Hilmar Klute: War einmal ein Bumerang. Das Leben des Joachim Ringelnatz (2015).

klute_-_war_einmal_ein_bumerangErstaunlich: Beinahe jeder – jedes Kind – kennt einen Vers von Ringelnatz. In Hamburg lebten zwei Ameisen, die würden sich ohne Bedenken eine Kachel aus meinem Ofen schenken, aber ich bin so knallvergnügt erwacht, doch: Warte nur balde Kängurst auch Du… (mehr davon bei www.ringelnatz.org).

Man könnte dies unendlich fortsetzen, verknüpft mit dem Hinweis, dass Humor der Knopf ist, der verhindert, dass uns der Kragen platzt – und dass Joachim Ringelnatz alias Hans Gustav Bötticher (1883-1934) ein ganz genialer Knopfmacher war. Dieser liebevoll-augenzwinkernde-freigeistige Humor, der aus vielen seiner Gedichte so genialisch sprüht, mag jedoch auch der Grund dafür sein, dass der Blick auf das „Gesamtkunstwerk“ Ringelnatz oftmals verstellt blieb und bis heute bleibt. Für viele ist er ein Dichter der „leichten Sorte“, zu leicht gewogen, als beinahe seicht empfunden. Das Melancholische seiner Lyrik, die sozialkritischen Verse, die bissigeren Miniaturen und auch die schwermütig-leisen Lieder: Sie sind uns, bis auf einige Liebesgedichte, weitaus weniger geläufig.

Obwohl er selbst über sein Leben an vielen Stellen Auskunft gab, beispielsweise in den autobiographischen Schriften und den vielen Briefen, die sich im Nachlass fanden, sind einem oft nur einige Facetten dieses ungeheuer umtriebigen, ausgefüllten Lebens präsent: Die einen kennen ihn als Matrosen und seine Kunstfigur Kuttel Daddeldu, die anderen als Bühnenkünstler im Münchner Simpl und auf Reisen durch die deutschen Lande, weniger wissen schon vom ambitionierten und begabten Maler, einige wissen von ihm als Freund der Frauen, einige von ihm als Hungerkünstler, andere kennen ihn als Überlebenskünstler, wenige jedoch haben von den vielen, vielen Posten und Pöstchen, die er zur Existenzsicherung annahm, eine Ahnung: Briefkontrolleur, Tabakladenbesitzer, Reklamedichter, Buchhalter…

20150211_183320_resizedBislang gab es erstaunlicherweise trotz dieses romanhaften Lebens über den körperlich klein-zarten und durchaus anmutigen Bühnenkünstler, der gerne auch einen Seepferdchen-Tanz hinlegte, kaum Biographisches. Walter Pape kommt das Verdienst zu, das Ringelnatzsche Gesamtwerk erhoben und herausgegeben zu haben. Eine Biographie schrieb der 1978 verstorbene Herbert Günther, der Ringelnatz 1925 in München kennengelernt hatte und zu einer Art „Hausbiograph“ der letzten Lebensjahre wurde – in der Nähe zum Menschen liegt jedoch auch der Mangel dieses Buches, das zum einen im Ton einen gewissen Anspruch der Allwissenheit pflegt, zum anderen die dunkleren Seiten dieser durchaus nicht einfachen „Bumerang“-Seele eher übergeht resp. schönschreibt. Es fehlt der Schrift an Abstand und an Leichtigkeit.

Mehr als 80 Jahre nach dem Tod des skurrilen Schabernacks ist nun eine Biographie erschienen, die den Schalk mit dem Schabernack im Nacken würdig portraitiert: „War einmal ein Bumerang“ von Hilmar Klute. Klute ist von Berufs wegen einer, der mit solcher sprachlicher Jonglierkunst zu tun hat, wie Ringelnatz sie pflegte – Klute ist Chef der Rubrik „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung, jener Glosse, die beinahe täglich zeigt, wie kunst- und humorvoll der Ernst des Lebens mit den Mitteln der Ironie beschrieben und ausgehebelt werden kann. Ringelnatz wäre ein würdiger Streiflicht-Autor gewesen, das ist mal sicher.

20150211_183358_resizedHilmar Klute konnte für die Arbeit an diesem Buch eine durchaus umfangreiche Quellenlage nutzen – so verwaltet Norbert Gescher, Muschelkalks Sohn, den privaten Nachlass, ebenso recherchierte der Essayist bei der Ringelnatz-Stiftung, im Museum am Geburtsort Wurzen und griff auf die Zeugnisse von Zeitgenossen zurück, darunter Erich Mühsam, Erich Kästner, Carl Zuckmayer – mit dem Ringelnatz nicht allzu freundlich umging – bis hin zu Kurt Tucholsky und Asta Nielsen, der geliebten Freundin, seinem Mädchen mit der „Barfußseele“. So setzt sich ein Mosaik zusammen, aus dem sich das Bild eines Mannes herauskristallisiert, der es wohl selbst zu Lebzeiten in seiner verspielten Versponnenheit Freunden und Mitmenschen nicht immer allzu leicht machte, den „wahren“ Ringelnatz zu ergründen – er lebte beinahe zu viele Leben für ein Leben. Zumal er sich offenbar selbst nicht immer verstand:

„Auf ein „Wie haben Sie das gemacht, Herr Ringelnatz?“ oder das beliebte „Warum schreiben Sie?“ hätte er so wenig geantwortet wie auf die Frage, was ihn auf die Idee für sein Pseudonym gebracht hat: Es ist mir so eingefallen. Es mag sein, dass auch für ihn das Schreiben ein Geheimnis war. Er wollte diesem Geheimnis nicht auf die Spur kommen, es war das Wunder seines Lebens, das er nicht antasten wollte: „Und im dunkelsten Schatten lies das Buch ohne Wort“, hat er in einem Gedicht geschrieben: „Was wir haben, was wir hatten / eines Tages ist alles fort.“
Es ist unfassbar, wie viel Leben in diesen 51 Jahren steckt, die zwischen der Geburt des Hans Bötticher und dem Tod des Joachim Ringelnatz liegen. Die Größe dieses Schriftstellers ist die Summe seiner Erfahrungen und seiner Neuanfänge, wenn man so will: seines glücklichen Scheiterns.“

Hilmar Klute ist es gelungen, diese Fülle in seinem Buch zu erfassen, ohne zu sehr ins Schweifen, ins Abschweifen, in die Spekulation zu gehen – eine Gefahr, der Biographen oft unterliegen. Faktenreich und detailgetreu: ja, doch auch stringent und dabei leichthändig-essayistisch geschrieben, das individuelle Leben in die Zeitläufte einbettend, dabei auch mit Blick auf die Boheme und andere gesellschaftlichen Gruppen, in denen Ringelnatz sich bewegte – vom liberalen Elternhaus über die Mariner-Zeit bis hin zum freien Künstlerdasein. Dies alles mit großer Sympathie, die aus den Zeilen spricht, ohne den Blick von den weniger angenehmen Charakterzüge des nicht immer so humorigen JR abzuwenden:

„Und dann dieser Satz, den man von Hans Bötticher nicht hören möchte und von Joachim Ringelnatz schon gar nicht: „Hüte dich Muschelkalk vor dem jüdischen Bluff „Neu“. Ist Ringelnatz ein Antisemit?“

Klute zitiert aus einem weiteren Brief, lässt auch eine Relativierung nur bedingt zu – da merkt man, wie der Biograph mit seinem Helden ringt:

„Es sind diese beiden Stellen, die ein unfreundliches Licht auf Ringelnatz werfen, die Kleinmut des Kleinbürgers, der in solchen Momenten Dampf ablässt.“

Allerdings! Klute schreibt im Wissen dessen, was Ringelnatz nicht mehr erleben musste und daher auch aus der Haltung eines, der durch „die Gnade der späten Geburt“ sensibilisiert ist für antisemitische Töne. In diesem Fall wohl auch überkorrekt: Denn solche antijüdischen Bemerkungen gehörten in den Zwischenkriegsjahren wenn auch nicht zum guten Ton, aber zur alltäglichen Umgangssprache. Im Leben, in der Tat war es Ringelnatz wohl herzlich gleich, woher einer kam und was einer war – was zählte war die Verbindung, die sich von Mensch zu Mensch knüpfen ließ, zudem schlug er sich gerne als eine Art humoriger Robin Hood auf die Seite der Geknechteten und Entrechteten. Was mit dem Nationalsozialismus auf ihn und seine Freunde zukam, das ahnte er früh und überschattete seine letzten Jahre, die Gesundheit zudem bereits schwer angeschlagen:

20150211_183437_resizedKlute zitiert den Journalisten Fred Hildenbrandt: „Ich glaube, der Grundzug seines ganzen Wesens war eine unheilbare, tiefverborgene und mit Alkohol übergossene Trauer.“

Und dann gibt der Biograph dem Leser auf den letzten Seiten noch einige schöne Worte mit auf den Weg:

„Und es ist auch keineswegs so, dass Joachim Ringelnatz als großer Unverstandener in der Nachwelt umgeht. Wer ihn liest, wird ihn sofort verstehen. Er hat zur großen Feier des Lebens eingeladen und jene Menschen, die er für klug genug hielt, mit den Abgründen seines Herzens vertraut gemacht – auch das kann man aus seinen Gedichten, seinen Erzählungen und seinen Erinnerungen erfahren. Joachim Ringelnatz ist als Hans Bötticher aufgebrochen, um das Fremde, das Ferne kennenzulernen und das Geheimnis der Welt zu ergründen. Der Welt ist er manchmal abhandengekommen, oft genug hat er sie auch umarmt und sie ihn.“

Da bleibt nur noch die Aufforderung übrig: Die Biographie lesen – es lohnt sich. Aber vor allem: Ringelnatz. Und dann: Die Welt umarmen, das Leben feiern.

Hilmar Klute, War einmal ein Bumerang. Das Leben des Joachim Ringelnatz
Verlag Galiani Berlin 240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86971-109-6
Link mit den Verlagsangaben:
http://www.galiani.de/buecher/hilmar-klute-war-einmal-ein-bumerang.html

Und Jochen Kienbaum war mit Hilmar Klute auf den Spuren von Ringelnatz in Berlin unterwegs - ein schöner Streifzug durch die Ringelnatzsche Welt rund um den “Sachsenplatz”. Hier geht es zum literarischen Spaziergang: http://lustauflesen.de/ringelnatz-in-berlin/.

PS: So respekt- und liebevoll die Annährung von Hilmar Klute an den zeitweiligen Wahl-Münchner Ringelnatz ist, so liebevoll ist auch die Gestaltung des Buches – die Bilder des Beitrags zeigen die Innenseiten des Covers.

Hanns Heinz Ewers: Lustmord einer Schildkröte

259_6„Dies ist keine sodomistische Geschichte. Es ist eine ganz einfache, wahre Geschichte, und alles, was dabei wüst ist, ist von oben bis unten von mir dazu gelogen worden. Das wird man gleich sehn – aber nur dadurch wurde eigentlich eine Geschichte daraus.“

Eine Warnung vorneweg: Das ist ein Buch für Erwachsene. Aber nicht für Erwachsene, die fürchten, „Michel von Lönneberga“ könnte blonde Schwedenbuben diskriminieren. Bevor aber falsche Erwartungen geweckt werden: Erwachsenenbuch meint nicht Erwachsenenbuch im Sinne Erwachsenenfilmecke. Es geht um Geschichten und nichts anderes als das - Geschichten jedoch, die düster, morbide, lasziv, exzessiv und hintersinnig sind.

„Als ich zwanzig Jahre alt war, wusste ich bestimmt: mir kann keine Frau etwas vormachen.
Als ich dreißig alt war, war ich dessen nicht mehr ganz so sicher.
Heute weiß ich: man lernt nie aus bei den Frauen. Immer neue Kunststücke hecken sie aus, um die männliche Tugend zu Fall zu bringen.“

Würde man politische Unkorrektheit als einen Maßstab anlegen, dann hätte Hanns Heinz Ewers (1871-1943) sein Maß mehr als erfüllt: Der deutsche „Edgar Allen Poe“ - dieser Ruf eilte ihm zu seiner Zeit voraus - schreckte vor nichts zurück. Kannibalismus, Voodoo-Kult, Rachemord und Mundraub, Drogenexzesse und andere Süchte waren seine Themen, degenerierte Adelige, rachsüchtige Halbseidene und weitere sinistre Gestalten sein literarisches Personal, Sodom und Gomorrha seine Zweitadresse. Im wahren Leben ließ er es ebenfalls krachen - ein schillernder Wanderer zwischen den Milieus und Kontinenten, einer, der sowohl auf Reisen in der Außenwelt als auch in die Innenwelt Grenzen überschritt. Einer, der international berühmt und berüchtigt war für Leben und Werk, und ab 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik zu den Schriftsteller-Stars zählte: Ein skandalträchtiger Autor, ein Exot selbst in den „Goldenen Zwanzigern“, in denen es an Exzentrikern nicht mangelte. Freund von Erich Mühsam, Liebhaber von Else Lasker-Schüler, ein Lieblingskind der Boheme. Immer aber auch zwischen den Stühlen, für einen Aufruhr gut – Jünglinge fielen bei seinen Lesungen in Ohnmacht, die Damen der Unter-, Halb- und sonstiger Welt ihm zu Füßen. Und er kostete das alles reichlich aus – um letztendlich diese Lebenserfahrungen in Literatur zu wandeln.

„Meine Herrn, wir stehn in zwei Lagern, zwischen denen es eine Einigung nicht gibt. Sie vertreten den großen Humanitätsglauben, dass das Wohl des gesamten Menschengeschlechtes das einzige Kriterium sei, nach dem alle Dinge gemessen werden sollten. Mir dagegen ist das Wohl und Wehe der Menschheit vollständig gleichgültig.“

Zuletzt überspannte selbst er jedoch den Bogen deutlich, als er sich den Nationalsozialisten andiente, vielleicht auch von deren „esoterischen“ Seite, verkörpert durch Himmler & Co., stark angezogen fühlte - um dann dennoch die Verbrennung seiner „dekadenten“ Schriften miterleben zu müssen.

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Heute gehört er zu den Vergessenen der deutschen Literatur. Auch der wunderbar aufgemachte Band „Lustmord einer Schildkröte“, der 2014 als Band 356 bei der Anderen Bibliothek erschien, hat noch nicht zu der vielleicht erhofften Ewers-Renaissance geführt - die Rezensionen in den Feuilletons der größeren Zeitungen sind überschaubar, Besprechungen kaum zu finden. Ein schöner Beitrag beim WDR findet sich zum Nachhören hier:
http://www.wdr3.de/literatur/lustmordeinerschildkroete104.html

Die abseitig-abgründige Themenwahl, die Kollaboration mit den Nationalsozialisten - sie verstellen heute wahrscheinlich den Blick auf das Werk. Dass HHE im Auftrag Hitlers ein Horst-Wessel-Buch schrieb (das jedoch missfiel und verboten wurde), erscheint heute - auch mit dem Hinweis, dass Ewers streckenweise ein von Drogen verwirrter, schillernder Vogel war - nur schwer entschuldbar.

„Ich möchte im Gegenteil behaupten, dass ich, insbesondere unter Künstlern, das Individuum noch nicht kennengelernt habe, das bis in den letzten Grund psychisch eingeschlechtlich zu nennen gewesen wäre. Unsere Mannheit in allen Ehren, aber sie hindert nicht, dass überall und immer wieder das Weibliche in uns zum Durchbruch kommt.“

„Es ist nicht auszuschließen, dass der etwas drogenzerrüttete Ewers die Nationalsozialisten kurzzeitigen mit seinem künstlerischen Ich des Nazi-Draufgängers der 1890er-Jahre kontextualisiert. (Anmerkung der Blogbetreiberin: Im zweiten Fall steht „Nazi“ für den mundartlichen Ausdruck für Schürzenjäger, den Ewers in einer frühen Erzählung nutzte)“, schreibt Sven Brömsel in seinem informativen Nachwort zu „Lustmord einer Schildkröte“. Jedenfalls: Ewers, 1932 in die NSDAP eingetreten, wird zwar als NS-Pressereferent für das Ausland eingesetzt, von vielen Nazi-Größen jedoch als suspekt und dekadent betrachtet. Und muss die Mesalliance teuer bezahlen: Verbrennung der Bücher, Veröffentlichungsverbot, durch die Nähe zu Röhm gerät Ewers auf die SS-Todeslisten und muss schließlich untertauchen. Und er bezahlt posthum bis heute - sein schillerndes Auftreten, als er sich noch neben Hitler und Goebbels sonnte, verdeckt seinen Einsatz für Opfer des Regimes, denen er zum Untertauchen und zur Flucht verhalf. Und es verdeckt bis heute den Blick auf sein Werk.

„Bittsteller ist in seiner Eigenschaft als Schulinspektor – in vierzehn Gemeindeschulen, einer Realschule, einer Bürgermädchenschule und einem Lehrerseminar – häufig Zeuge der schamlosesten Vorgänge. Unter Anleitung der Lehrer, die darin nur den vorgeschriebenen Unterrichtsbüchern folgen, werden die jungen Seelen genötigt, das Geschlechtsleben der Pflanzen bis in die kleinste Einzelheit zu studieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt der Lehrer die reinen Gemüter in einen Pfuhl des Lasters, in ein Sodom der unerhörtesten Perversionen.“

Aber seine Literatur war frei von der nationalsozialistischen volkstümelnden Ideologie, frei von Blut-und-Boden-Romantik, wenn auch nicht frei von rassistischen Anwandlungen. Letztere sind einesteils im Kontext der Zeit zu werten, andererseits gehören sie aber auch zur Kunst der Provokation, die Ewers pflegte. Ein ständiger Tabubrecher, der politische Korrektheit ad absurdum führte und in seinen Texten versuchte, die moralische Basis seiner Leser zu erschüttern. Er war ein Weltbürger und Überschreiter von Grenzen - im Leben schritt er jedoch oftmals leider auf die falsche Seite. Seine letzten Worte an seine Sekretärin waren: „Jennylein, was war ich für ein Esel!“

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Die politischen Verwirrungen, aber auch die Einordnung als „Paradiesvogel“, vielleicht auch als Zeiterscheinung einer dekadent anmutenden Ära sind es, die eventuell bis heute den Zugang erschweren. So meint man auch bei der Hanns-Heinz-Ewers-Gesellschaft, HHE sei vergessen, weil:

Dafür gibt es eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Gründen. Schon zu Lebzeiten wurde Ewers mit heftigen Vorwürfen konfrontiert: Zu dekadent war seine Themenwahl, die kaum ein Tabu der damaligen Zeit ausließ. Später kollaborierte er fatalerweise mit dem Dritten Reich, freilich ohne dabei sein Engagement für die Gleichberechtigung der Juden aufzugeben.

Ewers, der seine künstlerische Laufbahn als Kabarettist begann, saß stets zwischen allen Stühlen. Er schrieb erfolgreich satirische Fabeln, in denen er scharfzüngig das Spießbürgertum attackierte, im gleichen Atemzug veröffentlichte er liebevoll gestaltete Märchenbücher für Kinder. Mit der meisterhaften Schilderung der Femme Fatale “Alraune” erlangte er Weltruhm und avancierte zum meistverkauften deutschen Autor seiner Zeit. Außerdem ging Ewers als einer der ersten Filmpioniere in die Geschichte ein, mit “Der Student von Prag” erfand er den Autorenfilm und schrieb Dutzende Drehbücher, bis er schließlich von den Nazis Schreibverbot erhielt und damit bis zu seinem Tode praktisch mundtot gemacht wurde.

Der Einfluss von Hanns Heinz Ewers auf die phantastische Literatur, insbesondere in Frankreich und den USA, darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland half er, die Geisteshaltung und die Mentalität der Weimarer Republik und der “Goldenen Zwanziger” zu prägen: Zu auflagenstark waren seine Romane, zu präsent war seine persönliche Erscheinung im öffentlichen Leben, um übersehen zu werden. Selbst Bertolt Brecht sah sich gezwungen, sich mit dem “Fachmann für Entschleierung” auseinanderzusetzen. Dennoch findet Ewers in der herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mal als Fußnote Erwähnung.

Lässt man alle Vorbehalte beiseite, so kann man mit „Lustmord einer Schildkröte“ tatsächlich eine literarische Welt entdecken, die lustvoll in ein dunkles Fantasia entführt. Aus dem enormen Œvre Ewers, der unheimlich, fast schon magisch produktiv war, haben Marcus Born und Sven Brömsel eine Auswahl aus den Erzählungen getroffen, die die ganze düstere und zugleich kunterbunte Welt abbilden, die diesem herrlich ver-rückten Schriftstellergehirn entsprungen sind.

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„Mit seiner Leidenschaft für die Abgründe der menschlichen Psyche, der entgrenzenden Erotik und der Schilderung von Spielarten des Todes provoziert Ewers seine Leser.“ Dies als Zitat aus dem Verlagstext. Zwischen „Schwarzer Romantik“ und „Bildmagischer Avantgarde“ finden sich aber auch kurze Prosastücke, in denen Ewers in der Manier à la Tucholsky und Ringelnatz sowohl Spießbürgertum als auch Hautevolee karikiert, die großes Vergnügen bereiten - sei es die Petitesse „Sie haben meine Mutter gekannt…“, der spielerisch-versponnene „Lustmord einer Schildkröte“ bis hin zu „Die Petition“ und der leise-melancholischen Erzählung vom ehrgeizigen, aber einsamen Briefkasten.

Tatsächlich erreichen es die Erzählungen bis heute noch, dass man als Leser ab und an mit dem Atem stockt, eigene Positionen hinterfragt oder einfach auch voyeuristisch auf die Seiten linst. Es sind Geschichten – abgründig, lebenssatt, grenzüberschreitend, augenblinzelnd, mitreißend. Korrekte, fade, blutleere Geschichten gibt es genug – und deshalb empfehle ich: HHE lesen.

Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Ein satirischer Roman (1937).

„Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern. Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“. Dennoch wird niemand daran glauben, daß er auch zu ihnen gehört. Er würde sich schämen und belächelt sie verächtlich. Er weiß nicht, daß diese Verachtung ihn selber trifft. Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne. Man hat politisch mit ihnen zu rechnen, wenn man die Welt verändern will, nur darf man sich nie dem Wahn hingeben, als seien sie für das Erringen einer besseren Zukunft brauchbar. Sie sind nicht einmal gärende Gegenwart, nur Vergangenheit und darum die unangreifbarsten Totengräber jeder gerechten Gesellschaftsordnung. Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer unsozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch.“

Der richtige Mann für die Verfilmung des “Anton Sittinger” (1979): Volksschauspieler Walter Sedlmayr

Nein – dies ist kein Portrait einer dieser Menschen, die derzeit durch deutsche Straßen ziehen und skandieren „Wir sind das Volk“. Aber es könnte einer von ihnen sein, der hier beschrieben ist – so genau, so haarscharf hat Oskar Maria Graf (1894 geboren am Starnberger See, 1967 verstorben in New York) den verbitterten Kleinbürger, den opportunistischen Mitläufer gezeichnet. Ein Typ, den es heute gibt, den es morgen immer noch geben wird, den es zu Zeiten von Oskar Maria Graf en masse gab und der letztendlich in all seiner Banalität das Böse zuließ.

„Anton Sittinger. Ein satirischer Roman“ erschien erstmals 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Beide Romane können oder sollten in Zusammenhang gelesen werden – es sind seine „Spießer-Romane“, in denen er scheinbar banale Lebensläufe, durchschnittliche Einzelschicksale nimmt, um an ihnen die Mechanismen der Kleinbürgerseele zu zeigen. Und auch, um deutlich zu machen, wie die Politik sich auf den Einzelnen auswirkt und, wie - vive versa- der Einzelne mit seinen Entscheidungen die Politik mitprägt. Beide Romane sind treffende Charakterisierungen der „kleinen Leute“, die mit ihrer Unterwürfigkeit nach „oben“ und dem Treten nach „unten“ letztlich das gemeinschaftliche Zusammenleben prägen. Eine Variation und spätere Fortsetzung der von Heinrich Mann im “Professor Unrat” und dem “Untertan” beschriebenen Typen.

Titelblatt 1937

Fokussiert sich der Bolwieser noch vor allem auf die Szenen einer Ehe, ist „Anton Sittinger“ ein durch und durch politischer Roman: Graf, ab freiwillig 1933 im Exil, nachdem er zuvor von den Nationalsozialisten verlangt hatte, auch seine Bücher zu verbrennen, zeichnet am Werdegang des Sittinger die Entwicklung eines Postinspektors von der Münchner Räterepublik bis zur Wahl Hitlers und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach.

Sittinger verabscheut sie eigentlich alle – die „roten Revoluzzer“ und den braunen Abschaum. Was er vor allem will, ist seine königlich-bayerische Ruhe – auch vor der gut deutsch-hysterischen Ehegattin, die für schmucke blonde Männer in Uniform entbrennt – und das Zusammenhalten seines Geldsäckels. Den Unruhen in München glaubt er entkommen, als er nach der lang ersehnten Pensionierung ein Haus auf dem Lande erwirbt. Doch auch dort holt ihn „die Politik“ wieder ein: Im Wirtshaus werden die Nachrichten debattiert, das Dorf spaltet sich bald in Anhänger und Gegner Hitlers. Sittinger spürt, er muss sich entscheiden und positionieren, will er an der neuen Zeit teilhaben beziehungsweise nicht der Rachlust des örtlichen Nazis ausgeliefert sein. Da hilft auch sein pseudophilosophisches Spinnisieren nicht, nicht die - freilich meist falsch und für eigene Zwecke mißbrauchte - Inanspruchnahme philosophischer Leitsätze von Seneca über Schopenhauer bis Macchiavelli. Der kleinmütige, eigensüchtige Zögerer, ein Wendehals, springt unter äußerstem Druck letztendlich auf den nationalsozialistischen Zug auf – getrieben vor allem von einem Motiv: Seine Ruhe zu erhalten.

In beiden Romanen zeigt sich Oskar Maria Graf als der kraftvolle Volksschriftsteller, der wie wenig andere das dörfliche und kleinstädtische Leben auf dem bayerischen Lande mit Bildern zu füllen vermochte: Da geht es mitunter durchaus krachledern bis hin zu saukomisch zu, die Figuren sind einerseits satirisch leicht überzeichnet, andererseits lebendig und lebensecht.

“Beim Begräbnis des Toni füllte sich der ganze Friedhof. Grimmig schauten die Bauern drein. Laut weinten Weiber und Kinder, und viele Kränze wurden auf das Grab gelegt. Alle Ehren wurden den Toten erwiesen, doch diesmal kling die Predigt des Pfarrers wehleidig. Der Grimmenmoser hatte eine Grippe vorgeschützt und war nicht zu sehen.
Hernach, in der Postwirtsstube, schimpften die Reitlmooser verdrossen über diese „braune Sauwirtschaft“. Immer wieder hieß es, der Hitler sei nichts für einen Reichskanzler.
„Und überhaupt – Bayern bleibt Bayern! Was wir machen, geht keinen Preußen was an!“ schloß der Pflögl.
Eine mißgünstige Bedrückung machte sich breit.
„Unsere Minister sind auch Hosenscheißer! Wenn`s Männer wären, täten`s einfach vom Reich weggehn und die ganze Hakenkreuzlerschippschaft `nausjagen…Meinetwegen alle zu den Preußen! Alsdann wär` gleich eine Ordnung!“ murrte der Kergler. „Aber mein Gott, wenn nirgends Männer sind!“
Alle nickten und schauten trüb geradeaus.”

Eine Oskar Maria Graf-Werkausgabe erschien beim List Verlag: http://www.ullsteinbuchverlage.de/nc/autor/name/Oskar%20Maria-Graf.html

Das Zitat zu Eingang des Blogbeitrags ist eher atypisch für den Roman – hier, in der Mitte des Buches, nutzt Graf den Raum, um den beschriebenen Typ zu analysieren, auch um seine eigene Haltung diesem Menschenschlag gegenüber, der sich durch Nichthandeln schuldig macht, zu verdeutlichen. Graf beschreibt die „kleinen Leute“ zwar einerseits voller Empathie – jeder habe einen inneren Kleinbürger und Schweinehund in sich: „In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“…“. Andererseits zeigt er sich auch resigniert, glaubt nicht an einen Wandel der Menschheit: „Ich glaube, daß man die Sittingers im besten Falle neutralisieren kann, aber nichts weiter.“

Wie recht er doch hatte, schaut man heute nach Dresden, Leipzig oder anderswo…

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902 (1928).

„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“

Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“, 1928, wiederaufgelegt und herausgegeben von Christian Klein im Wallstein Verlag, 2014.

Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romane von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ (Besprechung siehe hier) die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.

Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen - dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“ (Besprechung siehe hier), der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:

„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”

Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Sozialismus und die Furcht davor, die konservativ-kaisertreue Klasse, die – bereits am Ende – ihr Heil auch im Krieg sieht und sucht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist:La guerre, ce sont nos parents.

„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.

Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:

„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“

Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“:
„Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges.
Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“

So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.

Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:

„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“

Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird. Eine ausführliche Biographie, geschrieben von Carsten Tergast, ist online hier zu finden: http://blog.zvab.com/2008/04/28/ernst-glaeser-gefeiert-verfemt-vergessen-zur-karriere-eines-deutschen-schriftstellers/

Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“:
“Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“

Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.

Zur Seite des Wallstein Verlags zum Roman: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313361-ernst-glaeser-jahrgang-1902.html
Eine weitere Besprechung gibt es bei den Literaturen: http://literatourismus.net/2014/01/ernst-glaeser-jahrgang-1902/
In der Zeit wurden die Romane Ernst Glaesers und Georg Finks zusammen rezensiert: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jugend-erster-weltkrieg

Sling: Der Mensch, der schiesst (1928/2014).

„Der Mensch, der schiesst, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. (…)
Die Menschheit sucht sich gegen die Gewalt und die Willkür der Natur durch allerhand Erfindungen zu schützen, zum Beispiel den Blitzableiter oder den Rettungsring. Um sich gegen den Menschen zu schützen, erfand der Mensch das Strafgesetz. (…).
Den Kaffeekessel, der explodiert, schickt man zum Klempner, den Menschen ins Gefängnis. Eine Weile hat man sich vorgestellt, der Mensch könne die Gelegenheit benutzen, sich im Gefängnis zu bessern. Man hat aber die Erfahrung gemacht, daß von dieser Gelegenheit höchst selten Gebrauch gemacht wird, daß der Mensch vielmehr in den meisten Fällen völlig verdorben zur Menschheit zurückkehrt.“

Sling, “Der Mensch, der schiesst”, Lilienfeld Verlag, 2014.

In diesem Artikel vom 25. August 1926 wird deutlich, was das journalistische Credo von Paul Schlesinger, kurz Sling, war, wie er den Menschen sah, vor allem aber auch, wie er das Justizsystem seiner Zeit beurteilte. Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, hatte bereits genügend Lebenserfahrung gesammelt, als er mit Gerichtsreportagen begann: Er war zuvor unter anderem Kaufmannslehrling, Kabarettist, Musikkritiker und Kriegsberichterstatter gewesen. Also mit allen Wasser gewaschen und die Feuertaufe überstanden: Günstige Voraussetzungen für einen, der sich auch nicht von der Justiz der Weimarer Republik einschüchtern ließ. Und der sich ebenfalls nicht blenden ließ von großen Auftritten und kleinen Gangstern im Gerichtssaal.

Denn zwar war auch in der WR die Pressefreiheit auf dem Papier ein hohes Gut: „Art. 118 Weimarer Reichsverfassung: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. (…) Eine Zensur findet nicht statt…“ Doch war die Gerichtsbarkeit dieser Zeit eben durchaus auch durchsetzt von konservativen, kaisertreuen Beamten. Wer in der Weimarer Republik schrieb, der hatte die Obrigkeitshörigkeit deutschen Beamtentums, Pressezensur und legislative Willfährigkeit im Rücken und die heraufkommende Gewaltherrschaft der politischen Extreme im Angesicht. Egon Erwin Kisch, Carl von Ossietzky, um nur die beiden bekanntesten Namen zu nennen, sie zahlten, als die Republik von der Gewaltherrschaft ausgehebelt wurde, für ihren investigativen Journalismus letztendlich mit ihrer Gesundheit, Verlust der Heimat, Verlust von Leib und Leben.

Sling also macht neben den reinen Gerichtsberichten, den Erzählungen von Schuld und Sühne, den Gerichtssaal in vielen seinen Artikeln auch zu einem Podium der politischen Diskussion: Wenn er Richter portraitiert, wenn er ein System analysiert, das vor allem auf Zucht und Ordnung setzt, wenn er die Pressefreiheit verteidigt, dann tritt er nicht nur für die freie Presse ein, sondern auch für ein demokratisches System, das freilich – noch erschüttert von den Folgen des 1. Weltkrieges und bereits überschattet von der kommenden Diktatur – auf tönernen Füßen steht. Seine Zeilen zur Rolle der Presse haben bis heute ihre Gültigkeit:

„Zweifellos: Wie überall, so gibt es auch in der Gerichtsberichterstattung Mißbräuche und Auswüchse. Man darf aber hoffen, daß die ihrer Verantwortung bewußte Presse immer die maß- und richtunggebende sein wird. Erst gestern klagte im Gerichtssaal der frühere Herausgeber eines Skandalblattes: „Meine Zeitung ist eingegangen, weil das Publikum so was nicht mehr will.“ Ein Bravo dem Publikum!
Kritik braucht auch die Presse. Zwangs- und Gewaltmaßnahmen lehnt sie ab. Ihre Erziehung hat sie in eigene Regie übernommen.“

Wer mutigen, kritischen Journalismus lesen will, der greife zu den Reportagen Slings. Die „Berichte aus dem Gerichtssaal“ hat Axel von Ernst nun für den Lilienfeld Verlag neu herausgegeben. Interessanter Lesestoff nicht nur für jene, die am Genre selbst ihren Gefallen haben. Vielmehr liefert Sling eindrucksvolle, sprachlich stilistisch herausragende Miniaturen, Portraits seiner Zeit – lebendig werden die Vertreter des Proletariats in der Weimarer Republik mit ihren Nöten, die oft genug in die Kriminalität führen, als auch Biedermänner auf Abwegen, Regierungsräte vor dem Kadi, schnippige Filmdiven wie Olga Tschechowa, kleine Ladenmädchen und schmierige Zuhälter mit wenigen, treffenden Worten gezeichnet. Eine Epoche in ihrer ganzen Zerrissenheit wird dabei lebendig, oft genug erzählen die Reportagen von Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, von den Folgen des 1. Weltkrieges und der Wirtschaftskrise. Sling sieht nicht nur den Verbrecher – er sucht und forscht nach den Motiven. Da schreibt nicht nur der rasende Reporter, da schreibt vor allem auch ein Humanist.

Vor allem ist es die Sprache Slings, die gefangen nimmt und die heute so im Journalismus leider kaum mehr zu finden ist. Einige Kostproben:

„Auf den Korridoren des Kriminalgerichts strömt nicht gerade Lebenslust. Armselig, grau, zerknittert von der Sorge des Tages stehen und sitzen die Wartenden herum. Kleider, Wäsche, Gesichter sprechen von der bittersten Entbehrung. Aber diese Menschen hungern nicht bloß. Sie sind auch noch beleidigt. Indessen könnte man vielleicht auch sagen: Das Beleidigtsein ist ihr letzter Luxus.“

„Der junge Mann, der sich vor den Geschworenen wegen vorsätzlicher Brandstiftung verteidigen muß, hat ein merkwürdig charaktervolles Gesicht. Sein glattes Haar, etwas üppig nach Art dilettierender Kunstaspiranten, umschließt eine sehr weiße Stirn, von den dichten, schwarzen Brauen geht eine sehr gerade Nase zu dem festgeschlossenen, schmallippigen Mund. Blickt man ihm gerade ins Gesicht, so sieht man sehr tiefliegende, große, helle Augen, die im Verein mit dem stark zurückweichenden Oberkiefer diesem 21jährigen Menschen etwas sonderbar Eulenhaftes geben. Hinter der Anklageschranke wirkt er wie ein Käuzchen, das mit der denkbar größten seelischen Reserve seine Gefangenheit trägt.“

Wer war dieser Sling?

Auf der Seite des Lilienfeld Verlags (hier ein Link zur Verlagsseite mit Leseprobe) findet sich folgendes zum Autor:

Paul Felix Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, wurde erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt berühmt. Nach einer Kaufmannslehre studierte er, gehörte dann in München der Künstlerboheme an und trat bei den „Elf Scharfrichtern“, dem ersten politischen Kabarett Deutschlands, auf. Musikkritiken von ihm erschienen in der „Schaubühne“ (ab 1918 „Die Weltbühne“), literarische Texte u. a. im „Simplicissimus“. Er wurde Korrespondent für den Ullstein Verlag und arbeitete 1911/12 in Paris, im Krieg ab 1915 in der Schweiz. 1920 berief ihn Ullstein in die Redaktion der „Vossischen Zeitung“, wo er sich unter dem Kürzel „Sling“ neu erfand und dann vor allem als Gerichtsreporter berühmt, beliebt und zu einem der einflußreichsten Publizisten der Zeit wurde. Daneben erschienen Romane und Kinderbücher und die erfolgreiche Komödie „Der dreimal tote Peter“ (uraufgeführt 1927 mit Therese Giehse und Heinz Rühmann). Sein früher Tod durch Herzversagen 1928 führte zu einer Welle der Anteilnahme.

Sling, so Herausgeber Axel von Ernst, war also einer der prominentesten Journalisten der zwanziger Jahre, dessen beliebtesten Texte aus dem Feuilleton schon zu Lebzeiten auch in Buchform herauskamen: „Das Sling-Buch“, Berlin, 1924. Seine Gerichtsberichte erschienen verstreut in mehreren Sammlungen, zuletzt 1989 in Ost-Berlin. Der Lilienfeld Verlag fasst sie nun in „Der Mensch, der schiesst“ komplett zusammen – von den kleinen Fällen bis hin zu den großen Mordprozessen und einem eigenen Kapitel über den Prozess um Arthur Schnitzlers „Reigen“.
Abgerundet wird das Buch durch das Nachwort eines „Nachfahren“ Slings: Hans Holzhaider, Gerichtsberichterstatter der Süddeutschen Zeitung, würdigt den Journalisten Paul Felix Schlesinger, der diese Genre in Deutschland prägte:

„Da war ein neuer Ton im Umgang der Presse mit der Justiz. Der Journalist Sling trat den Juristen als Ebenbürtiger entgegen, als einer, der sich durchaus in der Lage sieht, das, was im Gerichtssaal geschieht, kompetent zu beschreiben und eben auch zu kommentieren. Die Herren in ihren schwarzen Roben und mit dem Barett auf dem Kopf – Frauen waren damals in diesem Berufsstand so gut wie nicht vertreten – mochten ihre Examina haben, ihr Strafgesetzbuch und ihre Strafprozeßordnung, aber für das, worum es eigentlich im Strafprozeß geht, die großen und kleinen Dramen, Tragödien und manchmal auch Tragikomödien im menschlichen Zusammenleben – dafür fühlte sich Paul Schlesinger mindestens so sachverständig wie die Richter und die Staatsanwälte im Kriminalgericht in Moabit. (…).
Er wußte: Das, was im Gerichtssaal zu beobachten ist, ist das Leben schlechthin, pralles, dramatisches, dürftiges, armseliges Leben.
Das ist es, was Sling heraushebt, was ihn zu einem modernen Autor macht. Er erkennt, dass die sogenannte Objektivität, die man dem Journalisten immer abverlangt, eine Fiktion ist.“

Das pralle, dramatische, dürftige, armselige Leben – es ist zu erlesen in den Reportagen Slings:
„Der Mensch, der schiesst“, Sling, Lilienfeld Verlag, 400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband, ISBN 978-3-940357-27-4.

Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen (1930/2014).

„Man kommt zu gar nichts mehr. Ich denk jetzt so oft an den Tod. Quatsch. Doch, ich denk oft an den Tod. Das kommt von der Verdauung. Nein, das kommt nicht von der Verdauung. Man wird älter. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet…Nu, für sie ist ja ausgesorgt, so weit bin ich schon, Gottseidank. Wenn ich tot bin, wern sie erst erkennen, was sie an mir gehabt haben. Man wird viel zu wenig anerkannt, im Leben. Hinterher ist zu spät. Hinterher wern sie weinen. Damals, beim alten Leppschitzer warn ja enorm viele Leute. So viel kommen bei mir mindestens auch…“

Kurt Tucholsky, “Herr Wendriner kann nicht einschlafen”, 30. März 1926, “Die Weltbühne”

Der Herr, der hier nicht einschlafen kann, ist der Herr Wendriner. Ein Geschäftsmann und Familienvater im besten Alter, der Spießbürger par excellence. Und wenn Herr Wendriner uff Jedanken kommt, dann wird es ein wenig schräg. So führt Schlaflosigkeit zu solchenen Lebens- resp. Todesweisheiten.

„Schrecklich, wenn man nicht einschlafen kann. Wenn man nicht einschlafen kann, ist man ganz allein. Ich bin nicht gern allein. Ich muss Leute um mich haben, Bewegung, Familie, Arbeit…Wenn ich mit mir allein bin, dann ist da keiner. Und dann bin ich ganz allein. Hinten juckts mich. Ich kenn das. Jetzt wer ich gleich einschlafen. Schlafen…Na, denn gut`n –„

Zwischen 1922 und 1930 erscheinen die Wendriner-Texte aus der Feder Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“. Gesellschaftskritische Kurzgeschichten, Monologe, in denen einer vor sich hinschwadroniert und dabei unbewusst in seine kleine Seele blicken lässt. Nach außen hin braver Familienvater, versucht sich auch der Wendriner mal an einer Geliebten und guckt selbst im klassischen Theater den Schauspielerinnen lieber auf die Beine als ins Textbuch. Zumeist schwadroniert er übers Geschäft und – wenig fachkundig – über Politik: Politik ist letztlich das, was das Geschäft nicht stört. So sind ihm die Sozis ein Gräuel, die Bewegungen am rechten Rand notiert er in einer Mischung zwischen Furcht und Bewunderung – Bewunderung für deren „Ordnungssinn“.

Der Wendriner kam schon bei Erscheinen nicht durchwegs gut an. Zu spitz, zu satirisch und Tucholskys Wort - „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel“ – bewies sich einmal mehr. Aber auch nach Tucholskys Tod und nach dem Ende des Nationalsozialismus war lange Zeit eine unvoreingenommene Rezeption der Geschichten schwierig: Denn Herrn Wendriner ist ein deutscher Jude. Tucholsky wurde der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Dabei, so arbeitete auch sein Biograf Rolf Hosfeld heraus (nur zu empfehlen: „Tucholsky – Ein deutsches Leben“, Rolf Hosfeld), war es vor allem die Abscheu vor dem Spießertum, die den Schriftsteller und Satiriker antrieb. Aus einem Interview der Jüdischen Allgemeinen mit Rolf Hosfeld:

Zu denen, die versagt hatten, zählte für Tucholsky auch die deutsche Judenheit. Kurz vor seinem Tod 1935 hat er einen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Da liest man: »Der Jude ist feige. Er duckt sich.« Tucholsky hatte offenbar einen ziemlichen Abscheu vor den deutschen Juden.

Nicht unbedingt vor den deutschen Juden. Aber vor einem bestimmten Typus des jüdischen Spießers, ja. Herr Wendriner zum Beispiel, ja. Tucholsky hatte eine enorme Abneigung gegen den damals verbreiteten Typus des deutschnationalen Juden. Etwa, wenn Herr Wendriner den SA-Mann vor seinem Geschäft hofiert. Bei Wendriner spielen aber noch andere Aspekte hinein. In seinem ungeordneten Weltbild hat er auch sympathische Züge. Die Wendriner-Geschichten sollten übrigens als Buch erscheinen. Tucholsky unterhielt sich mit Edith Jacobson darüber, wer sie illustrieren könnte. George Grosz wollte Tucholsky nicht, der war ihm zu karikaturenhaft; andere vorgeschlagene Zeichner waren ihm zu antisemitisch.

Das Interview in voller Länge, in dem es um Tucholskys Haltung zum Judentum geht, findet sich hier: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/12535.

Für das geplante Buchprojekt war auch Tucholskys Freund Georg Grosz als Karikaturist im Gespräch. Tucho lehnte ihn als zu verspielt ab. Dennoch: “Der Kapitalist” scheint Wendrinerische Züge zu haben.

Bereits Edith Jacobsohn, die Frau des Weltbühnen-Herausgebers Siegfried Jacobsohn, plante in ihrem Verlag eine Wendriner-Ausgabe. Zustande kam sie schließlich nicht, selbst ihr waren manche Texte zu scharf. 1927 erschienen dann die bis dahin in der Weltbühne gedruckten Texte bei Rowohlt, in dem Sammelband „Mit 5 PS“. Nicht darunter ist selbstverständlich der interessanteste der Wendriner-Texte, weil erst 1930 entstanden: „Herr Wendriner steht unter Diktatur“. Geradezu hellsichtig skizziert Tucholsky das Heraufziehen einer neuen Gesellschaftsordnung mit Herrenmenschen und lässt seinen literarischen Wendehals bei einem Kinobesuch den Salto zur Unterordnung machen – auch Wendriner ist einer jener, die zu jener Zeit noch glauben, als „Schutzbürger“ und mit der rechten Gesinnung geschähe ihnen nichts.

Der Verlag vbb – verlag für berlin-brandenburg hat nun in einem schmalen Bändchen die Wendriner-Texte neu herausgegeben. Ergänzt durch eine weibliche Stimme: Mit den „Lottchen“-Geschichten lässt Tucholsky eine für diese Zeit typische freche Frauenstimme, emanzipiert, witzig und schlagfertig, zu Wort kommen. “Lottchen” war im eigentlichen Leben Lisa Matthias, eine alleinerziehende Journalistin, die Tucholsky 1927 kennenlernte. Ihr widmete er „Schloß Gripsholm“.

Abgerundet wird das Buch durch den Briefwechsel Tucholskys mit Edith Jacobsohn zu ihrem geplanten Buchprojekt, der in dem Bändchen erstmals veröffentlicht wird. Allein schon diese briefschriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beiden ist von hohem Amüsemang und macht das Buch zu einer kleinen Petitesse:

„Lieber dicker Tucho, was is mit Wendrinern, nuuh?“, fleht die Verlegerin namens Franziska Damenbart, und der Tucho antwortet dem „geliebten Weib“, der Wendriner werde schon mit besonderer Sorgfalt verarztet werden.

„Herr Wendriner und das Lottchen“, Kurt Tucholsky, vbb, 2014, 96 Seiten, Halbleinen, Format: 12,5 x 20,5 cm, ISBN: 978-3-945256-01-5.

Zur Verlagsseite:
http://www.verlagberlinbrandenburg.de/Gesamtverzeichnis/Kulturgeschichte/Herr-Wendriner-und-das-Lottchen.html

 

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929).

September_Augsburg 021“Es ist eine dumme Fabel, daß Hotelstubenmädchen durch die Schlüssellöcher schauen. Hotelstubenmädchen haben gar kein Interesse an den Leuten, die hinter Schlüssellöchern wohnen. Hotelstubenmädchen haben viel zu tun und sind angestrengt und müde und alle ein wenig resigniert, und sie sind vollauf beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten. Kein Mensch kümmert sich um den anderen Menschen im großen Hotel, jeder ist mit sich allein in diesem großen Kaff, das Doktor Otternschlag nicht so übel mit dem Leben im allgemeinen in Vergleich stellte. Jeder wohnt hinter Doppeltüren und hat nur sein Spiegelbild im Ankleidespiegel zum Gefährten oder seinen Schatten an der Wand. In den Gängen streifen sie aneinander, in der Halle grüßt man sich, manchmal kommt ein kurzes Gespräch zustande, aus den leeren Worten dieser Zeit kümmerlich zusammengebraut. Ein Blick, der auffliegt, gelangt nicht bis zu den Augen, er bleibt an den Kleidern hängen. Vielleicht kommt es vor, daß ein Tanz im gelben Pavillon zwei Körper nähert. Vielleicht schleicht nachts jemand aus seinem Zimmer in ein anderes. Das ist alles. Dahinter liegt eine abgrundtiefe Einsamkeit.”

Vicki Baum, „Menschen im Hotel“, 1929

Vicki Baum musste es wissen, was Hotelstubenmädchen tun: Die Autorin, zeitlebens für ihre Diszipliniertheit bekannt, arbeitete selbst wochenlang in einem Hotel, um für ihren Roman zu recherchieren. Die Mühe machte sich bezahlt: Mit “Menschen im Hotel“ (der Untertitel „Ein Kolportageroman mit Hintergründen“ wurde in den Nachkriegsauflagen unterschlagen) erreichte die gebürtige Österreicherin endgültig ihren literarischen Zenit.

Der Erfolg kam mit Ansage: Baum, die damals beim größten europäischen Verlag, Ullstein, als Redakteurin für mehrere Zeitungen schrieb, hatte bereits im Jahr zuvor mit dem Roman „stud. Chem. Helene Willfüer“ einen Bestseller gelandet. Das Buch im Stil der neuen Sachlichkeit stieß vor allem beim weiblichen Lesepublikum auf Interesse: Erzählt wird von einer jungen Studentin, die ungewollt schwanger wird und sich vergeblich um eine Abtreibung bemüht. Alleinerziehend macht sie dann dennoch beruflich ihren Weg und findet zudem ihr privates Glück. Die Mischung aus Melodram, Unterhaltung und leiser Gesellschaftskritik traf voll auf das Zeitgefühl der Weimarer Republik, vor allem die jungen, modernen Frauen fanden sich in den Büchern Baums wieder. Nach dem ersten Erfolg puschte der Ullstein Verlag die 1888 in Wien geborene Autorin – zu „Menschen im Hotel“ gab es eine richtiggehende Marketingkampagne, in der auch die Schriftstellerin selbst in den Vordergrund gerückt wurde. „Home stories“ und Anzeigen mit dem Gesicht einer Autorin: Das war noch relativ neu.

Endgültig trat das Buch seinen Siegeszug an, als es nicht nur als Theaterstück auf die Berliner Bühnen kam, sondern auch nach London und an den Broadway – Vicki Baum reiste 1931 zur Theaterpremiere nach New York und blieb für volle sieben Monate, auch, um die Filmrechte unter Dach und Fach zu bringen und ein Drehbuch für Hollywood zu verfassen. Durch die Verfilmung von „Grand Hotel“ mit Greta Garbo in der Hauptrolle wurde der Roman endgültig unsterblich. Ein Ruhm, von dem Vicki Baum, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln 1932 endgültig in die USA übergesiedelt war, ein Leben lang zehren sollte: Denn obwohl weiterhin ungeheuer kreativ und produktiv, konnte sie diesen „Coup“ nicht wiederholen.

Doch an Publicity und Verfilmung allein liegt es nicht, dass „Menschen im Hotel“ auch heute noch lesenswert und ein durchaus bemerkenswertes Buch ist. In ihren 1962 postum erschienenen Memoiren (Vicki Baum verstarb 1960 in Los Angeles) Es war alles ganz anders“ schreibt sie über sich leicht selbstironisch und nicht ohne Bitterkeit als “erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte”. Denn obwohl ungeheuer populär und durchaus auch von Kollegen wie Alfred Döblin und den Geschwistern Erika und Klaus Mann anerkannt, blieb Vicki Baum mit einem Stigma behaftet, das es insbesondere in der deutschen Literatur gibt: Dem der „Trivialität“. Anders als in den englischsprachigen Ländern wird hierzulande nach wie vor streng unterschieden – und Unterhaltungsliteratur kann per se nicht literarisch qualitätsvoll sein, vice versa ist „richtige“ Literatur alles, aber bloß nicht unterhaltend!

Dabei traf „Menschen im Hotel“ nicht nur den Nerv der Zeit, sondern kann auch – neben „Berlin Alexanderplatz“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/04/berlin-alexanderplatz-asphaltdschungel-beschritten-von-alfred-doblin/), das im selben Jahr erschien – als einer der großen Berlin-Romane und als ein Dokument des Zeitgefühls der Weimarer Republik bezeichnet werden. Manche Szene zwischen Lebensgier und Niedergang: Sie könnte auch heute spielen, ist zeitlos modern.

Da pulsiert die Großstadt, die Hektik, die Jagd nach Vergnügen und Geld, das Chaos, die Turbulenz, dies alles hat Vicki Baum mit raschen Szenenwechseln, Beschreibungen im Stakkato und atemlosen, schwindelerregenden Passagen – so eine Fahrt über die Avus – perfekt eingefangen:

„Gaigern hatte die Finger voller Ungeduld, sie prickelte wie Kohlensäure zwischen seinen Händen und dem Steuer. An den Straßenkreuzungen hingen rote, grüne, gelbe Lampen, standen Schupoleute und drohten ihm halb lachend mit dem Arm. Menschenscharen bei Straßenecken, vorbei an Obstwagen, Plakatwänden und ängstlichen alten Damen, die zur falschen Zeit über den Fahrdamm trippelten, schwarz und langröckig mitten im März. Die Sonne war feucht und gelb auf dem Asphalt. Wenn ein schwerfälliges Autobustier den Weg verlegte, dann schrie der kleine Viersitzer mit zwei Hupen: wie ein Gebell von gereizten Hunden klang es. (…)

Kringelein starrte Berlin an, das zu Streifen gezerrt an dem Wagen vorüberrannte.“

Während es in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ jedoch keine Hoffnung für den Franz Biberkopf und seine Mitstreiter gibt, wo Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Verelendung in expressionistisches Grau münden, erzählt Baum eher konventionell, wenn auch durchaus neusachlich, aber eben mit einem Hang zum Melodram. Dennoch: Später wurden lediglich die sentimentalen Töne des Romans hervorgehoben, der ironisch-distanzierte Blick, den Baum wirft auf die Zeitläufte, auf die Politik, aber auch auf ihre Figuren, die bestimmte „Typen“ vertreten, wurden von der Kritik nicht mehr wahrgenommen.

Da ist die alternde Primaballerina, die verzweifelt versucht, ihre Jugendlichkeit zu bewahren (eine durchaus moderne Figur), der Gentlemandieb Freiherr von Gaigern (ein Vorläufer des Felix Krull), der Spießer Preysing, der über seine eigene Gier und Unfähigkeit stolpert, der gutherzige, aber von den Verhältnissen geknechtete Hilfsbuchhalter Kringelein und schließlich „Flämmchen“, eine typische Frauenfigur der neuen Sachlichkeit, wie sie auch im kunstseidenen Mädchen von Irmgard Keun oder bei Lili Grün (Portrait hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/02/21/judische-lyrikerinnen-im-portrait-7-lili-grun-neusachlich-und-lebenslustig/)beschrieben wird: Die Stenotypistin, das Ladenmädchen, das sein Glück machen will, gutherzig, aber von einem erotischen Pragmatismus geleitet:

„Sie hatte eine umfangreiche Bilanz zu machen. Der Verzicht auf das angefangene Abenteuer mit dem hübschen Baron stand darin, Preysings schwerfällige fünfzig Jahre, sein Fett, seine Kurzatmigkeit. Kleine Schulden da und dort. Bedarf an neuer Wäsche, hübsche Schuhe – die blauen gingen nicht mehr lange. Das kleine Kapital, das notwendig war, um eine Karriere zu beginnen, beim Film, bei der Revue, irgendwo. Flämmchen überschlug sauber und ohne Sentimentalität die Chancen des Geschäftes, das ihr geboten wurde.“

Der Roman konzentriert die Handlung auf vier Tage und vier Nächte – und schon bald sind Glanz und Glamour, die die Oberfläche im luxuriösen Hotel prägen, durchschaut, kommen die materiellen und die psychischen Nöte zum Vorschein. Insbesondere repräsentiert durch Doktor Otternschlag, dem gezeichneten Kriegsteilnehmer, der einsam Tag für Tag in der Lobby auf Post und menschliche Zuwendung wartet:

Gaigern empfand verwundert, daß dieser blödsinnige Doktor Otternschlag eine Art von Haß gegen ihn zu haben schien. „Das mag Geschmackssache sein“, sagte er leichthin. „Ich habe es nicht so eilig. Mir gefällt das Leben nun einmal. Ich finde es großartig.“

„So. Großartig finden Sie es? Sie waren doch auch im Krieg. Und dann sind Sie heimgekommen, und dann finden Sie es großartig? Ja, Mensch, wie existiert ihr denn alle? Habt ihr denn alle vergessen? Gut, gut, wir wollen nicht davon sprechen, wie es draußen war, wir wissen es ja alle. Aber wie denn? Wie könnt ihr denn zurückkommen von dort und noch sagen: Das Leben gefällt mir? Wo ist es denn, euer Leben? Ich habe es gesucht, ich habe es nicht gefunden. Manchmal denke ich mir: Ich bin schon tot, eine Granate hat mir den Kopf weggerissen, und ich sitze als Leiche, verschüttet die ganze Zeit im Unterstand von Rouge-Croix. Da habense den Eindruck, wahr und wahrhaftig, den mir das Leben macht, seit ich von draußen zurückgekommen bin.“

Ein literarischer Verdienst von Vicki Baum ist es zudem, dass sie die sogenannte „group novel“ gesellschaftsfähig machte: „Menschen im Hotel“ ist einer der ersten „Gruppenromane“ der Unterhaltungsliteratur, in dem eben nicht eine oder zwei Hauptfiguren im Vordergrund stehen, sondern Menschen wie Schauspieler auf einer Drehbühne aufeinandertreffen, deren Wege sich kreuzen, deren Schicksal miteinander zunächst lose verknüpft und dann enger verwebt werden. So wurde „Menschen im Hotel“ auch zu einer Vorlage, die bis heute im TV gerne aufgegriffen wird – seien es Arztserien oder ähnliche „soaps“, sie haben ihre literarische Wurzel hier.

Die Figuren in „Menschen im Hotel“ sind Prototypen, das Privatschicksal, so schrieb der Literaturkritiker Werner Fuld, wird zum Massenartikel, zum Klischee, zur Kolportage. Dass der Kolportageroman jedoch auch Hintergründe (nochmals ein Hinweis auf den ursprünglichen Untertitel) zu bieten hat, das liegt an der eigentlichen „Hauptfigur“ des Roman: Das Hotel, das ähnlich wie bei Joseph Roths „Hotel Savoy“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/07/03/joseph-roth-hotel-savoy-das-hotel-als-sinnbild-einerr-zerfallenden-epoche/) die Rolle des Katalysators spielt, das der Schauplatz ist, an dem sich aus den Figurenschemen langsam Menschen mit ihren Nöten und Ängsten herausschälen. Diese Nöte hängen eng mit den Verhältnissen einer Gesellschaft am Abgrund zusammen. Ein Hotel, in dem Getriebene und Herrenmenschen aufeinander treffen:

„Was hier in diesem Hotelzimmer aus ihm hervorbrach, war alles in allem die Klage des zarten und erfolglosen Menschen gegen den andern, der einfach und mit etwas Brutalität seinen Weg macht, eine wahre, aber ungerechte und höchst lächerliche Klage…“

Nicht zuletzt führte neben ihrer jüdischen Herkunft auch dieser kritische Blick auf die Zeit, der von den „Trivialitäts-Kritikern“ oftmals unterschlagen wird, mit dazu, dass die Bücher von Vicki Baum von den Nazis auf den Index gesetzt, die Schriftstellerin selbst als „Asphaltliteratin“ bezeichnet wurde und sie schließlich mit ihrer Familie den Weg in das Exil nahm.

Georg Fink: Mich hungert (1929).

„Unterernährung - das war der Trumpf, den die Gesellschaft ausspielte. Nicht gegen den Krieg, aber gegen die Feinde. O, Krieg ist Krieg. Macht dem Krieg ein Ende, und es gibt keine Feinde! Die Ursache wolltet ihr bestehen lassen, und ihr empörtet euch moralisch über ihre Folgen. Unterernährung - Wir kannten sie von jeher. Man hat Kinder photographiert, skelettierte Säuglinge an den leeren Brüsten ihrer Mütter. Auf einmal sah man sie! Warum? Jetzt konnte man sie zur Propaganda gebrauchen! Jetzt bediente man sich ihres Elends, ihres Jammers, um das Mitleid der Welt - für sie? nein! für sich! - zu gewinnen. Aber leere Brüste, verhungerte Säuglinge hatte es schon vorher, schon immer gegeben! Da sah sie niemand, denn sonst hätte man selbst helfen müssen. Plötzlich wurde das Proletariat entdeckt, sein abgehärmtes Gesicht, seine verkrüppelten Knochen, sein leerer Topf…“

„Mich hungert“, Georg Fink (Kurt Münzer), Erstausgabe 1929, 2014 im Metrolit Verlag wieder erschienen.

Berliner Kinder um 1900. Quelle: Metrolit Verlag

Als am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten die Bücher missliebiger Autoren verbrannt wurden, war auch ein Roman darunter, der vier Jahre zuvor als ein literarisches Ereignis (neben „Im Westen nichts Neues“ und „Berlin Alexanderplatz“, ebenfalls 1929 erschienen) gefeiert worden war: „Mich hungert“ von dem bis dato völlig unbekannten Autoren Georg Fink. Das Buch, angeblich die Autobiographie eines Proletarierkindes im Vorkriegs-Berlin, verkaufte sich sensationell, wurde von Thomas Mann und Ernst Weiß gelobt und in 13 Sprachen übersetzt. Mit den Flammen 1933 verschwand auch der Roman aus dem Bewusstsein – verbrannt und vergessen. Doch jetzt wurde das Buch wiederentdeckt - dank des Metrolit Verlag, der es im Frühjahr 2014 wieder aufgelegt hat.

Dass solche Bücher dem Vergessen entrissen werden, ist eine wichtige und löbliche Tat an sich. Doch allein sein Schicksal macht ein Buch nicht zu großer Literatur, zu einem großen Roman - den literarischen Stil zu überhöhen, diese Beurteilung mag einigen Rezensenten in der Freude der Wiederentdeckung aus der Feder geflossen sein. Denn Georg Finks halbdokumentarischer Roman hinterließ bei mir stark gemischte Gefühle. So eindrucksvoll und eindrücklich diese Schilderung einer Kindheit in Armut vor und nach dem 1. Weltkrieg ist, so nackt und nüchtern die Situation des städtischen Proletariats im Berlin in den Jahren nach 1900 gezeichnet wird, so stilistisch schwer erträglich sind etliche Passagen, in denen der angebliche Ich-Erzähler melodramatisch, eigentlich weinerlich und schwülstig über sein eigenes Schicksal, die Liebe zu seiner Mutter schreibt oder allgemein-philosophisch wird. Als Schilderung seiner Zeit, als authentische Darstellung der Verelendung der Großstadtbevölkerung ist dieses Buch ein wichtiges Dokument. Literarisch bleiben Fragezeichen offen.

Fragezeichen warfen im Erscheinungsjahr auch die Auskünfte über den angeblichen Autoren Georg Fink auf. Der renommierte Autor Kurt Münzer hatte das Manuskript dem Cassirer Verlag empfohlen, stellte sich später als Mentor des jungen Schriftstellers dar und schrieb selbst beinahe hymnisch anmutende Besprechungen über das Buch. Erst im Schweizer Exil gestand Kurt Münzer ein, dass es sich um eine anfängliche Selbstinszenierung, die ihre Eigendynamik entwickelt hatte, gehandelt habe. Jetzt - 2014 - ist das nur noch eine zusätzliche Anekdote zum Buch. Und trotz der angesprochenen Mängel: Wer sich mit deutscher Geschichte beschäftigt, insbesondere mit Sozialgeschichte, wer Interesse an der Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg hat und Einblick erhalten will in deutsche Umstände nach 1918, für den kann dieser Roman eine aufschlussreiche Quelle sein. Denn ganz unbekannt waren dem Autoren Münzer/Fink die dargestellten Milieus sicher nicht.

Finks Roman erzählt von der Nachkriegs- und Inflationszeit am Beispiel einer Familie in Berlin-Mitte, die durch die Alkoholexzesse des Vaters mehr und mehr verelendet. Georg König, die jugendliche Hauptfigur, wird schon als Kind zum Betteln gezwungen, die Schwester zur Prostitution herangezogen, ein weiterer Bruder wird kriminell. Nur Georg, der diese Entwicklung aus der Rückschau erzählt, kann aufgrund seiner schulischen Begabung und durch die Förderung eines Fabrikanten dem Leben auf der Straße entkommen.

- In geradezu apokalyptischer Befriedigung wird der Zusammenbruch von Gesellschaft und Moral entworfen. Doch alles das vergeht über dem Zusammenbruch der überarbeiteten Mutter. “So habe ich den Krieg erlebt, und alle seine Schrecken versanken vor Mutters erstem Wehlaut.” Nicht zuletzt diese mit Remarque geteilte wehe Weichheit sehnsüchtiger Muttersymbiose mag es gewesen sein, die den Erfolg von Finks Roman ausmachte. Hier teilten sich indes auch die Wege der literarischen Kriegsverarbeitung. Solch klagendes Weh, das ein Gutteil der damaligen Literatur über das Elend der betrogenen Jugend durchzieht, war den anderen ein Gräuel. -
so Erhard Schütz in einer Besprechung in der „Zeit“.

Man urteile selbst - zwei Textpassagen, die aufzeigen, wie sehr Münzer/Fink zwischen kritisch-anteilnehmender Bestandsaufnahme und elegischem Ton schwankt:

„Die Armen hatten es gut. Ihre Männer fielen: umso besser: es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen. Und in unsern Häusern, wo dreißig und fünfzig Parteien in Höfen, Seitenflügeln, Quergebäuden, Kellern und den leer gewordenen Ställen lebten, gab es viel Aufschrein, Schluchzen nachts, Ausbrüche von Jammer und Geheul, wenn die Kinder die letzte Verlustliste brachten, wenn die Postbotin mit bebendem Mund ein Päckchen abgab…“

„So begann der Krieg. Vier Jahre floß Blut aus der Menschheit. Ich begriff so wenig. Aber doch sah ich den Sonnenschein auf der Erde liegen, starrte in den silbernen Mond, in die Sterne. O, wie gelassen, wie beseligt, wie schön alles im All - und auf Erden!…Ich sah in den Mond, mit Ehrfurcht und Entsetzen: es focht ihn nicht an. Bedeutete das so wenig? Waren wir ein Nichts? Unser Leben nur ein Traum der unausgekühlten Erde, ein Spiel ihres Feuers?“

Zum Verlag und den Angaben zum Buch geht es hier.

 

Bertolt Brecht und der Film: Keine einfache Geschichte

Bertolt Brecht war zwar vom Medium Film fasziniert, hatte aber damit kein Glück. BB und der Film – das war weniger episches Theater, sondern ein Drama ohne Ende.

Dabei fing alles so gut an: Bereits 1923 arbeitet Brecht, damals 25 Jahre alt, mit dem Regisseur Erich Engel und mit Karl Valentin zusammen. Die „Mysterien eines Frisiersalons“ erinnern streckenweise an den Surrealismus im „andalusischen Hund“ von Luis Buñuel, sind aber auch komisch, humoristisch und ein wenig chaotisch. Der Film galt lange als verschollen, wurde jedoch in den 70erJahren wiederentdeckt und restauriert.

1930 machte sich Georg Wilhelm Pabst an die Verfilmung der Dreigroschenoper. Brecht, zunächst noch aktiv mit dabei, zerwirft sich mit Regisseur und Produktionsfirma, will den Film, auch vor dem Hintergrund des aufdämmernden Nationalsozialismus, mit eindeutigerem politischen Inhalt versehen. Die Streitigkeiten führen zum sogenannten Dreigroschenprozeß. Brecht schrieb unter dem Titel „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“ eine Analyse des Rechtsstreits, die er zusammen mit dem Filmexposé und dem Text der „Dreigroschenoper“ veröffentlichte.

1931 ist BB jedoch wieder bereit für das Medium Film – er arbeitet am Drehbuch von „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?“ mit. Der 1932 erschienene Streifen von Slatan Dudow ist benannt nach dem Zeltplatz Kuhle Wampe in Berlin am Müggelsee, einer der vielen Originalschauplätze, an denen gedreht wurde. Geschildert wird das Schicksal einer Arbeiterfamilie und eines jungen Pärchens, dessen Verbindung angesichts der ausweglosen Massenarbeitslosigkeit ohne Zukunft erscheint. Der Film hat – auch durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit „echten“ Arbeitslosen neben erfahrenen Schauspielern – streckenweise dokumentarischen Charakter, zeichnet ein realistisches Bild der Verelendung in der Weimarer Republik. Kuhle Wampe war der einzige eindeutig kommunistische Film dieser Zeit – bis hin zu Arbeitern, die das Lieder der „Solidarität“ singen – und wurde nicht nur unter großen Schwierigkeiten gedreht, sondern prompt auch von der Zensur verboten. Nach Protesten wird der Film mit einigen Änderungen freigegeben, Brecht macht dem Zensor das ironische Kompliment, dieser zumindest habe den Film wirklich verstanden - nicht als Darstellung eines individuellen Schicksals, sondern als offene Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen: „Der Inhalt und die Absicht des Films geht am besten aus der Aufführung der Gründe hervor, aus denen die Zensur ihn verboten hat.“

Dann die Zeit des Exils. Letztlich verschlägt es Brecht, wie viele andere Autoren, nach Hollywood. Wie andere ist er gezwungen, dort zu antichambrieren und arbeitet für den Broterwerb an Drehbüchern für die Traumfabrik mit. Seine Erfahrungen in dieser Zeit (siehe auch den Beitrag über Brecht im Exil) hat er in den bitteren Hollywood-Elegien verarbeitet:

1943 jedoch hat Brecht die Chance, an einem ambitionierten Filmprojekt mitzuwirken – unter der Regie von Fritz Lang, ebenfalls einem Exilanten, entsteht „Hangmen also die“ – „Auch Henker sterben“. Die beiden Künstler kannten und schätzten sich bereits in den Tagen der Berliner Zeit. Als Brechts Lage im schwedischen Exil angespannt wird, sorgte Lang, der in Hollywood schnell Fuß gefasst hatte und seine Karriere fortsetzen konnte, mit dem European Film Fund dafür, dass Brecht, Weigel, sowie die beiden Kinder und Ruth Berlau Visa für die USA bekamen, 1941 traf die Familie in Los Angeles ein.

Der Film „Auch Henker sterben“ erzählt bereits ein Jahr nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Prag 1942 eine spannende Geschichte aus dem tschechischen Widerstand und der Fahndung der Gestapo nach dem Attentäter. Doch schon während der Dreharbeiten kommt es zwischen Lang und Brecht zu Differenzen. Der cholerische Lang tobt gegenüber Brecht und dem ebenfalls linksgerichteten Co-Autoren John Wexley, er „scheiße auf Volksszenen“, er wolle ein Hollywoodpicture machen. Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung – Brecht sollte wesentlich weniger als Wexley erhalten -, Kürzungen im Skript, charakterliche Unverträglichkeiten taten ihr weiteres. Die Zusammenarbeit wurde zum Desaster und gipfelte in einer Anhörung vor der „Screen Writer`s Guild“, weil Wexley als der eigentliche Autor genannt werden wollte, Brecht jedoch nur unter ferner liefen aufgeführt wurde. Die Schiedsstelle entschied zugunsten des Amerikaners. Brecht legte danach die Arbeit am Film nieder, begegnete auch Fritz Lang nicht mehr.

Doch was übrig bleibt: Zum einen überstand auch diese Episode die Freundschaft zwischen Brecht und Hanns Eisler, der als Komponist auch an den früheren Filmen mitgearbeitet hatte. Und vor allem: „Hangmen also die“ ist, wenn auch viele der Ideen und Vorstellungen Brechts nicht verwirklicht werden konnten, eines der wichtigsten Filmwerke geworden, das noch während des Nationalsozialismus eindeutig Stellung gegenüber der deutschen Tyrannei bezog.

Lang setzte dem verlorenen Freund BB später noch ein cineastisches Andenken, so der Filmwissenschaftler Peter Ellenbruch:

„Im Gegensatz zu Brecht, der ein Gegner Langs geblieben sein soll, hat sich Lang immer wieder positiv zu Brecht geäußert, ihn als einen wichtigen Autor geschätzt und sich von seinem Werk inspirieren lassen. So baute er 1963 eine Brecht-Hommage in LES MEPRIS von Jean-Luc Godard ein – in welchem er sich selbst spielte – und die Buchstaben „BB“ stehen innerhalb des Films plötzlich nicht mehr für die Hauptdarstellerin Brigitte Bardot, sondern einen Moment lang für Bert Brecht.“

Zum Weiterlesen: Bert Brecht und der Film bei der Defa-Stiftung.

 

Upton Sinclair: Der Dschungel (1906).

„Bis vor ein oder zwei Jahren waren auf den Schlachthöfen auch Pferde geschlachtet worden, angeblich zur Herstellung von Düngemitteln; aber nach langer Agitation hatte die Presse der Öffentlichkeit klarmachen können, dass die Pferde in die Fleischkonserven wanderten. Jetzt war es daher gesetzlich verboten, in Packingtown Pferde zu schlachten, und dieses Gesetz wurde sogar befolgt – jedenfalls vorläufig.“

Upton Sinclair, „Der Dschungel“, 1906, Neuauflage beim europa verlag zürich 2013.

Nichts Neues unter der Sonne also: Pferdefleisch im Fertigfutter. Upton Sinclair (1878-1968) landete 1906 mit seinem Debütroman “Der Dschungel” einen literarischen und politischen Sensationserfolg. Der Enthüllungsjournalist hatte über Wochen hinweg in den Schlachthöfen Chicagos recherchiert. Sein Buch schildert schonungslos die menschenverachtenden Arbeitsmechanismen der Lebensmittelindustrie am Beispiel einer litauischen Familie, die daran zerbricht.

Gnadenloser Kapitalismus

Die Folgen eines gnadenlosen, nur auf Gewinn ausgerichteten Kapitalismus: Monopolisierung, Schieberei, Korruption, Zwangsprostitution, Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung. Das ganze Spektrum in einem Roman. Zurück bleibt nach der Lektüre Empörung, Mitgefühl und ein leichter Ekel vor Fertigprodukten.

Nestbeschmutzer

Sinclair wurde im Nachgang zum „muckraker“, sprich Netzbeschmutzer, deklassiert – man könnte das „muckraking“ fast schon als spezifische Stilart der nordamerikanischen Literatur bezeichnen: Auch John Steinbeck, Theodore Dreiser, John Reed und Dos Passos gehören mit zu dieser Klasse engagierter, linker, journalistisch geprägter Literaten.

Trotz der Diffamierungsversuche blieb das Buch nicht ohne Folgen: „Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei“ (Jack London) führte immerhin zu neuen Lebensmittelgesetzen. Sinclair war jedoch enttäuscht, dass die amerikanischen Bürger mehr an der Qualität der Konserve als am Schicksal der Arbeiter interessiert waren. „Ich zielte mit meinem Roman auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf nur ihren Magen“, beklagte er sich später….oder wie Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“

Einer der meistgelesenen Autoren in der Weimarer Republik

Sinclairs Werke wurden in zahllose Sprachen übersetzt und gingen um die Welt. In der Weimarer Republik war er einer der meistgelesenen Autoren. Derzeit erlebt er wieder eine Renaissance – der Manesse Verlag brachte nun „Öl!“ auf den Markt, der europa verlag zürich den Dschungel. Warum heute noch „muckrakers“ lesen? Stilistisch und literarisch gehören sie eher nicht zur ersten Garde – Sinclairs Dschungel ist stark dort, wo er die Auswirkungen der Massenausbeutung auf einen seiner Protagonisten schildert. Das Buch ist aber auch streckenweise etwas belehrend, detailversessen und in den letzten beiden Kapiteln leicht mühsam: Die sozialistische „Erweckungspredigt“ mit fast schon biblischen Zügen wirkt etwas verstaubt.
Und vor allem: Die darin enthaltenen Appelle zum Bau einer besseren Welt, die formulierten Utopien - sie führen, 100 Jahre nach Erscheinen des Buches, zu einem desillusionierten Schulterzucken: Noch immer werden Wanderarbeiter ausgebeutet, noch immer ist Produktion vor allem auf den größtmöglichen Profit ausgerichtet, und - heruntergebrochen auf die Lebensmittelindustrie - noch immer finden sich in unseren Fleischkonserven Dinge, die dort nicht hineingehören. Pferdefleisch in der Lasagne.

TRIO 11: Die dämonischen Städte in der Menschheitsdämmerung

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts schossen die großen Städte in die Höhe, in die Weite, in die Breite. Die Menschen drängten in die Metropolen. So wurde die Stadt auch zum einem wichtigen literarischen Thema. Zwischen Fortschrittsglaube und Skepsis, zwischen dem Blick auf das düsterne „Dickicht der Städte“ wie bei Brecht und der faszinierenden Ausstrahlung der „goldenen Zwanziger“ erhoben sich verschiedenen Stimmen. Nicht nur im Roman – siehe hier die Besprechung zu Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ – wurde der Rhythmus der Stadt nachgezeichnet. Auch die Lyrik stimmte ein Orchester der Großstadttöne zwischen Dur und Moll an. Die Großstadt wird zwar bereits vor der Jahrhundertwende bedichtet. Doch erst mit Einzug neuer literarischer Formen – Expressionismus, später Neue Sachlichkeit – wird der Gesang auf die Großstadt zerrissener, widersprüchlicher, skeptischer, eindrucksvoller. Bereits 1903 erschien eine erste deutsche Anthologie mit Großstadtgedichten. 1910 dann die Anthologie „Im steinernen Meer“. Der Titel so vieldeutig wie viele der darin enthaltenen Werke. 1920 versammeln sich in „Menschheitsdämmerung“ die wichtigsten expressionistischen Stimmen zur Großstadtdichtung.

Städter

Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken … wird Gegröle …

Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Alfred Wolfenstein

Alfred Wolfenstein (1883 in Halle geboren, verstorben 1945 in Paris) veröffentlichte dieses Gedicht 1914. Wolfenstein, der 1914 seine ersten Gedichtbände in die Öffentlichkeit bringen konnte, fand als einer der wichtigsten Vertreter des Expressionismus mit mehreren Werken Eingang in die “Menschheitsdämmerung”.

Ludwig Meidner, Apokalyptische Stadt, 1913.

Der Gott der Stadt

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
die grossen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkle seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

Georg Heym

Heym, sein Leben lang Berliner, zeichnete in diesem Gedicht 1910 eine gnadenlose apokalyptische Stadtlandschaft, der Gott der Stadt ein Dämon, der voller Wut und Zorn Vernichtung bringt, die Stadt ein dämonischer Gottesdienst: Der Schlot der Fabriken wird zum Weihrauch, die Fleischerfaust statt eines Segenszeichens. Wie viele seiner Zeit empfand Heym die Gegenwart als finster, wie andere visionierte er gar von einer reinigenden Kraft des Krieges.

Ernst Ludwig Kirchner, Nollendorfplatz, 1912

Fabrikstraße Tags

Nicht als Mauern. Ohne Gras und Glas
zieht die Straße den gescheckten Gurt
der Fassaden. Keine Bahnspur surrt.
Immer glänzt das Pflaster wassernass.

Streift ein Mensch dich, trifft sein Blick dich kalt
bis ins Mark; die harten Schritte haun
Feuer aus dem turmhoch steinen Zaun,
noch sein kurzer Atem wolkt geballt.

Keine Zuchthauszelle klemmt
so ins Eis das Denken wie dies Gehn
zwischen Mauern, die nur sich besehn.

Trägst Du Purpur oder Büßerhemd -
immer drückt mit riesigem Gewicht
Gottes Bannfluch: uhrenlose Schicht.

Paul Zech

Warum dieses 1911 entstandene Gedicht in die “Menschheitsdämmerung” Eingang fand, erklärt sich aus dem Text. Paul Zech (1881-1946) vereint die Themen der Anonymität der Großstadt und die Folgen der Industrialisierung in diesen wenigen Zeilen. Der Expressionist mit dem abenteuerlichen Lebenslauf wurde später vor allem mit den Übertragungen der Villon-Balladen bekannt.

Eberhard Viegener, Häuser in Soest, 1925.

Zum Ausklang noch etwas Leichtigkeit in der Großstadtlyrik, wenn auch nicht frei von Melancholie. 1913 wurde dieses wunderbare Gedicht veröffentlicht, fand aber keinen Eingang in die “Menschheitsdämmerung”. Eigentlich handelt es weniger von der Stadt, sondern von den Menschen, von den eng verbundenen Menschen. Die man zum richtigen Zeitpunkt verlassen muss, um sie in freundlicher Erinnerung zu behalten, um dem Niedergang, der in Städten und Beziehungen kommen könnte, vorher zu entgehen. Das Fest verlassen, wenn es am schönsten ist: Diese Haltung wird auch verständlich durch Klabunds Schicksal – er wußte, dass er nicht lange leben würde, die Tuberkulose, mit der er sich in seiner Jugend angesteckt hatte, war das Damoklesschwert, das über ihm schwebte. Klabund starb im Alter von 37 Jahren.

Man soll in keiner Stadt

Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein halbes Jahr.
Wenn man weiß, wie sie wurde und war,
Wenn man die Männer hat weinen sehen
Und die Frauen lachen,
Soll man von dannen gehen,
Neue Städte zu bewachen.

Läßt man Freunde und Geliebte zurück,
Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück.
Meine Lippen singen zuweilen
Lieder, die ich in ihr gelernt,
Meine Sohlen eilen
Unter einem Himmel, der sie auch besternt.

Klabund

Ernst Ludwig Kirchner: Leipziger Straße (1914)

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (7): Lili Grün (1904-1942)

Geliebter Freund (Auszug)

„Zum Schluß meinst du, ich soll dir Antwort schreiben,
Natürlich nur in dein Geschäft,
Denn deine junge Frau, sie könnte drunter leiden,
Und wenn sie meinen Brief erwischt,
Dann ging`s Dir schlecht.

Geliebter Freund, ich hab` dir nichts zu sagen;
Denn du bist fremd und fern und alles ist vorbei.
Ich hab` dich sehr geliebt…Es ist vorüber,
Ich sprech` nicht gern davon…Kurz:
Schwamm darüber!

Es ist so eine typische Stimme der 1920er und 30er Jahre, die aus diesen Gedichten zu uns spricht: Ein bisschen schnodderig, ein bisschen frech, ein wenig melancholisch, ein wenig bitter-süß. Man meint, den Sound der Weimarer Republik im Ohr zu haben, wenn man Lili Grün liest. Und nicht zu Unrecht wird sie als Vertreterin der Neuen Sachlichkeit mit Irmgard Keun, Erich Kästner und Kurt Tucholsky verglichen.

Bild: Österreichische Nationalbibliothek

Nur: Wo Keun, Kästner und der Teobald Tiger heute noch ein Begriff sind, geriet Lili Grün in Vergessenheit. Wieder einmal in dieser Reihe über jüdische Lyrikerinnen die Geschichte einer mehrfachen Vernichtung - Lili Grün wurde von den Nazis deportiert und am Tag ihrer Ankunft im weißrussischen Lager Maly Trostinec ermordet. Und: „Vermutlich wurde Lili Grüns letzte Habe jedoch spätestens mit ihrer Deportation aus Wien 1942 vernichtet“, bedauert Anke Heimberg, die jetzt die Werke von Lili Grün, soweit noch erhalten, wieder herausgibt. Ihr und dem AvivA Verlag in Berlin ist es zu verdanken, dass die Schriftstellerin zumindest wieder über ihre Bücher in ihrer ganzen Lebenskraft erwacht. Mein Dank gilt an dieser Stelle zudem der Bücherliebhaberin Vera vom Blog Glasperlenspiel13, die mich auf Lili Grün aufmerksam gemacht hat.

Neben zwei Romanen - „Alles ist Jazz“ und „Zum Theater!“ - sind nun in dem Band „Mädchenhimmel!“ die Gedichte und Kurzgeschichten Lili Grüns zusammengetragen worden. Es entsteht ein Bild vor meinen Augen von einer jungen, temperamentvollen Frau, die die Fesseln überkommener alter Ver- und Gebote abstreifen will, die den „Notschrei einer allzu Braven“ ausstößt:

„Ach, ich geh` mir selber auf die Nerven,
Weil ich gar so artig bin,
Und voll untentwegter Pflichterfüllung
Steck` ich stets in meiner Arbeit drin.“

und deshalb aufbricht zu neuen Ufern am „Mädchenhimmel!“ und hinterher eine freches Lied singen darf:

Elegie bei einer Tasse Mokka (Auszug)

“Mein letzter Freund war ein Jurist.
Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.
Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,
Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich nervös.
Darum wünsch` ich mir zum nächsten Verehrer
Beispielsweise einen Volksschullehrer.“

MŠdchenhimmel_CoverAll den blonden und zarten Stenotypistinnen, Verkäuferinnen und Bürofräuleins, die Lili Grün in ihren Gedichten verewigt und von deren Rendezvous nach Ladenschluss erzählt, haben  eines gemeinsam: Sie schwanken zwischen Lebenslust und Liebesleid, träumen vom Geldbriefträger, der die Millionen bringt und feinen Kleidern mit Dekolleté, gehen flüchtige Affären ein und sind doch vor allem auf der Suche nach der großen Liebe - auch wenn sie  die „Uralte Liebesmelodie“ singen, wohl wissend, dass alles seine Zeit und sein Ende hat.

„Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung“, die Liebe, sie ist manchmal ein „Kurzer Zwischenfall“, das Leben auch einmal ein „Langweiliger Tag“. Schon die Gedichttitel bringen das Zeitgefühl der 1920er zum Ausdruck: Eine Lebensgier und eine skeptische Sehnsucht, als ahnte man zugleich, dass die Zeiten nicht besser werden.

Lili, eigentlich Elisabeth, wurde 1904 als Jüngste der vier Kinder von Hermann und Regine Grün in Wien geboren. Ihr Mutter verlor sie früh, bereits 1915 - ein Verlust, der sie prägte, zumal wenige Jahre später, 1922, auch der Vater starb - er hatte sich an der Front ein chronisches Nierenleiden zugezogen. Das Theater wurde ihr Flucht- und Bezugspunkt, sie strebt eine Karriere als Schauspielerin an, es zieht sie - auch bedingt durch die Arbeitslosigkeit in Wien - nach Berlin. Anke Heimberg schreibt im Nachwort zu „Mädchenhimmel!“:

„Doch in der glitzernden Kulturmetropole Berlin wuchs mit der wirtschaftlichen Depression und den damit einhergehenden Spaßmaßnahmen beim Film und beim Theater die Zahl der ein Engagement suchenden KünstlerInnen ebenfalls kontinuierlich. (…). Wiederholt berichteten Berliner Zeitungen über die zunehmende Verelendung unter den SchauspielerInnen, deren Situation durch mangelhafte Ernährung, armselige Kleidung, äußerst bescheidene Wohnverhältnisse und chronische Erkrankungen, wie die weit verbreitete Armenkrankheit Tuberkulose, gekennzeichnet war.“

Dass in den goldenen Zwanzigern für die meisten wenig Gold auf der Straße lag, auch das blitzt bei aller Leichtigkeit in und zwischen den Zeilen immer wieder durch:

Einzelhaftpsychose (Auszug)

„Ich weiß nicht mehr, wie meine Stimme klingt,
Ich glaub`, ich habe seit Tagen nicht gesprochen.
Ob man sich etwas aus der Zeitung liest?
»In Neukölln hat einer seine Frau erstochen - - «
Ach nein, es ist schon besser, wenn man etwas singt.“

Statt großer Bühne findet Lili Grün jedoch Kontakt zum Kabarett, dort zum Brücke-Kollektiv um Julian Arendt, zu dem auch Erwin Straus, Margarethe Voß, Ernst Busch, Hanns Eisler und Erik Ode (Der Kommissar) gehörten. Lili Grün trägt eigene Gedichte vor - und findet auch Anklang bei den Presseleuten. Im Film-Kurier: »Lilly grün trägt Erotik, sehr persönlich und sehr belustigend«, in der Vossischen Zeitung lobt man ihre  »witzig-sentimentalen Gedichte«. Lili Grün, die damit beginnen kann, ihre Gedichte und Geschichten in renommierten Zeitungen zu veröffentlichen, leidet jedoch an Tuberkulose. Ihrer Gesundheit wegen kehrt sie 1933 nach Wien zurück - sowohl für sie ein persönliches, als auch ein politisches Schicksalsjahr. Denn sie kann zwar ihren ersten Roman veröffentlichen, doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Berlin ist der Weg für die Autorin - Jüdin, linksorientiert, in Handeln und Denken so gar nicht dem Bild vom deutschen Mädel entsprechend - schon vorgezeichnet. Verarmt und chronisch lungenkrank gelingt es ihr nicht, aus Österreich zu fliehen. 1942 wird sie mit dem Transport Nr. 23 aus Wien deportiert.

Eine weitere Stimme zum Schweigen gebracht, ein Leben gekappt, Sehnsüchte, die unerfüllt zurückbleiben:

Ich möchte wieder achtzehn Jahre sein…(Auszug)

„Ich möchte wiederum ein Tagebuch,
In das ich täglich niederschreibe,
Was leider nicht geschehen ist,
Und das ich in der stillen Hoffnung führe,
Daß es vielleicht doch einmal einer liest.“

Ein Tagebuch oder andere biographische Zeugnisse konnte Lili Grün, wie ihre Herausgeberin schreibt, wohl nicht mehr hinterlassen, sind nicht mehr aufzufinden. Aber zumindest können ihre Bücher nun wieder gelesen werden.

Mädchenhimmel! von Lili Grün,
AvivA Verlag, 18,00 EUR,192 Seiten, ISBN 978-3-932338-58-8,
erschienen im Februar 2014

Bereits erschienene Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko – ein Herbstleben
Hedwig Lachmann – die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger – Blütenlese
Ilana Shmueli – die Stimme aus dem Exil
Rose Ausländer - die ungebrochene Rose
Ruth Klüger - die Unbestechliche

#Portrait. Erich Mühsam: Sich fügen heißt lügen!

Bild

Der Gefangene

Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!

Ich soll? Ich muß? - Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen bessre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann’s euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen - Tyrannei!
dann ruf ich’s in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!

Das Gedicht entstand im August 1919.

„Erich wie? Mühsam. Erich Mühsam. Tatsächlich wissen heute Viele mit dem Namen nichts mehr anzufangen. Auch in den Reihen der Buchhandlungen sucht man meist vergeblich nach ihm. Ein Symptom dafür, dass die kulturelle Erinnerungsarbeit außerhalb einiger kleiner linksintellektueller Kreise hier jahrzehntelang geschlafen hat. Oder - schlimmer Verdacht - gar schlafen wollte?“

So stand es 2003 in der „Zeit“ zu lesen, als zum 125. Geburtstag des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam zumindest die Stadt München diesem Menschen, der sich nicht brechen ließ, eine Ausstellung widmete. Zehn Jahre später könnte man dieses Zitat wohl unverändert übernehmen – Erich Mühsam wird, wenn überhaupt, von Vielen allenfalls als Revolutionär erinnert, noch lieber stürzt man sich in gelegentlichen Artikeln jedoch auf sein Leben als Kaffeehauslöwe, Bohemian und Frauenflüsterer.

Seine schriftstellerische Bandbreite, die Bemühungen und Ziele seines Lebens und politischen Wirkens: Der Ruch des alle Grundfesten erschütternden Anarchisten hängt ihm an. Wer weiß, was er zu den heutigen Zuständen einer scheinbar satten und saturierten Gesellschaft zu sagen gehabt hätte. Lässt man leichter die Finger davon. Die Auseinandersetzung mit Mühsam ist manchem zu mühsam – albernes Wortspiel, an dem ich trotzdem nicht vorbeikomme.

Wer war dieser Mann, der zeitlebens den aufrechten Gang übte?
Biographisches hier in aller Kürze:
1878 in Berlin geboren, Kind jüdischer Eltern (1926 trat er aus dem Judentum aus), aufgewachsen in Lübeck. Dort wird der sprachlich begabte Schüler, der früh schon eigene Texte schreibt, 1896 vom Gymnasium wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ verwiesen. Nach Lehr- und Wanderjahren ab 1909 in München. Hier gründete er die dem Sozialistischen Bund angehörenden Gruppen „Tat“ und „Anarchist.

1915 Heirat mit „Zenzl“, 1918 erstmals Festungshaft wegen politischer Betätigung, 1919 einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik, nach deren Niederschlagung erneut Festungshaft. Die Verurteilung lautete auf 15 Jahre, 1924 erfolgte die Amnestie. Mühsam geht zurück nach Berlin, nimmt seine politischen Tätigkeiten sofort wieder auf. Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird Mühsam verhaftet. Knapp anderthalb Jahre „Schutzhaft“ übersteht Mühsam, ohne von seinen politischen Überzeugungen einen Deut abzurücken. In der Nacht vom 9. auf 10. Juli 1934 wird er von SS-Leuten im KZ Oranienburg ermordet. Zu Tode geprügelt und dann aufgehängt, erzählen Überlebende der KZ-Haft später.

Seine Worte brennen heute noch:

„Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.

Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen.“

Aufsatz zur Anarchie, erschienen im Kain-Kalender 1912 – die von Erich Mühsam herausgegebene Zeitschrift „Kain“ mit dem Untertitel „Zeitschrift für Menschlichkeit“ erschien von 1911 bis 1919, allerdings nicht in den Kriegsjahren.

Weiterlesen zu Werk und Biographie lässt sich auf zwei Internetseiten, die sich intensiv mit Mühsam auseinandersetzen:

http://www.erich-muehsam-gesellschaft.de/ und hier: http://www.muehsam.de/.
(Auch Quelle der untenstehenden Texte und Illustrationen).

Die Tagebücher Erich Mühsams sind ebenfalls online lesbar – Zeitdokumente von hoher Bedeutung und Eindringlichkeit:

http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php

An dieser Stelle hier nur noch ein kleiner Streifzug durch die Werke des Schriftstellers. Ich will damit nicht nur seine unheimliche Produktivität aufzeigen, sondern auch die Vielfalt seines Könnens, das ebenfalls in Vergessenheit geraten ist.

Erinnernswert sind beispielsweise seine Schüttelreime:

„Man wollte sie zu zwanzig Dingen
in einem Haus in Danzig zwingen.“

Mühsam wird selten zitiert – vielleicht, weil er aufgrund seiner politischen Haltung nach wie vor nicht als zitierfähig gilt. Dabei schüttelte Mühsam neben (oder auch trotz) der zeitaufwändigen politischen Agitationsarbeit scheinbar mühelos noch zahlreiche humorvolle, satirische oder auch ganz liebevolle Texte aus dem Ärmel.

So das Kindergedicht „Der Faulpelz“:

Der Faulpelz

Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!
Tust du es nicht gerne,
Hilft’s dir dennoch nicht.

In der Schule morgen
Weißt du dir es Dank. -
Otto sitzt in Sorgen
Auf der Gartenbank.

Otto sitzt in Kummer
Unterm Lindenbaum;
Und er sinkt in Schlummer,
Weiß es selber kaum.

Fanny und Lenore
Treiben mit ihm Spaß,
Kitzeln ihn am Ohre
Mit dem Zittergras.

Otto’s Geist ist ferne,
Und er merkt es nicht; -
Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!

Bild

Eheleute, seid doch bloß vernünftig!
Liegt euch doch nicht dauernd in den Haaren!
Wenn’s nicht anders geht, dann mögt ihr künftig
lieber einen Hausfreund um euch scharen.
Eintracht! Ruhe! schreibt auf eure Fahne.
Das die Atmosphäre ihr entgiftet,
ruft die Götter an nach Ledas Schwane.
Dieser kennt die Kunst, die Frieden stiftet

Bild

Vermöchten wir’s, mit einem jeden
Geschöpf von Gott und Welt zu reden,
wir staunten wohl in Permanenz
ob manchen Tiers Intelligenz,
zum Beispiel, wieviel Intellekt
entwickeln könnt’ selbst ein Insekt.

Doch lassen lieber wir’s beim Alten.
Denn sollten wir ihm Vortrag halten,
wo bliebe da bei dem Insekt
Vor Menschenweisheit der Respekt?

Bild

So warb der Sportsmann Max sein Weib Marie:
“Willst du es mit mir wagen, meine Teure?
Begleite mich zur ewigen Kahnpartie:
Ich rudre dich durchs Leben, und du steure!”

Bilder: www.muehsam.de

Sein bekanntestes Gedicht ist jedoch wohl jenes:

Der Revoluzzer

War ein mal ein Revoluzzer
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: “Ich revolüzze!”
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus.
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: “Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehn,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! -
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!”

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (1): Mascha Kaléko (1907-1975)

Bild

Bild: Iris Jahnke

Herbstabend (Auszug)

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept (Auszug)

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

(…)
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

Bild

Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html

Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/

Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/