Karim Miské: Arab Jazz (2012). Fundamentalisten in Paris.

Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel).
Jedenfalls ist Miské, wie vor wenigen Tagen in der Süddeutschen zu lesen war, nun ein begehrter Interviewpartner: Hat er doch mit dem 2012 veröffentlichten, inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Krimi, quasi die Pariser Geschehnisse der vergangenen Wochen vorweggenommen. So schreibt Axel Hücke im SZ-Feuilleton (20.2.2015/”Hättet ihr uns mal gefragt”):

“Es spielt unter islamistischen Muslimen, ultraorthodoxen Juden, rechtsradikalen Polizisten und Zeugen Jehovas. Und es spielt im 19. Arrondissement von Paris und damit zufälligerweise in genau den Straßen, in denen Saïd und Chérif Kouachi aufgewachsen sind. In denen sie 1992 ihre tote Mutter in der gemeinsamen Wohnung entdeckten; sie hatte sich umgebracht, als sie zum sechsten Mal schwanger geworden war. Die Straßen, in denen ultraorthodoxe  Juden und radikale Islamisten Tür an Tür wohnen. Die Straßen, durch die die Kouachis nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo flohen. Auch der Hassprediger Farid Benyettou, der die Brüder 2005 vom Dschihad überzeugte, kommt unter anderem Namen in „Arab Jazz“ vor. Bei unserem Treffen wird Miské sagen, der Prozess gegen die Brüder und ihren „Mentor“ 2008 habe das Buch stark geprägt, ihn habe beeindruckt, wie es diesem Benyettou gelungen ist, seinen blanken Hass religiös zu verkleiden.”

Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen. Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit - da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy  zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein - so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:

“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen - fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”

Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien - egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird - zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.

Die Bilder zeigen das französische Cover und das der englischen Ausgabe, die nun erst erschien. Auch das deutsche Coverbild ist irgendwie…naja.

Beitrag: CM

James Joyce und Gertrude Stein: Eine herzhafte Abneigung.

„Wenn man zweimal die Rede auf Joyce brachte, wurde man nicht wieder eingeladen. Es war, als ob man einem General gegenüber einen anderen General lobend erwähnte. Beim erstenmal, wenn man den Fehler machte, lernte man, es nicht wieder zu tun. Man konnte jedoch immer einen General erwähnen, den der General, mit dem Mann sprach, besiegt hatte.“

Ernest Hemingway, „Paris - ein Fest fürs Leben“

Tatsächlich lebten Gertrude Stein und James Joyce beide lange in Paris, vermieden jedoch den Kontakt. Joyce kam 1920 in die französische Hauptstadt, auf Einladung von Ezra Pound, der wie Hemingway und Sherwood Anderson zum Stein`schen Kreis gehörte. 1940 flüchtete Joyce nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich nach Zürich.

Gertrude Stein kam 1903 nach Paris, wo sie ihren berühmten Salon begründete, der von jungen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen besucht wurde (nicht aber von Joyce). Auf sie wird der Begriff der „lost generation“ zurückgeführt. Sie starb 1943 in Paris.

In ihrer Autobiographie „Autobiographie von Alice B. Toklas“ erwähnt sie Joyce zweimal – aber nur ganz kurz. Ein Zitat daraus: „Picasso sagte einmal, als er und Gertrude Stein sich miteinander unterhielten, ja, Braque und James Joyce, sie sind die Unverständlichen die jeder verstehen kann.“ Auch Picasso durfte wiederkommen.

Stein äußerte sich in Interviews und privat noch mehrfach über das nicht konkurrenzlose Verhältnis: “Joyce is good. He is a good writer. People like him because he is incomprehensible and anybody can`t  understand him. But who came first, Gertrude Stein or James Joyce? Do not forget that my first great book, Three Lives, was published in 1908. That was long before Ulysses. But Joyce has done something. His influence, however, is local. Like Synge, another Irish writer, he has had his day.”

Joyce kommentierte dies so: “I hate intellectual women.”

TRIO 16: Buchhandlungen. Paris, London, New York. Und die lieben Kleinen.

Eine häufig von mir frequentierte Buchhandlung hat einen schrecklichen Fliesenboden. Selbst in der „gemütlichen“ Leseecke. Zwei der Verkäuferinnen latschen da bevorzugt mit Flip-Flops. Grausames Geräusch. Flip Flops sind Fussballtröten mit Fußschweiß - beides in Sommer- und WM-Zeiten Geräusche, die mich beim Lesen stören. Und das ertrage ich gar nicht. Quietschende Nervtöter in den heiligen Tempeln der Literatur. Innerlich habe ich den Buchhändlerinnen schon mehrfach gekündigt. Wegen Literaturkannibalismus. Dennoch: Amazon flipt-flopt zwar nicht, nervt aber noch mehr. beispielsweise durch immer neue Schlagzeilen im fragwürdigen Umgang mit Belegschaft, Verlagen und auch Endkunden. Erfreulicherweise kommen von letzteren immer mehr an die Basis zurück - den Einzelhandel. Und da kann man auch mal akustische Ausfallerscheinungen in Kauf nehmen, wenn man dafür sieht, wieviel mehr an Beratung, Wissen, Fachkompetenz und auch Leidenschaft für das Medium Buch der Händler vor Ort mitbringt.

Zudem gibt es in Augsburg noch Auswahl an weiteren, kleinen feinen Buchhandlungen ohne Fliesenboden: Empfohlen sei hier an erster Stelle die Buchhandlung am Obstmarkt - der Buchhändler, ein literarisches Urgestein, Brechtkenner, Herausgeber der Keuner-Hefte, Veranstalter literarischer Großereignisse in der Fuggerstadt.

Seit 1719 (!!!) gibt es die Schlosser`sche Buchhandlung - klein, aber fein! Die Buchhändler sind nicht einfach “nur” Verkaufspersonal, sondern wandelnde Lexika. Und im 1. Stock findet man die schöne Auswahl von Zweitausendundeins.

Ebenfalls mit langer Tradition: Rieger&Kranzfelder, seit 1731 in Augsburg. Das Ambiente ist nicht von schlechten Eltern - ist die Buchhandlung doch in einem ehemaligen Fuggerhaus zu finden. Ein Blick auf die Fotogalerie lohnt sich.

Sophie Weigand, bekannt als Literaturbloggerin, widmet den “Kleinen” jetzt eine ganz eigene Internetpräsenz: Für Leserinnen und Leser eine tolle Fundgrube mit neuen Adressen, für Buchhändler eigentlich ein “Muss”, da mitzumachen: http://diekleinsten.wordpress.com/

Für all die tollen Buchhandlungen gibt es drei prominente Vorbilder, die sich auch in der Literatur niedergeschlagen haben - ich habe sie hier in den vergangenen Wochen vorgestellt.

Berühmt, famous, fabelhaft - “Shakespeare and Company” in Paris: http://saetzeundschaetze.com/2014/06/11/sylvia-beach-shakespeare-and-company-zum-110-bloomsday/
Sylvia Beach erzählt hier selbst, wie es tatsächlich war. Eine charmante Dame!

Amüsant, unterhaltsam, lehrreich - “84, Charing Cross Road” in London:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/05/helene-hanff-84-charing-cross-road-und-die-kunst-des-briefeschreibens/
Anthony Hopkins in der Rolle des schüchternen Antiquars zitiert in der Verfilmung des Buchwechsels Yeats:

Das Gedicht lässt sich hier nachlesen: http://saetzeundschaetze.com/2014/03/26/leisetreten/

Bücher, Kunst, soziales, politisches Engagement - “Sunwise Turn” in New York:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/25/madge-jenison-sunwise-turn-a-human-comedy-of-bookselling/

 

 

 

 

 

 

 

“Sunwise Turn, founded and operated by Mary Mowbray-Clarke and Madge Jenison, was located in midtown Manhattan from 1916 until it closed in 1927 was concurrent with Shay’s shop.  One of the first bookstores in the U.S. to be owned by women, Sunwise Turn sponsored lectures by Robert Frost, Theodore Dreiser, and Amy Lowell among others.  It was the first “gallery” to exhibit the work of the painter Charles Burchfield among other new artists of the time, which perhaps influenced the artistic tastes of their young intern named Peggy Guggenheim.”

Aus: http://www.newyorkboundbooks.com/2011/10/03/the-sunwise-turn-the-modern-bookshop/

Dieses Trio - ein kleiner literarischer Gruß an den Buchhandel vor Ort.
Ich muss dann los. Bücher kaufen.

Ernest Hemingway: Paris, ein Fest fürs Leben (1964).

„Paris hat kein Ende, und die Erinnerung eines jeden Menschen, der dort gelebt hat, ist von der jedes anderen verschieden. Wir kehrten immer wieder dorthin zurück, ganz gleich, wer wir waren oder wie es sich verändert hatte, oder unter welchen Schwierigkeiten oder mit welcher Mühelosigkeit man hingelangen konnte. Paris war es immer wert, und man bekam den Gegenwert für alles, was man hinbrachte. Aber so war das Paris unserer ersten Jahre, als wir sehr arm und sehr glücklich waren.“

Ernest Hemingway, „Paris - ein Fest fürs Leben“, Rowohlt Verlag.

Wenn es eine Hymne auf das Paris der 20er-Jahre, das Paris der amerikanischen Bohème zu dieser Zeit, auf das Leben, die Liebe und die Literatur gibt, dann ist es wohl dieses Buch: „Paris - ein Fest fürs Leben“. Ernest Hemingway beschreibt darin seine Pariser Jahre von 1921 bis 1926: Ein junger Schriftsteller mit dem eisernen Willen zum Erfolg, vom Ehrgeiz getrieben, vom Staunen überwältigt. Mit Hadley, seiner ersten Frau, und dem Baby Bumby lebt er arm, aber glücklich. Streunt durch die Stadt, auf der Suche nach gelebter Literatur - und stößt so auch auf „Shakespeare and Company“:

„Damals hatten wir kein Geld, um Bücher zu kaufen. Ich borgte mir Bücher aus der Leihbibliothek von Shakespeare and Company; das war die Bibliothek und der Buchladen von Sylvia Beach in der Ruhe de l`Odéon 12. Auf einer kalten, vom Sturm gepeitschten Straße war hier im Winter ein warmer, behaglicher Ort mit einem großen Ofen, mit Tischen und Regalen voller Bücher, mit Neuerscheinungen im Fenster und Fotografien berühmter Schriftsteller, sowohl toter wie lebender, an der Wand. (…)
Als ich zum ersten Mal den Buchladen betrat, war ich sehr schüchtern, und ich hatte nicht genügend Geld bei mir, um der Leihbibliothek beizutreten. Sie sagte mir, dass ich den Beitrag jederzeit, wenn ich Geld hätte, bezahlen könnte, und stellte mir eine Karte aus und sagte, ich könnte so viele Bücher mitnehmen, wie ich wollte.“

Hemingways Passfoto 1923

In den Erinnerungen, die zwar erst posthum veröffentlicht wurden, ist nachzuspüren, wie Hemingway zunächst mit beinah großen Augen im Salon der Gertrude Stein sitzt und das „spezielle“ Pariser Flair aufsaugt. „Endlich angekommen!“, scheint er den Lesern in den ersten Kapiteln zu erklären. Selbst die Probleme werden eher poetisch verbrämt:

„Aber Paris war eine sehr alte Stadt, und wir waren jung, und nichts war dort einfach, nicht einmal Armut noch plötzliches Geld, noch das Mondlicht, noch Recht und Unrecht, noch das Atmen von jemand, der neben einem im Mondlicht lag.“

Willi Winkler schrieb dazu in der Süddeutschen Zeitung:
„Vom Glück, vom reinen, kindlichen Glück handelt dieses Buch, und es teilt sich jedem Leser mit, der mit dem jungen Autor in einem noch nicht fashionablen Viertel aufwacht, wenn die Sonne die nassen Fassaden der Häuser trocknet.“

Hadley und Ernest anno 1922

Hemingway schwärmt von den Begegnungen, ist überwältigt, gibt seiner fast ehrwürdigen Bewunderung - vor allem für Joyce - ihren Raum. Nur nach und nach wandelt sich der Ton, kommt der spätere, ältere, großmäuligere „Hem“ durch. Beispielsweise in den Kapiteln zu seinem wohl engsten Schriftstellerfreund F. Scott Fitzgerald. Hemingway geht wenig gnädig mit dessen Ehefrau Zelda um, nimmt den Kumpel spürbar in Schutz.

„Damals kannte ich Zelda noch nicht, und deshalb wusste ich nicht, mit welchem Handicap er belastet war. Aber wir sollten es bald genug kennenlernen.“

„Zelda hatte einen furchtbaren Kater. Am vergangenen Abend waren sie in Montmartre gewesen und hatten sich gezankt, weil Scott sich nicht betrinken wollte. Er hatte beschlossen, so erzählte er mir, ernsthaft zu arbeiten und nicht zu trinken, und Zelda behandelte ihn, als ob er ein Störenfried und Spielverderber wäre.“

Jedoch - auch wenn bei Veröffentlichung des Paris-Buches Fitzgerald bereits lange verstorben war - manches erscheint wie ein posthumer kleiner Verrat an der Freundschaft, wie purer Klatsch, wenn auch auf literarischem Niveau. So die Episode „Eine Frage der Maße“, als Fitzgerald Hemingway in einer Bar gesteht, Zelda habe ihm seine körperliche Ausstattung vorgeworfen.

 „Komm raus, ins Büro“, sagte ich.
„Wo ist das Büro?“
„Das WC.“

Wir kamen zurück und setzten uns wieder an unseren Tisch.
„Du bist völlig in Ordnung“, sagte ich. „Du bist okay. Dir fehlt überhaupt nichts.“

Trotz solcher Aus- und Abschweifungen: „Paris, ein Fest fürs Leben“ ist ein must-read. Auch eine wichtige Quelle für all jene, die aus dem Blickwinkel eines der wichtigsten Autoren den literarischen Aufbruch in die Moderne miterfahren wollen.
„Dieses Buch ist nicht nur ein herausragendes literarisches Werk, sondern auch ein Schlüsseltext zur Kulturgeschichte der Moderne. Das legendäre Paris der zwanziger Jahre ist in dieser Prosa wie in klaren Bernstein gebannt. Und es ist ein grandioses Porträt des Künstlers als junger Mann.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Hemingway hatte seine Pariser Aufzeichnungen aus den 20er-Jahren bei einem späteren Aufenthalt im Pariser Ritz 1956 wiederentdeckt und begann mit den Überarbeitungen seiner handschriftlichen Notizen. Dies zog sich über mehrere Jahre bis zu seinem Suizid hin. Das Buch wurde letztendlich von seinem Literaturagenten und seiner vierten Ehefrau Mary noch vollständig editiert und 1964 veröffentlicht. Aus diesem Gesichtspunkt werden die Pariser Episoden auch zu den wehmütigen Erinnerungen eines älteren, kranken Mannes, an eine Zeit, als noch alles möglich schien:

„Ich habe dich gesehen, du Schöne, und jetzt gehörst du mir, auf wen du auch wartest und wenn ich dich nie wiedersiehe, dachte ich. Du gehörst mir und ganz Paris gehört mir, und ich gehöre diesem Notizbuch und diesem Bleistift.“

Ernest Hemingway mit seinem Sohn “Bumby”, 1924 in Paris. Quelle: Credit Line: Ernest Hemingway Collection. John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.
Link to the Ernest Hemingway Media Gallery

Hemingway, der trotz seiner Macho-Attitüde, dieser Jäger- und Kumpel-Fassade, wohl ein weicher, zerbrechlicher Mensch war, von ständigen Selbstzweifeln geplagt, gerade was sein Schreiben anbelangt, erzählt in diesem Buch noch aus der Perspektive eines literarischen „Frischlings“, der lernen und Erfahrungen sammeln will. Und vor allem einen Helden verehrt - seine erste schüchterne Frage an Sylvia Beach lautet denn auch:

 „Wann kommt Joyce her?“

Es dauert, bis er mit dem Schriftsteller, den er - wie so viele andere dieses Zirkels, siehe Sylvia Beach und Djuna Barnes, - vergöttert und verehrt, kennenlernt. Zunächst kann er ihn nur durch ein Fenster betrachten. Wie ein Kind, das sich am Süßwarenladen die Nase plattdrückt:

„Wir waren vom Gehen wieder hungrig, und Michaud war für uns ein aufregendes und ein teures Restaurant. Dort aß Joyce damals mit seiner Familie. Er und seine Frau an der Wand - Joyce hielt die Speisekarte in einer Hand in die Höhe und beäugte die Speisekarte durch seine dicken Brillengläser, Nora neben ihm, ein herzhafter, aber wählerischer Esser, Giorgio dünn, geziert, mit gestriegeltem Hinterkopf, Lucia mit schönem, lockigem Haar, ein noch nicht ganz erwachsenes Mädchen. Sie sprachen alle Italienisch.“

Trotz der Verehrung für Joyce - der Ire wird in dem Buch nur an wenigen Stellen erwähnt, während anderen literarischen Größen, denen Hemingway begegnet, ganze Kapitel und Absätze gewidmet sind: Gertrude Stein, Sherwood Anderson, Ezra Pound und Fitzgerald sowieso. Vielleicht - aber dies ist reine Spekulation - eine Art selbstschützende Schreibhemmung: Um den verehrten Literaturgott nicht durch die falschen Worte vom Sockel zu holen. Dabei haben Hemingway und Joyce durchaus ihre gemeinsamen Erlebnisse gehabt. In einer Anekdote heißt es, Joyce, ein „kleiner, dünner, unathletischer Mann“, habe sich, wenn er und sein Trinkkumpel Hemingway in eine Kneipenschlägerei gerieten, hinter „Hem“ versteckt. Um aus sicherer Position den Amerikaner anzufeuern: „Deal with him, Hemingway, deal with him!“.

Was zumindest gesichert ist: Beide, sowohl Hemingway als auch Joyce, hatten schwerwiegende Alkoholprobleme mit gesundheitlichen, psychischen wie physischen Folgen. Das Paris der 20er-Jahre war ein Fest fürs Leben. Der Preis dafür würde später bezahlt.

Djuna Barnes: Paris, Joyce, Paris (1922).

“Als ich eines Abends aus dieser Kirche kam, schaute ich ins Café Aux Deux Margots hinein und trank ein Glas Wein, während Joyce, James Joyce, der Autor des verbotenen Ulysses, über die Griechen sprach.
Ein ruhiger Mann, dieser Joyce, mit dem Hinterkopf eines afrikanischen Götzen, lang und flach. Dem Hinterkopf eines Mannes, der mit der vulgären Notwendigkeit geistigen Stauraums gebrochen hatte.“

“Joyce lebt in einer Art dem Zufall überlassener Zurückgezogenheit. Es freut ihn, wenn Freunde vorbeischauen, und angeblich geht er dann überall mit hin und trinkt, was sich bietet. Er hat einen Widerwillen gegen Kunstgespräche, und seine Freunde sind ganz gewöhnliche Menschen.
Sein Hauptthema ist die griechische Mythologie, und er wird niemals müde, darüber zu sprechen, was es mit dem Ursprung des namens Orion auf sich hat, ein Stück Aufklärung, das dem streng akademischen Geist höchst anstößig erschiene, denn er macht aus den Griechen `ungezogene Jungs´, und sorgt dafür, dass sie sich, über die Kluft hinweg, mit Rabelais die Hand schütteln.“

Djuna Barnes, „Paris, Joyce, Paris“, insel taschenbuch

Wenn Djuna Barnes (1892-1982) über Joyce in diesem schmalen Buch im Anschluss an das zweite Zitat noch schreibt: „Er gleitet von einem Thema zu nächsten, ohne eindeutige Unterteilungen vorzunehmen“, so ist darin vielleicht auch eine Selbstskizzierung enthalten. Abschweifend, assoziativ, mysteriös ihr Stil. Aber auch: Leichthändige, luftige Skizzen. Das alles sind diese drei Impressionen, dieses Trio kurzer Stücke über die Stadt, in der die amerikanische Schriftstellerin lange Jahre lebte. 1919 kam sie erstmals nach Paris - zuhause bereits eine anerkannte Journalistin, im Auftreten außergewöhnlich und extravagant. Sie blieb, trotz ihrer anfänglichen leichten Enttäuschung (oder enttäuschten Erwartungshaltung) bis 1940.

Paris, so möchte man meinen, war für die Bohémienne aus Greenwich Village, wie gemacht. Doch es ist durchaus nicht Liebe auf den ersten Blick. In „Vagaries Malicieuses“, dem ersten der im Taschenbuch versammelten Prosastücke, wird die Stadt an der Seine einem kritischen, ironisch-distanzierten Blick unterworfen:

„Ich antwortete ihm, der Blumenmarkt lasse mich vergleichsweise kalt. „Denn einmal“, sagte ich, „hatte ich einen Freund, dem ich Blumen schickte, und nun, da ich keine mehr schicken darf, gehören Blumen für mich zu den Dingen, über die ich besser nicht nachdenke“, und ich setzte hinzu, der Vogelmarkt löse in mir Empfindungen aus, denen ich nicht nachgeben könne. Ich hätte nämlich gern fünf zierliche Freundinnen, denen ich sie schicken könnte. Fünf kleine Mädchen, die mit geschlossenen Augen und geöffneten Händen in einer Reihe sitzen müssten, um fünf sich drängende Hänflinge in Empfang zu nehmen. (…)
Und was nun die Gemüsemärkt und Märkte angeht, wo Fisch und Leber und Hirne in Tümpeln ebenso kalten wie schönen Bluts liegen, über all diese Dinge mag ich überhaupt nicht nachdenken…“

Reisepass 1929

Leicht macht Djuna Barnes ihren Lesern den Zugang nicht. Abschweifende Gedanken, herumschweifende Sätze - erst nach und nach erschließt sich der Sinn, wird die Spöttelei in den maliziösen Launen, Einfällen (ihre Biographin Kyra Stromberg weißt im Nachwort des Buches darauf hin, dass Barnes auch aufgrund ihrer bleibend mangelhaften Beherrschung der französischen Sprache oftmals Mutter- und Gastsprache mischte wie in den „Vagaries Malicieuses“) zu einer versteckten Liebeserklärung an die Stadt Paris.

„Spötter behaupten, Djuna Barnes habe mit ihrem feingestochenen Stil, der bombastisch und theatralisch, aber auch kalt und messerscharf sein kann, keine Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und so weiter verfasst, sondern lauter erste Sätze. Wahr ist, dass viele ihrer Sätze so komplex sind, dass man ihre Bedeutung nicht beim ersten Lesen verstehen kann“, so Verena Auffermann in einem biographischen Aufsatz über die Barnes. Deren Pariser Jahre fallen in ihre größte Zeit - später wird sie, eine der bekanntesten „expatriates“, verarmt und vergessen in New York leben. Doch in den 20er Jahren ist sie Mitglied und Vorzeigefrau der amerikanischen Emigranten an der Seine.

Berenice Abbott - Portraits in Paris, 1920er Jahre. Quelle: http://blog.stylesight.com/vintage/berenice-abbott-at-paris-jeu-de-paume

„…in jenem wuseligen Paris, in dem James Joyce lebt, den Djuna Barnes verehrt wie niemanden sonst. Aber auch Ezra Pound, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald haben sich dort eingefunden. Sie haben alle ihre Rolle beim Aufbruch in die Moderne. Die Rolle der Frauen im Kreis der Intellektuellen und Künstler war weit mehr als die der Hebamme bei der Geburt des Modernism. 1922 verlegte Sylvia Beach, die in der Rue de l`Odéon ihre Buchhandlung betrieb, den Ulysses von James Joyce. Die Journalistin Janet Flanner schrieb ihre Letters from Paris, die im New Yorker erschienen. Berenice Abbott fotografierte das Pariser Leben, Gertrude Stein hielt Hof und arbeitete nachts an ihrer eigenen Moderne. Djuna Barnes war 1919 im Auftrag von „McCall`s Magazine nach Paris gekommen.“

Verena Auffermann über Djuna Barnes in „Leidenschaften - 99 Autorinnen der Weltliteratur“, btb Taschenbuch.

So war also Paris. Für Djuna Barnes aber - wie auch für die anderen der genannten Literaten, bis auf die Stein, die Joyce in herzlicher Abneigung verbunden war - war er das Epizentrum: Der Schöpfer des „Ulysses“. Eines der drei Prosastücke ist ausschließlich ihm gewidmet: „James Joyce“, ein Portrait, das 1922 wenige Wochen nach dem Erscheinen des Mammutwerkes in der „Vanity Fair“ erschien. Das erste Zusammentreffen, es wird geradezu mystifiziert:

„Und dann, eines Tages, kam ich nach Paris. Ich saß im Café Aux Deux Margots, das auf die kleine Kirche Saint-Germain-des-Prés hinausgeht, und sah, wie sich aus dem feuchten Nebel ein großer Mann löste, der, den Kopf leicht gehoben und abgewandt, dem Wind ein wohlgeordnetes Durcheinander von rotem und schwarzem Haar überließ, das sich an einem vorgereckten Kinn in einem schütteren Keil fortsetzte.“

James Joyce, gezeichnet von Djuna Barnes

Mit Worten Bilder schaffen, Szenen festhalten - das ist eine Qualität, die der amerikanische Journalismus hatte. Zumal sich Djuna Barnes sich auch nicht um journalistische - oder andere - Konventionen kümmerte, literarische Grenzen überschritt. das Portrait wird zu einer eindeutigen Ergebenheitserklärung:

„Man sagt ihm nach, er sehe gleichzeitig traurig und müde aus. Er sieht zwar traurig aus, und er sieht auch müde aus, doch ist das die Traurigkeit eines Mannes, der ein mittelalterliches Anrecht auf eine Betrübnis erwirkt hat, die ohne Zeit ist und ohne Ort; es ist die Müdigkeit eines Mannes, der sich aus freien Stücken der Schaffung einer Überfülle in der Beschränkung verschrieben hat.“

„Das ist ungefähr Joyce, und man fragt sich doch, ob Irland nicht endlich seinen Mann hervorgebracht hat.“

1941, schon in den USA, erinnert sich Djuna Barnes an ihr Paris, an ihrer Pariser Jahre. Ein wehmütiges „Klagelied auf das Linke Ufer“ entsteht. Erinnerungen an Menschen, Orte, vor allem aber an James Joyce:

„James Augustin Joyce (er war dank der geistigen Verwirrung eines Gemeindeschreibers in Rathgar Augusta getauft worden) wies einem Zeitalter den Ausgang.“

Durch den Tod, die Flucht vor den Nazis, durch einen Ozean getrennt von all jenen, die sie kannte und liebte, entfährt ihr in diesem Essay ein letzter Seufzer:

„Das Schreckliche ist ja nicht, dass all diese Dinge geschehen konnten, sondern, dass sie alle vorbei sind.“

Sylvia Beach: Shakespeare and Company (1962).

„Die Subskribenten in Paris wurden dank der nahezu täglich in der Presse veröffentlichten Bulletins auf dem Laufenden gehalten. Meine Freunde bei der Zeitung betrachteten den Ulysses – mit vollem Recht – als ein Ereignis von weltweiter Bedeutung, geradezu als ein sportliches Ereignis, und es erschien auch tatsächlich ein Artikel über Ulysses in dem englischen Blatt The Sporting Times, bekannt als The Pink `Un – aber da war das Buch selbst schon herausgekommen.“

Sylvia Beach, „Shakespeare and Company“, Suhrkamp Taschenbuch

Am 16. Juni ist zum 110. Male „Bloomsday“ – jener Tag, an dem Leopold Bloom im “Ulysses” anno 1904 durch Dublin streift. Nun, da sich dieser sagenhafte literarische Feiertag wieder nähert, ist es an der Zeit, auf eine Frau aufmerksam zu machen, die wesentlich zum Erfolg des „Ulysses“ beigetragen hat: Die Buchhändlerin Sylvia Beach. 1917 kommt die Amerikanerin, 1887 in Baltimore geboren, nach Paris – wie viele andere dieser Generation kommt sie, liebt sie, bleibt sie. Und verwirklicht ihren Traum, einen Buchladen zu gründen, eine amerikanische Buchhandlung mit Leihbücherei an der Seine. 1919 wird „Shakespeare and Company“ eröffnet und zu einem Treffpunkt der amerikanischen und französischen Literaturszene. Anekdote an Anekdote reiht sich in Sylvia Beachs 1956 erstmals erschienenen Erinnerungen „Shakespeare and Company“: Alles, was damals Rang und Namen hat, findet sich früher oder später in der Rue de l`Odéon ein oder wird zum Kunden: Ezra Pound, Sherwood Anderson, André Gide, Hemingway, Gertrude Stein, Scott F. Fitzgerald, Paul Valéry…

„Ich lebte zu weit von meinem Vaterland entfernt, um die Kämpfe unserer Schriftsteller um freie Ausdrucksmöglichkeit entsprechend verfolgen zu können, und als ich 1919 meine Buchhandlung eröffnete, ahnte ich nicht, dass sie von den Verboten ihren Nutzen haben würde. Ich glaube, diesen Verboten und der dadurch geschaffenen Atmosphäre verdankte ich viele meiner Kunden - alle jene Pilger der zwanziger Jahre, die über den Ozean kamen, sich in Paris niederließen und das linke Seineufer kolonisierten.“

Wer heute Buchhändler(in) wird, der weiß: Man braucht dazu Leidenschaft, Engagement, Wissen, Belesenheit und auch wirtschaftliches Geschick. Das alles - und noch viel mehr - hat Sylvia Beach in die Waagschale geworfen. Jede Zeile ihrer Erinnerungen an ihr Lebensprojekt spricht davon. Aber vor allem brachte sie eines mit: Ein großes Herz für ihre Kunden. Nicht wenige davon waren eben jene schwierige Spezies, die sich Schriftsteller nennt. Sylvia Beach scheint ihnen - vor allem den Autoren aus Übersee - eine Mischung aus bemutternder Freundin und intellektueller Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Da tischlert dann selbst Ezra Pound für die Einrichtung des Buchladens, André Gide organisiert Lesungen und Hemingway befreit die Rue de l`Odéon symbolisch von den Nazis. Und Sylvia Beach gibt viel zurück - die Buchhandlung wird für manchen zum zweiten Heim, geschickt vermittelt sie Kontakte, schlichtet Streit, glättet Eifersüchteleien - mit wechselndem Erfolg:

„Der letzte ängstliche Besucher, den ich zu Gertrude (gemeint ist Gertrude Stein) führte, war Ernest Hemingway. Er wollte seinen Streit mit ihr beilegen, fand aber nicht den Mut, allein zu ihr zu gehen. Ich billigte sein Vorhaben, redete ihm gut zu und versprach, ihn in die Rue Christine zu begleiten, wo Gertrude und Alice damals lebten. (…) Ein Zwist flammt leicht einmal zwischen Schriftstellern auf, aber ich habe festgestellt, dass er sich gelegentlich einfrisst wie ein Schmutzfleck.“

Die Stein, niemals einfach, lässt sich als eine der Wenigen nicht von der netten Buchhändlerin erweichen - als Sylvia Beach schließlich das Unternehmen ihres Lebens wagt und Verlegerin des „Ulysses“ wird, kündigt ihr die amerikanische Schriftstellerin Freund- sowie die Kundschaft im Buchladen. Das Leben ist manchmal steinhart.

Zwar hätschelt und pflegt Sylvia Beach alle sensiblen Schreiberseelen, aber nur bei einem wird aus der Bewunderung der bescheidenen Buchhändlerin geradezu Heldenverehrung: James Joyce.

 „Joyce` Stimme, von einem süßen Klang wie die eines Tenors, bezauberte mich.“

 „Es war überwältigend für mich, mit dem größten Dichter meiner Zeit zusammen zu sein, aber Joyce hatte eine so unglaublich einfache Art, dass ich mich trotzdem frei und unbefangen fühlte.“

Wohlgemerkt: Sie spricht von dem größten Dichter ihrer Zeit, da war dessen Jahrhundertwerk noch nicht einmal beschrieben. An dieser Stelle werden die Erinnerungen einer Buchhändlerin auch zur literaturwissenschaftlichen Quelle ersten Ranges. Ganz bescheiden und zurückgenommen erzählt Sylvia Beach von den Schwierigkeiten, die Joyce sowohl auf der Insel als auch in den USA mit der Zensur hat.

„Jede Hoffnung auf eine Veröffentlichung in Ländern englischer Sprache war, zumindest auf lange Zeit, geschwunden. Und da saß nun James Joyce in meinem kleinen Buchladen und seufzte tief.
Auf einmal kam mir der Gedanke, dass man doch etwas unternehmen könne, und ich fragte: Würden Sie Shakespeare and Company die Ehre erweisen, Ihren Ulysses herausbringen zu dürfen?
Er nahm mein Angebot auf der Stelle mit Freuden an.“

Damit beginnt für Sylvia Beach das eigentliche Abenteuer ihres Lebens. 1922 erscheint der Ulysses, „Shakespeare and Company“ wird eine begehrte Adresse. Doch die Zeiten sind nicht danach:

„Die Buchhandlung war berühmt geworden. Sie steckte immer voll von neuen und alten Kunden, und mehr und mehr wurde in Zeitungen und Zeitschriften über sie geschrieben. Man zeigte sie sogar den Touristen der American Express, wenn sie vorüberfuhren - in Autobussen, die ein paar Sekunden vor Nr. 12 stehenblieben. Trotz alledem begann Shakespeare and Company die Wirtschaftskrise ernstlich zu spüren. Die Geschäfte, die schon durch die Abreise meiner Landsleute gelitten hatten, gingen nun rasch immer schlechter.“

Nach der deutschen Besatzung schließt Sylvia Beach den Buchladen für immer. Sie lebt bis zu ihrem Tod 1962 in Paris, begraben ist sie jedoch in den USA. Der Buchladen in der Nr. 12 bleibt zwar geschlossen, später jedoch wird die Buchhandlung Le Mistral in der Rue de la Bûcherie zu Ehren Sylvia Beachs in „Shakespeare and Company“ umbenannt. Auch dieser Laden, ebenfalls von einem US-Amerikaner, George Whitman (inzwischen von seiner Tochter), betrieben, wird zu einem literarischen Treffpunkt - hier verkehrten Henry Miller, Allen Ginsberg, William S. Burroughs und andere.

„Shakespeare and Company - eine Buchhandlung in Paris“: Sicher war es die richtige Entscheidung von Sylvia Beach, das Schreiben anderen zu überlassen. Doch wo die Lebenserinnerungen sprachlich zu wünschen übrig lassen, machte dies die Literaturliebhaberin durch ihre Leidenschaft für Bücher und Schriftsteller wett. So werden das Paris der Zwischenkriegszeit, die intellektuelle Atmosphäre an der Seine, das Leben der literarischen Exilanten aus den englischsprachigen Ländern sowie deren kleinen und großen „Macken“ lebendig - und verlocken zu einem Bummel durch die Buchhandlungen der Stadt der Bücherliebe.

Hans Scherer: Stopover (1995).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Es kommt schon mal vor, daß man bei zerstreuter Zeitungslektüre inne hält, weil man im gleichförmigen Chor der Journalisten-Prosa auf einmal eine Stimme hört, die ganz eigen ist und zu mir, dem Leser spricht, die Geschichten erzählt und im Ohr bleibt.Und dann schaut man, wer da spricht und liest bald die Artikel mehr des Autors  wegen als seiner Themen.

Mit Hans Scherer, Redakteur im Reiseblatt der FAZ, könnte es einem so gehen. Eigentlich hatte er Dichter werden wollen. Als diese Neigung unerfüllt bleiben mußte, beschloß er, Journalist zu werden. Aufgrund seiner Fabulierlust beschreibt er nicht nur das, was er sieht, sondern auch die Bilder und Geschichten, die sich oft als zweite Wirklichkeit über Städte und Landschaften gelegt haben. Scherers Reportagen aus der fernen und nahen Welt haben einen eigenen Sound, nicht marktschreierisch, sondern ein feines, ironisches Intrument. Im Vorwort zu Stopover schreibt Scherer, daß das Reisen für ihn eine Art des Verschwindens sei. Seit 1998 ist er endgültig verschwunden. Gerade deshalb möchte ich hiermit diese einzigartige Stimme dem Vergessen entreißen.

Zu einem Weltreisenden hat mich Scherer nicht gemacht, das hätte er wohl auch nicht gewollt. Bei aller Abenteuerlust hat er bei der  Rückkehr einer seiner Reisen einmal gemeint, wie schön es doch zuhause sei. Am liebsten reiste er in wilde Gegenden. Aus Afghanistan, aus Indien, aus dem chinesischen Meer und von den schlammigen Ufern des Amazonas hat er berichtet, aber ebenso aus gefährlichen Städten: aus Kalkutta, Bangkok, Rio und Paris. So schreibt er aus Beirut: “Auf der Straße riecht es nach allen Gewürzen des Orients, nach Exkrementen, nach Verwesungen. Zwischendrin hängen in den Geschäften halbe Ochsen und ihre Innereien, lebende Hühner. Ein Hupen und ein Geschrei, daß man nur noch weg will. Man kann böse hupen, fröhlich hupen, drohend hupen. Meistens hat das Hupen eine Bedeutung, die bei uns völlig unbekannt ist: man hupt, weil man den, der an der Straße steht, mitnehmen will. Das ist hier üblich, jeder wird mitgenommen. Der Preis: man zahlt, was man will. Beirut war eine Erfahrung in Menschlichkeit. Hier steige ich ins Auto von wildfremden Menschen und fahre in die abenteuerlichsten Viertel von Beirut.”

“Für Indien muss man geboren sein”

Hans Scherer bleibt in seinen Reiseberichten immer ganz er selbst. Er verharrt auf dem Beobachterposten des Fremden, der sich nicht assimiliert, sondern gerührt oder abgestossen, befremdet oder begeistert ist. Mit dem Blick eines Europäers reiste er um die Welt. Dabei konfrontiert er uns mit der Begrenztheit dieser Wahrnehmung: “Ich war also wieder in Indien. Für Indien muß man geboren sein. Bei den einen löst schon die Nennung des Namens Entsetzen aus. Sie schlagen die Hände über den Kopf zusammen, bedecken das Gesicht, schütteln sich und murmeln etwas von Armut, Krankheit, Seuchen und Terrorismus. Wie kann man nur in solch ein Land reisen! Die anderen verschließen die Augen nicht vor der Gegenwart, siewollen sehen, was sie schreckt. Indien ist die Gegenwart! Gewiß, mit tausend Problemen, von denen keines gelöst wird, indem man das Land meidet und draußen  niemand weiß, wovon eigentlich die Rede ist. Nehmen wir die Kinderarbeit zum Beispiel, und die Schulpflicht. Letztere besteht nicht und sie wird nicht einmal gefördert, weil die Schule die soziale Struktur auf dem Lande durcheinander brächte und weil es in den Städten sowieso schon zu viel Arbeitslose mit Hochschulbildung gäbe. Darin steckt eine brutale Wahrheit, deren Bedeutung man erst begreift, wenn man am Tümpel steht, in dem die jauchzenden Kinder die Wasserbüffel putzen, vielleicht ihren Großvater. Ich gehöre zu denen, die Indien lieben, mit allem, was dazu gehört. Denn Liebe, die sich nur die besten Stücke aussucht, ist keine Liebe. So liebe ich denn auch den Dreck, die Armut, die Krankheiten, die Probleme.”

Zu Unrecht ist Scherer als Flaneur bezeichnet worden. Anders als der distanziert betrachtende Flaneur legt er es darauf an, von den Dingen innerlich berührt zu werden. Stets begibt er sich in Situationen, die ein unberührbartes Beobachten unmöglich machen. Mit seinen fernen und nahen Reiseberichten öffnet er dem Leser die Augen für die vielen Wirklichkeiten, die erst einmal angenommen werden wollen, bevor man ihnen weltverbessernd zu Leibe rückt. Und dies ohne erhobenen Zeigefinger. Mit guten, komischen und traurigen Geschichten, mit Ironie, Rührung und mit einem beneidenswerten Blick für Anschaulichkeit, Geschichten die sich einprägen.

Das Buch “Stopover” mit den gesammelten Reiseberichten  ist als 129. Band 1995 in der Anderen Bibliothek erschienen und sowohl neu als auch gebraucht im antiquarischen Buchhandel  erhältlich.

Klaus Krolzig

Julio Cortázar: Der Verfolger (1958).

„Ich verstehe, dass ihn der Gedanke Amorous könnte vor die Öffentlichkeit gebracht werden, in Harnisch bringt, denn jeder merkt die Fehler, das deutlich hörbare Blasen am Ende einiger Phrasen, und vor allem diesen wilden Sturz am Schluß, diesen dumpfen, kurzen Ton, der mir vorkam wie ein brechendes Herz, wie ein Messer, das in ein Brot eindringt (er sprach vor einigen Tagen von dem Brot). Dagegen würde Johnny entgehen, was wir schrecklich schön finden, die Beklemmung, der Stau, der in dieser Improvisation einen Ausweg sucht, voller Ausbrüche in alle Richtungen, voller Fragen, voller verzweifelter Gestik. Johnny kann nicht verstehen (denn das, was er für mißlungen hält, scheint uns ein Weg zu sein, wenigstens die Andeutung eines Weges), dass Amorous einer der größten Augenblicke in der Geschichte des Jazz bleiben wird.“

Julio Cortázar, „Der Verfolger“

Was Charlie Parker in der Musik für den Jazz tat, das gelang dem Argentinier Julio Cortázar in der Literatur. Er schrieb Musik, Jazzmusik, er revolutionierte mit seinen Werken auch das Schreiben und die südamerikanische Literatur, griff den Stil des anderen surrealistischen Erzählers seines Heimatlandes, Borges, auf, interpretierte weiter, ging darüber hinaus. Und dies nicht nur in der Erzählung „Der Verfolger“, die 1958 in der Anthologie „Die geheimen Waffen“ erschien und die Geschichte des Jazzmusikers Charlie Parker erzählt.

Für Cortázar (1914 bis 1984) war der Tango die Musik für das Leben, der Jazz die Musik für die Literatur, auf einen etwas verkürzten Nenner gebracht. Der Jazzkenner, Autor und Journalist Hans-Jürgen Schaal bringt die musikalisch-literarische Welt Cortázars so auf den Punkt:

“In den Texten von Julio Cortázar ist der Jazz ein notwendiges (fantastisches, absurdes) Korrektiv der Realität. Es ist der Jazz, der vorübergehend die bestehende Ordnung der Dinge aufzuheben vermag. Der ein Thema “bekämpft und verwandelt und schillern lässt”. Der die Menschen daran erinnert, “dass es vielleicht andere Wege gibt und dass derjenige, den sie eingeschlagen haben, nicht der einzige und nicht der beste ist.” Jazz: eine Rettung ins Offene. Eine Einübung in die Freiheit.

Das 17. Kapitel in Cortázars 600-Seiten-Schmöker “Rayuela”, einem der erfolgreichsten Romane Lateinamerikas, enthält die vielleicht schönste Eloge, die dem Jazz je gewidmet wurde. Sie feiert ihn als eine universelle Botschaft, die “die Menschen besser und schneller einander näher brachte als Esperanto, die UNESCO oder die Fluglinien”, eine menschliche Musik, die Antlitz und Bewusstsein besitzt, die Stile und Haltungen, Dogmen und Schismen schuf, die ein Teil und ein Spiegel ist der humanen Geistesgeschichte. “Rayuela” – der spanische Name für das Himmel-und-Hölle-Spiel – ist ein verspäteter Beat-Roman, gefärbt von Pariser Existenzialismus, argentinischer Bildungswut und Cortázars Lust am Absurden.”

Anders als „Rayuela“, das 1963 erschien, erscheint „Der Verfolger“ im Erzählstil noch konventionell. Die Novelle schildert die Geschichte von Johnny Carter (ganz offensichtlich der Saxophonist Charlie Parker) aus der Perspektive seines Biographen. Deutlich wird: Die Person, der Mensch, der hinter diesem außerordentlichen Talent steckt, ist ein zerrissener, von Begierden getriebener, wankelmütiger, wenig sympathischer Charakter. Und doch bringt er ganz große Kunst hervor. Zu beobachten ist für den Biographen der Niedergang im Sumpf des Rausches und der Drogen – wobei die Rauschhaftigkeit des Lebens die Bedingung zu sein scheint, um solche Töne zustande zu bringen. Und beinah distanziert wird die Frage aufgeworfen, was mehr zählt: Der Mensch oder die absolute Kunst, die Kunstfertigkeit in der Musik.

„Ich beschloß, in der zweiten Auflage des Buches nichts zu ändern und Johnny weiterhin so zu präsentieren, wie ich ihn dargestellt hatte und wie er im Grunde war: ein armer Teufel von kaum durchschnittlicher Intelligenz, der wie so viele Musiker, Schachspieler und Dichter die Gabe besitzt, große Dinge zu schaffen, ohne sich der Größe seines Werks im geringsten bewußt zu sein (höchstens besitzt er den Stolz eines Boxers, der sich stark weiß).“

Roger Willemsen spendete der Erzählung in einer Kritik in der Süddeutschen Zeitung Applaus: Sie sei ein leidenschaftliches, mitreißendes, virtuoses “Solo für einen Besessenen”. So ist es – wer vor der Lektüre noch keine Musik von „Birdie“ gehört hat, wird spätestens dann das Verlangen haben, Bebop zu hören, jene Stilrichtung, die Parker prägte.

„Der Verfolger“ ist in Worte gefasste Musik, ist Jazz auf dem Papier.

Charlie „Bird“ Parker (1920-1955) gilt als einer der wichtigsten Jazzmusiker, gleichrangig neben Louis Armstrong und Miles Davis. Seit seiner Jugend heroinabhängig, starb er, nach einem von vielen Abstürzen und persönlichen Dramen geprägten Leben, an den Folgen seiner Sucht.

Julio Cortázar, (1914-1984), in Brüssel geboren, verbringt seine Jugend in Argentinien, lässt sich aber 1951 aus Protest gegen das Perón-Regime, unter dem er auch kurzfristig verhaftet worden war, in Paris nieder, wo er 1984 stirbt. „Rayuela“ ein surreales, kreatives Romanexperiment, ist trotz seines hohen Anspruchs eines der meistverkauften (und hoffentlich auch meistgelesenen) Bücher Südamerikas.

Florian Illies: 1913 - Der Sommer des Jahrhunderts (2012).

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November

„Adolf Loos sagt, dass das Ornament ein Verbrechen sei, und baut Häuser und Schneidersalons voll Klarheit. Alles ist aus zwischen Else Lasker-Schüler und Dr. Gottfried Benn – sie ist verzweifelt, woraufhin ihr Dr. Alfred Döblin, der gerade Ernst Ludwig Kirchner Modell sitzt, Morphium spritzt. Prousts „In Swanns Welt“, der erste Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, erscheint, den Rilke sofort liest. Kafka geht ins Kino und weint. Prada eröffnet in Mailand seine erste Boutique. Ernst Jünger, 18 Jahre alt, packt seine Sachen und geht zur Fremdenlegion nach Afrika. Das Wetter in Deutschland ist ungemütlich, aber Bertolt Brecht findet: Schnupfen kann jeder haben.“

Florian Illies, „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“, S. Fischer Verlag.

Das Jahr 2013 neigt sich bald seinem Ende zu. Und ich habe noch rechtzeitig die Kurve zu „1913“  genommen. Glücklicherweise. Denn selten hat mich ein Sachbuch (oder wie auch immer man dieses Buch einordnen mag – ein langes Essay über ein Jahr? Ein literarisches Biopic? Ein „gewaltiger Teaser“, wie Gustav Seibt es in der Süddeutschen Zeitung nannte?)…jedenfalls hat mich selten ein „Sachbuch“ so oft laut auflachen lassen.

Der Kunsthistoriker und Journalist Florian Illies lässt dieses eine, dieses besondere Jahr Revue passieren – ein Jahr schwankend zwischen Hypernervosität und Lethargie. Ein wenig erinnert dies an die Jahresrückblicke, mit denen die Nation jeweils in den ersten Januartagen von sämtlichen Fernsehsendern beglück wird. ALLERDINGS: Weitaus klüger und amüsanter verfasst.

Monat für Monat rollt Illies das auf, was vor 100 Jahren vor allem die Intellektuellen, die Künstler und die Bohème umtrieb: Ein Reigen (ja, Schnitzler kommt auch vor), gegen den das öffentliche Beziehungstreiben unserer Stars und Sternchen heute geradezu verblasst. Das Buch spricht durchaus auch etwas Voyeuristisches im Leser an – wer mit wem und warum nicht mehr, das liest sich unterhaltsam und streckenweise auch verwirrend, weil, vor allem wenn Rilke ins Spiel kommt, eigentlich alle mit allen…

Es griffe natürlich zu kurz, würde man die knapp 320 Seiten nun als eine Art feuilletonistischen Tratsches interpretieren – andererseits ist „1913“ aber auch keine geschichtswissenschaftliche Analyse. Kluge Unterhaltung bietet es – und das sehr gut gemacht. Warum 1913? Alles scheint da auf dem Siedepunk in der Kultur: Brücke, Blauer Reiter, Secession, Expressionismus, Kubismus – das Neue löst das Alte ab, die Richtungen konkurrieren. Marcel Duchamp hat die Nase voll vom Malen und erfindet nebenbei das erste Ready Made. Auch in der Literatur werden die Väter abgemurkst, die Romantik begraben. Freud wird von Jung geschnitten, nicht das einzige Trauma und Beziehungsdrama, das in diesem Jahr über die Bühne geht. Die „Alten“ (Schnitzler, Hofmannsthal) und Mittelalten (Kraus, T. Mann) hadern mit privaten Angelegenheiten oder sind irgendwie beleidigt und geplagt von Zipperlein und Allüren, die Jungen (Brecht, Jünger, Tucholsky) scharren mit den Füßen.

Alles spitzt sich in der Kunst in hektischer Hypernervosität zusammen, als ob in komprimiertester Zeit  das Rad neu erfunden werden müsste. Wie es Duchamp dann ja auch tut. Demgegenüber erstarren Machthaber und Politiker in seltsamer Lethargie, selbst angesichts der Unruhen auf dem Balkan. Kaiser Wilhelm schießt zunächst lieber täglich auf Tausende von Fasanen, kann aber nur einen abends speisen. Eines dieser kleinen, feinen Beispiele für die Dekadenz einer untergehenden Klasse, die Illies bringt. Er muss nicht mit dickem Pinsel streichen – feine Striche genügen ihm, um das Bild dieses Jahres zu zeichnen.

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Ein Meisterstück, forderte die Mahler, und sie würde ganz die Seine. Oskar Kokoschka malte die Windsbraut und bekam die Alma trotzdem nicht. Das war 1913.

Das ist die Stärke dieses Buches: Die ungeheure Menge an Daten & Fakten sind so fein ausgesucht, gesponnen und verknüpft, dass sich allein aus dem geschickten Mosaik das Bild einer untergehenden Gesellschaft herausschält. Und doch ist alles so lebendig erzählt, dass man beim Lesen das eigene Wissen davon, dass es ja ein böses Ende nehmen wird, zunächst hintanstellt. Man begibt sich mitten hinein in diesen Tanz auf den Vulkan – man weiß zwar inzwischen, dass der Kokoschka seine Windsbraut für die Mahler vergeblich malte, aber währenddessen hat der vor Eifersucht Wahnsinnige unser ganzes Mitgefühl. Zwei ausgesprochene „Lieblinge“ begleitet Illies mit feiner Ironie über das ganze Jahr hinweg: Den ewig zaudernden Kafka bei den Versuchen eines Heiratsantrages sowie den ewig kränkelnden Rilke, der dennoch Briefe schreibend eine Anzahl von Frauen, mit der er locker eine Fußballnationalmannschaft stellen könnte, vorzugsweise platonisch, aber auch leibhaftig lenkt.

Die heran dräuende Katastrophe wird in diesem Treiben bewusst kaum wahrgenommen. Wie geisterhafte Schatten huschen jedoch schon die Vorboten der zweiten, noch grausameren Katastrophen durch die Seiten – der Postkartenmaler Hitler und Stalin auf der Flucht in Frauenkleidern. Doch noch herrscht auf der Achse Wien-Berlin-Paris das Leben.

In manchen Feuilletons wurden Bezüge dieses Panoramas zum Jahr 2013 gestellt, Parallelen gezogen, Botschaften und Ermahnungen destilliert. Ich meine, damit wäre dieses Buch überfrachtet und überinterpretiert. Es zeigt das Bild eines besonderen Jahres – klug geschrieben, unterhaltsam zu lesen, fein gemacht. Das allein ist auch einmal ausreichend.

Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald: Wir sind verdammt lausige Akrobaten (2013).

„Und, Ernest, ich kann das nicht mal als eine literarische Fingerübung akzeptieren. Es scheint mir, das alles müsste sorgfältig gekürzt werden, sogar neu geschrieben. Unsere arme alte Freundschaft wird das kaum überleben, aber was lässt sich tun? Besser ich sage Dir das als irgend so ein Niemand von der Literaturkritik, der sich weder um Dich noch um deine Zukunft sorgt.“

Die arme alte Freundschaft hat auch diesen Brief aus dem Jahre 1929 überlebt (der Brief bezieht sich übrigens auf den Roman „In einem anderen Land“). Was Wunder nimmt: Denn allgemein galt Ernest Hemingway als nachtragend und Kritik gegenüber als äußerst empfindlich. Nun, vielleicht hat er später Rache genommen – indem er diese von Beginn an wunderliche, wundersame Freundschaft zu dem anderen großen Literaten dieser Zeit, F. Scott Fitzgerald, in späteren Jahren relativierte, die Rollen neu schrieb.

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Unter anderem in „Paris, ein Fest fürs Leben“. Hier bin ich erstmals auf diese Verbindung zwischen zwei Literaten, wie sie vom Typ, vom Habitus unterschiedlicher nicht sein könnten, gestoßen. Die von Hemingway geschilderte Anekdote spricht Bände über seine spätere Inszenierung dieser Freundschaft:

„Schließlich, als wir die Kirschtorte aßen und eine letzte Karaffe Wein dazu tranken, sagte er (F. Scott Fitzgerald):
“Du weißt, dass ich mit niemand außer mit Zelda geschlafen habe.”
“Nein. Das wusste ich nicht”.
“Ich dachte, ich hätte es dir erzählt.”
“Nein. Du hast mir `ne Menge Sachen erzählt, aber das nicht.”
“Das ist es, worüber ich dich etwas fragen muss.”
“Schön, weiter.”
“Zelda hat gesagt, dass ich, so wie ich gewachsen bin, nie eine Frau glücklich machen könne, und das war`s, was sie zuerst aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Sie sagte, es sei eine Frage der Maße. Seit sie das gesagt hat, bin ich nie wieder der alte gewesen, und ich muss es wahrheitsgemäß wissen.”
“Komm raus, ins Büro”, sagte ich.
“Wo ist das Büro?”
“Das WC.”

Hola, die Waldfee! Erzählt man dieses über tote Kumpels? Macht man die so posthum zur Minna? Oder ist es eben das typische Konkurrenzgehabe kleiner Jungs? Denn selbstverständlich hat Hemingway den Überblick. Nicht nur an dieser Stelle zeigt er sich F. Scott Fitzgerald leicht gönnerhaft-überlegen, der Freund und Konkurrent wird als hypochondrisches Weichei charakterisiert.

Einige Briefe erstmals in deutscher Übersetzung

Dieses Ungleichgewicht wird nun etwas aufgewogen durch den Briefwechsel der Beiden, der sich immerhin 15 Jahre hinzog. Erschienen bei Hoffmann und Campe unter dem Titel „Wir sind verdammt lausige Akrobaten“, herausgegeben von Benjamin Lebert („Crazy“), der einige der Briefe Fitzgeralds erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Umfangreich ist das Buch nicht – etliche der Briefe blieben wohl nicht erhalten -, die editorische Leistung ist eher mäßig: Das Vorwort ist mehr von persönlicher Begeisterung als von Fachinformation geprägt, die Ergänzungen zu Werk und Leben sowie erwähnten Personen könnten ausführlicher sein.

Aber die Briefe an sich sind es, die dieses Zirkusstückchen ausmachen: Zwei Wortakrobaten, die sich gegenseitig in schwindelnde Höhen hochschaukeln, Witz-Kapriolen schlagen, den traurigen Clown mimen. Der „Schriftverkehr“ wirft ein neues, ungeahntes Licht auf diese Kumpanei zwischen dem eleganten Lebemann und dem trinkfesten Macho.

Kennengelernt haben sie sich 1925 in Paris – F. Scott Fitzgerald bereits berühmt durch „Der große Gatsby“ und durch seinen Lebensstil – er und seine Frau Zelda verkörperten die Roaring Twenties, das Jazz Age. Hemingway noch ein no name, der als Korrespondent die Nähe der von ihm bewunderten Literaten in der französischen Metropole sucht: Gertrude Stein (die ihn in der „Autobiographie von Alice B. Toklas“ recht giftig als willigen Schüler darstellt), James Joyce, Sherwood Anderson, und anderen.

Stark in der Kunst, schwach im Leben?

Die Freundschaft zu Fitzgerald hält am längsten – in der Nachbetrachtung, da man ihrer beider Schicksale kennt, verwundert dies nicht: Zwei hochtalentierte Menschen, die stark in der Kunst, aber schwach im Leben waren.

Sie tauschen sich aus über ihren Alltag, Geldsorgen, Probleme mit Frau (Fitzgerald), Frauen (Hemingway), die Liebe zu den Kindern, über Freunde, Trinkgelage, Reisen, aber vor allem über eines: Das Schreiben. Und dabei geben sie sich, trotz allem literarischen Wettbewerbs, gegenseitig Unterstützung und Hilfe.

Fitzgerald 1928 an Hemingway:

„Nichts ist annähernd so gut. Wann wirst Du mich davon erlösen, Deine Sachen auswendig zu lernen, weil ich sie zu oft gelesen habe, und endlich etwas Neues fertig schreiben? Denk dran, Proust ist tot.“

In großem Futterneid von Kumpan und Klatschtante Scott

Hemingway 1934 an Fitzgerald:

„Vergiss Deine persönliche Tragödie. Wir sind alle von Anfang an verflucht, und besonders Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor Du ernsthaft schreiben kannst. Aber wenn Du diesen verdammten Schmerz fühlst, nutze ihn, und betrüge nicht damit. Sei damit so gewissenhaft wie ein Wissenschaftler - aber bilde Dir nicht ein, irgendetwas sei nur deshalb von Bedeutung, weil es Dir zustößt oder jemandem, der zu Dir gehört.“

Vor allem Fitzgerald geht in seiner literarischen Kritik fast gnadenlos mit dem Freund um:

„Nun ja, jedenfalls finde ich einige Teile von Fiesta nachlässig erzählt, Du erzielst keine Wirkung…Dein erstes Kapitel enthält ungefähr zehn Stellen dieser Art, und es übermittelt sich mir beim Lesen das Gefühl einer herablassenden Gleichgültigkeit…Wie ich Dich kenne, würdest Du dergleichen bei anderen als halb Stil, halb Pferdescheiße bezeichnen.“

Diese Ehrlichkeit tut der Freundschaft in den ersten Jahren jedoch keinen Abbruch – vielmehr versichern sich die Beiden immer wieder, in beinahe schon zärtlicher Manier, ihrer gegenseitigen Zuneigung.

Ernest an Scott:

„Gott, ich wünschte, ich könnte Dich sehen. Du bist der einzige Kerl in und außerhalb Europas von dem (oder gegen den) ich das sagen kann, aber ich würde Dich wahrhaftig gern sehen.“

Scott an Ernest:

„Ich kann Dir gar nicht sagen, wie viel mir Deine Freundschaft die letzten anderthalb Jahre über bedeutet hat. Von ihr ist für mich auf unserer Europareise das meiste Licht ausgegangen.“

Mit der Zeit werden die Kontakte zwischen dem „lieben Papa, Stierkämpfer, Gourmand“ und dem „Mr. Fizzgeral“ (eine Anspielung auf die Rechtschreibschwächen des großen Gatsby-Autors) weniger, die Anzahl der Briefe geringer. Aus dem Jahre 1940 ist nur ein Schreiben Scotts an Ernest erhalten – kurz vor seinem Tod im Dezember verfasst. „Ich bin nie dazu gekommen, Dir zu sagen, dass mir Haben und Nichthaben ebenso gut gefallen hat…“. Dann verstummt der große amerikanische Autor.

Nachgestellt ist diesem ein Brief von Hemingway 1954 an Harvey Breit, in dem er sich von dieser Freundschaft, die vielleicht nur in Briefen wirklich lebte, distanziert:

„Manchmal war es lustig. Aber in Ordnung war es nie.“

Was diese Freundschaft also vor allem Hemingway bedeutete – man wird es niemals wissen können, die Spuren seiner Zuneigung zum Akrobatenfreund hat er später gut verwischt. Doch was bleibt, sind die Briefe – und in dem Moment, als er Sätze schrieb wie diesen, waren diese wohl auch wahr:

„Doch wenn Du nichts dagegen hast, Du bist mein allerbester Freund.“

„Wir sind verdammt lausige Akrobaten“, Hoffmann und Campe, 2013

Eine weitere Besprechung gibt es bei Notizhefte: http://notizhefte.wordpress.com/2013/10/06/briefwechsel-hemingway-fitzgerald/

Gnusch im Fadechörbli oder Haikus in Prosa: Peter Bichsel

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„In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hieß Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?“

Peter Bichsel, „Zur Stadt Paris“, 1993, Suhrkamp Verlag

Das ist die kürzeste Geschichte der kurzen Geschichten, die Peter Bichsel in „Zur Stadt Paris“ veröffentlichte. Etwas stereotyp wird der Schweizer immer wieder als „großer Meister der kleinen Form“ bezeichnet. Als Miniaturist. Er ist derjenige, der Haikus mit einem Hauch Emmentaler schreibt. In Prosa. „Klein, kleiner, am kleinsten, Peter Bichsei“ so schrieb Andreas Isenschmid einmal über ihn in der „Zeit“. Wer aber dann meint, die kurzen Geschichten seien schnell zu lesen, der täuscht. Sie fordern ihre Zeit. Die Konzentration des Schreibenden setzt die Konzentration des Lesenden voraus. „So sind Geschichten. Man kommt mit ihnen nicht voran“, lauten dazu die tröstlichen Worte des Schriftstellers.

Auch sein erster Erzählband „Eigentlich möchte Frau Blum nur den Milchmann kennenlernen“ (ebf. Suhrkamp) hat nur 73 Seiten. Die kürzeste Erzählung „Erklärung“ umfasst gerade ein halbes Blatt.

Erklärung

Am Morgen lag Schnee.
Man hätte sich freuen können. Man hätte Schneehütten bauen können oder Schneemänner, man hätte sie als Wächter vor das Haus getürmt. Der Schnee ist tröstlich, das ist alles, was er ist - und er halte warm, sagt man, wenn man sich in ihn eingrabe.
Aber er dringt in die Schuhe, blockiert die Autos, bringt Eisenbahnen zum Entgleisen und macht entlegene Dörfer einsam.

Ernst Ludwig Kirchner: Junkerboden unter Schnee

Mehr braucht es nicht in Bichsels Welt, um seinen Lesern zu erklären, was der Schnee mit ihm macht – der tröstliche, wärmende, blockierende, erdrückende Schnee. Kleinkunst in Bestform. Und obwohl so vieles ausgespart ist, die Wörter und Sätze auf das Wesentliche eingedampft sind, erfährt man die ganze Geschichte. Oft ein ganzer Kosmos, in wenige Sätze verpackt. Auch die der Frau Blum: Eine ältere Frau, die einsam ist. Ihr einziger regelmäßiger Kontakt ist der Milchmann. Die Kommunikation ist eine Zettelwirtschaft. Die Zettel sind es, die zwei Liter Milch und 100 Gramm Butter, die dem Leben von Frau Blum Rahm und Rahmen geben.

Meine Lieblingsgeschichten sind jedoch die vom „Eisenbahnfahren“, erschienen als Nr. 1227 in der Insel-Bücherei. Paris, die Bahn und davon insbesondere die Transsibirische – das sind die Koordinaten, um die sich Peter Bichsels gar nicht so kleine literarische Welt drehen.

Das Eisenbahnfahren hat mit der Kindheit zu tun: „Als Sechsjähriger kam ich mit meinen Eltern nach Olten. Und wenn mich jemand fragte: „Woher kommst Du“, sagte ich: „Wir kommen aus Luzern, wohnen aber in Olten.“ Meine Eltern taten sich in den ersten zehn Jahren schwer damit, sich mit Olten anzufreunden. Und nicht nur sie. Olten war eine Eisenbahnerstadt. Da gab es Lokomotivführer und Zugführer, die lange Zeit im schönen Tessin stationiert waren und nach Olten versetzt wurden. Sie hatten immerhin das Glück, billig Eisenbahn fahren zu dürfen.“ (Peter Bichsel, 2011, Rede zum Solothurner Literaturpreis).

Seine Fahrten finden oft nur in der Phantasie statt. Das zu erkennen, bleibt dem Leser überlassen. Eines dieser phantastischen Ziele war jahrzehntelang Paris. Bichsel umfuhr es sozusagen, mit der Literatur. Wie er dann schließlich doch noch in die Seine-Metropole gelangte, habe ich neulich beschrieben:
http://saetzeundschaetze1.wordpress.com/2013/09/12/peter-bichsel-will-nicht-nach-paris/

Das Eisenbahnfahren hat wiederum mit der Haltung zur Welt zu tun. „Die Kunst des Eisenbahnfahrens ist die Kunst des Wartens, und darin liegt der eigentliche Zeitgewinn, dass man Zürich nicht zu erreichen hat, sondern zu erwarten.“ Und während Peter Bichsel wartet, übt er sich in seiner zweiten Kunst: Der des Hinschauens. Bichsel ist ein genauer Beobachter, ein Hinschauer mit einem guten Herzen. Isenschmid meinte in der „Zeit“ etwas süffisant, man müsse ab und an den sozialpädagogischen Vorhang wegziehen vom Kern der Geschichte. Aber gerade das sind die kleinen Erzählungen, die offenbaren, wie offen Bichsel gerade auf jene schaut, die sonst unsichtbar bleiben wollen oder müssen: Auf die leicht Verdrehten wie in „Der Mann mit dem Gedächtnis“. Auf die, die durch das Netz gefallen sind. Auf die, die keiner mehr haben will. Wie Frau Blum.

Wenn ich mit der Eisenbahn fahre, nehme ich künftig immer einen Band von Peter Bichsel mit. Damit ich auch was sehe.

Oder ein Hörbuch – zum Sehen, Staunen und Lachen. Denn Humor kann er auch. Siehe hier:
http://www.suhrkamp.de/mediathek/transsibirische_geschichten_p_bichsel_297.html

Der bei Suhrkamp veröffentlichte Lebenslauf:

Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 in Luzern geboren und wuchs als Sohn eines Handwerkers ab 1941 in Olten auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1956 heiratete er die Schauspielerin Therese Spörri († 2005). Er ist Vater einer Tochter und eines Sohnes. Bis 1968 (und ein letztes Mal 1973) arbeitete er als Primarlehrer. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten in Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen auf einen Schlag bekannt; die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis. Zwischen 1974 und 1981 war er als persönlicher Berater für Bundesrat Willi Ritschard tätig, mit dem er befreundet war. Mit dem Schriftsteller Max Frisch war er bis zu dessen Tod 1991 eng befreundet. Er ist seit 1985 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

http://www.bernerzeitung.ch/region/emmental/Das-stille-Ende-im-Haus-zur-Stadt-Paris/story/20844979: Das ist die Geschichte vom Haus Zur Stadt Paris.

Peter Bichsel will nicht nach Paris

Nein, niemals gehe er nach Paris, sagt Peter Bichsel als junger Bub. Vielleicht im Zorn, vielleicht im Schrecken. Später wird Paris zu einem Ort der sehnsuchtsvollen Vorstellungen, zu einem Ort der literarischen Erkundung. Der Sehnsuchtort. Der jedoch nie besucht wird. Was verständlich ist: Jede Überhöhung endet in einer Enttäuschung. Peter Bichsel ist zu klug, um das nicht zu wissen. Man muss sich nicht die eigenen Träume mit Gewalt zertrümmern.

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Zwischendurch legt Bichsel einen Erzählband vor. Name: „Zur Stadt Paris“. Aber immer noch hat er die Seine-Metropole nur erlesen, nie erkundet.

Der junge Filmemacher Eric Bergkraut überredet schließlich den 74jährigen, die Reise anzutreten. Peter Bichsel erklärt sich zur Überraschung aller bereit. Unter zwei Bedingungen: Kein Programm. Und ein Zimmer direkt am Bahnhof. 2009 kommt Bichsel am Gare de l`Est an, sah und blieb – im Bahnhofsviertel. Dort findet im Wesentlichen die Paris-Reise des Peter Bichsel statt.

Seine Paris-Erkundung ähnelt seinen Geschichten: Auf das Wesentliche konzentrieren. Im kleinen Format bleiben. Schauen, hinsehen, nicht beobachten. Den Menschen der Materie vorziehen. Angekommen fühlt er sich, als die junge Frau ihn an der Pforte mit „Bonjour, Monsieur Pierre“ begrüßt. Das ist ihm wertvoll: „Ich werde wahrgenommen“. Da braucht es keinen Eiffelturm.

Dies macht den Schriftsteller auch als Menschen so liebenswert. Dieses nur oberflächlich betrachtet Schrullige. Aber durch sein genaues Hinsehen können erst die Geschichten wachsen. Es bestätigt einmal mehr: Die größten Abenteuer finden im Kopf statt.

Nur zu einer touristischen Tour ringt sich Peter Bichsel schließlich durch. Er will das Karussell sehen – jenes Karussell, das Rilke im Jardin du Luxembourg zu seinen Versen antrieb. Jenes Karussell, das – wie ich vermute – von den großen Augen  Audrey Hepburns in der charmanten Thrillerkomödie „Charade“ betrachtet wurde.

Das Karussell ist noch da. Und es ist so, wie Peter Bichsel es sich vorstellte. Mehr braucht er nicht, um in Paris zu sein. Wie schön!

Der Film „Zimmer 202“ erzählt die Geschichte dieser Paris-Reise. Er erzählt aber auch viel von Peter Bichsel selbst – mit autobiographischen Bildern aus seiner Vergangenheit als Lehrer, als Schriftsteller, als Familienmann. Und der Film bringt uns Autor und Mensch gleichsam näher: Es geht nicht um das Dort-Sein. Man nimmt sich immer mit. Es geht darum, wer man ist. Sozialist oder Marxist, Linker und Schweizer, Ehemanntreu oder Ehemannzwang, Pädagoge oder Lehrer.

„Zimmer 202“ kam 2010 heraus und ist auf DVD erhältlich.

Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen (2012)

„Und Viktor saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd, der einzige Platz im Haus, wo es warm war. Jeden Tag verfolgte er in der Times die Nachrichten über den Krieg, an Donnerstagen las er die Kentish Gazette. Er las Ovid, besonders die “Tristia”, die Gedichte aus dem Exil. Beim Lesen strich er sich mit der Hand über das Gesicht, damit die Kinder nicht sahen, welche Wirkung der Dichter auf ihn hatte. Er las beinahe den ganzen Tag über, außer wenn er seinen kurzen Spaziergang die Blatchingdon Road hinauf und zurück unternahm oder ein Schläfchen hielt. Gelegentlich ging er den ganzen Weg ins Stadtzentrum in Halls Antiquariat, wo der Buchhändler Mr. Pratley besonders freundlich zu Viktor war, während der die Bände von Galsworthy, Sinclair Lewis und H. G. Wells befühlte.
Manchmal erzählte er den Buben, wenn sie aus der Schule heimkamen, von Aeneas und seiner Rückkehr nach Karthago. Dort sind an die Wände Szenen aus Troja gemalt. Erst dann, konfrontiert mit den Bildern dessen, was er verloren hat, kann Aeneas endlich weinen. “Sunt lacrimae rerum”, sagt Aeneas. Es sind die Tränen der Dinge, liest Viktor dort am Küchentisch, während die Buben ihre Algebra-Aufgaben erledigen.“

Edmund de Waal, “Der Hase mit den Bernsteinaugen”, 2012, Zsolnay Verlag

Die Tränen des Aeneas kann auch Viktor Ephrussi teilen – so unendlich viel hat er verloren im von den Nationalsozialisten angeschlossenen Österreich: Seine Frau, Freunde und Familienmitglieder, sein Vermögen, Haus und Besitz. Aber vor allem auch sein Vertrauen darin, trotz der jüdischen Herkunft als vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft angekommen zu sein. Edmund de Waal erzählt die Geschichte seiner Familie über Generationen und Lebenswege hinweg – von Odessa über Paris und Wien bis hin zu den Exilorten in England und Japan. Leitfiguren dabei bilden 264 Netsuke, Miniatur-Schnitzereien aus Holz und Elfenbein aus Japan.Sie liegen in der Vitrine des britischen Keramikkünstlers Edmund de Waal, Nachkomme der jüdischen Familie Ephrussi.

Auf welchen - teilweise abenteuerlichen - Wegen sie dorthin gelangten, schildert de Waal in diesem Familienalbum. Angekauft von einem kunst- und feinsinnigen Vorfahren im Paris der Belle Epoque wird die Sammlung der filigranen japanischen Kostbarkeiten im Wien der Jahrhundertwende vom Dekorationsobjekt und Liebhaberei zum Kinderspielzeug, das ein arisches Stubenmädchen schließlich versteckt in einer Matratze vor der Beutegier der Nationalsozialisten rettet.

Die Netsuke – der titelgebende Hase mit den Bernsteinaugen ist einer davon – sind der Leitfaden für diese dramatische Familiensaga. Sie sind auch ein Symbol dafür, wie eine jüdische Familie, gleich wo, ob Paris, Wien oder andernorts, und gleich viel, wie hoch der Preis für die Assimilierung war, immer wieder auf Antisemitismus stößt. De Waal unterlegt dies mit fundiert recherchierten Informationen – erschreckend zu erfahren, wie auch anerkannte französische Künstler, beispielsweise die Goncourt-Brüder, verbal gegen das Judentum hetzten.

Die Ephrussi, von denen de Waal erzählt, waren einst an Reichtum und Einfluss den Rothschilds ebenbürtig. Mit dem österreichischen Anschluss setzte der Niedergang ein – das Bankhaus und das gesamte Vermögen wurden arisiert, Teile der Familie ermordet, andere in die ganze Welt verstreut.

„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ gleicht einem literarischen Netsuke: Auf kleinstem Raum komprimiert de Waal die Wanderungen einer Familie durch Europa, kombiniert Kunstreflektionen, Zeitgeschichte und Biographisches, zeigt die Entwicklung des europäischen Judentums exemplarisch an einer, an seiner Familie auf. Dies macht das Buch nicht unbedingt leicht lesbar – aber auch der Wert eines Netsuke erschließt sich nicht auf den ersten Blick.

Installation Lichtzwang, 2014, Edmund de Waal

Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, studierte in Cambridge. Er ist Professor für Keramik an der University of Westminster. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erschien 2011 im Original, die deutschsprachige Ausgabe dann beim Zsolnay Verlag und als Taschenbuch bei dtv.

Die kreativen Arbeiten des Autorenkünstlers de Waal kann man hier bewundern:  http://www.edmunddewaal.com/

F. Scott Fitzgerald malt seinen verehrten James Joyce

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“F. Scott Fitzgerald verehrte James Joyce, hatte aber Angst, sich ihm persönlich zu nähern. Adrienne kochte also ein gutes Abendessen und lud die Joyces, die Fitzgeralds und André Chamson mit seiner Frau Lucie ein. In mein Exemplar von The Great Gatsby zeichnete Scott ein Bild der Gäste - Joyce sitzt mit einem Glorienschein bei Tisch, Scott kniet neben ihm.”
Sylvia Beach, “Shakespeare and Company”, Suhrkamp Taschenbuch