Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig
Am 15. Mai 1939 verhaftete die russische Geheimpolizei den Schriftsteller und Publizisten Isaak Babel in seiner Villa im Schriftstellerdorf Predelkino. Es waren die Tage des grossen Terrors, der nationalen Säuberungsaktionen, denen Millionen unschuldiger Menschen zum Opfer vielen. Babel wurde Spionage und Verschwörung gegen das Stalin-Regime vorgeworfen. Er verschwand vom Erdboden, so wie seine Bücher aus allen Buchhandlungen. Auf diese Weise wurde der Schriftsteller Isaak Babel ausgewischt, als hätte es ihn nie gegeben. Er lebte nur noch in den Erinnerungen seiner Leser, Freunde und Familienmitglieder, die noch Jahre später im Ungewissen waren über das, was mit ihm nach seiner Verhaftung geschah.
Die Wahrheit über Babels Schicksal wurde erst zu Beginn der Neunziger Jahre enthüllt, als unter Michail Gorbatschow die KGB-Archive der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Als Babel am 26. Januar 1940 der Prozeß gemacht wurde, widerrief er ein zuvor unter Folter gemachtes Geständnis, Mitglied einer terroristischen, anti-sowjetischen Organisation zu sein. Der Prozeß dauerte nur 20 Minuten, das Urteil stand schon vorher fest: Todesstrafe durch Erschiessung. Die Exekution fand am frühen Morgen des folgenden Tages statt. Babels Leichnam wurde in ein Massengrab geworfen, er wurde nur 45 Jahre alt.
In seinen Erzählungen der “Reiterarmee” verarbeitet der russische Schriftsteller seine Erfahrungen, die er während des Russisch-Polnischen Krieges 1920/21 als Korrespondent gemacht hatte. Er war dort in der Propagandaabteilung der sogenannten “Reiterarmee” eingesetzt, einer Kosakentruppe, deren Leitung General Budjonny übernommen hatte. Die kurzen und eindringlichen Texte, die Babel während dieser Zeit verfaßte, beschrieben jedoch nicht die Leistungen der glorreichen Roten Armee, sondern warfen ein dunkles Licht auf die brutale Kehrseite des Krieges. Die Rolle der Reiterarmee beschreibt er als die einer plündernden und mordenden Horde, die sich im Oktober 1920 geschlagen zurückziehen mußte. Das passte so gar nicht in die offizielle sowjetische Geschichtsideologie.
Babels Interesse gilt dem Schicksal einzelner Menschen, die er jeweils kurz und präzise nachzeichnet. Neben diesen einfühlsamen Porträts stehen unvermittelt die Beschreibungen der Grausamkeiten der Reitertruppe Budjonnys. Die Sprache, in der diese Erzählungen verfasst sind, ist unverkennbar. Babel hat geschafft, was nur wenigen Autoren vorbehalten ist: eine eigene, unverwechselbare Sprache zu finden. Sie ist einerseits knapp und präzise, neigt andererseits zu außergewöhnlichen, expressiven Bildern, so dass die Grenze zum Lyrischen oftmals überschritten scheint.
Besonders aufmerksam registriert Babel das Schicksal der im Kriegsgebiet lebenden Juden und die zahlreichen Pogrome, die sowohl von russischer als auch von polnischer Seite begangen wurden. Aus seinen Tagebuchnotizen von 1920 wird deutlich, daß seine Sympathie eindeutig bei den verfolgten Juden lag, denen er sich zugehörig fühlte. Ihre Welt erinnerte ihn an das Ghetto von Odessa, wo er selbst als Sohn einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Er wuchs mit Thora und Talmud auf, aber führte seit Jahren ein assimiliertes Leben. In der Reiterarmee von Budjonny hielt er seine jüdische Identität verborgen und nahm das Pseudonym Kirill Vasiljevitsj Ljoetov an. Die Welt der russischen Juden ist auch das Thema anderer Erzählungen. So sind die Schurken in den “Erzählungen aus Odessa” nicht mehr die russischen Antisemiten, sondern die Juden selbst. Sie spielen im jüdischen Ghetto der Stadt, das von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Räuberhauptmann Benja Krik, die mordsüchtige Madame Schneeweis, der schatzreiche Geschäftsmann Anderthalb-Jude und Manka, die Mutter der jüdischen Banditen sind zu unvergesslichen literarischen Persönlichkeiten geworden.
Babels schönste Geschichte steht in den Erzählungen des titelgebenden Erzählbündels “Mein Taubenschlag”. Diese spielt während eines Pogroms in dem Städtchen Nikolajev, wo Babel selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte. Protagonist ist ein jüdischer Junge, der 1905 zum Gymnasium zugelassen wird, eine ungeheure Ehre, da in einer Klasse mit 40 Schülern nur 2 Juden erlaubt sind. Als die Liste mit den Schülern der neuen Schulklasse öffentlich gemacht wird, können die Eltern ihr Glück nicht fassen und pilgern zum Aushang dieser Liste, selbst “Großvater” Schojl, ein Großonkel des Jungen, geht mit. Zur Belohnung hat Schojl dem Jungen einen Taubenschlag gezimmert. Bis jetzt herrscht Harmonie, Babel beschreibt das Leben der Familie als eine Idylle voller Wärme und bescheidenem Wohlstand, der mit der Zulassung ans Gymnasium bekrönt wird. Aber plötzlich schlägt alles ins Gegenteil um und man erkennt, daß das Glück nur von kurzer Dauer war. Als der Junge auf dem Markt Tauben für seinen Verschlag kaufen will, bricht in der Stadt ein Pogrom aus. Die Idylle endet in einem Albtraum. Geschäfte werden geplündert und der Junge sieht zu, daß er hier wegkommt. Dann sieht er einen ihm bekannten Invaliden, der das gestohlene Eigentum der Juden aufkauft. Der Junge fragt den Invaliden, ob er Schojl gesehen hat. Der Invalide antwortet nicht, aber entreißt dem Jungen seinen Korb mit Tauben. Er greift nach der schönsten Taube und schlägt diese dem Jungen so großer Wucht ins Gesicht, daß die Eingeweide der Taube an seinen Wangen herabgleiten. “Ausrotten muß man eure Saat” ruft er dem flüchtenden Jungen noch nach. Als er nach Hause kommt, sieht er dort seinen ermordeten Großonkel liegen, verhöhnt mit einem Fisch in Mund und Hosenstall. Auf nicht einmal 12 Seiten weiß Babel eine geschundene Welt zu beschreiben, die den Leser bis ins Mark trifft.
Nicht alle Erzählungen lassen sich bequem konsumieren. Eine genaue und mehrmalige Lektüre ist manchmal erforderlich. Wählt man eine den Erzählungen angemessene Lesegeschwindigkeit, wird man bald entdecken, wie kunstvoll dieser Zyklus komponiert ist. Die einzelnen, scheinbar unverbundenen Geschichten werden sowohl durch sprachliche als auch durch inhaltliche Motive eng zusammengehalten.
Unter dem Titel “Mein Taubenschlag” sind nun sämtliche Erzählungen von Isaac Babel beim Hanser Verlag erschienen. Allerdings liegt das erzählerische Gesamtwerk übrigens mit der Hanser-Ausgabe nicht zum ersten Mal auf Deutsch vor, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension vom 28. November 2014 schreibt. Wohl aber in neuer Übersetzung, unter anderem von Peter Urban, der bereits mit vorzüglichen Übersetzungen anderer russischer Autoren auf sich aufmerksam gemacht hat. Ich bleibe bei meiner Ausgabe der Anderen Bibliothek aus dem Jahre 1987, in bester Ausstattung und ebenfalls vollständig.
Isaak Babel: “Mein Taubenschlag”, Sämtliche Erzählungen, Hanser-Verlag 2014, 864 Seiten, 39,90 Euro. Link zur Verlagsseite: http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/isaak-babel-mein-taubenschlag/978-3-446-24345-3/