Joachim Ringelnatz - Müde in Berlin

BerlinWenn die Gedanken sich zerstreut
Aus dir entfernen,
So, daß kein schönes Bein dich freut,
Und eine trübe Feuchtigkeit
Hängt über dir, unter den Sternen, —
Wo willst du hin um solche Zeit?

Schön ist zum Beispiel die Peltzer-Bar.
Aber müde Menschen sind undankbar.

Geh heim und lege dich zur Ruh.
Du findest doch die Worte nicht,
Wenn jemand freundlich zu dir spricht.
Denn du bist du
Und kannst dir selber nicht entfliehn.

Leg dich in deine Hände.
Dann schäumt das schillernde Berlin
Um deine ernsten Wände. — —
Dein Schiff wird in die Ferne ziehn.

Joachim Ringelnatz. Aus „Gedichte dreier Jahre“, 1932.

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932).

005„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus“.

Irmgard Keun, „Das kunstseidene Mädchen“, 1932.

Sie vertrat die falschen Ansichten. Sie hatte eine Meinung. Und: Sie war selbstbewusst und frei. Alles, was eine Frau in Nazi-Deutschland nicht sein durfte. So musste auch Irmgard Keun (1905 – 1982) den Unrechtsstaat verlassen – kurz, nachdem sie mit dem „kunstseidenen Mädchen“, ihrem zweiten Buch, einen Sensationserfolg erzielt hatte. Aber die darin geschilderte Frauenfigur passte eben so gar nicht zum Frauenideal des Dritten Reiches: Zu kess, zu flatterhaft, zu eigenständig – das ist die 18jährige Doris, die Kunst- und Halbseidene, die in der Metropole Berlin unbedingt „ein Glanz“ werden möchte.
Das gelingt am Ende nicht – zum einem, weil Doris mit ihrem weichen Herzen und dem Hang zu falschen Männern halt doch nicht ganz zum Glanz taugt, zum anderen, weil die Umstände nicht so sind in der Weimarer Republik. Denn Doris schildert nicht nur das schillernde und glitzernde Berlin der 20er Jahre in ihrem unablässigen monologischen Gedankenfluss – Keun, als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ zeigt in diesem Roman, dass auch sie den „stream of consciousness“ perfekt beherrscht – sondern auch die Schattenseiten. Götterdämmerung ist angesagt: Armut, Arbeitslosigkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassenhass…all das sind die Unter- und Hintergründe, die durch die (nur scheinbar) belanglose Plauderei der kleingroßen Naiven durchschimmern. Und nicht zuletzt ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch einer der herausragenden Großstadtromane dieser Zeit. Die pulsierende Metropole, betrachtet aus den großen Augen einer staunenden Frau:

„Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand - und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus.“

Doris, die einerseits ein kunstseidenes Mädchen und andererseits doch eine ganz starke Frau ist, scheitert und bleibt allein – als hätte Irmgard Keun ihren eigenen Lebensweg vorgezeichnet. Man mag an dem Frauenbild und Frauentyp zweifeln – trotz ihres Ehrgeizes, aufzusteigen und aus den kleinen Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen, verkörpert Doris eben nicht die neue, emanzipierte Frau, sondern das Mädchen, das sich verkauft. Aber auch das ist immer noch zeitgemäß:

“Aktuell sind gerade heute Stoff wie Schreibweise. Junge Mädchen, die als Germanys next Topmodel oder als Schlagersternchen “ein Glanz werden” wollen, sehen, wie Keuns Doris, in einer Krisenzeit keine anderen Möglichkeiten für sozialen Aufstieg.”

Sonja Hilzinger in einem Keun-Portrait für die Deutsche Welle.

„Und so war auch das Buch, so wie das Leben, so wie im Film, schnell und oberflächlich und genau, weltmitschreibend, sich selbst verschenkend an die Welt, spielend mit der Welt, Schritt für Schritt Berlin erobern, die Männer erobern, das Leben erobern. Nicht mit Arbeit. Mit einem Glanz, der von innen kommt, mit einem Magnetismus, der die Welt tanzen lässt, um das kunstseidene Mädchen herum.“

Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“.

Doch der Tanz wird - die Zeitumstände sind schuld daran, zugleich aber auch eine charakterliche Disponierung zum Alles-Verschlingen, zur Sucht, zur Selbstzerstörung - der Tanz also wird zum traurigen Walzer. Denn Irmgard Keun war sicher nicht das, was man eine in sich ruhende Persönlichkeit nennen könnte - zu temperamentvoll, zu sprunghaft, zu lebenslustig und lebenshungrig.

Wenn man Glück mit den Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen.

Und manches Mal auch mutig bis hin zum Übermut: Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) machte sie über Nacht berühmt, 1932 folgt der Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“, 1933 werden ihre Bücher von den Nazis beschlagnahmt und verboten. Bevor Keun jedoch ins Exil flüchtet (und dort Joseph Roth, ihrem Schicksalsmann, wie unter anderem auch in Weidermanns „Ostende“ beschrieben, begegnet), legt sie sich mit der Zensur an: Sie erhebt Schadensersatzklage wegen des Verdienstausfalls, den sie durch die Beschlagnahmung ihrer Bücher erlitten habe. Zugleich aber beantragt sie auch die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer. Auch das ist ein wenig kunstseidene Doris - die Hin- und Hergerissenheit zwischen den Möglichkeiten und dem Notwendigen. Manches wird später zurechtgebogen von ihr selbst und überhöht - eine Gestapo-Haft erlebte sie nie, auch nicht Folter und Verhöre.

Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel schreibt in ihrer rororo-Monographie über Irmgard Keun:

„Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.“

Ganz so, wie auch das kunstseidene Mädchen war.

In ihrer Heimat kann sie nicht mehr arbeiten, verlassen will sie sie jedoch ebenfalls nicht. 1936 ist es jedoch unumgänglich, Irmgard Keun flieht in das Exil. Es folgen Wanderjahre, Existenzsorgen, zudem ein zunehmender Alkohol- und Tablettenmissbrauch, vor allem aber treibt Irmgard Keun die Sorge um die im Deutschen Reich zurückgebliebene Mutter und das Heimweh um. 1940 kehrt sie heimlich - aber von den Nazis wohl durchaus wahrgenommen - nach Deutschland zurück, überlebt in der Illegalität. Nach Kriegsende fällt es ihr, wie vielen anderen Autoren der Weimarer Republik auch, schwer, im Literaturbetrieb wieder Fuß zu fassen.

Eigentlich wäre „Das kunstseidene Mädchen“ auch eine Frau der zweiten Nachkriegszeit in Deutschland - eine, die sich durchschlagen muss, durchaus selbstbewusst und frech, die aus der Not heraus versucht, das Beste aus ihren Lebensumständen zu machen, eine Frau, die „ihren Mann“ steht. Aber es scheint, als habe die neue Zeit keinen Raum für diese schnodderige Sprache mehr, keinen Sinn mehr für diesen Stil, der doch eng auch mit den „Roaring Twenties“ verknüpft ist. Das Frauenbild der Weimarer Republik hat ausgedient, die Kunstseidene wird zur Trümmerfrau.

Bei Irmgard Keun im wahrsten Sinne des Wortes - sie verarmt immer mehr, lebt kurzfristig in einem zerbombten Haus, immer weiter geplagt von ihren Abhängigkeiten. Kurze Phasen von Produktivität wechseln sich mit Krankenhausaufenthalten ab, 1966 wird sie dann für Jahre in die Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Entlassung 1972 erlebt sie wenigstens in ihren letzten Lebensjahren als Schriftstellerin neue Beachtung - sie wird als Stimme der Weimarer Republik von Jürgen Serke im Rahmen seiner Recherche für seine verdienstvolle Stern-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, ihre Bücher werden wieder aufgelegt (zum Verlag hier) und erfahren erneut größeres Interesse. 1982 stirbt Irmgard Keun in Köln.

Was von ihr bleibt?

Ihre Romane, nicht nur „Das kunstseidene Mädchen“, auch die „Gilgi“ oder das bedrückende Buch „Nach Mitternacht“. Eine Frauenstimme, die klingt zwischen Lebenshunger und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach der dunkelblauen Glocke wie im kunstseidenen Mädchen:

„Ich wünsche mir sehr mal die Stimme von einem Mann, die wie eine dunkelblaue Glocke ist und in mir sagt: hör auf mich; was ich sage, ist richtig; und wünsche mir dann ein Blut in mein Herz, was ihm glaubt…“

Weitere Rezensionen:
Bei Dieter Wunderlich
Bei Fluter
Bei Writeaboutsomething

Alexander Kluy: Joachim Ringelnatz. Die Biographie (2015).

20150219_120610_resizedIch komme und gehe wieder,
Ich, der Matrose Ringelnatz.
Die Wellen des Meeres auf und nieder
Tragen mich und meine Lieder
Von Hafenplatz zu Hafenplatz.

Ihr kennt meine lange Nase,
Mein vom Sturm zerknittertes Gesicht.

Daß ich so gerne spaße
Nach der harten Arbeit draußen,
Versteht ihr daß?

   Oder nicht?

Aus den im Nachlass veröffentlichten Kasperle-Versen.

Es scheint derzeit eine regelrechte Ringelnatz-Renaissance zu geben. Denn wenige Tage nach der bereits hier vorgestellten Biografie, die im Galiani Verlag erschien, legte auch der Osburg Verlag ein Ringelnatz-Buch vor. Jahrelang musste man die Informationen über den reisenden Artisten, Verseschmied und Kunstmaler aus verschiedensten Quellen zusammenkratzen - und nun kommt er im Doppelpack. Da tanzt das Seepferdchen.

Während Hilmar Klute sich in seinem „War einmal ein Bumerang“ jedoch mit fluffig-leichter Feder durch das abenteuerliche Leben des Joachim Ringelnatz schreibt, kommt das von Alexander Kluy verfasste Buch mit dem Titel „Joachim Ringelnatz. Die Biografie“ weitaus gewichtiger daher. Schon vom Volumen: Kluy bringt es auf mehr als die doppelte Seitenzahl. Das ist gespickt mit einem „Mehr“ an Information zu Zeitgeschehen, Leben, Werk und eingehenderen Schilderungen des „Begleitpersonals“ im Ringelnatz-Theater - angefangen von Muschelkalk nebst den zahlreicheren weiteren weiblichen Bekannten des Poeten über Bühnenfreunde wie Karl Valentin, Verleger und Kollegen wie Peter Scher bis hin zu kleinen Portraits aus der Münchner und Berliner Bohème der 1920er- und 1930er-Jahre.

Man kann die beiden Bücher eigentlich nicht aneinander messen - ist der Klute ein Lesehäppchen für Einsteiger, die Ringelnatz kennenlernen und sich dabei amüsieren und informieren wollen, so könnte das Buch des Journalisten und Publizisten Alexander Kluy durchaus zu einem Standardwerk für jene werden, die sich intensiver und ernsthafter mit dem ver- und entrückten Poeten auseinandersetzen möchten. Den Anspruch postuliert schon der Titel: „Die Biografie“.

Kluy erzählt nicht nur das Leben von der Wiege in Wurzen bis zur Bahre in Berlin nach - dies alles akribisch recherchiert und in das Zeitgeschehen eingebettet. Sondern er integriert ebenso die wichtigsten Gedichte, die Ringelnatz als Menschen erklären, analysiert und erläutert sie. Das erleichtert manchem vielleicht den Einstieg in den zeitweilig eigentümlichen Sprachduktus von Ringelnatz - so wie er sich manches Mal wohl kopfüber in ein Lebens- oder Liebesabenteuer stürzte, so purzeln ihm ab und an auch die Worte durcheinander. Kluy schiebt verständige Erklärungen nach.

20150304_095919_resizedWas ein Manko des Buches ist: Des öfteren verschwurbelt sich auch Kluy in seiner Sprache. So beispielsweise bei den Erläuterungen zur brieflich-erotischen Annäherung zwischen Muschelkalk und Ringelnatz.

Muschelkalk wollte von dem ihrigen wissen:
„Welches ist Deine Stellg.nahme zur Frau überhaupt, welche Meinung hast Du von Ihnen?“ und „2. müßte ich dich fürchten (?)“.

Alexander Kluy führt dazu aus:

„Hans Bötticher benötigt einige Tage für seine lange Antwort, die Jahre später noch immer Schauer der Scham bei ihm auslösen wird, ist doch diese ausführliche Schilderung seines Bildes der Frau eine Mischung aus Misogynie à la Otto Weininger (1880-1903), jenes Wiener Philosophen, der in „Geschlecht und Charakter - eine prinzipielle Untersuchung (1903) hochneurotischen Frauenhass, krassen Antisemitismus und einen die Grenze zum Extremismus überschreitenden Willen zu einer gnadenhaft erlösenden Metaphysik miteinander verquirlt und damit einen Bestseller produziert hat, der nach Erscheinen dreißig Jahre lang zahllose Nachauflagen erlebt, aus spät-wilhelminischen Kulturrollenkonservatismus und militärisch-männerbündlerisch durchfärbtem, erotisch libertärem Chauvinismus.“

 Aha. Es lebe der Schachtelsatz. Die gute Nachricht ist: Ringelnatz bekam seine Muschelkalk trotzdem. Und wer sich durch diese Sätze windet, dem wird es zwar streckenweise so gehen wie der armen Muschel („Mein Gehirnkasten ist gänzlich zerwühlt“), letzten Endes jedoch einen warmherzigen, liebenswerten, „gspinnerten“ Ringelnatz von Grund auf kennenlernen. Oder, um es etwas angestrengter à la Kluy zu formulieren:

“Das letzte Gedicht, geschrieben zur als letztes auftauchenden Handpuppe eines Matrosen, der unübersehbar Joachim Ringelnatz darstellt, ist die Summa seines Lebens und seiner Poesie, die hier, am Ende des Puppen-, des Aquarell- und seines Lebenszyklus, eins wird, in eins fällt und sich mit flirrender Grazie schwebend leicht erhebt - und verabschiedet.“

Summa der Lektüre: „Die Biographie“ lässt keine Fragen offen. Umfassend und informativ. Mehr Leichtigkeit à la Ringelnatz wäre in dieser “feuereifernden” (so der Verlag) Biographie allerdings wünschenswert gewesen.

Und alles andere steht dann sowieso bei http://ringelnatz.org/

Hilmar Klute: War einmal ein Bumerang. Das Leben des Joachim Ringelnatz (2015).

klute_-_war_einmal_ein_bumerangErstaunlich: Beinahe jeder – jedes Kind – kennt einen Vers von Ringelnatz. In Hamburg lebten zwei Ameisen, die würden sich ohne Bedenken eine Kachel aus meinem Ofen schenken, aber ich bin so knallvergnügt erwacht, doch: Warte nur balde Kängurst auch Du…

Man könnte dies unendlich fortsetzen, verknüpft mit dem Hinweis, dass Humor der Knopf ist, der verhindert, dass uns der Kragen platzt – und dass Joachim Ringelnatz alias Hans Gustav Bötticher (1883-1934) ein ganz genialer Knopfmacher war. Dieser liebevoll-augenzwinkernde-freigeistige Humor, der aus vielen seiner Gedichte so genialisch sprüht, mag jedoch auch der Grund dafür sein, dass der Blick auf das „Gesamtkunstwerk“ Ringelnatz oftmals verstellt blieb und bis heute bleibt. Für viele ist er ein Dichter der „leichten Sorte“, zu leicht gewogen, als beinahe seicht empfunden. Das Melancholische seiner Lyrik, die sozialkritischen Verse, die bissigeren Miniaturen und auch die schwermütig-leisen Lieder: Sie sind uns, bis auf einige Liebesgedichte, weitaus weniger geläufig.

Obwohl er selbst über sein Leben an vielen Stellen Auskunft gab, beispielsweise in den autobiographischen Schriften und den vielen Briefen, die sich im Nachlass fanden, sind einem oft nur einige Facetten dieses ungeheuer umtriebigen, ausgefüllten Lebens präsent: Die einen kennen ihn als Matrosen und seine Kunstfigur Kuttel Daddeldu, die anderen als Bühnenkünstler im Münchner Simpl und auf Reisen durch die deutschen Lande, weniger wissen schon vom ambitionierten und begabten Maler, einige wissen von ihm als Freund der Frauen, einige von ihm als Hungerkünstler, andere kennen ihn als Überlebenskünstler, wenige jedoch haben von den vielen, vielen Posten und Pöstchen, die er zur Existenzsicherung annahm, eine Ahnung: Briefkontrolleur, Tabakladenbesitzer, Reklamedichter, Buchhalter…

20150211_183320_resizedBislang gab es erstaunlicherweise trotz dieses romanhaften Lebens über den körperlich klein-zarten und durchaus anmutigen Bühnenkünstler, der gerne auch einen Seepferdchen-Tanz hinlegte, kaum Biographisches. Walter Pape kommt das Verdienst zu, das Ringelnatzsche Gesamtwerk erhoben und herausgegeben zu haben. Eine Biographie schrieb der 1978 verstorbene Herbert Günther, der Ringelnatz 1925 in München kennengelernt hatte und zu einer Art „Hausbiograph“ der letzten Lebensjahre wurde – in der Nähe zum Menschen liegt jedoch auch der Mangel dieses Buches, das zum einen im Ton einen gewissen Anspruch der Allwissenheit pflegt, zum anderen die dunkleren Seiten dieser durchaus nicht einfachen „Bumerang“-Seele eher übergeht resp. schönschreibt. Es fehlt der Schrift an Abstand und an Leichtigkeit.

Mehr als 80 Jahre nach dem Tod des skurrilen Schabernacks ist nun eine Biographie erschienen, die den Schalk mit dem Schabernack im Nacken würdig portraitiert: „War einmal ein Bumerang“ von Hilmar Klute. Klute ist von Berufs wegen einer, der mit solcher sprachlicher Jonglierkunst zu tun hat, wie Ringelnatz sie pflegte – Klute ist Chef der Rubrik „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung, jener Glosse, die beinahe täglich zeigt, wie kunst- und humorvoll der Ernst des Lebens mit den Mitteln der Ironie beschrieben und ausgehebelt werden kann. Ringelnatz wäre ein würdiger Streiflicht-Autor gewesen, das ist mal sicher.

20150211_183358_resizedHilmar Klute konnte für die Arbeit an diesem Buch eine durchaus umfangreiche Quellenlage nutzen – so verwaltet Norbert Gescher, Muschelkalks Sohn, den privaten Nachlass, ebenso recherchierte der Essayist bei der Ringelnatz-Stiftung, im Museum am Geburtsort Wurzen und griff auf die Zeugnisse von Zeitgenossen zurück, darunter Erich Mühsam, Erich Kästner, Carl Zuckmayer – mit dem Ringelnatz nicht allzu freundlich umging – bis hin zu Kurt Tucholsky und Asta Nielsen, der geliebten Freundin, seinem Mädchen mit der „Barfußseele“. So setzt sich ein Mosaik zusammen, aus dem sich das Bild eines Mannes herauskristallisiert, der es wohl selbst zu Lebzeiten in seiner verspielten Versponnenheit Freunden und Mitmenschen nicht immer allzu leicht machte, den „wahren“ Ringelnatz zu ergründen – er lebte beinahe zu viele Leben für ein Leben. Zumal er sich offenbar selbst nicht immer verstand:

„Auf ein „Wie haben Sie das gemacht, Herr Ringelnatz?“ oder das beliebte „Warum schreiben Sie?“ hätte er so wenig geantwortet wie auf die Frage, was ihn auf die Idee für sein Pseudonym gebracht hat: Es ist mir so eingefallen. Es mag sein, dass auch für ihn das Schreiben ein Geheimnis war. Er wollte diesem Geheimnis nicht auf die Spur kommen, es war das Wunder seines Lebens, das er nicht antasten wollte: „Und im dunkelsten Schatten lies das Buch ohne Wort“, hat er in einem Gedicht geschrieben: „Was wir haben, was wir hatten / eines Tages ist alles fort.“
Es ist unfassbar, wie viel Leben in diesen 51 Jahren steckt, die zwischen der Geburt des Hans Bötticher und dem Tod des Joachim Ringelnatz liegen. Die Größe dieses Schriftstellers ist die Summe seiner Erfahrungen und seiner Neuanfänge, wenn man so will: seines glücklichen Scheiterns.“

Hilmar Klute ist es gelungen, diese Fülle in seinem Buch zu erfassen, ohne zu sehr ins Schweifen, ins Abschweifen, in die Spekulation zu gehen – eine Gefahr, der Biographen oft unterliegen. Faktenreich und detailgetreu: ja, doch auch stringent und dabei leichthändig-essayistisch geschrieben, das individuelle Leben in die Zeitläufte einbettend, dabei auch mit Blick auf die Boheme und andere gesellschaftlichen Gruppen, in denen Ringelnatz sich bewegte – vom liberalen Elternhaus über die Mariner-Zeit bis hin zum freien Künstlerdasein. Dies alles mit großer Sympathie, die aus den Zeilen spricht, ohne den Blick von den weniger angenehmen Charakterzüge des nicht immer so humorigen JR abzuwenden:

„Und dann dieser Satz, den man von Hans Bötticher nicht hören möchte und von Joachim Ringelnatz schon gar nicht: „Hüte dich Muschelkalk vor dem jüdischen Bluff „Neu“. Ist Ringelnatz ein Antisemit?“

Klute zitiert aus einem weiteren Brief, lässt auch eine Relativierung nur bedingt zu – da merkt man, wie der Biograph mit seinem Helden ringt:

„Es sind diese beiden Stellen, die ein unfreundliches Licht auf Ringelnatz werfen, die Kleinmut des Kleinbürgers, der in solchen Momenten Dampf ablässt.“

Allerdings! Klute schreibt im Wissen dessen, was Ringelnatz nicht mehr erleben musste und daher auch aus der Haltung eines, der durch „die Gnade der späten Geburt“ sensibilisiert ist für antisemitische Töne. In diesem Fall wohl auch überkorrekt: Denn solche antijüdischen Bemerkungen gehörten in den Zwischenkriegsjahren wenn auch nicht zum guten Ton, aber zur alltäglichen Umgangssprache. Im Leben, in der Tat war es Ringelnatz wohl herzlich gleich, woher einer kam und was einer war – was zählte war die Verbindung, die sich von Mensch zu Mensch knüpfen ließ, zudem schlug er sich gerne als eine Art humoriger Robin Hood auf die Seite der Geknechteten und Entrechteten. Was mit dem Nationalsozialismus auf ihn und seine Freunde zukam, das ahnte er früh und überschattete seine letzten Jahre, die Gesundheit zudem bereits schwer angeschlagen:

20150211_183437_resizedKlute zitiert den Journalisten Fred Hildenbrandt: „Ich glaube, der Grundzug seines ganzen Wesens war eine unheilbare, tiefverborgene und mit Alkohol übergossene Trauer.“

Und dann gibt der Biograph dem Leser auf den letzten Seiten noch einige schöne Worte mit auf den Weg:

„Und es ist auch keineswegs so, dass Joachim Ringelnatz als großer Unverstandener in der Nachwelt umgeht. Wer ihn liest, wird ihn sofort verstehen. Er hat zur großen Feier des Lebens eingeladen und jene Menschen, die er für klug genug hielt, mit den Abgründen seines Herzens vertraut gemacht – auch das kann man aus seinen Gedichten, seinen Erzählungen und seinen Erinnerungen erfahren. Joachim Ringelnatz ist als Hans Bötticher aufgebrochen, um das Fremde, das Ferne kennenzulernen und das Geheimnis der Welt zu ergründen. Der Welt ist er manchmal abhandengekommen, oft genug hat er sie auch umarmt und sie ihn.“

Da bleibt nur noch die Aufforderung übrig: Die Biographie lesen – es lohnt sich. Aber vor allem: Ringelnatz. Und dann: Die Welt umarmen, das Leben feiern.

Hilmar Klute, War einmal ein Bumerang. Das Leben des Joachim Ringelnatz
Verlag Galiani Berlin 240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86971-109-6
Link mit den Verlagsangaben:
http://www.galiani.de/buecher/hilmar-klute-war-einmal-ein-bumerang.html

Und Jochen Kienbaum war mit Hilmar Klute auf den Spuren von Ringelnatz in Berlin unterwegs - ein schöner Streifzug durch die Ringelnatzsche Welt rund um den “Sachsenplatz”. Hier geht es zum literarischen Spaziergang: http://lustauflesen.de/ringelnatz-in-berlin/.

PS: So respekt- und liebevoll die Annährung von Hilmar Klute an den zeitweiligen Wahl-Münchner Ringelnatz ist, so liebevoll ist auch die Gestaltung des Buches – die Bilder des Beitrags zeigen die Innenseiten des Covers.

Sling: Der Mensch, der schiesst (1928/2014).

Augsburg (331)„Der Mensch, der schiesst, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. (…)
Die Menschheit sucht sich gegen die Gewalt und die Willkür der Natur durch allerhand Erfindungen zu schützen, zum Beispiel den Blitzableiter oder den Rettungsring. Um sich gegen den Menschen zu schützen, erfand der Mensch das Strafgesetz. (…).
Den Kaffeekessel, der explodiert, schickt man zum Klempner, den Menschen ins Gefängnis. Eine Weile hat man sich vorgestellt, der Mensch könne die Gelegenheit benutzen, sich im Gefängnis zu bessern. Man hat aber die Erfahrung gemacht, daß von dieser Gelegenheit höchst selten Gebrauch gemacht wird, daß der Mensch vielmehr in den meisten Fällen völlig verdorben zur Menschheit zurückkehrt.“

Sling, “Der Mensch, der schiesst”, Lilienfeld Verlag, 2014.

In diesem Artikel vom 25. August 1926 wird deutlich, was das journalistische Credo von Paul Schlesinger, kurz Sling, war, wie er den Menschen sah, vor allem aber auch, wie er das Justizsystem seiner Zeit beurteilte. Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, hatte bereits genügend Lebenserfahrung gesammelt, als er mit Gerichtsreportagen begann: Er war zuvor unter anderem Kaufmannslehrling, Kabarettist, Musikkritiker und Kriegsberichterstatter gewesen. Also mit allen Wasser gewaschen und die Feuertaufe überstanden: Günstige Voraussetzungen für einen, der sich auch nicht von der Justiz der Weimarer Republik einschüchtern ließ. Und der sich ebenfalls nicht blenden ließ von großen Auftritten und kleinen Gangstern im Gerichtssaal.

Denn zwar war auch in der WR die Pressefreiheit auf dem Papier ein hohes Gut: „Art. 118 Weimarer Reichsverfassung: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. (…) Eine Zensur findet nicht statt…“ Doch war die Gerichtsbarkeit dieser Zeit eben durchaus auch durchsetzt von konservativen, kaisertreuen Beamten. Wer in der Weimarer Republik schrieb, der hatte die Obrigkeitshörigkeit deutschen Beamtentums, Pressezensur und legislative Willfährigkeit im Rücken und die heraufkommende Gewaltherrschaft der politischen Extreme im Angesicht. Egon Erwin Kisch, Carl von Ossietzky, um nur die beiden bekanntesten Namen zu nennen, sie zahlten, als die Republik von der Gewaltherrschaft ausgehebelt wurde, für ihren investigativen Journalismus letztendlich mit ihrer Gesundheit, Verlust der Heimat, Verlust von Leib und Leben.

Sling also macht neben den reinen Gerichtsberichten, den Erzählungen von Schuld und Sühne, den Gerichtssaal in vielen seinen Artikeln auch zu einem Podium der politischen Diskussion: Wenn er Richter portraitiert, wenn er ein System analysiert, das vor allem auf Zucht und Ordnung setzt, wenn er die Pressefreiheit verteidigt, dann tritt er nicht nur für die freie Presse ein, sondern auch für ein demokratisches System, das freilich – noch erschüttert von den Folgen des 1. Weltkrieges und bereits überschattet von der kommenden Diktatur – auf tönernen Füßen steht. Seine Zeilen zur Rolle der Presse haben bis heute ihre Gültigkeit:

„Zweifellos: Wie überall, so gibt es auch in der Gerichtsberichterstattung Mißbräuche und Auswüchse. Man darf aber hoffen, daß die ihrer Verantwortung bewußte Presse immer die maß- und richtunggebende sein wird. Erst gestern klagte im Gerichtssaal der frühere Herausgeber eines Skandalblattes: „Meine Zeitung ist eingegangen, weil das Publikum so was nicht mehr will.“ Ein Bravo dem Publikum!
Kritik braucht auch die Presse. Zwangs- und Gewaltmaßnahmen lehnt sie ab. Ihre Erziehung hat sie in eigene Regie übernommen.“

Wer mutigen, kritischen Journalismus lesen will, der greife zu den Reportagen Slings. Die „Berichte aus dem Gerichtssaal“ hat Axel von Ernst nun für den Lilienfeld Verlag neu herausgegeben. Interessanter Lesestoff nicht nur für jene, die am Genre selbst ihren Gefallen haben. Vielmehr liefert Sling eindrucksvolle, sprachlich stilistisch herausragende Miniaturen, Portraits seiner Zeit – lebendig werden die Vertreter des Proletariats in der Weimarer Republik mit ihren Nöten, die oft genug in die Kriminalität führen, als auch Biedermänner auf Abwegen, Regierungsräte vor dem Kadi, schnippige Filmdiven wie Olga Tschechowa, kleine Ladenmädchen und schmierige Zuhälter mit wenigen, treffenden Worten gezeichnet. Eine Epoche in ihrer ganzen Zerrissenheit wird dabei lebendig, oft genug erzählen die Reportagen von Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, von den Folgen des 1. Weltkrieges und der Wirtschaftskrise. Sling sieht nicht nur den Verbrecher – er sucht und forscht nach den Motiven. Da schreibt nicht nur der rasende Reporter, da schreibt vor allem auch ein Humanist.

Vor allem ist es die Sprache Slings, die gefangen nimmt und die heute so im Journalismus leider kaum mehr zu finden ist. Einige Kostproben:

„Auf den Korridoren des Kriminalgerichts strömt nicht gerade Lebenslust. Armselig, grau, zerknittert von der Sorge des Tages stehen und sitzen die Wartenden herum. Kleider, Wäsche, Gesichter sprechen von der bittersten Entbehrung. Aber diese Menschen hungern nicht bloß. Sie sind auch noch beleidigt. Indessen könnte man vielleicht auch sagen: Das Beleidigtsein ist ihr letzter Luxus.“

„Der junge Mann, der sich vor den Geschworenen wegen vorsätzlicher Brandstiftung verteidigen muß, hat ein merkwürdig charaktervolles Gesicht. Sein glattes Haar, etwas üppig nach Art dilettierender Kunstaspiranten, umschließt eine sehr weiße Stirn, von den dichten, schwarzen Brauen geht eine sehr gerade Nase zu dem festgeschlossenen, schmallippigen Mund. Blickt man ihm gerade ins Gesicht, so sieht man sehr tiefliegende, große, helle Augen, die im Verein mit dem stark zurückweichenden Oberkiefer diesem 21jährigen Menschen etwas sonderbar Eulenhaftes geben. Hinter der Anklageschranke wirkt er wie ein Käuzchen, das mit der denkbar größten seelischen Reserve seine Gefangenheit trägt.“

Wer war dieser Sling?

Auf der Seite des Lilienfeld Verlags (hier ein Link zur Verlagsseite mit Leseprobe) findet sich folgendes zum Autor:

Paul Felix Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, wurde erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt berühmt. Nach einer Kaufmannslehre studierte er, gehörte dann in München der Künstlerboheme an und trat bei den „Elf Scharfrichtern“, dem ersten politischen Kabarett Deutschlands, auf. Musikkritiken von ihm erschienen in der „Schaubühne“ (ab 1918 „Die Weltbühne“), literarische Texte u. a. im „Simplicissimus“. Er wurde Korrespondent für den Ullstein Verlag und arbeitete 1911/12 in Paris, im Krieg ab 1915 in der Schweiz. 1920 berief ihn Ullstein in die Redaktion der „Vossischen Zeitung“, wo er sich unter dem Kürzel „Sling“ neu erfand und dann vor allem als Gerichtsreporter berühmt, beliebt und zu einem der einflußreichsten Publizisten der Zeit wurde. Daneben erschienen Romane und Kinderbücher und die erfolgreiche Komödie „Der dreimal tote Peter“ (uraufgeführt 1927 mit Therese Giehse und Heinz Rühmann). Sein früher Tod durch Herzversagen 1928 führte zu einer Welle der Anteilnahme.

Sling, so Herausgeber Axel von Ernst, war also einer der prominentesten Journalisten der zwanziger Jahre, dessen beliebtesten Texte aus dem Feuilleton schon zu Lebzeiten auch in Buchform herauskamen: „Das Sling-Buch“, Berlin, 1924. Seine Gerichtsberichte erschienen verstreut in mehreren Sammlungen, zuletzt 1989 in Ost-Berlin. Der Lilienfeld Verlag fasst sie nun in „Der Mensch, der schiesst“ komplett zusammen – von den kleinen Fällen bis hin zu den großen Mordprozessen und einem eigenen Kapitel über den Prozess um Arthur Schnitzlers „Reigen“.
Abgerundet wird das Buch durch das Nachwort eines „Nachfahren“ Slings: Hans Holzhaider, Gerichtsberichterstatter der Süddeutschen Zeitung, würdigt den Journalisten Paul Felix Schlesinger, der diese Genre in Deutschland prägte:

„Da war ein neuer Ton im Umgang der Presse mit der Justiz. Der Journalist Sling trat den Juristen als Ebenbürtiger entgegen, als einer, der sich durchaus in der Lage sieht, das, was im Gerichtssaal geschieht, kompetent zu beschreiben und eben auch zu kommentieren. Die Herren in ihren schwarzen Roben und mit dem Barett auf dem Kopf – Frauen waren damals in diesem Berufsstand so gut wie nicht vertreten – mochten ihre Examina haben, ihr Strafgesetzbuch und ihre Strafprozeßordnung, aber für das, worum es eigentlich im Strafprozeß geht, die großen und kleinen Dramen, Tragödien und manchmal auch Tragikomödien im menschlichen Zusammenleben – dafür fühlte sich Paul Schlesinger mindestens so sachverständig wie die Richter und die Staatsanwälte im Kriminalgericht in Moabit. (…).
Er wußte: Das, was im Gerichtssaal zu beobachten ist, ist das Leben schlechthin, pralles, dramatisches, dürftiges, armseliges Leben.
Das ist es, was Sling heraushebt, was ihn zu einem modernen Autor macht. Er erkennt, dass die sogenannte Objektivität, die man dem Journalisten immer abverlangt, eine Fiktion ist.“

Das pralle, dramatische, dürftige, armselige Leben – es ist zu erlesen in den Reportagen Slings:
„Der Mensch, der schiesst“, Sling, Lilienfeld Verlag, 400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband, ISBN 978-3-940357-27-4.

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929).

September_Augsburg 021“Es ist eine dumme Fabel, daß Hotelstubenmädchen durch die Schlüssellöcher schauen. Hotelstubenmädchen haben gar kein Interesse an den Leuten, die hinter Schlüssellöchern wohnen. Hotelstubenmädchen haben viel zu tun und sind angestrengt und müde und alle ein wenig resigniert, und sie sind vollauf beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten. Kein Mensch kümmert sich um den anderen Menschen im großen Hotel, jeder ist mit sich allein in diesem großen Kaff, das Doktor Otternschlag nicht so übel mit dem Leben im allgemeinen in Vergleich stellte. Jeder wohnt hinter Doppeltüren und hat nur sein Spiegelbild im Ankleidespiegel zum Gefährten oder seinen Schatten an der Wand. In den Gängen streifen sie aneinander, in der Halle grüßt man sich, manchmal kommt ein kurzes Gespräch zustande, aus den leeren Worten dieser Zeit kümmerlich zusammengebraut. Ein Blick, der auffliegt, gelangt nicht bis zu den Augen, er bleibt an den Kleidern hängen. Vielleicht kommt es vor, daß ein Tanz im gelben Pavillon zwei Körper nähert. Vielleicht schleicht nachts jemand aus seinem Zimmer in ein anderes. Das ist alles. Dahinter liegt eine abgrundtiefe Einsamkeit.”

Vicki Baum, „Menschen im Hotel“, 1929

Vicki Baum musste es wissen, was Hotelstubenmädchen tun: Die Autorin, zeitlebens für ihre Diszipliniertheit bekannt, arbeitete selbst wochenlang in einem Hotel, um für ihren Roman zu recherchieren. Die Mühe machte sich bezahlt: Mit “Menschen im Hotel“ (der Untertitel „Ein Kolportageroman mit Hintergründen“ wurde in den Nachkriegsauflagen unterschlagen) erreichte die gebürtige Österreicherin endgültig ihren literarischen Zenit.

Der Erfolg kam mit Ansage: Baum, die damals beim größten europäischen Verlag, Ullstein, als Redakteurin für mehrere Zeitungen schrieb, hatte bereits im Jahr zuvor mit dem Roman „stud. Chem. Helene Willfüer“ einen Bestseller gelandet. Das Buch im Stil der neuen Sachlichkeit stieß vor allem beim weiblichen Lesepublikum auf Interesse: Erzählt wird von einer jungen Studentin, die ungewollt schwanger wird und sich vergeblich um eine Abtreibung bemüht. Alleinerziehend macht sie dann dennoch beruflich ihren Weg und findet zudem ihr privates Glück. Die Mischung aus Melodram, Unterhaltung und leiser Gesellschaftskritik traf voll auf das Zeitgefühl der Weimarer Republik, vor allem die jungen, modernen Frauen fanden sich in den Büchern Baums wieder. Nach dem ersten Erfolg puschte der Ullstein Verlag die 1888 in Wien geborene Autorin – zu „Menschen im Hotel“ gab es eine richtiggehende Marketingkampagne, in der auch die Schriftstellerin selbst in den Vordergrund gerückt wurde. „Home stories“ und Anzeigen mit dem Gesicht einer Autorin: Das war noch relativ neu.

Endgültig trat das Buch seinen Siegeszug an, als es nicht nur als Theaterstück auf die Berliner Bühnen kam, sondern auch nach London und an den Broadway – Vicki Baum reiste 1931 zur Theaterpremiere nach New York und blieb für volle sieben Monate, auch, um die Filmrechte unter Dach und Fach zu bringen und ein Drehbuch für Hollywood zu verfassen. Durch die Verfilmung von „Grand Hotel“ mit Greta Garbo in der Hauptrolle wurde der Roman endgültig unsterblich. Ein Ruhm, von dem Vicki Baum, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln 1932 endgültig in die USA übergesiedelt war, ein Leben lang zehren sollte: Denn obwohl weiterhin ungeheuer kreativ und produktiv, konnte sie diesen „Coup“ nicht wiederholen.

Doch an Publicity und Verfilmung allein liegt es nicht, dass „Menschen im Hotel“ auch heute noch lesenswert und ein durchaus bemerkenswertes Buch ist. In ihren 1962 postum erschienenen Memoiren (Vicki Baum verstarb 1960 in Los Angeles) Es war alles ganz anders“ schreibt sie über sich leicht selbstironisch und nicht ohne Bitterkeit als “erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte”. Denn obwohl ungeheuer populär und durchaus auch von Kollegen wie Alfred Döblin und den Geschwistern Erika und Klaus Mann anerkannt, blieb Vicki Baum mit einem Stigma behaftet, das es insbesondere in der deutschen Literatur gibt: Dem der „Trivialität“. Anders als in den englischsprachigen Ländern wird hierzulande nach wie vor streng unterschieden – und Unterhaltungsliteratur kann per se nicht literarisch qualitätsvoll sein, vice versa ist „richtige“ Literatur alles, aber bloß nicht unterhaltend!

Dabei traf „Menschen im Hotel“ nicht nur den Nerv der Zeit, sondern kann auch – neben „Berlin Alexanderplatz“ , das im selben Jahr erschien – als einer der großen Berlin-Romane und als ein Dokument des Zeitgefühls der Weimarer Republik bezeichnet werden. Manche Szene zwischen Lebensgier und Niedergang: Sie könnte auch heute spielen, ist zeitlos modern.

Da pulsiert die Großstadt, die Hektik, die Jagd nach Vergnügen und Geld, das Chaos, die Turbulenz, dies alles hat Vicki Baum mit raschen Szenenwechseln, Beschreibungen im Stakkato und atemlosen, schwindelerregenden Passagen – so eine Fahrt über die Avus – perfekt eingefangen:

„Gaigern hatte die Finger voller Ungeduld, sie prickelte wie Kohlensäure zwischen seinen Händen und dem Steuer. An den Straßenkreuzungen hingen rote, grüne, gelbe Lampen, standen Schupoleute und drohten ihm halb lachend mit dem Arm. Menschenscharen bei Straßenecken, vorbei an Obstwagen, Plakatwänden und ängstlichen alten Damen, die zur falschen Zeit über den Fahrdamm trippelten, schwarz und langröckig mitten im März. Die Sonne war feucht und gelb auf dem Asphalt. Wenn ein schwerfälliges Autobustier den Weg verlegte, dann schrie der kleine Viersitzer mit zwei Hupen: wie ein Gebell von gereizten Hunden klang es. (…)

Kringelein starrte Berlin an, das zu Streifen gezerrt an dem Wagen vorüberrannte.“

Während es in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ jedoch keine Hoffnung für den Franz Biberkopf und seine Mitstreiter gibt, wo Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Verelendung in expressionistisches Grau münden, erzählt Baum eher konventionell, wenn auch durchaus neusachlich, aber eben mit einem Hang zum Melodram. Dennoch: Später wurden lediglich die sentimentalen Töne des Romans hervorgehoben, der ironisch-distanzierte Blick, den Baum wirft auf die Zeitläufte, auf die Politik, aber auch auf ihre Figuren, die bestimmte „Typen“ vertreten, wurden von der Kritik nicht mehr wahrgenommen.

Da ist die alternde Primaballerina, die verzweifelt versucht, ihre Jugendlichkeit zu bewahren (eine durchaus moderne Figur), der Gentlemandieb Freiherr von Gaigern (ein Vorläufer des Felix Krull), der Spießer Preysing, der über seine eigene Gier und Unfähigkeit stolpert, der gutherzige, aber von den Verhältnissen geknechtete Hilfsbuchhalter Kringelein und schließlich „Flämmchen“, eine typische Frauenfigur der neuen Sachlichkeit, wie sie auch im kunstseidenen Mädchen von Irmgard Keun oder bei Lili Grün beschrieben wird: Die Stenotypistin, das Ladenmädchen, das sein Glück machen will, gutherzig, aber von einem erotischen Pragmatismus geleitet:

„Sie hatte eine umfangreiche Bilanz zu machen. Der Verzicht auf das angefangene Abenteuer mit dem hübschen Baron stand darin, Preysings schwerfällige fünfzig Jahre, sein Fett, seine Kurzatmigkeit. Kleine Schulden da und dort. Bedarf an neuer Wäsche, hübsche Schuhe – die blauen gingen nicht mehr lange. Das kleine Kapital, das notwendig war, um eine Karriere zu beginnen, beim Film, bei der Revue, irgendwo. Flämmchen überschlug sauber und ohne Sentimentalität die Chancen des Geschäftes, das ihr geboten wurde.“

Der Roman konzentriert die Handlung auf vier Tage und vier Nächte – und schon bald sind Glanz und Glamour, die die Oberfläche im luxuriösen Hotel prägen, durchschaut, kommen die materiellen und die psychischen Nöte zum Vorschein. Insbesondere repräsentiert durch Doktor Otternschlag, dem gezeichneten Kriegsteilnehmer, der einsam Tag für Tag in der Lobby auf Post und menschliche Zuwendung wartet:

Gaigern empfand verwundert, daß dieser blödsinnige Doktor Otternschlag eine Art von Haß gegen ihn zu haben schien. „Das mag Geschmackssache sein“, sagte er leichthin. „Ich habe es nicht so eilig. Mir gefällt das Leben nun einmal. Ich finde es großartig.“

„So. Großartig finden Sie es? Sie waren doch auch im Krieg. Und dann sind Sie heimgekommen, und dann finden Sie es großartig? Ja, Mensch, wie existiert ihr denn alle? Habt ihr denn alle vergessen? Gut, gut, wir wollen nicht davon sprechen, wie es draußen war, wir wissen es ja alle. Aber wie denn? Wie könnt ihr denn zurückkommen von dort und noch sagen: Das Leben gefällt mir? Wo ist es denn, euer Leben? Ich habe es gesucht, ich habe es nicht gefunden. Manchmal denke ich mir: Ich bin schon tot, eine Granate hat mir den Kopf weggerissen, und ich sitze als Leiche, verschüttet die ganze Zeit im Unterstand von Rouge-Croix. Da habense den Eindruck, wahr und wahrhaftig, den mir das Leben macht, seit ich von draußen zurückgekommen bin.“

Ein literarischer Verdienst von Vicki Baum ist es zudem, dass sie die sogenannte „group novel“ gesellschaftsfähig machte: „Menschen im Hotel“ ist einer der ersten „Gruppenromane“ der Unterhaltungsliteratur, in dem eben nicht eine oder zwei Hauptfiguren im Vordergrund stehen, sondern Menschen wie Schauspieler auf einer Drehbühne aufeinandertreffen, deren Wege sich kreuzen, deren Schicksal miteinander zunächst lose verknüpft und dann enger verwebt werden. So wurde „Menschen im Hotel“ auch zu einer Vorlage, die bis heute im TV gerne aufgegriffen wird – seien es Arztserien oder ähnliche „soaps“, sie haben ihre literarische Wurzel hier.

Die Figuren in „Menschen im Hotel“ sind Prototypen, das Privatschicksal, so schrieb der Literaturkritiker Werner Fuld, wird zum Massenartikel, zum Klischee, zur Kolportage. Dass der Kolportageroman jedoch auch Hintergründe (nochmals ein Hinweis auf den ursprünglichen Untertitel) zu bieten hat, das liegt an der eigentlichen „Hauptfigur“ des Roman: Das Hotel, das ähnlich wie bei Joseph Roths „Hotel Savoy“ die Rolle des Katalysators spielt, das der Schauplatz ist, an dem sich aus den Figurenschemen langsam Menschen mit ihren Nöten und Ängsten herausschälen. Diese Nöte hängen eng mit den Verhältnissen einer Gesellschaft am Abgrund zusammen. Ein Hotel, in dem Getriebene und Herrenmenschen aufeinander treffen:

„Was hier in diesem Hotelzimmer aus ihm hervorbrach, war alles in allem die Klage des zarten und erfolglosen Menschen gegen den andern, der einfach und mit etwas Brutalität seinen Weg macht, eine wahre, aber ungerechte und höchst lächerliche Klage…“

Nicht zuletzt führte neben ihrer jüdischen Herkunft auch dieser kritische Blick auf die Zeit, der von den „Trivialitäts-Kritikern“ oftmals unterschlagen wird, mit dazu, dass die Bücher von Vicki Baum von den Nazis auf den Index gesetzt, die Schriftstellerin selbst als „Asphaltliteratin“ bezeichnet wurde und sie schließlich mit ihrer Familie den Weg in das Exil nahm.

Friedrich Rückert - Wenn es dir übel geht

Spruch

Wenn es dir übel geht,
Nimm es für gut nur immer,
Denn wenn du`s übel nimmst,
So wird es nur noch schlimmer.

Und tut ein Freund dir weh,
Verzeih`s ihm und versteh,
Es ist ihm selbst nicht wohl,
Sonst tät er dir nicht weh.

Doch wenn dich Liebe kränkt,
Sei dir`s zu Lieb` ein Sporn,
Dass du die Rose hast,
Das fühlst du auch am Dorn.

Friedrich Rückert, 1788-1866

Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der deutscheste sei.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich:
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.

Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ.
“Ich bin deutscher als deutsch.” “Ich deutscherer.” “Deutschester bin ich.”
“Ich bin der Deutschereste oder der Deutschestere.”

Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten,
Bis sie vor komparativistisch- und superlativistischer Deutschung
Den Positiv von deutsch hatten vergessen zuletzt.

Reise-, Sommer-, Wandertipp: Auf den Spuren Rückerts kann man auf dem Friedrich-Rückert-Weg wandern. Dieser führt von seinem Geburtsort im fränkischen Schweinfurt bis nach Coburg, wo der Dichter, Philosoph und Orientalist seine letzten Jahre verlebte. Dorthin hatte er sich enttäuscht zurückgezogen – der Freigeist, der sich Sprachen wie Persisch, Türkisch, Vedisch, Sanskrit, Bengalisch, Tartarisch und viele mehr angeeignet hatte, passte nicht in den frömmelnden Wissenschaftsbetrieb. Lehrtätigkeiten an den Universitäten in Erlangen und Berlin (solche Abstecher sind auf dem Friedrich-Rückert-Weg natürlich nicht vorgesehen) endeten als enttäuschende Erfahrung.

http://www.wandermap.net/en/route/811219-friedrich-ruckert-weg/#/z11/50.21074,10.90049/terrain

Hans Christoph Buch: Sansibar Blues (2008).

“… und als du auf der Dachterrasse ein nasses Laken zur Seite schiebst, stockt dir der Atem beim Rundblick über die Stadt: Hinter rostroten Wellblechdächern blaut das Meer, dessen Brandung ein Fischerboot durchsticht, während eine Flotte von Dhaus vor der Hafeneinfahrt kreuzt, die bunt geflickten Segel von der Abendbrise gebläht.”

Hans Christoph Buch, „Sansibar Blues oder: Wie ich Livingston fand“, Die andere Bibliothek, 2008.

Ostafrika im Hirne,
Togo, der Amok tanzt:
das ist die weiche Birne
mit fremder Welt bepflanzt;
die istrisch dunklen Meere
vor dem großen Vestibül,
sein Vater fuhr eine Fähre:
historisches Lustgefühl.

„Ostafrika“ von Gottfried Benn, 1. Strophe.

Entstanden in den 1920er Jahren in einer Reihe von Gedichten, in denen Benn Sehnsuchtsorte umschrieb – geprägt vom „Exotismus“ und Vorstellungen, die auch die Intellektuellen in der deutschen Kolonialmacht umtrieben.

Sansibar – der Name klingt wie ein exotisches Versprechen, verheißt den Duft von Gewürzen, den Wind der Wüste, ruft Bilder von Inselparadies und lockendem Afrika hervor. Doch die Hauptfiguren in Hans Christoph Buchs Roman wollen vorwiegend eines: Nichts wie weg da.

Ein amerikanische Diplomat und ein DDR-Gesandter, der zwar den sprechenden Namen „Hans Dampf“ hat, aber alles andere als ein solcher ist, eine Sultanstochter und ein Sklavenhändler, Che Guevara und Ryszard Kapuscinski geben sich in diesem Roman quasi die Klinke in die Hand. Durch die wechselnden Erzählstimmen und Zeitläufe ist die burleske, bunte Erzählung zwar nicht ganz einfach zu lesen, doch in sich geschlossen – die Fäden laufen zusammen, ergeben eine stimmige Komposition. Zumal sich der 1944 geborene Schriftsteller Hans Christoph Buch intensiv mit der kolonialen Vorgeschichte Afrikas auseinandergesetzt hat und den Kontinent wohl kennt wie seine Westentasche. Empfohlen sei von H. C. Buch, der, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin lebt, auch sein Romanessay „Apokalypse  Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“, erschienen 2011 in der Anderen Bibliothek.

Sansibar, die vor Tansania liegende Insel, spielte für Ostafrika lange eine bedeutende Rolle, vor allem als Zentrum des Sklavenhandels, der unter der Herrschaft des Sultans von Oman hier „florierte“. Kleine historische Anekdote am Rande, die auch von HCB entsprechend verarbeitet wird: Am 27. August 1896 kam es zum kürzesten Krieg der Weltgeschichte, dem nur 38 Minuten dauernden Britisch-Sansibarischen Krieg. Der Krieg begann um 9:00 Uhr morgens. Nachdem der Sultan von Sansibar gestorben (oder vergiftet worden) war, beanspruchte sein Cousin Khalid ibn Barghash den Thron für sich. Der britische Admiral Sir Harry Rowson ließ daraufhin nach einem Ultimatum so lange den Palast des selbsternannten Sultans von See aus mit Schiffsgeschützen beschießen, bis dieser die Flucht ergriff. Auch auf das zweite bedeutende historische Datum – der Sansibar-Vertrag von 1890, mit dem die Deutschen gegenüber den Briten ihre Gebietsansprüche über Sansibar zugunsten Helgolands fallen ließen – findet in der Blues-Romanze seinen Niederschlag.

Um so richtig in das Buch eintauchen zu können, alle Finten und Finessen, die HCB legt, erfassen zu können, um das Muster aus Fiktivem und Tatsächlichem zu erkennen, sind schon gewisse historische Kenntnisse und Erläuterungen notwendig – dies macht die Lektüre nicht einfach, ohne Hilfestellung und Hintergrund bleibt es bei dem Lesen einer vergnüglichen, amüsanten tour de force über das Eiland.

Marko Martin dröselte das Text-Gewebe in seiner Rezension bei Deutschland-Radio etwas auf: „Verbürgte Tatsache jedenfalls ist, dass eine der Töchter des Sultans Sayid bin Said Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Hamburgischen Kaufmann durchbrannte und als konvertierte Protestantin namens Emily Ruete ihre späteren Tage an der Nordsee und der Berliner Spree verbrachte. Von da brachen dann 100 Jahre später DDR-Diplomaten und Stasi-Experten nach Sansibar auf, um dem dort gerade installierten sozialistischen Regime marxistische Ideologie und effektives Foltern beizubringen, während gleichzeitig ein gewisser Ernesto Guevara de la Serna, genannt Che, auf Sansibar sein vorletztes Revolutions-Abenteuer vorbereiten sollte: eine Kongo-Expedition, die freilich genauso scheitern würde wie Dr. Livingstones oder Morton Stanleys Versuche, dem so genannten “schwarzen Kontinent” sein Geheimnis zu entreißen.

Wem spätestens hier nun der Kopf schwirrt, sei beruhigt, denn Hans Christoph Buchs Stil ist von einer verführerischen (wiewohl doppelbödigen) Geschmeidigkeit, die dem ewigen menschlichen Tohuwabohu immer wieder eine elegant-subversive Note abzugewinnen weiß. Auch wenn in diesem versiertem Große-Jungen-Streich von Roman die Figuren-Psychologie öfters der Schnurre, der überraschenden Wendung und den letztendlichen Plots geopfert wird - es ist ein pures Vergnügen, wie hier jemand Historisches auseinander nimmt und nach eigenem Gusto wieder zusammenfügt, ohne dass auch nur einmal staubtrocken Papierenes durch die Zeilen wehen würde.“

Zum Weiterlesen über den Autoren selbst empfiehlt sich dessen Internetseite:

http://www.hans-christoph-buch.de/

Eva Menasse: Quasikristalle (2013).

„Sallys spontane Liebe zu Berlin bestand genau darin, dass man untertauchen, in Parallelwelten leben konnte, von deren Existenz jemand wie Xane nichts ahnte. Die Stadt kam Sally vor wie eine fernsehturmhohe Schichttorte; jeder grub sich in seiner sozialen Lage horizontal voran. Die hauchfeinen, transparenten Trennscheiben dazwischen waren schwer überwindbar.“

Eva Menasse, „Quasikristalle”, 2013, Kiepenheuer & Witsch

Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Welt – und doch ist er so viele Menschen und Welten zugleich. Geprägt durch die unterschiedlichen Rollen, die dieser Mensch in seinen verschiedenen Umfeldern einnimmt. Der Familienmensch, der private Mensch, der einzelne Mensch und der Mensch als Herdentier.

Wie sehen mich andere? Wo bin ich wie? Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Eva Menasse betreibt dieses Gedankenspiel in ihrem jüngsten Roman „Quasikristalle“ mit leichter Hand. Eine Person wird besichtigt. Xane, die kreative Wienerin, die schließlich in Berlin landet, wird portraitiert: Von Freundinnen und Männern, Kindern, frustrierten Angestellten und bildungsbürgerlichen Vermietern. Jeder derselben interpretiert, analysiert und seziert die Person Xane. Für jeden erscheint sie in einem anderen Licht.
Xane ist viele Frauen. Das Fragmentarische der einzelnen Kapitel gibt das Gesamtbild. Portraits wie an einer Perlenkette, jede Perle jedoch schimmert anders – das macht die Qualität des Buches aus.

Eva Menasse schreibt geistreich und leicht. Manchmal leider auch zu nah am Klischee. Manchmal auch nah am Kitsch. Deshalb sind die Quasikristalle letztendlich auch „nur“ Beinahdiamanten. An und für sich ist es eine interessante Idee, sich einer Figur aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Doch die einzelnen Kapitel sind von unterschiedlicher Qualität. Und der elegante Sprachstil der Autorin ist hier nicht nur von Vorteil: Obwohl aus verschiedenen Perspektiven berichtet wird, sind sich die Stimmen letztendlich doch zu ähnlich. Trotzdem: Für einen schönen Lesenachmittag gibt es auch eine schlechtere Wahl.

Weitaus begeisterter rezensierte Ijoma Mangold das Buch in der Zeit:

Erst mal sieht das Buch nämlich aus wie vergnügliches, kluges easy reading, in einer geistreichen Sprache mit viel Bosheit und Wiener Schmäh. Die Raffinesse des Romans aber liegt ganz in seiner Konstruktion. Jedes Kapitel ist aus der Perspektive einer anderen Figur erzählt, und man braucht als Leser Zeit, bis einem klar wird, dass alle diese Blickwinkel um die Protagonistin Xane Mole kreisen. Ihr Leben wird erzählt, von der Kindheit bis ins Alter, und wie mit den Kapiteln die Lebensphasen am Leser vorbeiziehen wie Wolken am Himmel, entsteht gleichsam im Rücken dieser prallen, gegenwartsgesättigten Lebensgeschichte die Melancholie der vergehenden Zeit. Wie heißt es in Hofmannsthals Terzine über die Vergänglichkeit? “Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, / Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: / Daß alles gleitet und vorüberrinnt.”

Für ihn ist der Roman der Versuch, das Vergehen der Zeit selbst erfahrbar zu machen - am Lebensweg einer Person, Xane, gesehen aus verschiedenen Perspektiven: Von der Jugendfreundin in der Pubertät bis zu den genervten Freundinnen der Xane späterer Jahre und aus Sicht der Stieftochter. Quasikristalle, so schreibt Mangold, sei auch ein “Roman serieller Abschiede”:

“Das Leben setzt sich aus Verbindungen und Auflösungen zusammen, die ein Muster ergeben, dessen Gesetzmäßigkeiten nur schwer zu erkennen sind Ganz wie jene Quasikristalle, die der israelische Chemiker Daniel Shechtman 1982 entdeckte: Verknüpfungsmuster, die nach Zufall aussehen, weil wir ihre aperiodische Ordnung nicht erkennen.”

Letztendlich ist aber auch dies das große Manko des Romans: Die Verknüpfungen, das Wiederkehrende, die Unausweichlichkeit mancher Ereignisse - dem Leser werden sie, gleichsam aus der dritten Perspektive, deutlich und erklärbar. Man wünschte sich jedoch, ein abschließendes Kapitel fügte diese auch für die Hauptfigur zu einem Muster, einem Verhaltensmuster - man mag auch sagen und hoffen: einer Erkenntnis - zusammen. Doch dies bleibt aus - ohne “Moral” endet die Geschicht´.

Vielleicht aber gilt einfach auch nur das Zitat von Janet Frame, das Eva Menasse ihrem Roman als Leitmotiv voranstellt:

“Nichts war einfach, bekannt, sicher, geglaubt, verbürgt”.

Georg Fink: Mich hungert (1929).

Augsburg (144)„Unterernährung - das war der Trumpf, den die Gesellschaft ausspielte. Nicht gegen den Krieg, aber gegen die Feinde. O, Krieg ist Krieg. Macht dem Krieg ein Ende, und es gibt keine Feinde! Die Ursache wolltet ihr bestehen lassen, und ihr empörtet euch moralisch über ihre Folgen. Unterernährung - Wir kannten sie von jeher. Man hat Kinder photographiert, skelettierte Säuglinge an den leeren Brüsten ihrer Mütter. Auf einmal sah man sie! Warum? Jetzt konnte man sie zur Propaganda gebrauchen! Jetzt bediente man sich ihres Elends, ihres Jammers, um das Mitleid der Welt - für sie? nein! für sich! - zu gewinnen. Aber leere Brüste, verhungerte Säuglinge hatte es schon vorher, schon immer gegeben! Da sah sie niemand, denn sonst hätte man selbst helfen müssen. Plötzlich wurde das Proletariat entdeckt, sein abgehärmtes Gesicht, seine verkrüppelten Knochen, sein leerer Topf…“

„Mich hungert“, Georg Fink (Kurt Münzer), Erstausgabe 1929, 2014 im Metrolit Verlag wieder erschienen.

Als am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten die Bücher missliebiger Autoren verbrannt wurden, war auch ein Roman darunter, der vier Jahre zuvor als ein literarisches Ereignis (neben „Im Westen nichts Neues“ und „Berlin Alexanderplatz“, ebenfalls 1929 erschienen) gefeiert worden war: „Mich hungert“ von dem bis dato völlig unbekannten Autoren Georg Fink. Das Buch, angeblich die Autobiographie eines Proletarierkindes im Vorkriegs-Berlin, verkaufte sich sensationell, wurde von Thomas Mann und Ernst Weiß gelobt und in 13 Sprachen übersetzt. Mit den Flammen 1933 verschwand auch der Roman aus dem Bewusstsein – verbrannt und vergessen. Doch jetzt wurde das Buch wiederentdeckt - dank des Metrolit Verlag, der es im Frühjahr 2014 wieder aufgelegt hat.

Dass solche Bücher dem Vergessen entrissen werden, ist eine wichtige und löbliche Tat an sich. Doch allein sein Schicksal macht ein Buch nicht zu großer Literatur, zu einem großen Roman - den literarischen Stil zu überhöhen, diese Beurteilung mag einigen Rezensenten in der Freude der Wiederentdeckung aus der Feder geflossen sein. Denn Georg Finks halbdokumentarischer Roman hinterließ bei mir stark gemischte Gefühle. So eindrucksvoll und eindrücklich diese Schilderung einer Kindheit in Armut vor und nach dem 1. Weltkrieg ist, so nackt und nüchtern die Situation des städtischen Proletariats im Berlin in den Jahren nach 1900 gezeichnet wird, so stilistisch schwer erträglich sind etliche Passagen, in denen der angebliche Ich-Erzähler melodramatisch, eigentlich weinerlich und schwülstig über sein eigenes Schicksal, die Liebe zu seiner Mutter schreibt oder allgemein-philosophisch wird. Als Schilderung seiner Zeit, als authentische Darstellung der Verelendung der Großstadtbevölkerung ist dieses Buch ein wichtiges Dokument. Literarisch bleiben Fragezeichen offen.

Fragezeichen warfen im Erscheinungsjahr auch die Auskünfte über den angeblichen Autoren Georg Fink auf. Der renommierte Autor Kurt Münzer hatte das Manuskript dem Cassirer Verlag empfohlen, stellte sich später als Mentor des jungen Schriftstellers dar und schrieb selbst beinahe hymnisch anmutende Besprechungen über das Buch. Erst im Schweizer Exil gestand Kurt Münzer ein, dass es sich um eine anfängliche Selbstinszenierung, die ihre Eigendynamik entwickelt hatte, gehandelt habe. Jetzt - 2014 - ist das nur noch eine zusätzliche Anekdote zum Buch. Und trotz der angesprochenen Mängel: Wer sich mit deutscher Geschichte beschäftigt, insbesondere mit Sozialgeschichte, wer Interesse an der Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg hat und Einblick erhalten will in deutsche Umstände nach 1918, für den kann dieser Roman eine aufschlussreiche Quelle sein. Denn ganz unbekannt waren dem Autoren Münzer/Fink die dargestellten Milieus sicher nicht.

Finks Roman erzählt von der Nachkriegs- und Inflationszeit am Beispiel einer Familie in Berlin-Mitte, die durch die Alkoholexzesse des Vaters mehr und mehr verelendet. Georg König, die jugendliche Hauptfigur, wird schon als Kind zum Betteln gezwungen, die Schwester zur Prostitution herangezogen, ein weiterer Bruder wird kriminell. Nur Georg, der diese Entwicklung aus der Rückschau erzählt, kann aufgrund seiner schulischen Begabung und durch die Förderung eines Fabrikanten dem Leben auf der Straße entkommen.

- In geradezu apokalyptischer Befriedigung wird der Zusammenbruch von Gesellschaft und Moral entworfen. Doch alles das vergeht über dem Zusammenbruch der überarbeiteten Mutter. “So habe ich den Krieg erlebt, und alle seine Schrecken versanken vor Mutters erstem Wehlaut.” Nicht zuletzt diese mit Remarque geteilte wehe Weichheit sehnsüchtiger Muttersymbiose mag es gewesen sein, die den Erfolg von Finks Roman ausmachte. Hier teilten sich indes auch die Wege der literarischen Kriegsverarbeitung. Solch klagendes Weh, das ein Gutteil der damaligen Literatur über das Elend der betrogenen Jugend durchzieht, war den anderen ein Gräuel. -
so Erhard Schütz in einer Besprechung in der „Zeit“.

Man urteile selbst - zwei Textpassagen, die aufzeigen, wie sehr Münzer/Fink zwischen kritisch-anteilnehmender Bestandsaufnahme und elegischem Ton schwankt:

„Die Armen hatten es gut. Ihre Männer fielen: umso besser: es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen. Und in unsern Häusern, wo dreißig und fünfzig Parteien in Höfen, Seitenflügeln, Quergebäuden, Kellern und den leer gewordenen Ställen lebten, gab es viel Aufschrein, Schluchzen nachts, Ausbrüche von Jammer und Geheul, wenn die Kinder die letzte Verlustliste brachten, wenn die Postbotin mit bebendem Mund ein Päckchen abgab…“

„So begann der Krieg. Vier Jahre floß Blut aus der Menschheit. Ich begriff so wenig. Aber doch sah ich den Sonnenschein auf der Erde liegen, starrte in den silbernen Mond, in die Sterne. O, wie gelassen, wie beseligt, wie schön alles im All - und auf Erden!…Ich sah in den Mond, mit Ehrfurcht und Entsetzen: es focht ihn nicht an. Bedeutete das so wenig? Waren wir ein Nichts? Unser Leben nur ein Traum der unausgekühlten Erde, ein Spiel ihres Feuers?“

Zum Verlag und den Angaben zum Buch geht es hier.