Mark Twain: Bummel durch Europa (1880)

„Der nächste Morgen brachte uns gute Nachricht – unsere Reisekoffer waren endlich aus Hamburg eingetroffen. Dies möge dem Leser als Warnung dienen. Die Deutschen sind sehr gewissenhaft, und dieser Charakterzug macht sie sehr umständlich. Sagt man daher einem Deutschen, man möchte irgend etwas sofort erledigt haben, nimmt er einen beim Wort; er glaubt, man meint, was man sagt; also erledigt er es sofort – in Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von sofort – nämlich in etwa einer Woche; das heißt, sofort bedeutet eine Woche, wenn es sich um die Herstellung eines Kleidungsstückes handelt, oder anderthalb Stunden, wenn es um die Zubereitung einer Forelle geht. Schön; sagt man einem Deutschen, er möge einem den Koffer „nicht als Eilgut“ nachschicken, nimmt er einen beim Wort, er schickt ihn „nicht als Eilgut“ und man kann sich gar nicht vorstellen, wie lange man seine Bewunderung angesichts der Ausdruckskraft dieser Wendung der deutschen Sprache wachsen lassen darf, bevor man seinen Koffer schließlich in Empfang nimmt. Das Fell meiner Seekiste war weich und dicht und jugendfrisch, als ich sie in Hamburg zum Versand aufgab; sie war kahlköpfig, als sie Heidelberg erreichte.“

Mark Twain, „Bummel durch Europa“, 1880.

Der Blick der Amerikaner auf die Alte Welt war ja schon immer von Merkwürdigkeiten geprägt. Wahrscheinlich ist Mark Twain daran schuld (ich denke, das hätte dem Alten Spaß gemacht, diese Schuldzuweisung). Denn in den Jahren 1878 und 1879 bummelte er – einen stattlichen Tross an Familie und Freunden im Anhang – durch Europa.
Soll heißen: Vor allem durch Süddeutschland, die Schweiz, Italien und Frankreich. Der deutsche Norden wurde nur kurz gestreift, Skandinavien fand er auf seiner Landkarte wohl noch nicht, Südosteuropa war gerade in Urlaub und die iberische Halbinsel hatte keine Zeit.
„A Tramp Abroad“ erschien 1880. Und Mark Twains Landsleute erfuhren dadurch von allerhand Merkwürdigkeiten, Sitten und Gebräuchen. Am allermeisten jedoch beschäftigten den Schriftsteller die alten Sagen – herrliche Vorlagen, um fact und fiction zu vermengen, kleine Lügenmärchen zu spinnen und assoziativ abzuschweifen. „Bummel durch Europa“ ist sowieso das Buch eines passionierten Spaziergängers, der seinen Beinen und Gedanken freien Lauf lässt. Mit Mark Twain wäre ich gerne gebummelt – ein netter, schwadronierender Herr an meiner Seite, so stelle ich mir das vor, der mit lustigen Einfällen und bissigen Bemerkungen nicht spart.

Ich kann nur jedem raten, auf diesen „Bummel durch Europa“ mitzugehen – man erfährt so viele Dinge über die eigene Heimat, von denen wohl nie mehr ganz zu klären sein wird, ob sie den Tatsachen entsprachen oder Mark Twains Hirn entsprangen. Zumindest stützte er sich auf eine seriöse Quelle: „Rheinsagen von Basel bis Rotterdam“ von F. J. Kiefer (ein Buch, das es tatsächlich gab, ungelogen). Vielleicht lag es aber auch an „Die schreckliche deutsche Sprache“, dass Mark Twain so manche geschichtliche Fakten durcheinanderwirbelte – der herrliche Sprachaufsatz ist dem „Bummel durch Europa“ angehängt:

„Ich ging oft ins Heidelberger Schloß, um mir das Raritätenkabinett anzusehen, und eines Tages überraschte ich den Leiter mit meinem Deutsch, und zwar redete ich ausschließlich in dieser Sprache. Er zeigte großes Interesse; und nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er, mein Deutsch sei sehr selten, möglicherweise einzigartig; er wolle es in sein Museum aufnehmen.“

In Heidelberg und Baden hielt sich Mark Twain länger auf – und hatte neben Ironie und Spott vor allem wohlwollende Worte für Stadt, Land und Leute übrig:

„Das Schloß blickt auf die dichtgedrängte, braungedachte Stadt hinunter; und von der Stadt aus überspannen zwei malerische alte Brücken den Fluß. Nun weitet sich der Blick; durch das Tor der Schildwache stehenden Vorgebirge schaute man auf die weite Rheinebene hinaus, die sich sanft und vielfarbig ausbreitet, allmählich und traumhaft verschwindet und schließlich im fernen Horizont verschmilzt. Ich habe mich noch nie einer Aussicht erfreut, die solch einen heiteren und befriedigenden Zauber gewährte wie diese.“

So erheitert, kann sich Mark Twain auch den eigenartigen Sitten des Studentenlebens widmen. Er schreibt mit spürbar irritierter Faszination (oder faszinierter Irritation) über die Verbindungen, deren Duellgebräuche und den berühmten Studentenkarzer, der heute noch besichtigt werden kann. Auch Verbindungsstudenten kann man, wenn man dies denn will, noch besichtigen - siehe Fotobeweis.

 

 

„Die Decke war vollkommen mit Namen, Daten und Monogrammen bedeckt, die man mit Kerzenrauch daruntergeschrieben hatte. Die Wände waren dicht mit Zeichnungen und Porträts (im Profil) bedeckt, von denen einige mit Tinte, andere mit Ruß, andere mit Bleistift und wieder andere mit roter, blauer oder grüner Kreide angefertigt worden waren; und überall dahin, wo zwischen den Bildern ein Daumenbreit Platz freigeblieben war, hatten die Häftlinge Klageverse oder Namen und Daten geschrieben. Ich glaube nicht, daß ich jemals in einem sorgfältiger ausgemalten Zimmer gewesen bin.“

Im Studentenkarzer der Universität Heidelberg wurden von 1823 bis 1914 Studenten arretiert: Die Universität hatte das Privileg, über ihre Mitglieder selbst Recht sprechen zu dürfen, ab 1886 galt dies jedoch nur noch für Disziplinarverfahren. Bei den Studenten handelte es sich dabei meist um nächtliche Ruhestörungen und ähnliche Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Zwar konnte man während der Karzerzeit seine Vorlesungen besuchen – die meisten „Inhaftierten“ fanden das Karzerleben jedoch recht gemütlich, schwänzten die Uni und malten lieber Bilder an die Wand.

Doch besuchte Mark Twain nicht nur Duelle und das Heidelberger Schloß, sondern widmete sich auch richtiger, ernsthafter Kultur: Mehrmals besuchte er das Nationaltheater in Mannheim. Mit wenig Freude:

„An einem Tag fuhren wir nach Mannheim und hörten uns eine Katzenmusik, will sagen: eine Oper an, und zwar jene, die „Lohengrin“ heißt. Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. Die mitleidlose Quälerei hat ihren Platz in meiner Erinnerung gleich neben der Erinnerung an die Zeit, da ich mir meine Zähne in Ordnung bringen ließ.“

An Mark Twains Wagner-Antipathie, die sich so herrlich lesen lässt, musste ich dieser Tage in Mannheim denken: Das Nationaltheater, in dem „Die Räuber“ uraufgeführt wurden und Schiller Mannheims erster Theaterdichter war, gibt es nicht mehr – 1943 wurde es bei einer Bombardierung zerstört. Das war eine Folge davon, dass eine irregeleite Nation die Welt für einige Jahre mit teutonisch-wagnerianischem Knallen, Krachen, Dröhnen und Schmettern überzogen hatte.

Nationaltheater Mannheim

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

12 thoughts on “Mark Twain: Bummel durch Europa (1880)

    1. Das Zitat kenne ich zwar auch, weiß aber ebensowenig von wem es ist. Doch weiß ich von seinem Nutzen: Immer dann, wenn ich auswärtige Besucher durch Augsburg führe. Wer kann sich schon über 2000 Jahre Stadtgeschichte merken? Und bevor ich 20mal sagen muss: „Ich weiß es leider nicht“, erfinde ich lieber Geschichten:-)

      Gefällt mir

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden / Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden / Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden / Ändern )

Google+ Foto

Du kommentierst mit Deinem Google+-Konto. Abmelden / Ändern )

Verbinde mit %s