“Die Universitätsbibliothek bekam einen Treffer und ging in Flammen auf; noch Tage danach fielen mit dem nicht endend wollenden Aschenregen, an den wir inzwischen gewöhnt waren, ganze, noch glühende Buchseiten vom Himmel; manche waren von der Hitze so zusammengebacken, dass sie nicht zerfielen, wenn sie auf dem Boden aufkamen, man konnte noch zusammenhängende Textstücke lesen.”
Louis Begley, Lügen in Zeiten des Krieges, 1991
„Anfangs leuchteten die Flammen wie ein Christbaum, dann loderten sie plötzlich auf und bildeten einen spitzen Feuerhut auf Martas Kopf. Marta war eine Fackel. Flammen hüllten sie von allen Seiten ein, und das Wasser in der Tonne zischte, wenn Fetzen ihrer zerschlossenen Kaninchenfelljacke herunterfielen. Stellenweise schimmerte ihre verrunzelte schlaffe Haut durch die Flammen, und ich bemerkte weißliche Blasen auf ihren knochigen Armen.“
Jerzy Kosinski, Der bemalte Vogel, 1965
Ähnlich und doch so verschieden: Das kennzeichnet die beiden oben zitierten Bücher. Zunächst die Gemeinsamkeiten: Beide Autoren er- und überlebten in ihrer Kindheit und Jugend den Holocaust, beide stammen aus Polen, beide emigrierten in die USA, beide wurden Schriftsteller, Begley allerdings erst im Alter, nach einer langen Karriere als Rechtsanwalt. Beide Bücher sind literarische Verarbeitungen des Überlebten. Beide Bücher erzählen die Geschichte eines Jungen, der durch Verstecken und Versteckt-Werden überlebt, begleitet von der ständigen Angst vor der Enttarnung. Beide Bücher erreichten Millionenauflagen. Und eine weitere Verbindung: Als “Der bemalte Vogel” in den USA wieder erschien, schrieb Louis Begley dazu ein Vorwort.
In den ähnlichen Biographien der Autoren und in der Rahmenhandlung erschöpfen sich jedoch die Gemeinsamkeiten der beiden Romane, die mit drei Jahrzehnten Abstand erschienen. Während “Kosinkskis zwanghaft ausführliche Beschreibung von Gewalt und Perversion” (so Begley im Vorwort) stellenweise kaum zu ertragen ist, so erschüttert Begleys Erzählung durch die kühle, sachliche, fast nackte Beschreibung der von ihm erfahrenen Wirklichkeit im von den Nazis besetzten Polen. Der Roman rührt an, doch selbst in ihren grausamsten Momenten bleibt die Sprache leise, zurückgenommen, ist es ein verhaltener Bericht über die Unmenschlichkeit: Fast, als wäre das Schreiben eine Gratwanderung zwischen Befreiung vom Erlebten und der Furcht, die Wunden wieder aufzureißen. Während Kosinski sich in diese Wunden wühlt, förmlich im Blut wälzt.
Ein Inferno der Gewalt
Jerzy Kosinski erspart dem Leser nichts – er führt in ein Inferno der Schändungen, Gewalt und Bösartigkeit, sei es gegen Menschen, sei es gegen Tiere. Streckenweise sind die Beschreibungen kaum erträglich Als Täter treten hier die deutschen Nazis nicht unmittelbar auf – sie sind jedoch diejenigen, die ganze Völkergruppen und Ethnien zum Freiwild erklären, die die Spirale des Bösen in Gang setzen. Nach Erscheinen des Romans brach sich eine Debatte Bahn, ob die Erlebnisse autobiographisch seien und inwieweit der Autor dies vorgespiegelt hätte. Begley nimmt Kosiniski in seinem Vorwort in Schutz, auch aus eigener Erfahrung:
“Die reale und unentbehrliche Quelle, aus der Kosinski für seinen Roman schöpfte, waren die Umstände, unter denen er den Krieg überlebte und die ihn brandmarkten: Die Jahre des Lügens und der unablässigen Angst vor einem Verrat, der ihn der Gestapo ausliefern würde. Seine Albträume und Zwangsvorstellungen waren allein die seinen, so wie die Metaphern, in die er sie schonungslos umwandelte.”
Beide Bücher hinterlassen die Frage, wie man nach diesen Erfahrungen nicht nur über-, sondern auch weiterleben kann, wie man sich vom Verstecken befreien, wie man die Angst und die Lügen, die zur zweiten Natur werden mussten, überwinden kann. Beiden Autoren scheint das Schreiben zumindest ein wenig geholfen zu haben - allein darin schon liegt die Bedeutung und der Wert dieser beiden Romane.
Sei es bei Primo Levi, bei Aharon Appelfeld (siehe zu Appelfeld den entsprechenden Beitrag hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/10/otto-dov-kulka-aharon-appelfeld-ringen-um-die-sprache-ringen-um-die-erinnerung/) oder in diesen beiden Romanen - immer wieder ringen die Autoren, die zugleich ja auch Zeitzeugen und Opfer der Geschehnisse sind, mit der Sprache. Es gibt keine Sprache, die das Geschehene adäquat abbilden oder gar ungeschehen machen könnte. Kosinski und Begley haben ganz unterschiedliche Mittel und Metaphern gesucht, um das Unsagbare auszudrücken. Aber beide haben das Wagnis unternommen. Denn Sprache kann, auch in ihren Beschränkungen, zumindest dazu beitragen, dass nicht Vergessen wird. Und im besten Falle, immer noch, trotz der Realitäten in unserer Welt, ein Lernen daraus entsteht - wie die sprachgläubige Idealistin in mir immer noch meint und hofft.
Jerzy Kosinskis Ich-Erzähler verstummt zunächst – doch dann, ganz im letzten Absatz, beginnt er zu sprechen und damit beginnt die Hoffnung: „…mein war sie wieder, die Sprache, und dachte nicht daran, zu der Tür hinauszuhuschen, die auf den Balkon führte.“
Und Louis Begley? „Ist noch etwas von Maciek in dem Mann? Nein, nichts: Maciek war ein Kind, und unser Mann hat eine Kindheit, die zu erinnern er nicht ertragen kann; er hatte sich eine Kindheit erfinden müssen.“
“Der bemalte Vogel”: Verlagsangaben
“Lügen in Zeiten des Krieges”: Verlagsangaben
Begleys “Lügen” habe ich schon gelesen, Kosinskis “Bemalter Vogel” ist auf grund Deines Artikel auf meiner “Noch-Lesen-Liste” gelandet. Habe Begleys Buch gerade rezensiert: http://www.buechersammler.de/mein-buch-des-monats-luegen-in-zeiten-des-krieges-von-louis-begley/
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Liebe Martina,
Deine Rezension hat mich sehr angesprochen, daher auch meine Reaktion über Facebook. Lügen in Zeiten des Krieges ist ein Buch, das man nicht vergisst. Der bemalte Vogel war mir stellenweise kaum erträglich - aber man muss, da beide Autoren dieses Inferno mitgemacht haben, der literarischen verarbeitung mit Respekt begegnen, meine ich. Viele Grüße Birgit
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Eine spannende Gegenüberstellung!
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Danke…war mir wichtig, diese Bücher zu vergleichen.
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Sehr plausibel - und eben auch sehr gelungen.
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Dieser sehr interessante Beitrag berührt Fragen, die mich auf unterschiedlichen Ebenen immer mal wieder umtreiben. Von vielen möglichen, ein Gedanke dazu: Im Zentrum des Traumas (im engeren Sinn) herrscht Sprachlosigkeit. Man kann das mittlerweile an Gehirnen und den jeweils aktivierten Regionen nachweisen. Für das, was geschehen ist, Worte zu finden, bedeutet daher immer auch, etwas “nachzuholen”, was in der ursprünglichen Situation nicht stattfinden konnte: das Ereignis als Teil unserer Lebensgeschichte zu begreifen (erzählen zu können).
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Liebe Jutta,
ja, das sind Fragen, die auch mich immer wieder bewegen. Danke für Deinen Kommentar - ich denke, gerade bei Autoren wie den genannten, die das miterlebt haben und dann, oft Jahrzehnte später, es verschriftlichen können, ist dieses “Nachholen” auch ein “Begreifen”, auch Otto Dov Kulka beschreibt dies in seinem Buch: Jahrezehntelang habe er sich wissenschaftlich-sachlich mit dem Holocaust beschäftigt, aber erst im hohen Alter seine eigene Geschichte verschriftlichen können. Diese Sprachlosigkeit im Zentrum des Traumas - das ist etwas, was jedoch nicht nur die Opfer solcher Brutalitäten oder die Opfer von Katastrophen trifft. Jeder von uns kann in extreme Situationen geraten oder Menschen kennenlernen, die in Krisen sind, wo zunächst keine entsprechenden Worte sich finden lassen, wo erst einmal Sprachlosigkeit herrscht. Später vielleicht können jedoch Worte auch zur Heilung beitragen…
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Ich stimme dir vollkommen zu und kehre an meinen eigenen Text zurück mit dem Hinweis auf Herta Müller, die insbesondere in dem Essayband “Der König verneigt sich und tötet” sehr klug und aufschlussreich darüber berichtet, welchen (Um)weg die Worte manchmal gehen … Herzliche Grüße!
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Und (erst) mit diesem Erzählen wird dann auch so etwas wie Heilung möglich.
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So ist es. Da fällt mir wiederum das Buch ein: “Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung” von Onno van der Hart u.a. - das ist allerdings wirklich nur was für Menschen mit einem entsprechenden Spezial-Interesse.
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Das hört sich interessant an. Ich bin keine Therapeutin, habe aber bei biografischen Gesprächen und beim Biografien-Schreiben immer wieder mit Kriegstraumata und ihrem Weiterwirken über Generationen zu tun und kann mir vorstellen, dass die Lektüre auch in dem Kontext sehr bereichernd ist. Danke für den Hinweis!
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Könnte mir vorstellen, dass insbesondere Passagen des ersten, allgemeineren, Teils für dich interessant sein könnten - vielleicht wirfst du in der Bibliothek mal einen Blick hinein …
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Das finde ich wunderbar: Ein Beitrag ist der Anstoß zu einem Dialog zwischen zweier meiner besten Leserinnen …weiter so, ihr zwei, das freut mich (um mal meine Sprachlosigkeit wieder zu überwinden…) Und danke für die weiterführenden Buchtipps, liebe Jutta, da schau ich auch mal in die Bibliothek. LG Birgit
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Liebe Birgit, da bin ich froh - zuletzt hatte ich mich gefühlt, wie auf einer Party, bei der die Gastgeberin bereits verschwunden ist und zwei noch in der Küche sitzen und kein Ende finden ;-)
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Selbst traumatisiert, wie ich heute erkennen muss, konnte ich vor Jahrzehnten Bücher über diese Zeit, auch die furchtbarsten Berichte von Überlebenden, lesen. Es hat mich aufgewühlt, es war schwer erträglich, aber ich wollte es wissen und aushalten.
Heute kann ich es nicht mehr. Menschen brennen wie Fackeln, oder, wie hier beschrieben, wie Tannenbäume, - selbst am Himmel gab es ja Tannenbäume als Vorboten des Todes, - wenn das Mitleiden zu groß wird, fällt man zurück in die Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit, Sprache gewordenes Trauma aufnehmen zu können.
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Tolle Gegenüberstellung, Birgit! Den Kosinski habe ich vor Jahren gelesen. Er erspart einem wirklich nichts. Den Begley kenne ich bisher nicht, bin aber nun sehr neugierig.
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Liebe Maren,
das ist erstaunlich - die meisten kennen wohl Begley, aber den Kosinski nicht. Ich kann ihn wirklich empfehlen.
Viele Grüße Birgit
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