Ein Beitrag von Klaus Krolzig
Die Mitford-Sisters: Nancy, Pamela, Diana, Unity, Jessica, Deborah: die Älteste wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste eine Landfrau, die dritte heiratete den Faschistenführer Englands, die vierte wurde Hitler-Freundin. Die fünfte schlug am meisten aus der Art, machte sich zunächst als Kommunistin aus dem Staub und wanderte dann nach Amerika aus, um dort als Bürgerrechtlerin und Bestsellerautorin auf sich aufmerksam zu machen. Die sechste wurde Herzogin von Devonshire. Ein Leben, wilder als jeder Roman - die Journalistin und Autorin Susanne Kippenberger hat eine umfangreiche Biographie über diese exzentrischen Adelstöchter geschrieben.
Ihre Kindheit verbrachten die sechs Töchter des Lord von Redesdale, deren keines je eine öffentliche Schule besucht hat, auf dem Landsitz Swinbrook, laut Jessica Mitford “eine Mischung aus Kaserne, Internat und Irrenhaus.” In der ländlichen Einsamkeit pflegte hier jede ihre Marotten und Eigenheiten. “Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere”, hat der Vater der Familie einmal gestöhnt.
Bereits von der ersten Seite an wird man von Susanne Kippenberger in die Welt der Mitfords hineingezogen:
“Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca (Jessica) auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur die Schwestern und jede Menge Tiere. Sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von 16 Jahren, gefangen in einer eigenen Welt mit einer eigenen Geheimsprache, die sie zum Schutz gegen “Eindringlinge”untereinander zu sprechen pflegten. Eine Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.”
Jessica’s Leben bildet für die Biographin den eigentlichen roten Faden einer Familiengeschichte der Mitfords (mit Stammbaum und vielen Abbildungen im Buch). Decca, wie Jessica von allen genannt wurde, war der Trotzkopf der Familie und der Drang, ihr zu entfliehen, war bei Jessica wohl am stärksten ausgeprägt. Nachdem sie auf ihr “Weglaufkonto” genügend Geld eingezahlt hatte, floh sie mit Churchills “roten Neffen” Esmond Romilly Hals über Kopf nach Spanien, um hier wie Hemingway vom Bürgerkrieg zu berichten. Enttäuscht von den Entwicklungen in Spanien zog sie schon bald mit Kind und Mann nach Amerika. Ihr Eheglück mit Esmond währte jedoch nur eine kurze Zeit. Als Pilot der Canadian Air Force wurde er 1941 über Deutschland abgeschossen. Jessica wurde zur glühenden Kommunistin - im Gegensatz zu zwei ihrer Schwestern, die sich mit Haut und Haaren dem Nationalsozialismus verschrieben hatten. Sie heiratete einen jüdischen Anwalt und landete mit einem Enthüllungsbuch über das Geschäftsgebaren amerikanischer Bestattungsinstitute einen Bestseller. Als Journalistin prangerte sie immer wieder soziale Missstände in der amerikanischen Gesellschaft an und mischte sich auch politisch ein. 2013 erschienen ihre Familien-Erinnerungen unter dem Titel “Hunnen und Rebellen” auf Deutsch im Berenberg-Verlag.
Kippenbergers Buch ist reich an Anekdoten, aber niemals geschwätzig, liesst sich sehr flüssig und über weite Strecken sogar amüsant. Ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten gefühlt und als Leser einiger Mitford-Romane viele neue Erkenntnisse zur Familiengeschichte hinzugewonnen. Wir erfahren, daß Joseph Goebbels Trauzeuge bei Diana’s Hochzeit mit dem englischen Faschistenführer Oswald Mosley gewesen ist (Hochzeitsgeschenk: eine Goethe-Gesamtausgabe). Nach Ausbruch des Krieges wurden Diana und ihr Ehemann, ein Neffe Churchills, “vorsorglich” inhaftiert. Churchill veranlasste für die beiden eine Hafterleichterung, indem er auf dem Gefängnisgelände eine Villa errichten ließ, so daß sie im Gefängnis Gäste empfangen konnten und auf ihren gewohnten Komfort kaum zu verzichten brauchten.
Unity hat sich wortwörtlich an die Fersen von Adolf Hitler geheftet und sich in einem Anfall spätpubertierender Gefühlsverirrung in den Führer verliebt und alles daran gesetzt, seine Bekanntschaft zu machen. Seit ihrem ersten Besuch 1933 in München zählte man mehr als 150 Begegnungen. Dank ihrer Beharrlichkeit dringt sie bis in den inneren Kreis um Hitler vor. Als Reaktion auf Hitlers Kriegerklärung an England schießt Unity sich im Münchener Englischen Garten eine Kugel in den Kopf. Schwerverletzt kehrte sie mit ihrer Mutter in einem Sonderwagen Erster Klasse über die Schweiz nach England zurück, Hitler bezahlte die Kranken- und Transportkosten. 1948 starb sie an den Folgen ihrer Verletzung. Manchmal reibt man sich beim Lesen die Augen und muss sich vergewissern, daß man hier nichts Erfundenes, sondern eine gut recherchierte, auf historische Quellen basierende Biographie ließt, die sich wie ein Roman vor dem Auge des Lesers ausbreitet. Bei youtube ist eine Serie über “Hitler`s British Girl” zu sehen.
Susanne Kippenberger in der Einleitung: “Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Manchmal blieb mir bei meinen Recherchen nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: “curiouser and curiouser”, seltsamer und seltsamer…”
Nancy Mitford, die Älteste und bei uns die wohl bekannteste der Mitford-Sisters wurde mit ihren Büchern zur Chronistin der Familie, ihrer Schicht und ihrer Zeit. In ihren autobiographischen Romanen “Englische Liebschaften” und “Liebe unter kaltem Himmel” (beide erschienen in der Anderen Bibliothek) schreibt sie witzig und geistvoll über die Skurrilitäten und Exzentritäten englischer Landsitz-Bewohner im Stil ihres Freundes Evelyn Waugh. Es sind munter plätschernde Erzählungen von Liebe und Heirat, viel Unordnung und frühem Leid. (In Alan Bennetts Erzählung “Die souveräne Leserin” vernachlässigt die Queen ihre königlichen Plichten, weil sie viel lieber in den Büchern von Nancy Mitford schmökert).
Und dann sind da noch die im Lichte ihrer Schwestern etwas glanzlosen Pamela und Deborah. Pamela fühlte sich mehr zur Schweine- und Hühnerzucht hingezogen. Deborah, die Jüngste, kam in die Schlagzeilen, als sie 1941 den steinreichen Herzog von Devonshire heiratete und 2011 ihre Memoiren veröffentlichte. Sie starb als letzte der Mitford-Schwestern erst vor einigen Wochen im Alter von 94 Jahren. Von dem hochmusikalischen Bruder Tom, der unter sechs Schwestern keinen leichten Stand gehabt haben wird, ist in dem sehr lesenswerten Buch von Susanne Kippenberger kaum die Rede. Er führte ein unauffälliges Leben, nachdem er als einziges Kind der Familie einen Zugang zum Studium nach Oxford bekam, um schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen. Als Soldat fiel er 1945 in Burma.
Für meine Lektüre habe ich die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg der Originalausgabe aus dem Hanser-Verlag vorgezogen. Die Gestaltung des Schutzumgschlags finde ich in der Büchergilde besonders gut gelungen. Der Leinen-Einband mit Lesebändchen macht das Buch zu einem haptischen Erlebnis.
Susanne Kippenberger, “Das rote Schaf der Familie - Jessica Mitford & ihre Schwestern”, Hanser Verlag 2014 / Büchergilde Gutenberg