforschen und auf Papier bannen konnte wie wenige sonst, war Georges Simenon. Es sind die „Non-Maigrets“, in denen er sich den Abgründen unserer Spezies widmet. Es sind ganz einfache, klar strukturierte Geschichten, so simpel und schlicht, und doch so (oder auch gerade deswegen) wirkungsvoll, weil man spürt: Der da, die da, das könnte auch Ich sein.

Recht freie Filmadaption, aber deswegen nicht weniger brillant: “Die Katze” mit Simone Signoret und Jean Gabin. Bildquelle: http://www.cinema.de

Ein Meisterstück des Vielschreibers ist dabei für mich „Die Katze“. Das Psychogramm einer gescheiterten Ehe. Zwei, in Hassliebe verbunden, bis der Tod sie scheidet. Erzählt wird aus Perspektive des Mannes: Er, Émile, aus einfachen Verhältnissen stammend, als Bauvorarbeiter tätig gewesen, mit einem Hang zu leicht vulgären Frauen, trifft als Witwer Ende seiner 60iger-Jahre die nur wenig jüngere, ebenfalls verwitwete Marguerite. Zwei Einsame berühren sich für kurze Zeit – und doch gelingt es nicht, aus der Ein- auch eine Zweisamkeit zu machen. Die Ehe scheitert schon nach wenigen Monaten, zu unterschiedlich sind sie in Herkunft, ihren Haltungen, ihren Hoffnungen. Zu fragil die Basis des Zusammenkommens.

„Sie waren nur durch die Sackgasse voneinander getrennt gewesen. Weder sie noch er hatte längere Zeit alleine gelebt. Beide waren gewohnt, Teil eines Paares zu sein.
Er lebte allein in seinem Zimmer über dem jungen Ehepaar, das gerade ein Kind bekommen hatte. Und sie war nicht weniger allein in ihrem Haus, in dem sie sich ein bisschen verloren vorkam und manchmal Angst hatte.“

Als Émiles Katze (das einzige Lebewesen, mit dem er harmoniert) vergiftet wird, verdächtigt er seine Frau. Als Racheakt verliert deren Papagei zunächst Federn und dann das Leben. Dies sind die einzigen Mordtaten. Mehr braucht es nicht, um Unbehagen zu wecken. Man erwartet als Leser die Eskalation – die jedoch nicht kommen muss (und auch nicht kommen wird), um dieser Ehegeschichte mit Anspannung zu folgen.

Nach dem Tod der Tiere kommuniziert das Ehepaar nur noch über Zettel. Eine Zettelwirtschaft, bei der eine Annäherung nicht mehr möglich ist. Aus Missverständnissen wird Misstrauen, aus Misstrauen wird Hass. Ebenso wenig jedoch gelingt auch eine Trennung. Der klassische Fall von zweien, die nicht mehr miteinander, aber ebenso wenig auch ohne einander sein können. Die spärlichen Versuche, aufeinander zuzugehen oder auszubrechen aus diesem Gefängnis mit zweien, die zugleich Wärter und Gefangene sind – sie wecken Mitleid, Traurigkeit, werfen Fragen auf. Warum so leben? Und, genau besehen: Warum leben viele so?

Simenon muss diese Fragen nicht explizit beantworten, er muss nicht analysieren, er muss nicht erklären – bei ihm genügt diese schlichte Beschreibung, das Fortschreiben einer Geschichte, um Begreifen auszulösen, aber auch, um Beklemmung zu wecken: Wie dünn der Firniss der Zivilisation doch ist. Wie schnell die lauernden Urinstinkte an die Oberfläche kommen. Wie wenig es braucht, um sich das Leben schwer, wenn nicht gar zur Hölle zu machen. Einige Spaziergänge mit Émile genügen, um in das Innere dieser Ehe und ihrer Protagonisten zu dringen.

„Im Laufe seines fünfzehnminütigen Spaziergangs war er an einem Krankenhaus, einem Gefängnis, einer psychiatrischen Anstalt, einer Schwesternschule, einer Kirche und einer Feuerwehrkaserne vorbeigekommen. War es nicht so etwas wie eine Zusammenfassung des menschlichen Lebens? Es fehlte nur noch der Friedhof, und der war auch nicht weit.“

So wie jedoch auch Émile nicht ohne Mitleid und Zärtlichkeit für „die Alte“ ist, so mitfühlend geht auch Simenon mit seinen Figuren um in ihrem ganzen Scheitern an der Welt. „Die Katze“ zeigt: Da sind zwei, die wollen anders, können aber nicht. Und weil man aus dem eigenen Erleben, der eigenen Erfahrung weiß, wie oft einem dies selbst widerfährt, fühlt man sich beim Lesen von Georges Simenon, dem Meister der Schlichtheit, ertappt – und verstanden.

Noch ein Simenon-Beschwärmungs-Beitrag: “Kleine Leute, grosse Täter”

Flutschbuch (6): Wolfgang Herrndorf - Sand.

„Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. (…) Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit. War es schon tagsüber still und windstill gewesen, wuchs in der Nacht die Stille noch einmal bedrückend an. Rücklings im Sand liegend, die blutverkrustete Hand auf seine Brust gelegt, erblickte Carl nie gesehene Sternmassen über sich.“

Wolfgang Herrndorf, „Sand“, Rowohlt Verlag Berlin.

Inhalt: Ein Spionagethriller. Wie die Handlungsverläufe sind, wer da was sucht und gegen wen - auch beim zweiten Wiederlesen wurde mir das nicht ganz klar.

Bewertung: WOW! Dachte ich zunächst. Was für ein Roman! Irgendetwas zwischen anspruchsvollem Simmel, ausgeflippten Walser und anarchistischem Frisch. WOW! Einer, der richtig schreiben kann und eine Geschichte erzählt! WOW! Ein moderner deutscher Abenteuer-Spionage-Roadmovie-Detektiv-Roman. Und dann habe ich mich beim Lesen – immer noch WOW! – voll in der Wüste verirrt. Wie im Treibsand mitgerissen. Denn die ganze Geschichte wird letztendlich in den Sand gesetzt. Das aber fulminant. Da springen durch 400 Seiten jede Menge sinistre Gestalten, die auf der Suche nach einer geheimnisvollen Mine sind. Was die Mine ist, was das soll, wer die Leute sind: Ich glaube, selbst Herrndorf am Ende keine Ahnung mehr, geschweige denn einen Plan. Und liess die Geschichte einfach versanden. Auch das muss man können: Großartig formulierte Planlosigkeit.

Fazit: Herrndorf war ein großer Sprachkünstler, sprachmächtig, virtuos. Ihm blieb nur wenig Zeit zum Schreiben. Was er hinterließ: Großartig (hier ein Link zur Besprechung von “Arbeit und Struktur” beim grauen Sofa). Großartig auch im Scheitern - und das ist für mich “Sand”. Ein gescheitertes Buch. Oder wie die Zeit titelt: Die Wüste ist ein sinnloser Ort.

Tomas Espedal: Wider die Natur (2014).

„An manchen Tagen, so wie heute, bekomme ich nicht einen einzigen Satz zustande, kein einziges Wort. Trotzdem verbringe ich die meiste Zeit des Tages am Schreibtisch. Ich sitze da und warte. Warte auf die Wörter. Warte auf die Sprache. Warte darauf, dass sie anruft. Aber das tut sie nicht. Bisher haben wir jeden Tag miteinander geredet; bis spät nachts lagen wir da und redeten, und am Morgen fuhren wir fort. Jetzt habe ich seit einer Woche nicht mehr mit ihr geredet. Das ist nicht natürlich. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass ich nicht mehr mit ihr reden kann.“

Tomas Espedal, “Wider die Natur”, 2014.

Der Mann ist Schriftsteller, Ende Vierzig, und er ist vor allem eins: Der Verlassene. Sie, die jüngere Frau, ist weg und er erkennt: Wenn man in diesem Alter noch einmal ganz „groß“ liebt, dann wird es lebensgefährlich.

Es riecht nach Klischee: Älterer Mann liebt junge, schöne Frau, wird verlassen, versinkt in Einsamkeit, Schmerz, Alkohol, Müll. Und auf den ersten Seiten dieses Romans werden denn auch einige (wenige) Klischees aufgezogen. Klischeehafte Erotik, fast ein wenig Porno, jedoch auf hohem sprachlichem Niveau. Die klassischen Ingredienzien: Hormonschub des älteren Mannes bei hochhakigem Vorbeigestöpsel schöner junger Frau, ein One-Night-Stand auf einer Party in der Silvesternacht, weiße Haut, weiße Brüste, schwarzer BH, sie auf seinem Schoß, Koks & Champagner. Doch tritt ein, was nicht vorhersehbar und wohl auch nicht beabsichtigt war: Aus der kurzen, aufgeladenen Begegnung entsteht eine tiefe Liebe. Zumindest auf seiner Seite.
Zwei Jahre später verlässt sie ihn, die jüngere Frau. Ihre Motive bleiben im Unklaren, werden in Andeutungen nur aus Sicht der Hauptfigur, des verlassenen Mannes, reflektiert. Vielleicht, so mag man rätseln, war auch dieses Ende „beziehungsimmanent“ – denn schon in die erste, sexuelle Begegnung tritt dieser Gedanke bei ihm ein:

„Der Altersunterschied kam später, in der Bibliothek, als sie sich im Spiegel sahen. Ein beunruhigendes Bild; die beiden Gesichter, so ähnlich in ihrer Verschiedenheit, wie Geschwister, wie Vater und Tochter, oder Mutter und Sohn, und vielleicht war es dies Naturwidrige, das Groteske und Malerische, ja, das Zeitlose an dem Bild im Spiegel, weswegen sie einander nicht loslassen wollten, sie wollten einander nicht loslassen.“

Die Verschiedenheiten, sei es nun der Altersunterschied, die Kultur, die Religion, die Herkunft, sie sind es, die die Paarattraktion auslösen können. Sie sind es aber auch, die die Trennung herbeiführen können. Ein älterer Mann, eine junge Frau: Es kann ja nicht gut gehen. Es scheint, als würde der Mann, ein mittelmäßig erfolgreicher Schriftsteller, dies immer wieder auch selbst beschwören, in Nebensätzen, in Halbsätzen, in Andeutungen.
Dort, wo es von der Beschreibung des Faktischen zur Reflektion der Gefühle kommt, greift Tomas Espedal zu Kunstgriffen – greift auf die Abaelard und Heloise, die großen, ewigen, getrennten Liebenden zurück, umkreist die Gedanken mit Fragmenten, kurzen Abschnitten, Tagebucheinträgen.

„Das Glück war wie eine Maske, es hatte sich wie eine fein gewebte Maske eng über Augen und Gesicht gelegt; ich saß auf ihrem Schoß, sie zog meinen Kopf an ihre Brust, es war, als würde die Zeit in einer fürchterlichen Verkehrung umgedreht; ich wurde zum Jüngeren von uns beiden.“

„Und etwas vom Glück legt sich über den Körper. Eine neue Haut, sie wächst über der alten, eine dünne, feine, wächserne Haut dehnt sich aus und schmiegt sich genau und weich dem Körper an; ich bemerkte nicht mehr, wie es ihr eigentlich ging.“

Es scheint, Männer schreiben von der Liebe besonders schön dann, wenn sie vergangen, verloren oder gefährdet ist, wenn an sie erinnert wird – siehe Navid Kermanis „Große Liebe“, siehe Philiph Roth „Das sterbende Tier“. Und nun „Wider die Natur“. Ein schmales Buch. Aber ein wuchtiges Buch. Ein Trauersog. Nüchtern, fragmentarisch und doch zutiefst berührend. Die verlorene Liebe, die vielleicht letzte Liebe, ist für den Schriftsteller Anlass, sich zu erinnern an die weiteren großen Lieben seines Lebens, derer da zwei sind. Die Jugendliebe, die von Beginn an ein Ende hat, die nur der Übergang ist in ein anderes Leben, raus aus dem Vorort, raus aus der Fabrik. Und dann die „Liebesarbeit“ (so die Kapitelbezeichnung): Die Verbindung mit einer kapriziösen Schauspielerin, der Versuch, mit der „falschen“ Frau Paardasein, Familiendasein, Haus auf dem Land und große Welt, Stabilität und Künstlerdasein zu vereinen. Für ihn, den Verlassen, scheint es aus der Rückschau so zu sein, als sei er erst mit ihr, der letzten Liebe, angekommen. Gedanken über das Glück:

Ein kleines Buch über das Glück

Lange träumte ich davon, eine Serie von kleinen Büchern zu schreiben. Ein kleines Buch über die Liebe. Ein kleines Buch über die Freundschaft. Ein kleines Buch über das Schreiben. Ein kleines Buch für meine Tochter. Ein kleines Buch über das Glück usw.
Das Buch über das Glück kann ohnehin nicht besonders dick werden.
Nicht dick, und auch nicht besonders tief, die glückliche Sprache ist einfach und banal, es gibt keine Tiefe im Glück, oder etwa doch?
Das Buch über das Glück muss kurz sein. Kurz und fragmentarisch, eine zusammenhänge Erzählung über das Glück zu schaffen, ist unmöglich. Keine Chronologie. Keine Logik oder Vernunft; es ist nicht möglich, einen Roman über das Glück zu schreiben.

Die letzten Seiten, Tagebucheinträge:

Montag, 31. Mai

Du hast die Fähigkeit zu lieben verloren.

Du bringst es nicht über dich, kannst niemanden mehr lieben.

Es ist zu Ende.

Du sagst Ende, aber die Liebe wird nicht enden.

Man kann es so ausdrücken wie Andreas Breitenstein in der Neuen Zürcher Zeitung (3.Juni 2014):
„Blickt man auf den Lakonismus von Künstlern wie Jon Fosse, Niels Fredrik Dahl, Per Petterson, Ketil Bjǿrnstad und Jan Garbarek, scheint es so etwas wie einen norwegischen Minimalismus der Melancholie zu geben. Tomas Espedal mit seinen radikalautobiografischen Prosa-Essays, in denen empathisches Sehen und dichtes Erleben, wortkarges Erzählen und bohrendes Nachdenken sich zu einem Amalgam von existenzialistischer Dringlichkeit vereinen, gehört wie Karl Ove Knausgǻrd zu jenen Autoren, die der postindustriellen Pasteurisierung der Lebenswelt die nackte Wahrheit des eigenen Daseins entgegenhalten.“
Oder man kann es so ausdrücken: Dieses Buch ist schön. Schön traurig. Ein kurzes, schönes, trauriges Buch über die Verzweiflung, die die Einsamkeit, das Älterwerden, der Liebesschmerz mit sich bringt. „Wider die Natur“ ist ein Buch über die Liebe, jedoch vor allem ein Buch über den Schmerz. Über die Verheerungen, die die Liebe anrichten kann. Schlicht und einfach über den großen, nie enden wollenden Kummer. Schlicht und einfach auch in der Sprache (oder wie Iris Radisch in der “Zeit” schreibt: “Sprache wie klares Wasser”). Schlicht und einfach: Ergreifend.

Freitag, 7. Mai
Ich schlafe mit dem Mobiltelefon auf der Brust. Näher kann ich ihr nicht kommen.

Tomas Espedal, “Wider die Natur”,  Matthes & Seitz, Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Buch ISBN: 978-3-88221-188-7, Preis: 19,90 € / 27,90 CHF

Joseph Roth: “Hotel Savoy” (1924).

„Mir gefiel dieses Hotel nicht mehr: die Waschküche nicht, an der die Menschen erstickten, der grausam wohlwollende Liftknabe nicht, die drei Stockwerke Gefangener. Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drinnen in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen.“
Joseph Roth, „Hotel Savoy“, 1924

Das Hotel als Mikrokosmos, in dem eine ganze Welt sich einfindet: Dies ist als Motiv in der Literatur nicht unbekannt. In diesem schmalen Frühwerk von Joseph Roth wird das Hotel jedoch sogar zum Sinnbild einer ganzen Epoche – als Schauplatz des Auseinanderklaffens der Klassen, als Ort der Verlorenheit der Kriegsheimkehrer, als Ausgangspunkt einer Revolution.

Das Hotel Savoy, gleichsam das Europa der Zwischenkriegszeit. Ein Ort, der alles ermöglicht:

„Mit einem Hemd konnte man im Hotel Savoy anlangen und es verlassen als Gebieter von zwanzig Koffern.“ Oder als toter Mann: „Viele Heimkehrer hat der Tod im Hotel Savoy erreicht. Er hatte ihnen sechs Jahre lang nachgestellt, im Krieg und in der Gefangenschaft – wem der Tod nachstellt, den trifft er auch.“

Die Handlung dieses Romans ist schnell erzählt. Roth hat das Geschehen im polnischen Lodz angesiedelt, man schreibt das Jahr 1919. Der Kriegsheimkehrer Dan sehnt sich nach einem Ort der Ruhe:

„Zum ersten Mal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens erscheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braungetäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehorchen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen.“

Solcher Luxus bleibt dem ehemaligen Soldaten, der einst davon träumte, Schriftsteller zu werden, jedoch versagt. Er kommt dort im Savoy unter – jedoch dort, wo die Armen hausen, dahinvegetieren, sterben: In den oberen Stockwerken. Oben sie – unten die: Die Reichen, die Industriellen, die Kapitalisten, die in der Bar Schampus süffeln und nackte Mädchen tanzen lassen.

„Das Hotel Savoy“, sagt Zwonimir zu den Heimkehrern, „Ist ein reicher Palast und ein Gefängnis. Unten wohnen in schönen, weiten Zimmern die Reichen, die Freunde Neuners, des Fabrikanten, und oben die armen Hunde, die ihre Zimmer nicht bezahlen können und Ignatz die Koffer verpfänden. Den Besitzer des Hotels, er ist ein Grieche, kennt niemand, auch wir beide nicht, und wir sind doch gescheite Kerle. Wir haben alle schon lange Jahre nicht in so schönen, weichen Betten gelegen wie die Herrschaften im Parterre des Hotel Savoy. Wir haben alle schon lange nicht so schöne, nackte Mädchen gesehn wie die Herren unten in der Bar des Hotels Savoy.“

Die Hoffnungen der Arbeiter, der Kriegsversehrten, der verarmten jüdischen Bevölkerung richten sich vor allem auf die Ankunft eines der ihren, der in den USA sein Glück machte: Henry Bloomfield. Dan, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird, wird dessen Sekretär – ein Mittler zwischen den Welten, der ebenso voller Mitgefühl von dem Los der Entwurzelten und Verarmten zu erzählen vermag wie von der Befindlichkeit eines Bloomfields, der in der Heimatstadt zu einer Art „Heilsbringer“ erkoren wird. Eine Rolle, vor der dieser letztlich flüchtet. Nach dessen Abreise entlädt sich der Zorn, die Gewalt: Im „Hotel Savoy“ bricht eine Revolution aus, das Gebäude liegt am Ende in Trümmern. Und Dan reist ab – ohne Perspektive, ohne konkretes Ziel.

Der Roman erschien zunächst 1924 in der Frankfurter Zeitung als Fortsetzung und löste ein großes Echo aus: So präzise, so ironisch hatte Roth in diesem Buch den Untergang einer Epoche beschrieben, so sehr traf er mit diesem Werk, das auch als Fabel gelten könnte, den Geist seiner Zeit. Es ist die Zeit der Entwurzelung, der Verunsicherung, der Heimatlosigkeit. Die Wunden des ersten Krieges bluten noch und werden zur nächsten Katastrophe führen.

Hellsichtig schreibt Roth:
„Es sah aus, als wollte ein neuer Krieg ausbrechen. So wiederholt sich alles: Der Rauch steigt wieder aus den Schornsteinen der Baracken, Kartoffelschalen liegen vor den Türen, Fruchtkerne und faule Kirschen – und Wäsche flattert auf ausgespannten Schnüren. Es wurde unheimlich in der Stadt.“

Insbesondere die Schicksale und Empfindungen der Kriegsheimkehrer schildert Roth eindringlich und eindrucksvoll – er selbst war zunächst zwar als kriegsuntauglich eingestuft worden und vertrat zudem eine pazifistische Haltung, meldete sich jedoch zum Militärdienst 1916 auch aus Gewissensbissen heraus – zu viele andere Weggenossen aus dem Literaturstudium in Wien hatten sich schon zuvor zur Front gemeldet.

„Es ist wieder die Zeit der Heimkehrer. (…) Der Staub zerwanderter Jahre liegt auf ihren Stiefeln, auf ihren Gesichtern. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Stöcke plump und abgegriffen. Sie kommen immer denselben Weg, sie fahren nicht mit der Eisenbahn, sie wandern. Jahrelang mögen sie so gewandert sein, ehe sie hier ankamen. Sie wissen von fremden Ländern und fremden Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift.“

Mit starken Bildern, präziser Sprache, melancholisch, aber unsentimental entwirft Roth auf den wenigen Seiten dieses Romans ein ganzes Bild seiner Epoche, ein Weltbild. Dies macht das Werk unbedingt empfehlenswert.

„Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen. Im Felde nicht, wenn wir, von einem unverstandenen Willen getrieben, fremde Männer totmachten, und in der Etappe nicht, wenn wir alle, nach dem Befehl eines bösen Menschen, gleichmäßig Beine und Arme streckten.“

Die Kriegserfahrungen wurden für den 1894 in Ostgalizien geborenen Joseph Roth zu einem einschneidenden Erlebnis. Dies und der Untergang der alten Zeit, der Zerfall Österreich-Ungarns wurden Themen, die der Schriftsteller und Journalist immer wieder aufgriff. Roth erlangte schließlich mit den Romanen HiobundRadetzkymarsch hohe Bekanntheit. 1933 musste der jüdische Schriftsteller nach Frankreich emigrieren, er starb, verarmt und an den Folgen seiner jahrelangen Alkoholerkrankung leidend, in Paris am 27. Mai 1939.

„Hotel Savoy“ gibt es als gebundene Sonderausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-03669-5, 128 Seiten, 10,00 Euro
und als dtv-Taschenbuch, ISBN: 978-3-423-13060-8, 128 Seiten, 7,90 Euro.

Weitere Romane aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen:
Alfred Döblin, “Berlin Alexanderplatz”
Georg Fink, “Mich hungert”
Erich Maria Remarque: “Im Westen nichts Neues”

Bibliomane Beschaffungskriminalität

Bücherliebhaber neigen zu exzentrischen Verhaltensweisen. Man kennt das aus eigener Anschauung.
Ich zum Beispiel kaufe ständig Bücher auf Vorrat. Sie könnten eines Tages ausgehen.
Obwohl mathematisch minderbegabt, habe ich einen Algorithmus entwickeln wollen, um zu erfassen, wie lange ich Zeit habe, die bereits Vorhandenen zu lesen.
Aus präventiven Gründen meide ich Flohmärkte wie der Teufel das Weihwasser. Das ist nicht ohne Auswirkung auf mein gesellschaftliches Leben.
Und die einzige Hausarbeit, der ich mich gerne freiwillig und ausdauernd widme, ist die Neusortierung des Bücherregals. Eigens dafür habe ich mir so einen Federwischmob besorgt, obgleich ich die Dinger fürchterlich albern finde.

Welche Strafen stehen auf Buchraub?
Bild: Rose Böttcher

Doch was ein ehemaliger Kollege von mir treibt, das schlägt jedem Regal die Bretter aus.
Unlängst hielt er mir seinen jüngsten Neuzugang unter die Nase: „Das Tagebuch der Anne Frank“. In schwedischer Sprache. Ich guckte leicht verwirrt: „Flohmarkt?“
„Nein, Ikea.“
Noch mehr Verwirrung: „Verkaufen die jetzt auch Bücher?“ Und im Nachgang ein schwacher Witz: „Liest Du schon oder schraubst Du noch?“
Seine Gattin schaute bereits leicht betreten. Und dann kam die volle, düstere, unfassbare Wahrheit ans Licht. Dass die beiden, mittlerweile in Rente, regelmäßig Möbelhäuser aufsuchen, war mir nicht neu. Man will es ja gemütlich haben im Ruhestand. Doch von wegen Möbelschauen! Mein Ex-Kollege geht dort auf Streifzug, lässt seinem Jagd- und Sammlertrieb freien Lauf, überfällt die Läden mit nur einem Gedanken im Sinn: „Buch her oder…!“
Kurzum: Er plündert dort und stiehlt die Deko zum Zwecke des Ausbaus seiner bereits nicht unbeachtlichen Bibliothek.
„Wieso denn das?“ fragte ich. „Du hast bereits über 10.000 Bücher zuhause!“
„12.394“, kam die Korrektur prompt.
„Und die haben doch so Pappattrappen, leere Hüllen!“
Ist wohl längst nicht mehr so – in den Schaustücken der Möbeltändler landen inzwischen Remittenten und Ausschussware der Verlage: Hundertfach Biographien der beiden Altkanzler mit Vornamen Helmut, die Lebensbeichte eines abgehalfterten Schauspielers, die Sexbeichten irgendeines Sportlers und, wenn man Glück hat, Anne Frank in Schwedisch.

Welche Straftatbestände diese bibliomane Beschaffungskriminalität wohl erfüllt, ich mag gar nicht daran denken. Ladendiebstahl? Raub? Mund- und Buchraub? Oder organisiertes Verbrechen?
Bislang kam er davon. Nur einmal habe ein Teppichverkäufer versucht, sich zwischen ihn und den Ausgang zu werfen. Aber versuch einmal, mit einem Ex-PR-Berater und Rhetorik-Genie zu diskutieren. Sinnlos. Aussichtslos. Trostlos. Der verkauft dir deinen eigenen Teppich.
Schließlich, so meinte mein Bekannter, seien die Bücher nicht mit Preisen ausgezeichnet, dem Möbelhaus ebenfalls geschenkt worden, er rette Kulturgut vor dem Vergessen und Bildung sei für alle da.
Wozu er denn ausgerechnet diese Bücher, die nun ja aus durchaus verständlichen Gründen ihr Gnadenbrot in Möbelausstellungsräumen fristen, nun auch noch brauche, er, der ansonsten die Werke der großen Klassiker goutiere?
„Ich lese das alles!“
„Aber Anne Frank in Schwedisch?“
Kurz stutzte er. Aber nur kurz. „Ich besorg` mir ein Schwedisch-Wörterbuch.“
Lieber möchte ich nicht wissen, wie und wo…

TRIO 16: Buchhandlungen. Paris, London, New York. Und die lieben Kleinen.

Eine häufig von mir frequentierte Buchhandlung hat einen schrecklichen Fliesenboden. Selbst in der „gemütlichen“ Leseecke. Zwei der Verkäuferinnen latschen da bevorzugt mit Flip-Flops. Grausames Geräusch. Flip Flops sind Fussballtröten mit Fußschweiß - beides in Sommer- und WM-Zeiten Geräusche, die mich beim Lesen stören. Und das ertrage ich gar nicht. Quietschende Nervtöter in den heiligen Tempeln der Literatur. Innerlich habe ich den Buchhändlerinnen schon mehrfach gekündigt. Wegen Literaturkannibalismus. Dennoch: Amazon flipt-flopt zwar nicht, nervt aber noch mehr. beispielsweise durch immer neue Schlagzeilen im fragwürdigen Umgang mit Belegschaft, Verlagen und auch Endkunden. Erfreulicherweise kommen von letzteren immer mehr an die Basis zurück - den Einzelhandel. Und da kann man auch mal akustische Ausfallerscheinungen in Kauf nehmen, wenn man dafür sieht, wieviel mehr an Beratung, Wissen, Fachkompetenz und auch Leidenschaft für das Medium Buch der Händler vor Ort mitbringt.

Zudem gibt es in Augsburg noch Auswahl an weiteren, kleinen feinen Buchhandlungen ohne Fliesenboden: Empfohlen sei hier an erster Stelle die Buchhandlung am Obstmarkt - der Buchhändler, ein literarisches Urgestein, Brechtkenner, Herausgeber der Keuner-Hefte, Veranstalter literarischer Großereignisse in der Fuggerstadt.

Seit 1719 (!!!) gibt es die Schlosser`sche Buchhandlung - klein, aber fein! Die Buchhändler sind nicht einfach “nur” Verkaufspersonal, sondern wandelnde Lexika. Und im 1. Stock findet man die schöne Auswahl von Zweitausendundeins.

Ebenfalls mit langer Tradition: Rieger&Kranzfelder, seit 1731 in Augsburg. Das Ambiente ist nicht von schlechten Eltern - ist die Buchhandlung doch in einem ehemaligen Fuggerhaus zu finden. Ein Blick auf die Fotogalerie lohnt sich.

Sophie Weigand, bekannt als Literaturbloggerin, widmet den “Kleinen” jetzt eine ganz eigene Internetpräsenz: Für Leserinnen und Leser eine tolle Fundgrube mit neuen Adressen, für Buchhändler eigentlich ein “Muss”, da mitzumachen: http://diekleinsten.wordpress.com/

Für all die tollen Buchhandlungen gibt es drei prominente Vorbilder, die sich auch in der Literatur niedergeschlagen haben - ich habe sie hier in den vergangenen Wochen vorgestellt.

Berühmt, famous, fabelhaft - “Shakespeare and Company” in Paris: http://saetzeundschaetze.com/2014/06/11/sylvia-beach-shakespeare-and-company-zum-110-bloomsday/
Sylvia Beach erzählt hier selbst, wie es tatsächlich war. Eine charmante Dame!

Amüsant, unterhaltsam, lehrreich - “84, Charing Cross Road” in London:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/05/helene-hanff-84-charing-cross-road-und-die-kunst-des-briefeschreibens/
Anthony Hopkins in der Rolle des schüchternen Antiquars zitiert in der Verfilmung des Buchwechsels Yeats:

Das Gedicht lässt sich hier nachlesen: http://saetzeundschaetze.com/2014/03/26/leisetreten/

Bücher, Kunst, soziales, politisches Engagement - “Sunwise Turn” in New York:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/25/madge-jenison-sunwise-turn-a-human-comedy-of-bookselling/

 

 

 

 

 

 

 

 

“Sunwise Turn, founded and operated by Mary Mowbray-Clarke and Madge Jenison, was located in midtown Manhattan from 1916 until it closed in 1927 was concurrent with Shay’s shop.  One of the first bookstores in the U.S. to be owned by women, Sunwise Turn sponsored lectures by Robert Frost, Theodore Dreiser, and Amy Lowell among others.  It was the first “gallery” to exhibit the work of the painter Charles Burchfield among other new artists of the time, which perhaps influenced the artistic tastes of their young intern named Peggy Guggenheim.”

Aus: http://www.newyorkboundbooks.com/2011/10/03/the-sunwise-turn-the-modern-bookshop/

Dieses Trio - ein kleiner literarischer Gruß an den Buchhandel vor Ort.
Ich muss dann los. Bücher kaufen.

Madge Jenison: Sunwise Turn (1923).

“Bücher! Mache ich zuviel Aufhebens von ihnen? Sie klopfen an die Tür zur Zukunft. Sie sind so abwechslungsreich. (…) Sie schenken uns Motive, Möglichkeiten, Prüfungen und Vorlieben. Wir finden in ihnen die Gedanken, auf denen das moderne Leben aufbaut, die ihm seinen Glanz verleihen, “unser wahres Glück, unseren Stolz”. Wenn ein Mann sein ganzes Geld in seinen Kopf gesteckt hat, dann hat er es, wie Franklin sagte, gut untergebracht.”

Madge Jenison, “Sunwise Turn. Eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher.” edition ebersbach.

Als Madge Jenison gemeinsam mit Mary Mowbray-Clarke 1916 in Nähe der New Yorker Fifth Avenue ihre Buchhandlung eröffnet, ist dies für die beiden Frauen weit mehr als ein nur ökonomisches Abenteuer. Die beiden Damen sind keine geborenen Buchhändlerinnen, aber getrieben vom Verlangen, “das Buch” und damit Bildung an die Frau beziehungsweise Mann zu bringen. Madge (1874-1960) und Mary (1874-1962) sind Teil eines intellektuellen-künstlerischen Zirkels in New York. Beide schreiben, Madge ist im Kampf für das Frauenwahlrecht aktiv, Mary schreibt und unterrichtet über Bildende Kunst. Beide haben vom Handel, insbesondere Buchhandel, keine Ahnung.

Humorvoll, engagiert, leidenschaftlich und ungeheuer fleißig - so scheint Made Jenison gewesen zu sein und so schreibt sie auch. Und aus jeder Zeile des schmalen Buches wird deutlich, worin der Erfolg von “Sunwise Turn” lag: Weil hier Menschen mit Herzblut und unbedingter Überzeugung ein “Projekt” stemmten, dessen Aussichten eher düster waren. Nicht nur die allgemeinen Rahmenbedingungen, der Umgang mit der “Ware” Buch erschwerten den Betrieb, sondern auch die speziellen Bedingungen dieser Zeit - auch das Binnenleben der USA wurde vom 1. Weltkrieg überschattet. Und dennoch:

“Bücher sind keine besonders lukrative Handelsware, wenn es sich jedoch lohnt, sie zu verkaufen, dann lohnt es sich erst recht, es gut zu machen.”

Die beiden machten es offensichtlich sehr gut: Der Laden, mit viel Geschmack eingerichtet, entwickelt sich zum “Hot Spot”. Hier verkehren Intellektuelle ebenso wie bedürftige, ungebildete Menschen, die von eigens eingerichteten Fonds und dem guten Herz der beiden Buchhändlerinnen profitieren: Manches Werk wandert ohne Bezahlung über den Ladentisch. Im Laden finden Veranstaltungen statt, Lesungen werden abgehalten, auch einige Bücher unter dem Logo von “Sunwise Turn” publiziert, Madge beliefert Kunden mit auf sie abgestimmten Literaturlisten, berät bei der Einrichtung öffentlicher Bibliotheken, scheint rund um die Uhr aktiv zu sein im Dienste des Buches. Wer dem lebendigen Erzählstil folgt, wird dies genießen. Jedoch: Dieses Buch ist nicht nur höchst unterhaltsam, sondern auch verdammt gefährlich - schlummert doch in vielen Leser(innen) ein(e) verkappte(r) Buchhändler(in). Ich jedenfalls begann bei der Lektüre davon zu träumen, eine “Sunwise Turn”-Filiale in Augsburg zu eröffnen.

Das Logo von “Sunwise Turn”

ABER: Auch wenn Madge Jenison ausführlich an mehreren Stellen über die ökonomischen Abläufe, zähe Verhandlungen mit Verlegern, Rabattschlachten und Bilanzen schreibt - es geht aus dem Buch nicht hervor, ob die beiden Besitzerinnen jemals von ihrem Kleinunternehmen leben konnten. Ich nehme an, dass aus dem Projekt zwar eine Vollzeitarbeit wurde, die Existenz jedoch anderweitig gesichert war. Sei`s drum - die beiden erfüllten sich und anderen einen Traum, ein Bedürfnis.

“Das Geheimnis unseres Erfolges war, dass wir die Buchhandlung zu einem magischen Ort machen wollten, der sich von anderen abhob und in dem schon der Kauf eines Buches zu einem aufregenden Erlebnis wurde.”

“Wir neigten dazu, unsere Unternehmungen als Heldentaten zu betrachten. Manchmal hatte ich das Gefühl, als flirteten wir nur mit unserer Idee, als inszenierten wir sie wie ein Konzert. Doch sie hatte von der ersten Stunde an etwas an sich, das unabhängig von uns war - etwas Wahres.”

“Sunwise Turn” ist mehr als ein Buch über Bücher und eine Buchhandlung. Das Buch, das nach seiner ersten Veröffentlichung 1923 ein großer Erfolg wurde, ist auch ein Stück Zeitgeschichte: Das Manhattan dieser Jahre wird lebendig, fast wie auf einem Stück Zelluloid sieht man beispielsweise Madge Jenison auf der Suche nach einem Streifenpolizisten, der den unverschlossenen Laden überwacht, durch die Straßen streifen oder auf einer Bank mit einem selbstmordgefährdeten Kriegstraumatisierten sitzen. Peggy Guggenheim liefert im bodenlangen Pelzmantel ehrenamtlich Bücher für den Laden aus, Theodore Dreiser begeistert die Jenison Kraft seiner Persönlichkeit, völlig fremde Menschen erzählen in der Buchhandlung ihre Lebens- und Liebensgeschichten.

“Schon bald stellte sich heraus, dass die meistgehandelte Ware in unserem Laden das Gespräch war.”

Bild: Kulturbuchhandlung Jastram, Ulm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und es ist schön, dass man als Leser ein Jahrhundert später daran noch teilhaben kann. Bei der edition ebersbach wurde das Buch, das zwischenzeitlich vergriffen war, 2014 wieder neu aufgelegt. Auch dazu gibt es eine schöne Buchhandelsgeschichte - nachzulesen beim Blog der Ulmer Buchhandlung Jastram:

http://jastramkulturblog.wordpress.com/2014/02/

Durch Buchhändler Samy Wiltschek wurde ich auf “Sunwise Turn” aufmerksam: Die Jastram-Jahresgabe 2013 war ein schön gemachtes Heft mit einem Auszug aus dem Buch. Und das hat nicht zuletzt wieder zu einer deutschsprachigen Neuauflage geführt.

Eine schöne Besprechung ist zudem bei Ingrid vom Block Druckschrift zu lesen.

P. J. O`Rourke: Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen (2006).

„Im Herbst 1992 fuhr ich in das frühere Jugoslawien, um mir den Multikulturalismus in der Praxis anzusehen. In letzter Zeit hatten dort verschiedene kulturelle Gruppen eine ungeahnte Kraft entfaltet – durch Schusswaffengebrauch.“

„Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen“, P. J. O`Rourke, Die andere Bibliothek, 2006.

Manche wollen immer dorthin, wo es kracht, scheppert, wummert, wo Tränengas und Pfefferspray in der Luft liegen, wo hinter der nächsten Mauer ein Heckenschütze lauern könnte. Es gibt Journalisten, die Adrenalin-Junkies sind – P.J. O` Rourke, Schriftsteller, Satiriker, der unter anderem für den Playboy, Vanity Fair und als Auslandskorrespondent für den Rolling Stone berichtet hatte, scheint mir einer von diesen zu sein. Er ist einer dieser Kriegsberichterstatter, die – selbst im Urlaub – das Herz der Finsternis besuchen.
Abgeklärte philosophische Betrachtungen über die Ursachen und Auswirkungen des Krieges darf man von diesem Buch nicht erwarten. Eher literarische Trips in die Hölle, die beim Lesen jedoch einen Höllenspaß machen. O`Rourke schreibt lakonisch, ironisch, zuweilen hemmungslos zynisch darüber, was der Mensch dem Mensch antut. Und das um den ganzen Globus herum und ohne Aussicht auf Einsicht. Reflektionen über das Wesen des Hasses und des Krieges kommen eher beiläufig daher:

„Und wieder überraschte mich etwas seltsam Alltägliches – der Hass, so allgemein und allmächtig, so einfach und so selbstverständlich wie Gott in der Al-Aksa-Moschee. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass Gott oder der Hass Menschen derart durchdringen kann, schon gar nicht gleichzeitig.“ (In: „Das Heilige Land – Gottes Affenhaus!, 1988).

Der Journalist ist hier nicht der abgehobene Berichterstatter, der seinen wehrlosen Zeitungslesern aus scheinbar neutraler, übergeordneter Wächterposition die Welt erklärt. Sondern O`Rourke erinnert zuweilen an ein Kind, das staunend durch den Spielzeugladen Welt läuft und uns daran teilhaben lässt – aber eben durch einen Spielzeugladen, in dem es lebensgefährlich zugeht. Sein Stil ist eine ständige Gratwanderung zwischen Pose und Polemik. Zuweilen verdeckt die Lust an der Sprache, an der gelungenen Formulierung den Ernst der Sache. O`Rourke schreibt nach dem Motto „Besser einen guten Freund verloren, als einen guten Witz verschenkt“. Nichts also für zarte Gemüter.

 

„Ich hatte gehofft, wenigstens gut zu schlafen. In Beirut waren die Bombenexplosionen doch ziemlich zahlreich gewesen. In der Nacht vor meiner Tour in den Süden hatte ich fünf gehört, die erste gegen Mitternacht in einer Bar, ein paar Blocks vom Commodore entfernt, und das steigerte sich dann bis zu einem großangelegten Attentat auf den Erziehungsminister um sechs Uhr morgens, bei dem Fenster im Umkreis von drei Blocks in die Brüche gingen und in meinem Zimmer die Möbel wackelten. Der Minister überlebte, meine Nachtruhe nicht.“ (In: “Auf Bummeltour im Libanon”, Oktober 1984).

Politische Korrektheit darf man also bei den Reportagen des 1947 geborenen Amerikaners, der sich im Lauf der Zeit vom Hippie zum liberalen Konservativen wandelte, nicht erwarten. Schließlich gilt O `Rourke als einer der frühen Vertreter des Gonzo-Journalismus (siehe Link unten), sein Artikel „How to Drive Fast on Drugs While Getting Your Wing-Wang Squeezed and Not Spill Your Drink“ von 1979 ist ein bestes Beispiel dafür. Doch es fehlt auch die besserwisserische Mentalität, die leichte Arroganz mancher Journalisten. O`Rourke gesteht in seinem Erstaunen über die grauenvolle Seite der Welt ein, dass er von den Ursachen mancher Krisenherde oder Mentalitäten anderer Völker so wenig versteht wie einer seiner Leser, beispielsweise in Toledo, Ohio (da ist er geboren) oder Augsburg.

„Als sich der Junge in der ersten Reihe der Kundgebungsteilnehmer die Spitze des kleinen Fingers abbiß und mit dem eigenen Blut KIN DAE JUNG auf seine superschicke Skijacke schrieb, kam ich mir, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wie ein Auslandskorrespondent vor, der aus der Fremde zu berichten hat.“

Da soll sich mal einer auskennen:

„Praktisch jeder Kandidat für das Präsidentenamt hieß Kim. Da gab es Kim Dae Jung, den Spitzenkandidaten der Opposition, und Kim Young Sam („Kim, die Fortsetzung“), ebenfalls Spitzenkandidat der Opposition, und außerdem Kim Yong Pil („Kim, die frühen Jahre“), den Ausputzerkandidaten der Opposition. Und dann war da noch der Nicht-Kim-Kandidat, Ro Tae Woo (sprich: No Tai Uh oder wie die Vertreter der Auslandspresse ihn nennen: Just Say No). Diesen Ro hatte die Militärdiktatur, die seit 1971 über Südkorea herrschte, ins Rennen geschickt.“

(Beide Zitate aus der Reportage „Seoul Brothers“ über die ersten Präsidentschaftswahlen in Südkorea, Dezember 1987).

„Die Christen hassen die Muslime, weil sie unter den Osmanen nur Leibeigene waren. Die Muslime hassen die Christen, weil sie unter den Kommunisten immer die Doofköppe waren. Die Kroaten hassen die Serben, weil sie mit den Kommunisten kollaboriert haben, und die Serben hassen die Kroaten, weil sie mit den Nazis kollaboriert haben, und nun hassen die Bosnier die Montenegriner, weil die mit den Serben kollaborieren. Die Serben hassen die Albaner, weil sie nach Jugoslawien gekommen sind. Und alle hassen die Serben, weil es von denen mehr zu hassen gibt als von allen anderen und weil sich die Serben, als Jugoslawien 1918 (mit Hilfe unseres oberschlauen Präsidenten Woodrow Wilson) geschaffen wurde, sofort die Kontrolle über Staat und Armee unter den Nagel gerissen und seitdem nicht wieder hergegeben haben. Und die Slowenen werden ebenfalls von allen gehasst, weil sie bei dem jetzigen Bürgerkrieg schon nach zehn Tagen nicht mehr mitmachten.“ (In: „Die multikulturelle Gesellschaft“, Bosnien 1992).

Fatal erinnert dieser Krieg, der vor wenigen Jahren erst mitten in Europa herrschte, an die derzeitigen Vorgänge in der Ukraine. Und auch für die Ukraine könnte man den Schlusssatz von O`Rourkes nehmen:

„Risto wirkte glaubwürdig. Und seine Geschichte war die Geschichte des jugoslawischen Bürgerkriegs in Kurzform: aus vergangenem und gegenwärtigem Unrecht erwächst künftiges Unrecht, Intoleranz gebiert neue Intoleranz, Gewalt zeugt neue Gewalt, und mittendrin die Risto Dukis dieser Weltgegend – als verführte Unschuld.“

So zynisch der Amerikaner zwischendrin über die Politik und über Politiker schreibt – an Mitgefühl mit den Opfern der weltweiten Kriege, seien es palästinensische Familien oder israelische Jungsoldaten im Gazastreifen, Verletzte und Tote im Bosnienkrieg, fehlt es ihm nicht. Nur eine Spezies lässt er – nebst den Politikern – selten ungeschoren davonkommen: Und das sind seine Berufskollegen, die, wenn sie bedächtig berichten, zu „breitmäuligen Reiseschriftstellern“ werden, sich davor fürchten, dass etwas gut und organisiert läuft, wie beispielsweise die Wahlen in Mexiko und wie „bleiche Drohnen“ immer auf der Suche nach der nächsten Story sind.

Wenn die bleiche Drohne wie P. J. O` Rourke schreibt, dann wird man zumindest auf einen höllenmäßigen Trip mitgenommen: Selbst aus einem „Arbeitsurlaub“ auf Guadeloupe, wo er in Ruhe die Europäische Verfassung („das stilistische Niveau ihrer Prosa könnte selbst Danielle Steel nicht unterbieten“) lesen will, wird da ein Abenteuer.

Und zuweilen erinnert er ganz mächtig an einen großen Vorgänger in Sachen politisch unkorrekter Reisereportagen – man denke an die „Arglosen im Ausland“ oder „Bummel durch Europa“. Dies könnte ebenso gut aus der Feder von Mark Twain stammen:

„Ich sah zu, wie die Royalisten auf den Stufen vor einem Betonkasten im sowjetischen Stil, dem einstigen Kulturpalast, ein Podium und ein paar Lautsprecher aufbauten. Sie entrollten die herzchirurgisch eingefärbte albanische Fahne, auf der eine Figur zu sehen ist, die entweder einen doppelköpfigen Adler oder ein sehr wütendes Huhn aus einer Monstrositätenschau darstellt. Die Royalisten riefen Sprüche ins Mikrophon wie: „Wir bekommen unsere Stimmen, auch wenn dafür Blut fließen muss!“ In einer Lautstärke, die selbst die krachendsten Karambolagen übertönten. Dann spielten sie – noch lauter – die albanische Nationalhymne, die so lang ist wie eine Wagner-Oper und so klingt, als würde die Blaskapelle des amerikanischen Marine Corps den Ring aufführen und dabei die Treppe im Washington Monument von oben bis unten herunterrasseln.“
(In: „Schlechter Kapitalismus“, Albanien Juli 1997).

Für den vorliegenden Sammelband hat Albert Christian Sellner die besten Reportagen P. J. O` Rourkes zusammengestellt. Wenn dieses die besten sind, dann möchte ich gerne wissen, wie gut die schlechteren sich lesen…

Sidekicks:
Albert Christian Sellner mit einem ausgezeichneten Sachbuch in der Anderen Bibliothek - dem “Immerwährenden Heiligenkalender”
Der “Erfinder” des Gonzo-Journalismus: Hunter S. Thomposon
Mark Twain und seine geheime Autobiographie