„Von Osten her, Weißensee, Lichtenberg, Friedrichshain, Frankfurter Allee, türmen die gelben Elektrischen auf den Platz durch die Landsberger Straße. Die 65 kommt vom Zentralviehhof, der Große Ring Weddingplatz, Luisenplatz, die 76 Hundekehle über Hubertusallee. An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. Da halten die Elektrischen und der Autobus 19 Turmstraße. Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt. Da sitzt ein alter Mann mit einer Papierwaage: Kontrollieren Sie Ihr Gewicht, 5 Pfennig. O liebe Brüder und Schwestern, die ihr über den Alex wimmelt, gönnt euch diesen Augenblick, seht durch die Lücke neben der Arztwaage auf diesen Schuttplatz, wo einmal Jürgens florierte, und da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, dass nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bist Du gekommen, zu Erde sollst Du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran. Erstens habe ich dazu zu bemerken, dass man diese Städte jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun immer wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.“
Atemlos und dabei sprachmächtig, Bilder, Szenen, Eindrücke, die im Cinemascope-Format vorüberrauschen, Gesprächsfetzen, die man im Vorübergehen aufschnappt, Gedanken, die in den Kopf schießen – das ist der Wort- und Bewußtseinsstrom, mit dem Alfred Döblin (1878-1957) den deutschen Roman revolutionierte.
Auch vor Alfred Döblin gab es ein Berlin in der Literatur. Da meist als Fassade, Studiohintergrund, Potemkinsches Dorf, Schauplatz, Verortungspunkt. Aber in „Berlin Alexanderplatz“ ist die Großstadt mehr als das – sie ist nicht nur der Ort, sie ist die Hauptfigur, die Handelnde, der lebendige, aktive und agierende Mittelpunkt, der städtische Mahlstrom, um den das Romangeschehen kreist.
„Berlin Alexanderplatz“, 1929 erschienen, markiert einen Einschnitt in der deutschen Literatur. Expressionismus und literarische Moderne: Sie hatten nun endlich auch im epischen Erzählen ihren Platz gefunden. Abrupte Brüche im Satzbau, stakkatoartiger Rhythmus, ständige Wechsel der Erzählperspektiven, aber vor allem die Technik der Montage – Zeitungsschlagzeilen, Statistiken, Fahrpläne (siehe oben) in den Text gestreut – dies alles macht „Berlin Alexanderplatz“ auch heute noch zu einem Leseabenteuer. Oder auch Leseungeheuer, je nach Perspektive.
Spürbar ist in Döblins Roman der Einfluss des Films, der sich als Kunstform langsam etablierte.
„In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das wichtigste, verbreitetste Schrifterzeugnis, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlich wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Wagenverkehr. Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde; Rastlose. Der Fabuliersinn und seine Konstruktionen wirken hier naiv. Dies ist der Kernpunkt der Krisis des heutigen Romans. Die Mentalität der Autoren hat sich noch nicht an die Zeit angeschlossen.“
Der Schriftsteller nimmt mehrfach Bezug, auch in einer Besprechung zu James Joyces „Ulysees“ im Jahr 1928 („Ulysees“, 1922 und „Manhattan Transfer“, John Dos Passos, 1925 – die beiden weiteren literarischen Großstadtmonumente, die mit „Berlin Alexanderplatz“ genannt werden müssen):
„Damit und soweit ist das Buch charakterisiert im Kern als ein biologisches, wissenschaftliches und exaktes. Der Mensch von heute ist kenntnisreich, wissenschaftlich, exakt; darum gibt der heutige Autor ein Buch, das sich neben die Wissenschaft setzt. Es unterscheidet sich nur dadurch von dem wissenschaftlichen, daß es ja ohne tatsächliches Subjekt ist. Immerhin, der Bloom und seine Frau sind typische Gestalten wie ein Pferd, eine Tanne, und darum ist auch ihre Beschreibung von exaktem Wert. Darum verläuft der ganze Vorgang real, selbst indem er nur »als ob« verläuft. In den sichersten Partien hat dieses literarische Werk völlig wissenschaftliche Haltung. Und dies nicht als Maske.“
Eine der kenntnisreichsten Besprechungen zu „Berlin Alexanderplatz“ erschien schon kurz nach der Veröffentlichung des Romans – 1930 durch Walter Benjamin. Besser kann dieses literarische Experiment kaum beschrieben werden:
http://www.textlog.de/benjamin-kritik-krisis-romans-doeblins-berlin-alexanderplatz.html
Zweifelhaft und kryptisch ist für mich allein das Ende des Romans. Franz Biberkopf, der einarmige Bandit mit dem goldenen Herzen, der Überangepasste, der Naive, der sich Mitziehen lässt, als skeptischer, aber dennoch sozial integrierter kleiner Angestellter, der beobachtet, wie draußen marschiert wird, die Trommeln schlagen – „weiter ist hier von seinem Leben nichts zu berichten“, schreibt Döblin einen Absatz zuvor. Aber man ahnt es schon: Götterdämmerung über Babylon Berlin, es wird für den Biberkopf wieder kein gutes Ende nehmen.
Heute ist der Alexanderplatz längst schon mehrfach von der Geschichte überrollt, plattgemacht, auf Touristengaudi hochgebürstet, wieder ab- und hochgekommen. Es ist ein anderes Berlin als 1929. Aber immer noch ein Moloch, ein anderer Hexenkessel. 2012 wurde Jonny K. am Alex totgeschlagen. Mag der Alexanderplatz sich verändern. Der Mensch bleibt Mensch, im Guten wie im Schlechten.
Drehen wir noch eine Runde - ein letzter Streifzug um den Alex mit Günter Lamprecht, der den Franz Biberkopf in der Filmserie von Rainer Werner Fassbinder verkörperte:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/diereportage/648328/.
Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mir gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich rebloggt.
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Hat dies auf Sätze&Schätze rebloggt und kommentierte:
DER Berlin-Roman der Weimarer Republik: Berlin Alexanderplatz von Döblin. Aus dem Archiv.
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sprachmächtig und schön und macht mir Lust auf Lesen, Berlin und Autofahren - denn der Trabbi auf dem Foto erfreut mich ganz besonders - wurde er doch früher in meiner Geburtsstadt Zwickau gebaut und ich erinnere mich nur zu gern an meine ersten Ausfahrten (nach bestandener Fahrprüfung) in dem kleinen Auto, in dem man noch richtig richtig viel schalten musste.
Herzliche Freitag-fast-Feierabendgrüße von
Birgit
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Liebe Birgit,
durch Deine Kommentare erfahre ich mehr aus Deiner Gegend als sonst - danke sehr! Zwickau war mir nur noch dunkel ein Begriff, aber klar, der Trabant kam von dort…Woher kommt eigentlich der Name?
Schönes Wochenende Dir! Birgit
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Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen. Liegt schon seit Jahren ungelesen rum…
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Tsstss, aber das muss man doch gelesen haben *schlechtesgewissenschür*
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Jetzt krieg ich’s wieder ganz fett von der geistigen Vorturnerin des Literatur-Kanons😉
*nochmehrzerknirschtsein*
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Wenn Du mich jetzt noch zur Marceline der Literaturblogs ernennst, erlass ich Dir den Döblin Geistige Vorturnerin…das ist ja fast schon zweischneidig *fettesgrinsen*
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*fettesgrinsenzurück*
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Ich durfte diesen Döblin-Roman in meinem ersten Semester an der Uni lesen und fand ihn furchtbar. Deine Rezension macht mir aber irgendwie Lust, dem Ganzen nochmal eine Chance zu geben.
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Das kann ich verstehen: Das Buch ist natürlich ein harter Brocken - und vor allem ist es ja manchmal eher hinderlich, wenn man ein Buch lesen „muss“. Ich hoffe, Dir gefällt es irgendwann besser - wenn ers Vergnügen ist und nicht die Pflicht
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Hat dies auf Buchmerkur rebloggt.
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Hat dies auf rebloggt und kommentierte:
„Das gefährlichste Organ am Menschen ist der Kopf.“
Alfred Döblin wurde am 10. August 1878 geboren.
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klasse, dass du an diesen grossartigen Roman erinnerst. Ich sah zuerst die Verfilmung von Fassbinder in allen seinen Teilen, ich glaube es war Ende der 1970iger Jahre oder etwas später, erst dann las ich den Roman und fand, dass Fassbinder ein Meisterwerk gelungen ist.
du zitierst: Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde; Rastlose. - an dieser Stelle dachte ich, dass sich kaum etwas verändert hat, bei den Menschen. Städte haben die Eigenschaften ihre Gesichter zu verändern, Menschen nehmen Schminke, Mode und gehen zum Frisör, aber all das Innere, all das Suchen und Rastlose ist eher mehr, denn weniger geworden!
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Liebe Ulli, die Fassbinder-Verfilmung ist großartig mit einem tollen Günter Lamprecht. Ebenso aber mochte ich den Film aus den 30ern, auch ein optisches Meisterwerk.
Und Deinen Eindruck teile ich: Das Hektische, das Rastlose, die Angst, etwas zu verpassen, auch der Druck auf den Einzelnen, das ist sicher auch durch die neuen Medien mehr geworden, alles dreht sich schneller. Das Rasen der Großstadt - das haben die Schriftsteller der Weimarer Republik bereits auch skeptisch-ängstlich gesehen (neben dem Feiern des everything goes…). Tucholsky hat das in diesem Gedicht wunderbar verpackt, finde ich: https://saetzeundschaetze.com/2013/11/04/kurt-tucholsky-augen-in-der-grosstadt-1930/
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