Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes (1973/2014).

keinkindMein Einstieg in den harten, düsteren Kosmos des Cormac McCarthy begann, wie vielleicht bei vielen anderen deutschen Lesern auch, mit einem Film: “No Country for Old Men”, natürlich geprägt durch die Handschrift der Coen-Brüder, nachhaltig in Erinnerung durch Javier Bardem in der Rolle des Killers Chigurh. Die wohl seltsamste Frisur eines Serienmörders in der Filmgeschichte. Die Frisur symbolisiert den Unterschied zwischen Film und Buch. Denn natürlich birgt der Film manche ironische Brechung, typisch für die Coens, aber atypisch für McCarthy. Dem ist es todernst mit seinen Aussagen. In dessen Büchern stößt man auf keine Ironie, keinen Witz. Was das Menschliche anbelangt, sind sie von einer harten, nackten, nüchternen Sprache. Sie eröffnen den Blick in eine grausame, menschenfeindliche Welt. Und überraschen mit einer eigenen poetischen Sprache.
Über das Kino also lernte ich diesen Autoren kennen, dessen Romane mittlerweile fast alle in deutscher Übersetzung vorliegen. Nun auch sein dritter Roman, 1974 unter dem Titel “Child of God” herausgekommen, jetzt in der deutschen Übertragung von Nikolaus Stingl.
“Ein Kind Gottes”. Auch Lester Ballard ist ein Kind Gottes, wenn man darunter das Menschsein an sich begreift. Auch wenn er, der schon ganz unten ist, noch weiter herabkommt, unmenschlich erscheint, Unmenschliches tut. Er ist und bleibt ein Kind Gottes, soll wohl auch bedeuten, nichts Menschliches ist uns fremd oder in der Umkehrung, dass alles mögliche, auch das Schlimmste, menschenmöglich ist.

Der schmale Roman beginnt mit der Versteigerung eines Hauses. Ballard, zuvor schon ein Einzelgänger, verliert damit wahrhaftig den Grund und Boden unter den Füßen, zieht sich immer mehr in die Einsamkeit zurück, mutiert zum Höhlenbewohner: Und das in den USA der 60erJahre. Als Ballard eines Tages ein totes Liebespaar in der Ödnis findet, scheint es, als verabschiede er sich dadurch gänzlich aus der menschlichen Gemeinschaft. Der Außenseiter nimmt die weibliche Leiche mit, staffiert sie aus, sie wird, auf Zeit, zu seiner Lebensgefährtin. Eine Metapher für die grenzenlose Einsamkeit dieses Mannes und für seine Unfähigkeit zur Mitteilung, zur Kommunikation, zur Anpassung. Ein tödlicher Kreislauf nimmt mit dieser ersten Leiche seinen Anfang.
Es braucht starke Nerven, um dieses Buch zu lesen, das so offensichtlich nüchtern, fast schon empathielos von menschlicher Grausamkeit erzählt. Dennoch ist das kein Trash, keine Splatterliteratur. Die Bücher von McCarthy bergen etwas Alttestamentarisches in sich. Man werfe einen Blick in die Bibel und stößt auf eine ganze Bandbreit von Gewalttaten. “Ein Kind Gottes” muss nicht nach Verantwortung und Schuld fragen, das erklärt sich aus dem Buch selbst. Wie aus den anderen Romanen McCarthys auch: Die Veranlagung zur Gewalt, zum Bösen, zum Dunklen liegt in jedem Menschen begraben. “Schuld” allerdings liegt nicht nur im Handeln des Einzelnen, zudem ist der “Held” des Romans intellektuell und moralisch kaum auf der Höhe, seine Handlungen zu bewerten und zu ermessen. “Schuld”, das zeigt auch dieses Buch des Amerikaners, ist ebenso sehr eine Gesellschaft, die erntet, was sie aussät. Es gibt kaum eine zynischere Bezeichnung für Menschen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stehen bzw. die aus den Rastern der Leistungsgesellschaft gefallen sind, als die vom “white trash”, “weißer Müll” - als seien sie, die Ausgestoßenen, keine Kinder Gottes mehr.
Wenn auch seine Romane - so die Border Trilogie - oft in der Einsamkeit des amerikanischen Westens spielen und aus der Zeit herausgefallen wirken: Cormac McCarthy autopsiert den Zustand einer niedergehenden Gesellschaft. Dazu passen die Bilder von Seph Lawless, die heute beim Bloggerkollegen Gerhard Emmer zu sehen sind, auch wenn sie ein anderes Phänomen amerikanischen Niedergangs zeigen.

Cormac McCarthys Welt - manchmal beinahe unerträglich gnadenlos, unerbittlich, von klirrender Kälte, aber auch von großer Schönheit in der Sprache:

“Ballard, ein kleines Wesen, das mit dem Gewehr in den Armen brütend dort hockte, beobachtete sie vom Bergsattel aus. Es regnete seit drei Tagen. Der Bach weit unter ihm über die Ufer getreten, die Felder überflutet, mit Winterkraut und Futtergewächsen gefleckte, stehende Wasserflächen.”

“Die Hunde querten als dünne, dunkle Linie den Schnee auf dem Hang des Höhenrückens. Weit unter ihnen lief der Eber, den sie verfolgten, mit seinem merkwürdig steifbeinigen Schritt dahin, hochrückig und tiefschwarz vor der Winterlandschaft. Das Geläute der Hunde hallte in dieser riesigen fahlblauen Leere wider wie die Rufe dämonischer Jodler.”

“Ein Wald, alt und tief. Dereinst hatte es auf der Welt Wälder gegeben, die niemanden gehörten, und dieser glich ihnen. Auf dem Hang kam er an einem vom Wind gefällten Tulpenbaum vorbei, der im Griff seiner Wurzeln zwei feldkarrengroße Steinbrocken hochhielt, gewaltige Tafeln, auf denen mit Kameen urzeitlicher Muscheln und im Kalk geätzten Fischen nur eine Geschichte von verschwundenen Meeren geschrieben stand.”

Ein Beitrag von Claudio.

#VerschämteLektüren (14): Nebelschwaden wabern über dem grauen Sofa

Ganz großes Kino? Großes Kino? Mittelgroßes Kino? Na ja, Kino halt: Die Nebel von Avalon

Claudia ist eine passionierte Leserin - davon spricht ihr Blog “DASGRAUESOFA” Bände. Bei der Auswahl zeitgenössischer Literatur verlasse ich mich gerne auf die Tipps, die sie zu bieten hat: Ihr Urteil hat Hand und Fuss, sie zeigt Stärken und Schwächen von Büchern auf, die ich nachvollziehen kann, selbst wenn ich das Buch “anders” lese. Kurzum: Eine Leserin mit Sinn und Verstand. UMSO ERSCHÜTTERNDER ist es zu erfahren, dass einst über dem grauen Sofa fantastische Nebelschwaden aufzogen…:

“Ich muss gestehen: Ich habe sie auch alle gelesen, die verschämten Lektüren, die hier schon vorgestellt worden sind - ich bin in mindestens 11 Bänden Angélique durch Frankreich, über das Mittelmeer in den Orient und später bis nach Kanada gefolgt  (und wie langweilig war danach der Geschichtsunterricht), habe in den Südstaaten-Romanen von Gwen Bristow in gleich drei Bänden eine Plantagenbesitzerfamilie und ihre unglaublichen Schicksale über die Jahrhunderte verfolgt, und natürlich in Margret Mitchells „Vom Winde verweht“ mit Scarlett O´Hara geliebt, gelitten und gekämpft.

Als ich unlängst bei den #VerschämteLektüren den Beitrag zum Märchenprinzen und andere Verweise auf „feministische“ Literatur las und ich überlegte, warum der Titel so ganz und gar an mir vorbeigegangen ist, da fielen mir doch weitere verschämte Lektüren ein, die ich möglicherweise zu der Zeit gelesen habe: nämlich die Fantasy- Werke von Marion Zimmer Bradley!

MZB_1„Die Nebel von Avalon“ gehören natürlich dazu – und siehe da: ich kann mich an nichts mehr erinnern, mit Ach und Krach fällt mir noch Tintagel ein, die Burg in Cornwall, aber wahrscheinlich auch nur, weil meine Freundin im Sommer da gewesen ist, und die Nebel über dem See, die mit dem Boot und viel (esoterischem) Glück durchpaddelt werden müssen, um von dem christlichen Kloster nach Avalon zu kommen. Und Artus und der Merlin fallen mir natürlich ein und Morgaine, die Fee. Das war es aber auch schon.

Und dann gibt es noch die Darkover-Saga der Autorin. Auf einem fernen Planet, der von einer roten Sonne beschienen und deshalb ein recht unfreundliches Klima hat, ist ein Raumschiff der Erde gestrandet, die Überlebenden bauen eine neue mittelalterlich-agrarische Kultur auf, mit adeligen Herrschaftsfamilien und vor allem ganz viel telepathischen Kräften. Mehr ist mir davon auch nicht in Erinnerung, obwohl ich einige Bände damals sehr gerne gelesen.  Selbst beim Recherchieren und Nachlesen des ein oder anderen Titels, der mir dann doch bekannt vorkommt („Gildenhaus Thendara“ zum Beispiel) , kommt nichts an Erinnerung an die Handlung zurück. Es muss wohl doch eine ganz nachhaltig beeindruckende Lektüre gewesen sein (hihihi)!

Dafür ist aber das Nachlesen der Autorinnenbiografie bei Wikipedia sehr erhellend. Von der Groschenheftschreiberei über religiös-esoterische Weltbilder bis zu Missbrauchsvorwürfen  hat die Autorin wohl ein sehr spannendes Leben geführt…

Was wir so alles gelesen haben. Und dass doch noch etwas Vernünftiges aus uns geworden ist! Da werde ich wohl nicht mehr mit dem Wimpern zucken, wenn mir mal wieder jemand etwas über Panem-Bände, Vampir-Romane oder sonstige merkwürdigen Lektüren etwas erzählt.

Konsequenterweise hat dann auch keines der Bücher in meinem Regal bis heute überlebt, ich bin da sehr rigoros mit dem Ausmisten und Verschenken. Die verschämteste Lektüre, die ich gefunden habe, sind fünf Bände Donna Leon, aber über die hat Birgit schon die sehr passende Zusammenfassung ALLER Handlungen geschrieben, hier nachzulesen:
http://saetzeundschaetze.com/2014/07/13/4521/.

Und hier geht es zu einem Sitz- und Leseplatz auf dem grauen Sofa: http://dasgrauesofa.wordpress.com/

Peter Wawerzinek: Schluckspecht (2014).

Bild: Iris Jahnke

“Nichts dagegen zu sagen gibt es zum Film mit Nicholson in der Irrenanstalt. Der gefällt ihr ausnehmend gut. Den kann sie sich immer wieder ansehen. Der hat so viel mit dem Leben zu tun, seiner zeitweiligen Vergeblichkeit. Dass man nicht aufhören darf, an die Flucht zu glauben. Die sanften Berge. Das schöne Licht der Sonne, die sich auf dem Wasser eines kleinen Baches spiegelt. Die gleiche Landschaft taucht zum Schluss wieder auf, wenn der mächtige Indianer das eckige Monstrum von Waschbecken samt Sockel aus der Verankerung im Fußboden reißt und durchs Anstaltsfenster wuchtet, durchs Loch in die Freiheit springt, mit federndem Schritt davonläuft. Die Irrenanstalt sieht dem Ulenhof ähnlich. (…)
Man zählt, sagt sie, wenn man sich therapieren und vom Alkohol wegbringen lässt, nicht mehr zu den Verrückten, nicht mehr zu den Normalen, ist ein menschliches Zwischending. Alle Schluckspechte werden aus dem Nest gekickt.”

Peter Wawerzinek, “Schluckspecht”, Galiani Berlin, 2014.

Ein Buch, das umhaut. In einem Zug gelesen - gelesen wie ein süchtiger Schluckspecht. Ein Buch, das sich einer gewöhnlichen Besprechung beinahe entzieht. Denn die Handlung, sie ist schnell umrissen, wäre schnell erzählt, wäre eigentlich so eintönig, wie es der Alltag eines suchtkranken Menschen unter Umständen ist - weil die, die die Sucht am Wickel hat, von ihr täglich beherrscht werden, weil es da wenig anderes gibt. Wäre da nicht die Sprache dieses Dichters, für den das Schreiben selbst zur heilsamen Therapie wurde.

“Also sitze ich auf des Doktors Rat hin an meinen Schreibtisch und schreibe den Verlauf meines Lebens bis zu jenem Punkt nieder, an dem mir alle Fäden aus den Händen glitten (…). Und schreibe wie im Rausch im Schreibzimmer, das nicht viel größer ist als das Cockpit eines Flugzeugs. (…). Nachdenken führt in ungeahnte Tiefe.”

Peter Wawerzinek beschreibt in „Schluckspecht“ seine eigene Suchtlaufbahn und den Ausstieg daraus - als Stipendiat in Wewelsfleth lebt er nahe des Heims “Eulenhof”. Dort gelingt ihm der Weg vom Vollrausch hin zum kontrollierten Trinken. Zu dieser Zeit hatte er bereits mit „Das Kind, das ich war“ einen Namen in der Literaturszene. Trotzdem lebte er weiter im Rausch, überwand diesen erst durch eine langjährige Behandlung. Noch in der Therapie schreibt Wawerzinek das mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Buch „Rabenliebe“. Und nun „Schluckspecht“ als literarisches Dokument einer Rückkehr - ins literarische Leben, ins rauschfreie Leben.

Wie Wawerzink, selbst 30 Jahre am Trinken, das erzählt, wie er den langsamen Weg hinein und den noch längern aus der Sucht heraus in Worte gefasst hat: Sprachmächtig, burlesk, tragisch-komisch, voller Trauer und voller Lebenslust.

Und ohne Schonung für sich selbst:

“Am Zerfall ist nichts heilig. Der Zerfallene ist ein verworfener Satz, flüchtig zu Papier gebracht. Am Anfang ist der Säufer noch Mensch. Am Ende ist dieser Mensch nur noch Säufer.”

Wie die Alkoholsucht sich einschleicht:

“Tante Luci hat immer gesagt, man bekommt es mit, wenn einem die Liebe erscheint, man ist bis dahin von Blindheit geschlagen. Die Liebe kommt einfach so auf einen zu. Die Liebe ist plötzlich da. (…). Und alles mache die Liebe schön. Und es würde einem so richtig warm ums Herz, und die Liebe beflügelt einen, und man möchte, wenn man die Liebe gespürt hat, fortan nicht mehr ohne Liebe sein. Denn nur die Liebe führe einen sanft bei der Hand in unbekannte Bereiche. Genauso geht es mir mit der Schwarzen Johanna. Sie ist meine erste Liebe, auch wenn sie kein Mädchen ist.”

Wohin die Sucht führt, wenn für keine andere Liebe mehr Platz ist:

“Meine psychische Gesamtsituation ist nicht die allerbeste. Ich lasse mich gehen. Aus der Unklammerung der Kumpels in die selbst auferlegte Einsamkeit, ins Sololeben übergewechselt, bin ich nicht mehr in der Lage, Ordnung zu wahren, mit System den Tag zu bestreiten. (…) Mir fehlt es an Ordnungssinn, der Wohnschlauch ist lang und eng, müllt schnell zu. Ich liege ausgestreckt in stabiler Seitenlage. Die Wange ruht auf der linken oder auf der rechten Hand, je nachdem. Ich wasche mich nur kurz, wenn ich zur Kneipe gehe. Ich bin tagelang zu Hause, gehe nicht an die Tür.”

Aber es geht auch der Weg heraus - wenn er auch lange dauert, von Rückfällen und Verlusten geprägt:

“Und langsam rede ich es mir auch nicht mehr ein, sondern spüre die Kraft, die in mir wächst. Und kann erste positive Energien abrufen, mich überwinden. Und es fehlt mir nichts zum Leben. Dann aber überkommt es mich hinterrücks, von weiß nicht woher, in Clifden angekommen. Ich steige vom Rad ab und gehe in den Pub. Und trinke, weil mir danach ist, ein Bier. Und der Doktor redet nicht dagegen, sondern trinkt mit. Und das ist genau das, was mir das Bier verleidet und am nächsten Tag so zusetzt. Dass ich mich besaufen durfte. (…). Und der Doktor hat die Fenster aufgerissen. Und hakt nicht nach, stochert nicht in der Wunde, setzt mir nicht zu, stellt keine Fragen, dass es mir peinlich ist, ich aus dem Zimmer stürme, am Strand all meine Last herausschreie, wie die Welle gischte, brande, gegen mich schäume.”

Peter Wawerzinek hat es geschafft. Man wünschte jedem, der an dieser Krankheit leidet, er fände einen Doktor: Der das Fenster zum Leben wieder öffnet.

“Schluckspecht ist Beichte, Befreiungsschlag und Beschreibung eines jahrzehntelangen Leidenswegs, durch den grammatischen Kunstgriff des Präsens nah und listig an den Leser gerückt. (…) Der Roman umreißt die enge Welt, in der Peter Wawerzinek als haltloser Trinker ziemlich genau drei Jahrzehnte lang lebte. Er erzählt die Geschichte seiner Sucht weder als Heroenstück noch als Verteufelungsschrift.”

So ein Zitat aus dem Magazin Profil von der Verlagsseite. Mehr zum Buch dort: http://www.galiani.de/buecher/peter-wawerzinek-schluckspecht.html

Joseph Roth im Kino - Verflixte Gastfreundschaft. Preview mit Buster Keaton.

Our Hospitality (Verflixte Gastfreundschaft bzw. Bei mir Niagara). Angaben zum Film: http://de.wikipedia.org/wiki/Verflixte_Gastfreundschaft

“Bei mir - Niagara” ist der geschmacklose Ha-Ha-Ha-witzige Titel eines amerikanischen Meisterfilms mit Buster Keaton (Der Titel ist nicht amerikanisch). Der Film spielt in der “guten alten Zeit”, der man in Amerika so wenig nachtrauert, dass man sie sogar verspottet. Wer diesen Film sieht, sehnt sich bestimmt nicht mehr in eine Zeit zurück, deren Gemütlichkeit grotesk ist, deren gesellschaftliche Vorurteile barbarisch sind. Es ist ein großes Meisterstück, nicht eine Zeit zu verhöhnen, sondern eine Sentimentalität auszurotten. Das war Sinn und Zweck dieses Films. Nirgends ward ich mir so der Wahrheit bewußt, daß Lächerlichkeit tötet. In diesem Film bricht der neue Mensch endgültig mit der Romantik seiner Vorfahren-Zeit. So ist dieser Film beinahe eine historische Etappe. Wäre er eine geschriebene Satire, er (beziehungsweise sie) käme in die Literaturgeschichte. Eine Filmgeschichte haben wir noch nicht.

Joseph Roth in “Filme. Zwei deutscher und ein amerikanischer.”, erschienen in der Frankfurter Zeitung, 8. Februar 1925

Ganz frisch erschienen ist beim Wallstein Verlag, der in mehreren Büchern die journalistischen Texte und Essays von Joseph Roth neu herausbringt, der Titel “Drei Sensationen und zwei Katastrophen”. Darin versammelt sind die Feuilletons zur Welt des Kinos, zu dem Joseph Roth durchaus ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Entsprechend giftig, bissig und zuweilen hintergründig sind seine Zeitungsbeiträge, insbesondere wenn es sich um Schmonzetten des deutschen Kinos handelt. Als “Sneak Preview” auf das Buch, zu dem sicher noch eine eingehende Besprechung hier folgt, zunächst diese 1925 erschienene Lobeshymne auf Buster Keatons Film “Our Hospitality”, der inzwischen unter dem deutschen Titel “Verflixte Gastfreundschaft” bekannt ist. Der Ha-Ha-Ha-witzige Titel “Bei mir Niagara” hat offenbar nicht nur bei Joseph Roth Missfallen erregt.

Auch dieses Buch aus dem Wallstein Verlag überzeugt durch seine sorgfältige Edition. Die beiden Herausgeber Rainer-Joachim Siegel und Helmut Peschina haben für ein fachkundiges Nachwort und ein umfangreiches Quellenverzeichnis mit vielen weiteren Informationen gesorgt. Zu den Verlagsinformationen geht es hier lang: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313828-joseph-roth-drei-sensationen-und-zwei-katastrophen.html

In der Zeitung “Das Illustrierte Blatt” - so im Anhang des Buches zu lesen - schrieb Joseh Roth 1926 in seinem Artikel “Die Spaßmacher der Welt”:
“Zwischen ihm (Charlie Chaplin) und Harold Lloyd steht der traurigste Clown: Buster Keaton. Er siegt am Schluß, aber es fällt ihm schwer. Er ist niemals ein Frohlockender. Er kennt keinen Triumph. Fast ist ihm in der Niederlage wohl. Wenn er gewinnt, vergisst er nicht die Relativität des Gewinns.”

Wie treffend! Und deshalb hier zu meinem Favoriten unter den stummen Helden “Our Hospitality” in voller Länge:

Dashiell Hammett: Der dünne Mann (1934).

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Detektiv jemals zurechtkommen soll, ohne mit dir verheiratet zu sein, aber übertreiben tust du`s deswegen doch. Studsy, der Morelli anstößt, das ist genau meine Vorstellung von etwas, worüber man sich lange Zeit keine Gedanken zu machen braucht. Eher würde ich mir schon Gedanken darüber machen, ob sie Sparrow fertiggemacht haben, um zu verhindern, dass ich was abkriege, oder um zu verhindern, dass ich was erzählt kriege. Ich bin müde.“
„Ich auch. Sag mir eines, Nick. Sag mir die Wahrheit: als du mit Mimi gerungen hast, hast du da nicht eine Erektion bekommen?“
„Oh, so `n bisschen.“
Sie lachte und stand vom Fußboden auf. „Also wenn du kein widerwärtiger alter Wüstling bist“, sagte sie. „Sieh mal, es ist schon hell.“

Dashiell Hammett, „Der dünne Mann“, 1934.

Die Schlafzimmergespräche von Nora und Nick Charles sind eben etwas anders wie bei anderen Leuten. Mit seinem letzten Roman schuf Dashiell Hammett (1894-1961) das wohl charmanteste und glamouröseste Detektivpärchen der Literatur. Und hinterließ ein literarisches Zeugnis, das scheinbar ganz leicht und leichtlebig von der Krankheit erzählt, die sein Leben jahrelang prägte: Im „dünnen Mann“ wird gesoffen, was das Zeug hält.

Als der Roman 1934 erschien, hatte Hammett wegen seiner Alkoholsucht und einem Leben, das wie eine nimmerendende Party erschien, bereits mehrere Jahre nichts mehr veröffentlicht. Zuvor kam der Rausch – der Rausch des Erfolgs. Der Schulabbrecher, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, als Pinkerton-Detektiv Erfahrungen sammelte und als Pulp-Autor mäßige Resonanz bekam, war auf einer unglaublichen Welle geritten – beinahe im Halbjahrestakt erschienen ab 1929 die Romane „Die rote Ernte“, „Der Fluch des Hauses Dain“, „Der Malteser Falke“ und „Der gläserne Schlüssel“. Dashiell Hammett gilt noch vor Raymond Chandler als Schöpfer der „hard boiled novel“, die realistisch die schwarze Seite Amerikas darstellt: Verbrechen und Korruption in der schönen Neuen Welt.

Diese neue Art der harten Krimis kam an. Hammett wurde zum Liebling Hollywoods, “the hottest thing in town”, wie es die Dramatikerin Lillian Hellman in ihren Erinnerungen formulierte. Hellmann lernte Hammett kennen, als er auf dem Gipfel des Erfolgs stand: Frauenheld, Partylöwe, Dauerzecher. Literarisch jedoch schien er am Ende, wie Hellman 1965 in Erinnerungen an ihn schreibt:

“When I first met Hammett he was throwing himself away on Hollywood parties and New York bars: the throwing away was probably no less damaging but a little more forgiveable because those who were there to catch could have stepped from The Day of the Locust. But he knew what was happening to him and, after 1948, it was not to happen again. It would be good to say that as his life changed the productivity increased, but it didn’t. Perhaps the vigor and the force had been dissipated. But, good as it is, productivity is not the only proof of a serious life and now, more than ever, he sat down to read.”

“Because on the night we had first met he was getting over a five-day drunk and he was to drink very heavily for the next eighteen years. And then one day, warned by a doctor, he said he would never have another drink and he kept his word except for the last year of the one martini, and that was my idea.”

Lillian Hellman und Dashiell Hammett

1948 also wird Hammett „trocken“, doch bis dahin ist es noch ein langer Weg und die schriftstellerische Produktivität längst schon versiegt. Denn sein letzter Roman, „Der dünne Mann“, erscheint 1934, danach nur noch Erzählungen. Gewidmet ist der „dünne Mann“ Lillian Hammett – und durchaus kann man sich vorstellen, dass die Dialoge zwischen Nick und Nora, so locker wie aus einer Noël Coward-Komödie, aus dem „echten“ Leben gegriffen sind. Nick und Nora, Dashiell und Lillian – ein Paar wie Scott und Zelda, Dashiell der große Gatsby des Thrillers, leichtlebig, charmant, hedonistisch. Hellmann schildert den Entstehungsprozess des Krimis:

“I had known Dash when he was writing short stories, but I had never been around for a long piece of work. Life changed: the drinking stopped, the parties were over. The locking-in time had come and nothing was allowed to disturb it until the book was finished. I had never seen anybody work that way: the care for every word, the pride in the neatness of the typed page itself, the refusal for ten days or two weeks to go out even for a walk for fear something would be lost. It was a good year for me and I learned from it and was; perhaps, a little frightened by a man who now did not need me. It was thus a happy day when I was given half the manuscript to read and was told that I was Nora, It was nice to be Nora, married to Nice Charles: maybe one of the few marriages in modern literature where the man and woman like each other and have a fine time together. But I was soon put back in place—Hammett said I was also the silly girl in the book and the villainess.”

Zunächst stößt “Der dünne Mann” jedoch auf wenig Gegenliebe: Etliche Magazine lehnen eine Veröffentlichung ab, zu ungewöhnlich und außer der Reihe ist das Buch, es wird, gemessen an seinen Vorgängern, als “zu leicht” empfunden. Tatsächlich ist es das am wenigsten „schwarze“, das komödiantischste und leichteste seiner Bücher, wenn es auch immer noch genügend „Hard-boiled“ -Elemente und eine spannende Story in sich birgt. Als es dann herauskommt, straft der Erfolg alle Kritiker lügen – schon kurz nach Erscheinen des Buches kommt die Verfilmung mit William Powell und Myrna Loy ins Kino, weitere Dünne-Mann-Geschichten, die Hammett als Auftragsarbeiten für Hollywood schreibt, und Filme mit der Erfolgsbesetzung folgen.

Myrna Loy und William Powell als Nora und Nick.

Nick Charles ist durchaus ein Abbild Dashiell Hammetts zu der Zeit, als dieser Lillian Hammett kennenlernt: Der frühere Detektiv, der inzwischen den Ehestand, das ironische Geplänkel mit seiner Liebsten, aber auch die täglichen Drinks genießen will.

Nora konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Sie las Schaljapins Erinnerungen, bis ich zu dösen begann, worauf sie mich mit der Frage weckte: „Schläfst du?“
Ich bejahte es.
Sie steckte eine Zigarette für mich an und eine für sich selber. „Spielst du nie mit dem Gedanken, dich ab und zu bloß so aus reinem Vergnügen wieder einmal als Detektiv zu betätigen? Ich meine, wenn irgendwas Besonderes anliegt, wie die Lindb—„
„Liebling“, sagte ich, „mein Tip lautet, dass Wynant sie umgebracht hat und die Polizei ihn auch ohne meine Mithilfe schnappen wird. Für mich jedenfalls ist das völlig bedeutungslos.“
„Das habe ich nicht eigentlich gemeint, aber —„
„Aber außerdem habe ich auch nicht die Zeit dazu. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, darauf aufzupassen, dass du keinen Cent von dem Geld verlierst, um dessentwillen ich dich geheiratet habe.“ Ich küsste sie. „Meinst du nicht, ein Drink würde dir vielleicht zum Schlaf verhelfen?“
„Nein, danke.“
„Vielleicht, wenn ich einen nehme.“

Alles Abwehren jedoch fruchtet nicht: Nick Charles wird wider Willen in einen komplizierten Mordfall hineingezogen und auch bei der einen Leiche bleibt es nicht. Schon der erste Absatz des Buches zieht mitten hinein in den Fall – und in die „coole“ Welt des Detektivs:

„Ich lehnte am Tresen eines Speakeasy in der Fifty-second Street und wartete darauf, dass Nora ihre Weihnachtseinkäufe beendete, als ein junges Mädchen, das mit drei anderen Leuten an einem Tisch gesessen hatte, aufstand und zu mir herüberkam. Es war zierlich und blond, und ob man sein Gesicht betrachtete oder seine Gestalt in dem rauchblauen Sportkostüm, das Ergebnis war gleichermaßen zufriedenstellend.“

Das Mädchen, Dorothy, ist die Tochter eines früheren Klienten von Nick Charles, dem Erfinder Clyde Wynant. Und sie ist, wie der Herr Papa und der Rest der Familie, mit „exzentrisch“ noch wohlwollend beschrieben. Die Herrschaften, samt der dubiosen Sekretärin und Geliebten des Erfinders, die als erste ihr Leben lassen muss, sind allesamt sinister und hinter dem Geld des „dünnen Mannes“ her (erst mit den Nachfolgefilmen wird der Detektiv selbst zum „dünnen Mann“). Charles will sich heraushalten und gemütlich seine Weihnachtscocktails süffeln – bis jedoch nächtens ein Krimineller in seinem Schlafzimmer steht, mit der Pistole wedelt, die Polizei für Randale sorgt und nicht zuletzt Ehegattin Nora ihre Neugierde nicht bezähmen kann. Mit viel Witz und ebenso viel Spannung wird die Geschichte temporeich vorangetrieben. Und endet mit einer Überraschung: Alle sind verdächtig, aber der Mörder ist…

Noch einige Worte zur Verfilmung:
Dass in den 30erJahren auf der Leinwand noch munter geraucht und getrunken werden durfte, ist klar. Aber ein Wort wie „Erektion“ (siehe Eingangszitat)? No way. Die größte Freiheit erlaubte sich Hollywood jedoch bei der Besetzung der heimlichen Hauptrolle: Asta.
Dabei erklärt Nick Charles im Roman dazu noch ausdrücklich:

„Am Nachmittag ging ich mit Asta spazieren, machte zwei Leuten klar, dass sie ein Schnauzer sei und keine Mischung aus schottischem und irischem Terrier…“

Und was sieht man auf der Leinwand???

 

 

 

 

 

 

Lillian Hellmans Erinnerungen an Dashiell Hammett: http://www.nybooks.com/articles/archives/1965/nov/25/dashiell-hammett-a-memoir/

Luigi Bartolini: Fahrraddiebe (1946).

“Man weiss, dass Verlaine die Diebe liebte. Weil er zusammen mit ihnen im Gefängnis sass, deshalb liebte er sie. Und er nannte sie “die lieben Diebe”. Und was Mörder angeht, so nannte er sie “die süssen Mörder”. Aber das war für ihn lediglich eine Frage des Reims, höchstens eine Frage von Worten, der klingelnden Worte von Dichtern - die nichts bedeuten in der nackten Wirklichkeit der Dinge.”

Luigi Bartolini, “Fahrraddiebe”.

Die nackte Wirklichkeit der Dinge - dies darzustellen war ein Kennzeichen des italienischen Neorealismus. Und dazu gehörte auch die Darstellung der nackten Not im Italien der Kriegs- und Nachkriegszeit. Wo der Diebstahl eines Fahrrads eine Bedrohung der nackten Existenz sein konnte.
Selten jedoch dass, aber manchmal eben doch, ich sagen muss: Ich ziehe die Literaturverfilmung dem Buch vor. “Fahrraddiebe”, 1946 von Luigi Bartolini geschrieben, 1948 von Vittorio de Sica verfilmt, ist einer dieser Fälle. Beide, Film wie Buch, gelten als Meisterwerke des italienischen Neorealismus. Bis auf Ort und Zeit (das Rom der 40er Jahre) und die Rahmenhandlung des Fahrraddiebstahls sowie dem Versuch des Besitzers, wieder an den Drahtesel zu kommen, sind Buch und Film zwei paar italienische Stiefel.

Luigi Bartolini (1892-1963) war nicht nur als Schriftsteller äußerst produktiv und bekannt, sondern auch als preisgekrönter bildender Künstler. Mit seinen kritischen, teil sehr polemischen Schriften zu Kunst und Kultur spaltete er oftmals die Gemüter. Auch politisch nahm er kein Blatt vor den Mund: Wegen seiner kritischen Artikel wurde der bekennende Antifaschist während der Mussolini-Diktatur zeitweise verhaftet und musste vorübergehend Rom verlassen.  Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er als Professor an der römischen Kunsthochschule tätig werden.

Man gehe jedoch aufgrund der politischen Haltung nicht davon aus, Bartolini sei ein Menschenfreund gewesen - nimmt man den Erzähler aus “Fahrraddiebe” als alter ego des Autoren, so trifft man dabei eher auf einen polemischen, überheblichen und wenig sympathischen Misanthropen. Diesem wird am 28. September 1944 sein Fahrrad gestohlen, als er in einem Laden nur kurz Schuhwichse kaufen will. Die Jagd nach seinem Eigentum, das für ihn nicht nur als Fortbewegungsmittel zwischen den verschiedenen Redaktionen wichtig ist, sondern vor allem als Möglichkeit, der Stadt und den Menschen zu entfliehen, wird zu einer tour de force quer durch la citta apertà. Bartolini nimmt den Leser mit, dahin, wo es wirklich weh tut: In die finsteren Gassen, wo sich Hehler, Gauner, Schieber und Huren tummeln. In die finstere Unterwelt rund um den Campo dei Fiori und in das Viertel Trastevere, heute ein für Touristen aufgehübschtes Viertel, seinerzeit Hort der Kleinkriminellen und Verbrecher.

Dies ist eine Qualität des Buches: Durch die realistische Schilderung der Armut und des Niedergangs ist es ein Zeitdokument, ein Abbild Italiens in den letzten Kriegswirren. Beinahe so erschreckend in den Zustandsbeschreibungen wie Malapartes Neapel-Roman “Die Haut”. Abgemildert wird dies durch philosophische Einsprengsel über das Verlieren und das Finden und den Wert des Lebens an sich:

“Es geht im Leben darum, Verlorenes wiederzufinden. Man kann es einmal, zweimal, dreimal wiederfinden, so wie es mir gelungen ist, mein Fahrrad wiederzufinden. Doch das dritte Mal wird kommen, und nichts mehr werde ich finden. So ist es, wiederhole ich, mit dem ganzen Dasein. Es ist ein Lauf über Hindernisse, bis man endlich verliert oder stirbt. Ein Lauf über Hindernisse von Kindheit an!”

Die mehrfache Wiederholung alltäglicher Banalitäten, ständige verbale Ausfälle gegen alles und jeden - Briten, Deutsche, Amerikaner, Gauner, Frauen, Händler - und ein leicht larmoyanter Unterton dämpften bei mir das Lesevergnügen erheblich. Das Buch endet zumindest mit dem Rückkauf des gestohlenen Drahtesels, der Erzähler kann weiterradeln…Ciao!

Auch de Sica zeichnet in seinem Film ein Bild des trostlosen Roms, zeitlich versetzt in die Nachkriegszeit. Statt des Ich-Erzählers spielt ein Arbeiter die Hauptrolle, der mit Plakatekleben seine Familie durchbringen muss. Das Rad ist unabdingbare Voraussetzung für den Job. Als es gestohlen wird, ist damit tatsächlich die Existenzgrundlage geraubt. In Begleitung seines kleinen Sohnes Bruno geht der Arbeiter auf die ergebnislose Suche. Am Ende gerät er selbst in Versuchung zu stehlen - ein Mundraub im klassischen Sinne aus Not, der dem Film mehr Menschlichkeit einhaucht, als das Buch in sich birgt. Zudem vermittlen die familiären Szenen, die Vater-Sohn-Beziehung menschliche Wärme in einer Zeit der Not - Lichtblicke, die der Literaturvorlage fehlen.

Johann Wolfgang von Goethe - Freudvoll und leidvoll

Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

Johann Wolfgang von Goethe

Bevor ich hier viele Worte mache - Marcel Reich-Ranicki über das “schönste, das vollkommenste erotische Gedicht in deutscher Sprache”:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/frankfurter-anthologie/marcel-reich-ranicki-in-der-frankfurter-anthologie-johann-wolfgang-von-goethe-freudvoll-und-leidvoll-12708059.html

William Shakespeare - Zweifle an der Sonne Klarheit

Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Zweifle, ob lügen kann die Wahrheit,
Nur an meiner Liebe nicht.

“Hamlet”, 2. Akt, 2. Szene, Polonius zitiert einen Brief Hamlets an Ophelia.

Ethan Hawke als “Hamlet”, in der Verfilmung von Michael Almereyda:

Rainer Maria Rilke - Die Stille

Hörst du Geliebte, ich hebe die Hände -
hörst du: es rauscht…
Welche Gebärde der Einsamen fände
sich nicht von vielen Dingen belauscht?
Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider
und auch das ist Geräusch bis zu dir.
Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder…
… aber warum bist du nicht hier.

Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung
bleibt in der seidenen Stille sichtbar;
unvernichtbar drückt die geringste Erregung
in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein.
Auf meinen Atemzügen heben und senken
die Sterne sich.
Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke,
und ich erkenne die Handgelenke
entfernter Engel.
Nur die ich denke: Dich
seh ich nicht.

Rainer Maria Rilke, aus: „Das Buch der Bilder“

Liebe braucht keine gesprochenen Worte: https://www.youtube.com/watch?v=hw3qRqL41oI

Seidene Stille: http://www.seidenestille.de/

Elizabeth Bishop - Conversation

The tumult in the heart
keeps asking questions.
And then it stops and undertakes to answer
in the same tone of voice.
No one could tell the difference.

Uninnocent, these conversations start,
and then engage the senses,
only half-meaning to.
And then there is no choice,
and then there is no sense;

until a name
and all its connotation are the same.

Elizabeth Bishop (1911-1979).

Lyrik und Short stories waren die Genres, in denen Elizabeth Bishop zuhause war. Die Amerikanerin zählt neben Emily Dickinson, Marianne Moore und Sylvia Plath zu den großen vier weiblichen Vertreterinnen der Lyrik in den Vereinigten Staaten.
Bishop erhielt für ihr Werk unter anderem den Pulitzer Preis, den National Book Award, den National Book Critics Circle Award sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen.
Ihr persönliches Schicksal war geprägt vom frühen Tod des Vaters und der Trennung von der Mutter, die psychisch erkrankt war. Elizabeth Bishop selbst kämpfte ihr Leben lang mit ihrer Alkoholerkrankung.
Eine wichtige Rolle nahm in ihrem Leben ab den 50er-Jahren die lateinamerikanische Literatur und Kultur ein. In Brasilien lernte sie die Architektin Lota de Macedo Soares kennen, mit der sie lange zusammenlebte. Diese Liebesbeziehung ist Vorlage für einen Film des Brasilianers Bruno Barreto, „Die Poetin“, der 2013 in die Kinos kam.

Die Süddeutsche Zeitung besprach den Film unter dem Titel „Die Kunst des Verlierens“ – eine Kunst, die Elizabeth Bishop schon früh ausüben musste:

„The art of losing isn`t hard to master;
so many things seem filled
with the intend to be lost
that their loss is no disaster.“

Flutschbuch: Margaret Mitchell: Vom Winde verweht (1936).

Inhalt: Den kennt man aus dem Film zum Buch – Südstaaten, Bürgerkrieg, alles kaputt. Verwöhnte Südstaatengrazie verliert große Liebe 1 (braver Bube) an andere Frau, in große Liebe 2 (böser Bube, der sich jedoch läutern will) erkennt sie DIE große Liebe erst, als er weg ist. Seine berühmten letzten Worte: “My dear, I don`t give a damn.” Ansonsten: Viel Lokalkolorit, heftiger Bürgerkrieg und auch eine gehörige Prise Rassismus. Letzteres wird wegen der Liebesgeschichte jedoch gerne übersehen resp. überlesen.

Bewertung: Kann man einen 1200-Seiter als Flutschbuch bezeichnen? Man kann. Weil man sowieso nur mit einem halben Auge die literarischen Finessen von MM – sollten solche vorhanden sein - goutiert. Vor den verbleibenden anderthalb Augen rollt der Film ab, der dank Vivian Leigh und Clark Gable für immer ins Gedächtnis eingebrannt ist. Zehn Jahre schrieb MM an ihrem einzigen Roman – das merkt man ihm beim Lesen durchaus an. Das 1936 erschienene Buch wurde dennoch mit Preisen überschüttet, so mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award und aus dem Stand zu einem Verkaufsschlager. Mit einem Rekordverkauf von 50 000 Exemplaren an einem Tag hielt das Werk bis zum Sommer 2000 die Bestmarke in der amerikanischen Buchhandelsgeschichte. Erst Joanne K. Rowling konnte mit dem vierten “Harry Potter”-Band diese Marke übertreffen.

So richtig zum Renner wurde es nach der Verfilmung durch Victor Fleming, die 1939 in die Kinos kam. Der Film ist einer der kommerziell erfolgreichsten Streifen der Filmgeschichte. Für 13 Oscars nominiert, räumte „Gone with the wind“ im Jahre 1940 zehn davon ab – darunter ging einer an Hattie McDaniel als beste Nebendarstellerin, die als erste afroamerikanische Schauspielerin die Trophäe bekam.

Starr gezeichnete Charaktere bis hin zur Karikatur, holperige Dialoge, langatmige Frequenzen - sprachlich liegt der “Schinken” nicht gerade leicht im Magen. Aber ausgeglichen wird das dafür durch Schmacht und Herzschmerz-Sentenzen:

„Seine schwarzen Augen suchten in ihrem Gesicht und wanderten hinunter zu den Lippen. Scarlett schlug die Augen nieder und wurde aufgeregt. Nun würde er sich die Freiheiten herausnehmen, die Ellen vorausgesagt hatte.“

„Der verwegene Gedanke, dass er sie an sich ziehen und streicheln sollte, aber das hatte er noch nie bei einer Frau getan, und er wusste nicht, wie er es anfangen sollte. Scarlett O`Hara, die schöne, hochmütige Scarlett, weinte hier in seinem Wagen. Scarlett O`Hara, die Stolzeste der Stolzen, versuchte den Yankees Handarbeiten zu verkaufen! Ihm brannte das Herz.“

Diese Welt der wohlhabenden Südstaaten-Schönheiten, die immer genau wissen, was sie tun - nämlich das, was der Mann ihnen ansagt - war schon längst untergegangen, als Margaret Mitchell ihr literarisches One-Hit-Wonder schrieb. Sie selbst, geboren 1900, hatte dies nie erlebt, aber in ihrer wohlhabenden Familie in Atlanta von der Legende der “guten, alten Zeit” gehört.

So ist das Buch, wie Elke Schmitter in einem Portrait schreibt,
“trotz Genauigkeit im Detail hemmungslos parteilich. Der Ku-Klux-Klan wird als Selbsthilfegruppe gedemütigter, eigentlich wohlerzogener Bürger vorgestellt, das Bürgerrecht für Schwarze als eine weltfremde Idee - nicht, weil es diesen an Menschlichkeit fehlte, doch sind wie, wie nicht nur Scarlett versichert, im Grunde wie Kinder, die man hüten muss…”

Mitchell schrieb das Mammutwerk (das nur durch die eindringlichen Schilderungen der dramatischen Kriegsfolgen nicht ganz zur trivialen Konfektionsware herabsinkt) rund um die aufmüpfige Scarlett, die sich letztlich emanzipieren muss - auch dieses vielleicht ein Schlüssel zum Erfolg des Romans, der bis heute als “Frauenbuch” gilt.

Das Leben der Autorin selbst war laut Schmitter “von Ambivalenzen” geprägt - zwischen einer politisch aktiven feministischen Mutter einerseits und dem ansonsten erzkonservativen Milieu, in dem sie aufwuchs. Ihre eigene Berufstätigkeit als Journalistin musste sie wegen ständiger Erkrankungen aufgeben. So blieb ihr die Zeit, an ihrem Roman zu schreiben. MM starb 1949 an den Folgen eines Autounfalls.

Fazit: Ohne Vivian Leigh und ihre trotzige Unterlippe vor Augen wäre der Roman an sich nur schwer durchzustehen – er flutscht nur, wenn man den Film kennt. Zwei von fünf Sternen.

Bertolt Brecht und der Film: Keine einfache Geschichte

Bertolt Brecht war zwar vom Medium Film fasziniert, hatte aber damit kein Glück. BB und der Film – das war weniger episches Theater, sondern ein Drama ohne Ende.

Dabei fing alles so gut an: Bereits 1923 arbeitet Brecht, damals 25 Jahre alt, mit dem Regisseur Erich Engel und mit Karl Valentin zusammen. Die „Mysterien eines Frisiersalons“ erinnern streckenweise an den Surrealismus im „andalusischen Hund“ von Luis Buñuel, sind aber auch komisch, humoristisch und ein wenig chaotisch. Der Film galt lange als verschollen, wurde jedoch in den 70erJahren wiederentdeckt und restauriert.

1930 machte sich Georg Wilhelm Pabst an die Verfilmung der Dreigroschenoper. Brecht, zunächst noch aktiv mit dabei, zerwirft sich mit Regisseur und Produktionsfirma, will den Film, auch vor dem Hintergrund des aufdämmernden Nationalsozialismus, mit eindeutigerem politischen Inhalt versehen. Die Streitigkeiten führen zum sogenannten Dreigroschenprozeß. Brecht schrieb unter dem Titel „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“ eine Analyse des Rechtsstreits, die er zusammen mit dem Filmexposé und dem Text der „Dreigroschenoper“ veröffentlichte.

1931 ist BB jedoch wieder bereit für das Medium Film – er arbeitet am Drehbuch von „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?“ mit. Der 1932 erschienene Streifen von Slatan Dudow ist benannt nach dem Zeltplatz Kuhle Wampe in Berlin am Müggelsee, einer der vielen Originalschauplätze, an denen gedreht wurde. Geschildert wird das Schicksal einer Arbeiterfamilie und eines jungen Pärchens, dessen Verbindung angesichts der ausweglosen Massenarbeitslosigkeit ohne Zukunft erscheint. Der Film hat – auch durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit „echten“ Arbeitslosen neben erfahrenen Schauspielern – streckenweise dokumentarischen Charakter, zeichnet ein realistisches Bild der Verelendung in der Weimarer Republik. Kuhle Wampe war der einzige eindeutig kommunistische Film dieser Zeit – bis hin zu Arbeitern, die das Lieder der „Solidarität“ singen – und wurde nicht nur unter großen Schwierigkeiten gedreht, sondern prompt auch von der Zensur verboten. Nach Protesten wird der Film mit einigen Änderungen freigegeben, Brecht macht dem Zensor das ironische Kompliment, dieser zumindest habe den Film wirklich verstanden - nicht als Darstellung eines individuellen Schicksals, sondern als offene Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen: „Der Inhalt und die Absicht des Films geht am besten aus der Aufführung der Gründe hervor, aus denen die Zensur ihn verboten hat.“

Dann die Zeit des Exils. Letztlich verschlägt es Brecht, wie viele andere Autoren, nach Hollywood. Wie andere ist er gezwungen, dort zu antichambrieren und arbeitet für den Broterwerb an Drehbüchern für die Traumfabrik mit. Seine Erfahrungen in dieser Zeit (siehe auch den Beitrag über Brecht im Exil) hat er in den bitteren Hollywood-Elegien verarbeitet:

1943 jedoch hat Brecht die Chance, an einem ambitionierten Filmprojekt mitzuwirken – unter der Regie von Fritz Lang, ebenfalls einem Exilanten, entsteht „Hangmen also die“ – „Auch Henker sterben“. Die beiden Künstler kannten und schätzten sich bereits in den Tagen der Berliner Zeit. Als Brechts Lage im schwedischen Exil angespannt wird, sorgte Lang, der in Hollywood schnell Fuß gefasst hatte und seine Karriere fortsetzen konnte, mit dem European Film Fund dafür, dass Brecht, Weigel, sowie die beiden Kinder und Ruth Berlau Visa für die USA bekamen, 1941 traf die Familie in Los Angeles ein.

Der Film „Auch Henker sterben“ erzählt bereits ein Jahr nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Prag 1942 eine spannende Geschichte aus dem tschechischen Widerstand und der Fahndung der Gestapo nach dem Attentäter. Doch schon während der Dreharbeiten kommt es zwischen Lang und Brecht zu Differenzen. Der cholerische Lang tobt gegenüber Brecht und dem ebenfalls linksgerichteten Co-Autoren John Wexley, er „scheiße auf Volksszenen“, er wolle ein Hollywoodpicture machen. Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung – Brecht sollte wesentlich weniger als Wexley erhalten -, Kürzungen im Skript, charakterliche Unverträglichkeiten taten ihr weiteres. Die Zusammenarbeit wurde zum Desaster und gipfelte in einer Anhörung vor der „Screen Writer`s Guild“, weil Wexley als der eigentliche Autor genannt werden wollte, Brecht jedoch nur unter ferner liefen aufgeführt wurde. Die Schiedsstelle entschied zugunsten des Amerikaners. Brecht legte danach die Arbeit am Film nieder, begegnete auch Fritz Lang nicht mehr.

Doch was übrig bleibt: Zum einen überstand auch diese Episode die Freundschaft zwischen Brecht und Hanns Eisler, der als Komponist auch an den früheren Filmen mitgearbeitet hatte. Und vor allem: „Hangmen also die“ ist, wenn auch viele der Ideen und Vorstellungen Brechts nicht verwirklicht werden konnten, eines der wichtigsten Filmwerke geworden, das noch während des Nationalsozialismus eindeutig Stellung gegenüber der deutschen Tyrannei bezog.

Lang setzte dem verlorenen Freund BB später noch ein cineastisches Andenken, so der Filmwissenschaftler Peter Ellenbruch:

„Im Gegensatz zu Brecht, der ein Gegner Langs geblieben sein soll, hat sich Lang immer wieder positiv zu Brecht geäußert, ihn als einen wichtigen Autor geschätzt und sich von seinem Werk inspirieren lassen. So baute er 1963 eine Brecht-Hommage in LES MEPRIS von Jean-Luc Godard ein – in welchem er sich selbst spielte – und die Buchstaben „BB“ stehen innerhalb des Films plötzlich nicht mehr für die Hauptdarstellerin Brigitte Bardot, sondern einen Moment lang für Bert Brecht.“

Zum Weiterlesen: Bert Brecht und der Film bei der Defa-Stiftung.

 

Kurt Tucholsky - Augen in der Großstadt

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Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

„Ich bin ein Berliner!“ Dieser Ausruf hätte genauso gut von Kurt Tucholsky stammen können. Der Dichter kam 1890 in der Metropole zur Welt. Ein geborener Großstadtmensch also im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder machte er sie zum Thema seiner Gedichte - man könnte im Falle der Großstadt-Augen auch schreiben: Seiner Lieder. Dieses Liedgedicht, das mit seinem wiederkehrenden Refrain einen eigenen Rhythmus hat, singt eine bittersüße Melodie vom Großstadtleben, von der Flüchtigkeit der Begegnungen.

Dieses entstand 1930 – in dem Jahr, als Tucholsky sich entschloss, dauerhaft ins Exil zu gehen. 1935 nahm er sich in Schweden - fern von seinem geliebten Berlin - das Leben. So könnte man das Lied auch als herbsüßen Abschied von einer eigenartigen, flatterhaften Geliebten interpretieren: Augen-Blicke in einer hektischen, pulsierenden Metropole, flüchtige Begegnungen, Verheißungen, das sich Finden und Vergehen. Die Großstadt als unbeständige, unnahbare Gefährtin, die Einsamkeit in der Masse.

Tucholsky steht hier auch in einer Tradition der Expressionisten und der Literaten, die die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema machten – exemplarisch dafür der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin.

Wie eine cineastische Untermalung dazu wirkt „Die Sinfonie der Großstadt“ – dieses großartige, experimentelle Filmportrait Berlins von Walther Ruttmann, das 1927 uraufgeführt wurde. Unbedingt sehenswert:

Im Gegensatz zu Tucholsky und Döblin (der 1933 ins Exil ging) passte sich Ruttmann den Zeitläuften an – er drehte ab 1933 für die Ufa unsägliche Propagandafilme wie „Blut und Boden“.

Charles Portis: True Grit (1968).

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„Heutzutage glaubt kein Mensch mehr, dass ein vierzehnjähriges Mädchen mitten im Winter sein Elternhaus verlassen könnte, um den Mord an seinem Vater zu rächen; aber damals erschien einem das nicht so seltsam – wenn ich auch sagen muss, dass es sicher nicht alle Tage vorkommt.“

Charles Portis, „True Grit“, erstmals erschienen 1968, rororo-Taschenbuch 2010.

Jeder Mann, der einen Liebesroman geschrieben hat, muss anschließend etwas Ordentliches tun, meint Alex Capus. Nämlich einen Western schreiben. Er hat es getan:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/12/jeder-mann-will-einen-western-schreiben/

Ab und an muss man dann auch als Leser(in) etwas Ordentliches tun. Nämlich einen Western lesen. Als Kind habe ich – wie viele Kinder auch – diese Geschichten geliebt. In eine chaotische Welt brachten sie Gesetz und Ordnung. Wichtiger aber war vor allem: Man wusste einfach, wo man dran war, mit den Menschen. Ein Mann, ein Wort, ein Colt, ein Tomahawk. Der Wunsch nach Eindeutigkeit verliert sich mit den Jahren. Helden stürzen von ihrem Sockel. Die Bedürfnisse sind nicht mehr naiv, von Geschichten wird nicht mehr die Erfüllung dieser Bedürfnisse erwartet.

Doch, siehe da: Auch der Western ist erwachsen geworden. Aufgefallen ist mir dies zunächst über das Kino – Lone Ranger, Django Unchained, The Good, The Bad, The Weird, Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford: Man spricht von einer Wildwest-Renaissance. Mit den stereotypen Klischees wird nebenbei gründlich aufgeräumt – der tapfere Held, der edle Wilde, der zynische Kopfgeldjäger, deren Zeiten sind vorbei. Helden haben Ecken und Kanten. Oder sind 14 Jahre alt und ein Mädchen.

Der Roman „True Grit“, veröffentlicht 1968, bereits 1969 unter dem Titel „Die mutige Mattie“ in deutscher Übersetzung erschienen, erzählt die Geschichte dieses Mädchen, das mit einem versoffenen Marshall und einem trottelig erscheinenden Texas-Ranger auszieht, den Mörder seines Vaters zu finden. Niemand ist in diesem Roman so, wie er nach gängigen Konventionen sein sollte, und auch die „Gerechtigkeit“ ist nicht mehr das, was sie einmal war: Mattie erreicht ihr Ziel, verliert dabei jedoch einen Arm und jede Menge Illusionen. Nur glaubensfest, das bleibt die redegewandte, altkluge, manchmal äußerst nervige Göre bis ins hohe Alter.

Mattie hat echten Schneid (true grit). Die trockene, lakonische Ausdrucksweise, schwarzer Humor und herrliche Dialoge – ein Lesegenuss für einen literarischen nachmittäglichen Rachefeldzug. Bereits 1969 wurde das Buch, das zunächst in der Saturday Evening Post erschien, mit John Wayne verfilmt. Für seine Rolle als „The Marshall“ erhielt er dann endlich den ersehnten Oscar. Zur Abrundung der Lektüre ist jedoch die 2010-er Verfilmung der Coen-Brüder eher zu empfehlen. Jeff Bridges einmal mehr in einem Coen-Film – den verlotterten Marshall gibt er ebenso lässig-verspult wie seinerzeit den großen Lebowski. Für die Coens war dies erst die zweite Literaturverfilmung nach „No country for old men“, der 2007 ins Kino kam. Auch dieser Film eine hervorragende Adaption des Romans von Cormac McCarthy – auch ein Autor, der den neuen, den anderen wilden Western schreibt.

Star des Buchs, Star des Films ist jedoch die redselige, halsstarrige Mattie, Sturkopf bis zur letzten Seite, Jahre später nach dem Geschehen:

„Ich hätte mich nicht sonderlich anstrengen müssen, um mich zu verheiraten. Es geht aber keinen Menschen etwas an, ob ich geheiratet habe oder nicht. Ich kümmere mich nicht um das Gerede. Wenn ich wollte, könnte ich einen alten Pavian heiraten – und ihn zum Kassierer machen! Ich hatte ganz einfach nie Zeit für solche Spielereien. Eine Frau, die Grips im Kopf hat und kein Blatt vor den Mund nimmt, ist da vielleicht ein bisschen im Nachteil; besonders wenn sie einen Ärmel hochgesteckt trägt und eine kranke Mutter zu versorgen hat.“

Peter Bichsel will nicht nach Paris

Nein, niemals gehe er nach Paris, sagt Peter Bichsel als junger Bub. Vielleicht im Zorn, vielleicht im Schrecken. Später wird Paris zu einem Ort der sehnsuchtsvollen Vorstellungen, zu einem Ort der literarischen Erkundung. Der Sehnsuchtort. Der jedoch nie besucht wird. Was verständlich ist: Jede Überhöhung endet in einer Enttäuschung. Peter Bichsel ist zu klug, um das nicht zu wissen. Man muss sich nicht die eigenen Träume mit Gewalt zertrümmern.

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Zwischendurch legt Bichsel einen Erzählband vor. Name: „Zur Stadt Paris“. Aber immer noch hat er die Seine-Metropole nur erlesen, nie erkundet.

Der junge Filmemacher Eric Bergkraut überredet schließlich den 74jährigen, die Reise anzutreten. Peter Bichsel erklärt sich zur Überraschung aller bereit. Unter zwei Bedingungen: Kein Programm. Und ein Zimmer direkt am Bahnhof. 2009 kommt Bichsel am Gare de l`Est an, sah und blieb – im Bahnhofsviertel. Dort findet im Wesentlichen die Paris-Reise des Peter Bichsel statt.

Seine Paris-Erkundung ähnelt seinen Geschichten: Auf das Wesentliche konzentrieren. Im kleinen Format bleiben. Schauen, hinsehen, nicht beobachten. Den Menschen der Materie vorziehen. Angekommen fühlt er sich, als die junge Frau ihn an der Pforte mit „Bonjour, Monsieur Pierre“ begrüßt. Das ist ihm wertvoll: „Ich werde wahrgenommen“. Da braucht es keinen Eiffelturm.

Dies macht den Schriftsteller auch als Menschen so liebenswert. Dieses nur oberflächlich betrachtet Schrullige. Aber durch sein genaues Hinsehen können erst die Geschichten wachsen. Es bestätigt einmal mehr: Die größten Abenteuer finden im Kopf statt.

Nur zu einer touristischen Tour ringt sich Peter Bichsel schließlich durch. Er will das Karussell sehen – jenes Karussell, das Rilke im Jardin du Luxembourg zu seinen Versen antrieb. Jenes Karussell, das – wie ich vermute – von den großen Augen  Audrey Hepburns in der charmanten Thrillerkomödie „Charade“ betrachtet wurde.

Das Karussell ist noch da. Und es ist so, wie Peter Bichsel es sich vorstellte. Mehr braucht er nicht, um in Paris zu sein. Wie schön!

Der Film „Zimmer 202“ erzählt die Geschichte dieser Paris-Reise. Er erzählt aber auch viel von Peter Bichsel selbst – mit autobiographischen Bildern aus seiner Vergangenheit als Lehrer, als Schriftsteller, als Familienmann. Und der Film bringt uns Autor und Mensch gleichsam näher: Es geht nicht um das Dort-Sein. Man nimmt sich immer mit. Es geht darum, wer man ist. Sozialist oder Marxist, Linker und Schweizer, Ehemanntreu oder Ehemannzwang, Pädagoge oder Lehrer.

„Zimmer 202“ kam 2010 heraus und ist auf DVD erhältlich.