Susanne Kippenberger: Das rote Schaf der Familie (2014).

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Die Mitford-Sisters: Nancy, Pamela, Diana, Unity, Jessica, Deborah: die Älteste wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste eine Landfrau, die dritte heiratete den Faschistenführer Englands, die vierte wurde Hitler-Freundin. Die fünfte schlug am meisten aus der Art, machte sich zunächst als Kommunistin aus dem Staub und wanderte dann nach Amerika aus, um dort als Bürgerrechtlerin und Bestsellerautorin auf sich aufmerksam zu machen. Die sechste wurde Herzogin von Devonshire. Ein Leben, wilder als jeder Roman - die Journalistin und Autorin Susanne Kippenberger hat eine umfangreiche Biographie über diese exzentrischen Adelstöchter geschrieben.

Ihre Kindheit verbrachten die sechs Töchter des Lord von Redesdale, deren keines je eine öffentliche Schule besucht hat, auf dem Landsitz Swinbrook, laut Jessica Mitford “eine Mischung aus Kaserne, Internat und Irrenhaus.” In der ländlichen Einsamkeit pflegte hier jede ihre Marotten und Eigenheiten. “Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere”, hat der Vater der Familie einmal gestöhnt.

Bereits von der ersten Seite an wird man von Susanne Kippenberger in die Welt der Mitfords hineingezogen:

“Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca (Jessica) auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur die Schwestern und jede Menge Tiere. Sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von 16 Jahren, gefangen in einer eigenen Welt mit einer eigenen Geheimsprache, die sie zum Schutz gegen “Eindringlinge”untereinander zu sprechen pflegten. Eine Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.”

Der Landsitz der Familie

Jessica’s Leben bildet für die Biographin den eigentlichen roten Faden einer Familiengeschichte der Mitfords (mit Stammbaum und vielen Abbildungen im Buch). Decca, wie Jessica von allen genannt wurde, war der Trotzkopf der Familie und der Drang, ihr zu entfliehen, war bei Jessica wohl am stärksten ausgeprägt. Nachdem sie auf ihr “Weglaufkonto” genügend Geld eingezahlt hatte, floh sie mit Churchills “roten Neffen” Esmond Romilly Hals über Kopf nach Spanien, um hier wie Hemingway vom Bürgerkrieg zu berichten. Enttäuscht von den Entwicklungen in Spanien zog sie schon bald mit Kind und Mann nach Amerika. Ihr Eheglück mit Esmond währte jedoch nur eine kurze Zeit. Als Pilot der Canadian Air Force wurde er 1941 über Deutschland abgeschossen. Jessica wurde zur glühenden Kommunistin - im Gegensatz zu zwei ihrer Schwestern, die sich mit Haut und Haaren dem Nationalsozialismus verschrieben hatten. Sie heiratete einen jüdischen Anwalt und landete mit einem Enthüllungsbuch über das Geschäftsgebaren amerikanischer Bestattungsinstitute einen Bestseller. Als Journalistin prangerte sie immer wieder soziale Missstände in der amerikanischen Gesellschaft an und mischte sich auch politisch ein. 2013 erschienen ihre Familien-Erinnerungen unter dem Titel “Hunnen und Rebellen” auf Deutsch im Berenberg-Verlag.

Die Mitford-family
Die Mitford-Sisters

Kippenbergers Buch ist reich an Anekdoten, aber niemals geschwätzig, liesst sich sehr flüssig und über weite Strecken sogar amüsant. Ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten gefühlt und als Leser einiger Mitford-Romane viele neue Erkenntnisse zur Familiengeschichte hinzugewonnen. Wir erfahren, daß Joseph Goebbels Trauzeuge bei Diana’s Hochzeit mit dem englischen Faschistenführer Oswald Mosley gewesen ist (Hochzeitsgeschenk: eine Goethe-Gesamtausgabe). Nach Ausbruch des Krieges wurden Diana und ihr Ehemann, ein Neffe Churchills, “vorsorglich” inhaftiert. Churchill veranlasste für die beiden eine Hafterleichterung, indem er auf dem Gefängnisgelände eine Villa errichten ließ, so daß sie im Gefängnis Gäste empfangen konnten und auf ihren gewohnten Komfort kaum zu verzichten brauchten.

Unity hat sich wortwörtlich an die Fersen von Adolf Hitler geheftet und sich in einem Anfall spätpubertierender Gefühlsverirrung in den Führer verliebt und alles daran gesetzt, seine Bekanntschaft zu machen. Seit ihrem ersten Besuch 1933 in München zählte man mehr als 150 Begegnungen. Dank ihrer Beharrlichkeit dringt sie bis in den inneren Kreis um Hitler vor. Als Reaktion auf Hitlers Kriegerklärung an England schießt Unity sich im Münchener Englischen Garten eine Kugel in den Kopf. Schwerverletzt kehrte sie mit ihrer Mutter in einem Sonderwagen Erster Klasse über die Schweiz nach England zurück, Hitler bezahlte die Kranken- und Transportkosten. 1948 starb sie an den Folgen ihrer Verletzung. Manchmal reibt man sich beim Lesen die Augen und muss sich vergewissern, daß man hier nichts Erfundenes, sondern eine gut recherchierte, auf historische Quellen basierende Biographie ließt, die sich wie ein Roman vor dem Auge des Lesers ausbreitet. Bei youtube ist eine Serie über “Hitler`s British Girl” zu sehen.

Susanne Kippenberger in der Einleitung: “Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Manchmal blieb mir bei meinen Recherchen nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: “curiouser and curiouser”, seltsamer und seltsamer…”

Nancy Mitford, die Älteste und bei uns die wohl bekannteste der Mitford-Sisters wurde mit ihren Büchern zur Chronistin der Familie, ihrer Schicht und ihrer Zeit. In ihren autobiographischen Romanen “Englische Liebschaften” und “Liebe unter kaltem Himmel” (beide erschienen in der Anderen Bibliothek) schreibt sie witzig und geistvoll über die Skurrilitäten und Exzentritäten englischer Landsitz-Bewohner im Stil ihres Freundes Evelyn Waugh. Es sind munter plätschernde Erzählungen von Liebe und Heirat, viel Unordnung und frühem Leid. (In Alan Bennetts Erzählung “Die souveräne Leserin” vernachlässigt die Queen ihre königlichen Plichten, weil sie viel lieber in den Büchern von Nancy Mitford schmökert).

Und dann sind da noch die im Lichte ihrer Schwestern etwas glanzlosen Pamela und Deborah. Pamela fühlte sich mehr zur Schweine- und Hühnerzucht hingezogen. Deborah, die Jüngste, kam in die Schlagzeilen, als sie 1941 den steinreichen Herzog von Devonshire heiratete und 2011 ihre Memoiren veröffentlichte. Sie starb als letzte der Mitford-Schwestern erst vor einigen Wochen im Alter von 94 Jahren. Von dem hochmusikalischen Bruder Tom, der unter sechs Schwestern keinen leichten Stand gehabt haben wird, ist in dem sehr lesenswerten Buch von Susanne Kippenberger kaum die Rede. Er führte ein unauffälliges Leben, nachdem er als einziges Kind der Familie einen Zugang zum Studium nach Oxford bekam, um schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen. Als Soldat fiel er 1945 in Burma.

Für meine Lektüre habe ich die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg der Originalausgabe aus dem Hanser-Verlag vorgezogen. Die Gestaltung des Schutzumgschlags finde ich in der Büchergilde besonders gut gelungen. Der Leinen-Einband mit Lesebändchen macht das Buch zu einem haptischen Erlebnis.

Susanne Kippenberger, “Das rote Schaf der Familie - Jessica Mitford & ihre Schwestern”, Hanser Verlag 2014 / Büchergilde Gutenberg

 

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (14): Tamar Radzyner (1932 - 1991).

Wohnhaft

Ich wohne auf dem Grund
einer Sanduhr.
Es ist weich hier
träge
halbdunkel
es regnet Sand
es rieselt
winzige runde
Zeitstückchen.
Wenn ich
am ersticken bin
kippt das Glas um.
Von Luft erstochen
von Licht erblindet
von Verlangen
und Verzweiflung
zerrissen
lebe ich
einen Augenblick lang.
Dann
falle ich auf meinen Platz
am Grund einer Sanduhr

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht beim Literatur- und Photokunst-Projekt Zeitzug - Time train und darf an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von Herausgeberin Renate Milena Findeis veröffentlicht werden - herzlichen Dank! Noch eigens hingewiesen sei auf den Erzähl- und Essayband “Cernowitz”.

Tamar Radzyner wurde 1932 in Lodz geboren, überlebte Auschwitz, verlor ihre Eltern und den größten Teil ihrer Verwandtschaft in der Shoah und starb 1991 in Wien. Vor und nach ihrer Inhaftierung war sie im polnischen Widerstand aktiv. Beim Verfassen ihrer deutschen Gedichte verwechselte Tamar, deren Muttersprache Polnisch gewesen war, das eine oder andere Mal den Akkusativ mit dem Genetiv. Ihre älteste Tochter Joana, die in Wien aufgewachsen war und heute als Korrespondentin für den ORF in Warschau arbeitet, wollte die Grammatikfehler ausbessern. Die Korrekturen der Tochter wurden von der Mutter, die stolz auf ihren polnischen Akzent war, ignoriert. Bis zu ihrer Emigration  im Jahre 1959 schrieb Tamar in Polnisch. Ein Notizbuch mit unveröffentlichten Gedichten aus dieser Zeit wird von Tochter Joana  sorgsam verwahrt. Die in deutscher Sprache verfassten Gedichte wurden kaum publiziert. Tamar betrachtete ihre Gedichte als eine Form der Psychoanlayse „so erpare ich mir das Honorar“- deutsche Grammatik und Syntax: das war ihre Psychotherapie.

Die Gewohnheit

Nach vierzig Jahren
der Selbstzerfleischung
stelle ich fest:
es ist eine äußerst
langweilige Tätigkeit.
Durch die Begrenztheit
der Materie,
des Werkzeugs
beschränkt,
wiederholt sich
immer öfter
im Kreislauf
das Muster.
Mit meiner
Nonkonformität konform,
an meinen Protest
gewöhnt,
mit dem inneren
Schweinehund
aufs tiefste befreundet –
verspreche ich
nichts mehr
und erhoffe nichts.

Schlimm ist –
nicht das Gefangensein –
schlimm ist –
sich nichts unter der Freiheit
vorstellen zu können.

Den Zweiten Weltkrieg erlitt Tamar Radzyner in der radikalsten Form und überlebte ihn, wundersam, weil sie an das kommunistische Polen mit ihrer ganzen Seele glaubte. „Die Internationale“ war für sie von sakraler Bedeutung. Die Demontage Stalins im Jahre 1965 und antisemitische Kampagnen in Polen beraubten sie dieses Glaubens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Mitglied des Polnischen Parlaments, und den beiden Töchtern emigrierte sie 1959 nach Wien. In Österreich wechselte Radzyner von dem ihr vertrauten Polnischen in das ihr fremde Deutsch, ihre wahre Heimat wurde die Kunst. Bei einem Friseur wartend, fand sie in einem Magazin die Anzeige „Texte für Lieder gesucht“. Sie folgte diesem Aufruf, das war der Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Georg Kreisler. Es war die erfüllendste Zeit ihres Lebens. Sie schrieb Gedichte, Liedertexte, Sketches, übersetzte aus dem Polnischen, Russischen, Hebräischen und Jüdischen. Eine Sternstunde für Tamar war, als im Österreichischen Parlament, zum Gedenken an die Opfer des Holocaust, eines ihrer Gedichte rezitiert wurde.

Dank einer Begegnung  mit Joana Radzyner wurde ich auf  die Gedichte von Tamar Radzyner gestossen, die mich berührten. Emigranten, auch wenn sie aus verschiedenen Ländern stammen, haben eine feine Antenne für Schicksalsgefährten. 

So entstand meine Übersetzung, Tamars deutscher Gedichte ins Russische, aus einem rein persönlichen Motiv. Beinahe unbekannt den Namen nach, hat ihre Lyrik für mich einen besonderen Stellenwert: verfasst von einer Frau, die den Tod überlebte und den Prozess des Überlebens poetisch festhielt.

Igor Pomerantsev

Damals

Eine Dame weinte
weil die Tasse
die ihr seit Kindheit
gehörte
zerbrach.

Wie schade
sagte ich.
Wie schade.

Ein junger Rat
Im Rathaus meinte
sie mußten doch
in Auschwitz
Dokumente haben!

Mein Gott
sagte ich.
Mein Gott.

Eine Dame seufzte:
auch wir hatten oft Hunger
und kein Kleid
fürs Theater …

Ja, der Krieg
sagte ich.
Der Krieg.

Wenn mich wer fragt
wie es damals war
kann ich nichts sagen.

Wieder

Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird.

Wieder baute ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter den Mauertrümmern
erstickt.

Wieder binde ich mich an Menschen
als ob ich nicht wüßte
daß die einem als erste
weggenommen werden.

Ich habe nichts dazugelernt.
Unter dem Schutthaufen der Zeit
hüte ich die Hoffnung.

Emigranten

Von langem Laufen betäubt
keuchend
kommen wir an
und wollen für einen Moment
unsere schwarze Koffer abstellen
wie die anderen sein.
Doch man drückt uns
eine Erdkugel in die Hände,
eine bunte Erdkugel
aus echtem Plastik
elektrisch beleuchtet.
Man fragt: “Wohin wollt ihr?
wo gelb - von dort kommt ihr her,
wo grün - herrscht Krieg
wo rosa - seid ihr unerwünscht…”
Gelb, grün, rosa ist die Erdkugel.
Habt ihr keine andere?
Eine mit winzigen Plätzchen
wo man eine Weile
Ruhe atmen darf
Pfeife rauchen darf
Augen schließen darf
in der Sonne?
“Ein guter Witz”
- lachen die Beamten -
“eine andere Erdkugel!”
klopfen uns auf die Schulter
und schließen zur Mittagspause.
Wir warten am Stubenring
am Bankerl.
Fette Tauben promenieren gleichgültig
die wissen, daß wir fremd sind.
Die brauchen nichts von uns.

Die Ameisen

Klein, schwarz, beweglich
ruhelos strebend,
von fremdem, perfektem Instinkt getrieben
kommen die an,
ekelhaft.

Nichts haben sie mir getan,
keinen Schaden zugefügt,
unsere Geraden kreuzen sich nicht,
fremde Welten, gleichgültige Galaxien,
irgendwie bewundernswert
ekelhaft.

So nehme ich meine Zyklondose
sprühe Tod
und da unten
geschieht das große Sterben.
Die kleinen, schwarzen Körper zucken,
krümmen sich, schrumpfen,
Panik, Chaos, ausweglose Flucht,
heroisches Leichenschleppen -
Schreie auf unhörbaren Wellen -

Über die leblosen Körper
schreite ich,
tausendfach vergrößert
durch den Tod in meiner Hand,
mit milder Weisheit,
mit leichtem Ekel,
ich
der Ameisengott.

Hanns Heinz Ewers: Lustmord einer Schildkröte

259_6„Dies ist keine sodomistische Geschichte. Es ist eine ganz einfache, wahre Geschichte, und alles, was dabei wüst ist, ist von oben bis unten von mir dazu gelogen worden. Das wird man gleich sehn – aber nur dadurch wurde eigentlich eine Geschichte daraus.“

Eine Warnung vorneweg: Das ist ein Buch für Erwachsene. Aber nicht für Erwachsene, die fürchten, „Michel von Lönneberga“ könnte blonde Schwedenbuben diskriminieren. Bevor aber falsche Erwartungen geweckt werden: Erwachsenenbuch meint nicht Erwachsenenbuch im Sinne Erwachsenenfilmecke. Es geht um Geschichten und nichts anderes als das - Geschichten jedoch, die düster, morbide, lasziv, exzessiv und hintersinnig sind.

„Als ich zwanzig Jahre alt war, wusste ich bestimmt: mir kann keine Frau etwas vormachen.
Als ich dreißig alt war, war ich dessen nicht mehr ganz so sicher.
Heute weiß ich: man lernt nie aus bei den Frauen. Immer neue Kunststücke hecken sie aus, um die männliche Tugend zu Fall zu bringen.“

Würde man politische Unkorrektheit als einen Maßstab anlegen, dann hätte Hanns Heinz Ewers (1871-1943) sein Maß mehr als erfüllt: Der deutsche „Edgar Allen Poe“ - dieser Ruf eilte ihm zu seiner Zeit voraus - schreckte vor nichts zurück. Kannibalismus, Voodoo-Kult, Rachemord und Mundraub, Drogenexzesse und andere Süchte waren seine Themen, degenerierte Adelige, rachsüchtige Halbseidene und weitere sinistre Gestalten sein literarisches Personal, Sodom und Gomorrha seine Zweitadresse. Im wahren Leben ließ er es ebenfalls krachen - ein schillernder Wanderer zwischen den Milieus und Kontinenten, einer, der sowohl auf Reisen in der Außenwelt als auch in die Innenwelt Grenzen überschritt. Einer, der international berühmt und berüchtigt war für Leben und Werk, und ab 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik zu den Schriftsteller-Stars zählte: Ein skandalträchtiger Autor, ein Exot selbst in den „Goldenen Zwanzigern“, in denen es an Exzentrikern nicht mangelte. Freund von Erich Mühsam, Liebhaber von Else Lasker-Schüler, ein Lieblingskind der Boheme. Immer aber auch zwischen den Stühlen, für einen Aufruhr gut – Jünglinge fielen bei seinen Lesungen in Ohnmacht, die Damen der Unter-, Halb- und sonstiger Welt ihm zu Füßen. Und er kostete das alles reichlich aus – um letztendlich diese Lebenserfahrungen in Literatur zu wandeln.

„Meine Herrn, wir stehn in zwei Lagern, zwischen denen es eine Einigung nicht gibt. Sie vertreten den großen Humanitätsglauben, dass das Wohl des gesamten Menschengeschlechtes das einzige Kriterium sei, nach dem alle Dinge gemessen werden sollten. Mir dagegen ist das Wohl und Wehe der Menschheit vollständig gleichgültig.“

Zuletzt überspannte selbst er jedoch den Bogen deutlich, als er sich den Nationalsozialisten andiente, vielleicht auch von deren „esoterischen“ Seite, verkörpert durch Himmler & Co., stark angezogen fühlte - um dann dennoch die Verbrennung seiner „dekadenten“ Schriften miterleben zu müssen.

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Heute gehört er zu den Vergessenen der deutschen Literatur. Auch der wunderbar aufgemachte Band „Lustmord einer Schildkröte“, der 2014 als Band 356 bei der Anderen Bibliothek erschien, hat noch nicht zu der vielleicht erhofften Ewers-Renaissance geführt - die Rezensionen in den Feuilletons der größeren Zeitungen sind überschaubar, Besprechungen kaum zu finden. Ein schöner Beitrag beim WDR findet sich zum Nachhören hier:
http://www.wdr3.de/literatur/lustmordeinerschildkroete104.html

Die abseitig-abgründige Themenwahl, die Kollaboration mit den Nationalsozialisten - sie verstellen heute wahrscheinlich den Blick auf das Werk. Dass HHE im Auftrag Hitlers ein Horst-Wessel-Buch schrieb (das jedoch missfiel und verboten wurde), erscheint heute - auch mit dem Hinweis, dass Ewers streckenweise ein von Drogen verwirrter, schillernder Vogel war - nur schwer entschuldbar.

„Ich möchte im Gegenteil behaupten, dass ich, insbesondere unter Künstlern, das Individuum noch nicht kennengelernt habe, das bis in den letzten Grund psychisch eingeschlechtlich zu nennen gewesen wäre. Unsere Mannheit in allen Ehren, aber sie hindert nicht, dass überall und immer wieder das Weibliche in uns zum Durchbruch kommt.“

„Es ist nicht auszuschließen, dass der etwas drogenzerrüttete Ewers die Nationalsozialisten kurzzeitigen mit seinem künstlerischen Ich des Nazi-Draufgängers der 1890er-Jahre kontextualisiert. (Anmerkung der Blogbetreiberin: Im zweiten Fall steht „Nazi“ für den mundartlichen Ausdruck für Schürzenjäger, den Ewers in einer frühen Erzählung nutzte)“, schreibt Sven Brömsel in seinem informativen Nachwort zu „Lustmord einer Schildkröte“. Jedenfalls: Ewers, 1932 in die NSDAP eingetreten, wird zwar als NS-Pressereferent für das Ausland eingesetzt, von vielen Nazi-Größen jedoch als suspekt und dekadent betrachtet. Und muss die Mesalliance teuer bezahlen: Verbrennung der Bücher, Veröffentlichungsverbot, durch die Nähe zu Röhm gerät Ewers auf die SS-Todeslisten und muss schließlich untertauchen. Und er bezahlt posthum bis heute - sein schillerndes Auftreten, als er sich noch neben Hitler und Goebbels sonnte, verdeckt seinen Einsatz für Opfer des Regimes, denen er zum Untertauchen und zur Flucht verhalf. Und es verdeckt bis heute den Blick auf sein Werk.

„Bittsteller ist in seiner Eigenschaft als Schulinspektor – in vierzehn Gemeindeschulen, einer Realschule, einer Bürgermädchenschule und einem Lehrerseminar – häufig Zeuge der schamlosesten Vorgänge. Unter Anleitung der Lehrer, die darin nur den vorgeschriebenen Unterrichtsbüchern folgen, werden die jungen Seelen genötigt, das Geschlechtsleben der Pflanzen bis in die kleinste Einzelheit zu studieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt der Lehrer die reinen Gemüter in einen Pfuhl des Lasters, in ein Sodom der unerhörtesten Perversionen.“

Aber seine Literatur war frei von der nationalsozialistischen volkstümelnden Ideologie, frei von Blut-und-Boden-Romantik, wenn auch nicht frei von rassistischen Anwandlungen. Letztere sind einesteils im Kontext der Zeit zu werten, andererseits gehören sie aber auch zur Kunst der Provokation, die Ewers pflegte. Ein ständiger Tabubrecher, der politische Korrektheit ad absurdum führte und in seinen Texten versuchte, die moralische Basis seiner Leser zu erschüttern. Er war ein Weltbürger und Überschreiter von Grenzen - im Leben schritt er jedoch oftmals leider auf die falsche Seite. Seine letzten Worte an seine Sekretärin waren: „Jennylein, was war ich für ein Esel!“

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Die politischen Verwirrungen, aber auch die Einordnung als „Paradiesvogel“, vielleicht auch als Zeiterscheinung einer dekadent anmutenden Ära sind es, die eventuell bis heute den Zugang erschweren. So meint man auch bei der Hanns-Heinz-Ewers-Gesellschaft, HHE sei vergessen, weil:

Dafür gibt es eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Gründen. Schon zu Lebzeiten wurde Ewers mit heftigen Vorwürfen konfrontiert: Zu dekadent war seine Themenwahl, die kaum ein Tabu der damaligen Zeit ausließ. Später kollaborierte er fatalerweise mit dem Dritten Reich, freilich ohne dabei sein Engagement für die Gleichberechtigung der Juden aufzugeben.

Ewers, der seine künstlerische Laufbahn als Kabarettist begann, saß stets zwischen allen Stühlen. Er schrieb erfolgreich satirische Fabeln, in denen er scharfzüngig das Spießbürgertum attackierte, im gleichen Atemzug veröffentlichte er liebevoll gestaltete Märchenbücher für Kinder. Mit der meisterhaften Schilderung der Femme Fatale “Alraune” erlangte er Weltruhm und avancierte zum meistverkauften deutschen Autor seiner Zeit. Außerdem ging Ewers als einer der ersten Filmpioniere in die Geschichte ein, mit “Der Student von Prag” erfand er den Autorenfilm und schrieb Dutzende Drehbücher, bis er schließlich von den Nazis Schreibverbot erhielt und damit bis zu seinem Tode praktisch mundtot gemacht wurde.

Der Einfluss von Hanns Heinz Ewers auf die phantastische Literatur, insbesondere in Frankreich und den USA, darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland half er, die Geisteshaltung und die Mentalität der Weimarer Republik und der “Goldenen Zwanziger” zu prägen: Zu auflagenstark waren seine Romane, zu präsent war seine persönliche Erscheinung im öffentlichen Leben, um übersehen zu werden. Selbst Bertolt Brecht sah sich gezwungen, sich mit dem “Fachmann für Entschleierung” auseinanderzusetzen. Dennoch findet Ewers in der herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mal als Fußnote Erwähnung.

Lässt man alle Vorbehalte beiseite, so kann man mit „Lustmord einer Schildkröte“ tatsächlich eine literarische Welt entdecken, die lustvoll in ein dunkles Fantasia entführt. Aus dem enormen Œvre Ewers, der unheimlich, fast schon magisch produktiv war, haben Marcus Born und Sven Brömsel eine Auswahl aus den Erzählungen getroffen, die die ganze düstere und zugleich kunterbunte Welt abbilden, die diesem herrlich ver-rückten Schriftstellergehirn entsprungen sind.

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„Mit seiner Leidenschaft für die Abgründe der menschlichen Psyche, der entgrenzenden Erotik und der Schilderung von Spielarten des Todes provoziert Ewers seine Leser.“ Dies als Zitat aus dem Verlagstext. Zwischen „Schwarzer Romantik“ und „Bildmagischer Avantgarde“ finden sich aber auch kurze Prosastücke, in denen Ewers in der Manier à la Tucholsky und Ringelnatz sowohl Spießbürgertum als auch Hautevolee karikiert, die großes Vergnügen bereiten - sei es die Petitesse „Sie haben meine Mutter gekannt…“, der spielerisch-versponnene „Lustmord einer Schildkröte“ bis hin zu „Die Petition“ und der leise-melancholischen Erzählung vom ehrgeizigen, aber einsamen Briefkasten.

Tatsächlich erreichen es die Erzählungen bis heute noch, dass man als Leser ab und an mit dem Atem stockt, eigene Positionen hinterfragt oder einfach auch voyeuristisch auf die Seiten linst. Es sind Geschichten – abgründig, lebenssatt, grenzüberschreitend, augenblinzelnd, mitreißend. Korrekte, fade, blutleere Geschichten gibt es genug – und deshalb empfehle ich: HHE lesen.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (13): Ite Liebenthal (1886-1941).

Mein Vaterland, du bist vor mir gestorben,
doch wirst du auferstehn und ich mit dir.
Die dich vernichteten und mich verdorben,
sie sind verflucht, und leben werden wir!

Ite Liebenthal, 16. November 1941

Wenn man auf Gedrucktes angewiesen ist oder Quellen in den Weiten des Internets suchen muss, also selten in Archiven vor Ort stöbern kann, dann stößt man bei der einen oder anderen Autorin schnell an Grenzen. So auch im Falle von Ite Liebenthal. Man findet vereinzelt Gedichte von ihr, doch wenig Biographisches. Von einem „Portrait“ lässt sich bei diesem Beitrag so eigentlich schlecht sprechen - es sind ihre Gedichte, die für sie sprechen müssen.

Dass diese ausdrucksstarke Lyrikerin, die auch von Rilke gefördert und anerkannt wurde, nicht ganz ins Vergessen geriet, ist einigen wenigen zu verdanken. So vor allem dem Literaturprojekt „Poesie schmeckt gut“ mit seiner Lyrikreihe Versensporn, das ich hier bereits einmal vorgestellt habe. Die beiden Herausgeber haben nicht nur die frühen Gedichte, die zum Teil zu Lebzeiten Ite Liebenthals bereits veröffentlicht worden sind, zu einem Lyrikheft zusammengestellt, sondern auch Texte aus dem spärlichen Nachlass. Sie stammen von Abschriften, die sich bei den Nachkommen der Geschwister Ite Liebenthals in Tel Aviv und Genf erhalten hatten. Die nachfolgenden biographischen Angaben sind dem Versensporn-Heft entnommen.

Ihre frühen Gedichte sprechen vor allem von der Sehnsucht nach einem Gegenüber, nach einer geistigen und seelischen Verwandtschaft oder gar Verbrüderung:

Nachts gehen alle Uhren lauter,
und jede Stunde schlägt mit Doppelklang.
Doch auch dein Herzschlag ist mir dann vertrauter.
Laß gehn die Zeit. Mir ist nicht bang.

In deiner Seele Brudernähe
beruhigt sich die Angst der Mitternacht.
Und wenn mir morgen bitter Leid geschähe, -
du bist bei mir! du hast mit mir gewacht.

Manches Mal auch etwas pathetisch, elegisch im Ton:

Wüßt ich, daß ich nur zu sterben brauchte
und mein Herz, in Silber dann gefaßt,
einen Talisman für dich bedeute:
Ach, ich tötete mich heute! (…)

Sie schreibt von Hingabe, von der Suche, aber auch von Trennungsschmerz und dem Wissen darum, dass alles endlich ist:

Nur zu Gruß und Lebewohl berührten
wir einander scheu mit kalten Händen.
Und es war, als ob in Feuerbränden
wir mit ölgetränkten Zweigen schürten.

Und wir sehen, wie die Flammen stiegen,
doch verrieten nicht, daß wir es sahen.
Und so fühlten wir das Ende nahen,
lächelten, verließen uns und schwiegen.

Ihr Ton wird mit der Zeit reifer, das Suchen weniger drängend, in die Gedichte tritt mehr und mehr Ruhe und ein wenig Gelassenheit ein - doch die Schwermut bleibt der Grundton.

Still kehr ich heim von langen Wanderfahrten.
Noch decken Nebel meine liebe Küste,
als ob ein Freund mir langsam erst mit zarten
Trosthänden diese Welt enthüllen müsste.

Nimm fort das Tuch! Ich weiß: in weiter Fläche
dehnt sich das Land zur Ferne. Seine Wunder
sind dunkle Wälder, stille, breite Bäche
und Gärten unter Birken und Holunder.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal: „Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

In die letzten erhaltenen Gedichte von ihr kehrt Düsternis ein, auch Todesahnung. „Trostlos mein Kommen wie mein Gehen“, schreibt sie im April 1940. Ich würde gerne wissen, was Ite Liebenthal bewogen hat, in Berlin zu bleiben, während ihre Geschwister emigrieren, sich retten können. Ihre letzten Monate möchte ich mir dagegen kaum vorstellen (müssen) - die Situation der Juden in Berlin, bedrängt, verfolgt, in ständiger Angst vor der Deportation. Und dennoch formuliert sie nicht nur wütende und zugleich kämpferische Anklagen wie jene in dem Gedicht, das dem Beitrag vorangestellt ist. Sondern findet auch Worte, die von ihrer großen, würdevollen Gefasstheit sprechen:

Du mein Dasein, das ich ende,
habe Dank für jeden Tag.
Nicht, weil ich nicht leben mag,
daß ich jetzt mich von dir wende.

Bis zum letzten Traumgefühle
weiß ich, wie ich dich geliebt.
Nur, daß es im Haßgewühle
nirgends mehr ein Bleiben gibt.

15. November 1941

Nur wenige Tage später wird Ite Liebenthal deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet.

Die dem Versensporn-Heft entnommenen biographischen Angaben (gekürzt):

Ite Liebenthal wurde geboren am 15. Januar 1886 in Berlin als Ida Liebenthal. 1906 erschien ihr erster Gedichtband „Aus der Dämmerung“. Von 1909 bis 1916 studierte sie Philosophie in Berlin und Heidelberg, besuchte dort Veranstaltungen zu Literatur und Philosophie, unter anderem auch bei Jaspers.

Im April 1914 veröffentlichte Ite Liebenthal erste Gedichte in der von Ernst Blass herausgegebenen Zeitschrift „Die Argonauten“. Seit Ende 1916 hatte sie persönlichen Kontakt zu Rainer Maria Rilke, der sich beim Insel Verlag vergeblich für die Veröffentlichung ihrer Gedichte verwendete. 1921 erschien der Band Gedichte im Erich Lichtenstein Verlag Jena. Ihren Unterhalt verdiente sich Ite Liebenthal als Sekretärin in verschiedenen Firmen und Rechtsanwaltskanzleien. Nach der Emigration ihrer Schwester Erna und ihres Bruders Werner blieb sie vereinsamt in Berlin zurück. Zuletzt wohnte sie seit August 1939 in der Hektorstraße 3 als Untermieterin des Kaufmanns Philipp Guttentag. Am 27. November 1941 wurde sie vom Bahnhof Grunewald nach Riga deportiert. Unmittelbar nach ihrer Ankunft, am Morgen des 30. November, wurde Ite Liebenthal wie alle 1052 Insassen dieses Massentransportes im Wald von Rumbula ermordet.

Das zehnte Versensporn- Heft mit 54 Texten von Ite Liebenthal kann direkt über den Verein unter der Internetadresse www.poesieschmecktgut.de bestellt werden. Die Herausgeber veranlassten zudem, dass im Herbst 2013 vor ihrem letzten Wohnhaus in Berlin ein Stolperstein verlegt wurde.

Lesezeichen von: Elie Wiesel. Zum Gedenken.

Elie Wiesel im Spiegel-Interview: Schuldig sind nur die Schuldigen.
Viele der Holocaust-Opfer berichteten - oft erst Jahrzehnte später - wie schwer es ihnen fiel, Worte für das eigentlich Unsagbare zu finden. Wie sie mit der Sprache rangen. Und wie das Sprechen und Schreiben denn doch wenigstens eine kleine, manchmal auch eine sehr große Hilfe sein konnte, um mit dem Trauma umzugehen. Zwei Beispiele dafür: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/10/otto-dov-kulka-aharon-appelfeld-ringen-um-die-sprache-ringen-um-die-erinnerung/
Wer heute sagt, es müsse auch einmal genug sein, mit der “Verarbeitung”, wer meint, man habe genug davon gelesen - und insbesondere wenn dies von einem Schriftsteller kommt, für den das Schreiben ebenfalls Teil des Lebens und der Menschwerdung bedeutet - der nimmt diesen Menschen ein zweites Mal ihre Würde. Oder, richtiger und besser ausgedrückt: Der versucht, den Opfern ihre Würde abzusprechen. Ihr Recht auf Sprechen zu nehmen. Nehmen wir das Wort einmal wirklich beim Wort: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Jürgen Kaumkötter: Der Tod hat nicht das letzte Wort (2015).

27. Januar 1945 war der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Heute ist dieser Tag internationaler Holocaust-Gedenktag. Als die Rote Armee kam, befanden sich nur noch die Schwächsten in Auschwitz. Wer noch gehen konnte, war zuvor von den Nazis auf die Todesmärsche gezwungen worden.

Aber dennoch soll an diesem Tag der Tod nicht das letzte Wort haben. Zum 70. Jahrestag der Befreiung wird im Deutschen Bundestag eine Ausstellung mit Werken eröffnet, die in den KZs und Ghettos entstanden sind beziehungsweise von den Kindern und Kindeskindern der Shoah-Opfer stammen. Beim Verlag Galiani Berlin erschien das dazugehörige Buch: “Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-1945″ von Jürgen Kaumkötter, Kurator der Ausstellung.

Aus den Verlagsangaben:
“Auschwitz 1947 – aus dem Konzentrationslager wird ein Museum: Jerzy Adam Brandhuber und Władysław Siwek arbeiten an zwei Werkzyklen. Brandhuber, der 1942 in Polen verhaftet wurde und 1943 als Häftling in das Konzentrationslager Auschwitz kam, betitelt seinen Zyklus »Vergessene Erde«. Großformatige Kohlezeichnungen, die das Leben im Lager metaphorisch umschreiben. Die SS-Mütze mit dem Totenkopf als Sinnbild des Terrors. Die Zebrakleidung der Häftlinge. Das Leben und Sterben aus der Perspektive der Häftlinge. Siwek, der schon als Häftling im Lager Auschwitz künstlerisch gearbeitet hatte, erstellt monumentale Ölbilder. »Der Appell«: unter dem theatralischen Licht eines illuminierten Weihnachtsbaumes prügeln Kapos die wehrlosen Häftlinge zu Tode, nackte Füße liegender Menschen als Sinnbild des Todes. Ein dramatischer Abendhimmel, unter dem die breitbeinig stehenden SS-Männer die Zahlen der Häftlinge kontrollieren. Brandhubers Zeichnungen sind im ersten »Museumsführer« der Eröffnungsausstellung im Jahr 1947 vermerkt, ausgestellt im Block 7, Siweks nicht.”

http://www.galiani.de/buecher/juergen-kaumkoetter-der-tod-hat-nicht-das-letzte-wort.html

Und hier der Link zur Ausstellung im Bundestag:
http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/ausstellungen/parl_hist/tod_letzte_wort

Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Ein satirischer Roman (1937).

„Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern. Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“. Dennoch wird niemand daran glauben, daß er auch zu ihnen gehört. Er würde sich schämen und belächelt sie verächtlich. Er weiß nicht, daß diese Verachtung ihn selber trifft. Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne. Man hat politisch mit ihnen zu rechnen, wenn man die Welt verändern will, nur darf man sich nie dem Wahn hingeben, als seien sie für das Erringen einer besseren Zukunft brauchbar. Sie sind nicht einmal gärende Gegenwart, nur Vergangenheit und darum die unangreifbarsten Totengräber jeder gerechten Gesellschaftsordnung. Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer unsozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch.“

Der richtige Mann für die Verfilmung des “Anton Sittinger” (1979): Volksschauspieler Walter Sedlmayr

Nein – dies ist kein Portrait einer dieser Menschen, die derzeit durch deutsche Straßen ziehen und skandieren „Wir sind das Volk“. Aber es könnte einer von ihnen sein, der hier beschrieben ist – so genau, so haarscharf hat Oskar Maria Graf (1894 geboren am Starnberger See, 1967 verstorben in New York) den verbitterten Kleinbürger, den opportunistischen Mitläufer gezeichnet. Ein Typ, den es heute gibt, den es morgen immer noch geben wird, den es zu Zeiten von Oskar Maria Graf en masse gab und der letztendlich in all seiner Banalität das Böse zuließ.

„Anton Sittinger. Ein satirischer Roman“ erschien erstmals 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Beide Romane können oder sollten in Zusammenhang gelesen werden – es sind seine „Spießer-Romane“, in denen er scheinbar banale Lebensläufe, durchschnittliche Einzelschicksale nimmt, um an ihnen die Mechanismen der Kleinbürgerseele zu zeigen. Und auch, um deutlich zu machen, wie die Politik sich auf den Einzelnen auswirkt und, wie - vive versa- der Einzelne mit seinen Entscheidungen die Politik mitprägt. Beide Romane sind treffende Charakterisierungen der „kleinen Leute“, die mit ihrer Unterwürfigkeit nach „oben“ und dem Treten nach „unten“ letztlich das gemeinschaftliche Zusammenleben prägen. Eine Variation und spätere Fortsetzung der von Heinrich Mann im “Professor Unrat” und dem “Untertan” beschriebenen Typen.

Titelblatt 1937

Fokussiert sich der Bolwieser noch vor allem auf die Szenen einer Ehe, ist „Anton Sittinger“ ein durch und durch politischer Roman: Graf, ab freiwillig 1933 im Exil, nachdem er zuvor von den Nationalsozialisten verlangt hatte, auch seine Bücher zu verbrennen, zeichnet am Werdegang des Sittinger die Entwicklung eines Postinspektors von der Münchner Räterepublik bis zur Wahl Hitlers und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach.

Sittinger verabscheut sie eigentlich alle – die „roten Revoluzzer“ und den braunen Abschaum. Was er vor allem will, ist seine königlich-bayerische Ruhe – auch vor der gut deutsch-hysterischen Ehegattin, die für schmucke blonde Männer in Uniform entbrennt – und das Zusammenhalten seines Geldsäckels. Den Unruhen in München glaubt er entkommen, als er nach der lang ersehnten Pensionierung ein Haus auf dem Lande erwirbt. Doch auch dort holt ihn „die Politik“ wieder ein: Im Wirtshaus werden die Nachrichten debattiert, das Dorf spaltet sich bald in Anhänger und Gegner Hitlers. Sittinger spürt, er muss sich entscheiden und positionieren, will er an der neuen Zeit teilhaben beziehungsweise nicht der Rachlust des örtlichen Nazis ausgeliefert sein. Da hilft auch sein pseudophilosophisches Spinnisieren nicht, nicht die - freilich meist falsch und für eigene Zwecke mißbrauchte - Inanspruchnahme philosophischer Leitsätze von Seneca über Schopenhauer bis Macchiavelli. Der kleinmütige, eigensüchtige Zögerer, ein Wendehals, springt unter äußerstem Druck letztendlich auf den nationalsozialistischen Zug auf – getrieben vor allem von einem Motiv: Seine Ruhe zu erhalten.

In beiden Romanen zeigt sich Oskar Maria Graf als der kraftvolle Volksschriftsteller, der wie wenig andere das dörfliche und kleinstädtische Leben auf dem bayerischen Lande mit Bildern zu füllen vermochte: Da geht es mitunter durchaus krachledern bis hin zu saukomisch zu, die Figuren sind einerseits satirisch leicht überzeichnet, andererseits lebendig und lebensecht.

“Beim Begräbnis des Toni füllte sich der ganze Friedhof. Grimmig schauten die Bauern drein. Laut weinten Weiber und Kinder, und viele Kränze wurden auf das Grab gelegt. Alle Ehren wurden den Toten erwiesen, doch diesmal kling die Predigt des Pfarrers wehleidig. Der Grimmenmoser hatte eine Grippe vorgeschützt und war nicht zu sehen.
Hernach, in der Postwirtsstube, schimpften die Reitlmooser verdrossen über diese „braune Sauwirtschaft“. Immer wieder hieß es, der Hitler sei nichts für einen Reichskanzler.
„Und überhaupt – Bayern bleibt Bayern! Was wir machen, geht keinen Preußen was an!“ schloß der Pflögl.
Eine mißgünstige Bedrückung machte sich breit.
„Unsere Minister sind auch Hosenscheißer! Wenn`s Männer wären, täten`s einfach vom Reich weggehn und die ganze Hakenkreuzlerschippschaft `nausjagen…Meinetwegen alle zu den Preußen! Alsdann wär` gleich eine Ordnung!“ murrte der Kergler. „Aber mein Gott, wenn nirgends Männer sind!“
Alle nickten und schauten trüb geradeaus.”

Eine Oskar Maria Graf-Werkausgabe erschien beim List Verlag: http://www.ullsteinbuchverlage.de/nc/autor/name/Oskar%20Maria-Graf.html

Das Zitat zu Eingang des Blogbeitrags ist eher atypisch für den Roman – hier, in der Mitte des Buches, nutzt Graf den Raum, um den beschriebenen Typ zu analysieren, auch um seine eigene Haltung diesem Menschenschlag gegenüber, der sich durch Nichthandeln schuldig macht, zu verdeutlichen. Graf beschreibt die „kleinen Leute“ zwar einerseits voller Empathie – jeder habe einen inneren Kleinbürger und Schweinehund in sich: „In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“…“. Andererseits zeigt er sich auch resigniert, glaubt nicht an einen Wandel der Menschheit: „Ich glaube, daß man die Sittingers im besten Falle neutralisieren kann, aber nichts weiter.“

Wie recht er doch hatte, schaut man heute nach Dresden, Leipzig oder anderswo…

Jüdische Autorinnen im Portrait (11): Maria Leitner (1892-1942).

„Ein Bankbeamter erzählt mir: Ich bin Jahrgang 1890. Habe den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag durchgemacht. In dem Alter, in dem man sonst um eine sichere Lebensstellung kämpft, lag ich im Dreck und wartete auf den Tod. Anderen erging es auch nicht besser und sie haben sich heraufgearbeitet und ihr Glück gemacht. Das mag stimmen. Aber unter den vielen Tausenden gab es nur einige Glückliche und ich gehöre eben zu den Tausenden, zu dem Durchschnitt. Nach dem Kampf draußen kamen die Kämpfe in der Heimat. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Kampf um ein Gebiß. Das klingt sicher sehr komisch und eher lächerlich. Und doch schien er mir ebenso wenig lächerlich wie der Kampf um Verdun. Meine Zähne wurden im Krieg schlecht. Zahnlos konnte ich keine Stellung suchen. Die Behörden behaupteten, meine Zähne hätten nichts mit dem Krieg zu tun.“

Aus: „Bankbeamter vor dem Abbau“, erschienen in der Berliner Abend-Zeitung Tempo, 5. November 1929

Es sind die Stimmen der Unterprivilegierten, der kleinen Leute, denen sie Gehör verschafft hat. Jede ihrer Reportagen zeichnet ein realistisches, nüchternes Bild der Weimarer Republik im Niedergang – Massenarbeitslosigkeit, Inflation und das keineswegs verdaute Trauma eines Krieges im Rücken. Sie muss eine ungeheuer wache und mutige Frau gewesen sein: Maria Leitner (1892-1942), die das Schicksal so vieler anderer begabter, talentierter Menschen dieser Zeit teilt: Im Nationalsozialismus vertrieben, im Exil verschollen, später vergessen. Dabei zählt sie - berücksichtigt man zudem, dass wohl etliche ihrer Schriften auf der Flucht vor den Nazis für immer verloren gingen - auch zu einer der produktivsten Journalistinnen und Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Vor allem ihre Reportagen vermitteln auch heute noch ein eindrückliches, lebendiges Bild dieser Zeit.

Cristina Fischer schreibt in der Tageszeitung „Die junge Welt“:

„Unscheinbar und voll unbändiger Energie muss Maria Leitner Mitte der 30er Jahre durch das faschistische Deutschland gehuscht sein. Als engagierte Kommunistin aus einer jüdischen Familie war sie 1933 über Prag nach Paris geflohen. Inkognito kehrte sie immer wieder aus dem Exil zurück, um an Schauplätzen der Kriegsvorbereitung brisantes Material zusammenzutragen. Für Reportagen, die ihresgleichen suchen. Es war ihre zweite Emigration. Aufgewachsen war Leitner in Budapest, wo sie die Kommunistische Jugend mitgegründet haben soll. Im August 1919 war die ungarische Räterepublik nach vier Monaten gefallen. Leitner hatte das Land verlassen müssen. So verschlug es sie nach Berlin, wo sie als Journalistin arbeitete. Bekanntheit erlangte sie 1932 mit einem Reportageroman über ihre Erfahrungen als Billigjobberin in verschiedenen Ländern, »Eine Frau reist durch die Welt«. Auch ihr Roman »Hotel Amerika« (1930) über elende Arbeitsbedingungen in einem New Yorker Luxushotel fand Beachtung. Polnische, russische, spanische Übersetzungen erschienen. Heute wäre Leitner gleichwohl weitgehend vergessen, hätte die Publizistin Helga Schwarz nicht seit den 60er Jahren Biographie und Werk erforscht.“

Paris und Prag bleiben ab 1933 nicht die einzigen Stationen dieser Frau auf der Flucht. 1942 stirbt sie, entkräftet und ausgehungert, in Marseille, nachdem sie sich lange vergebens um eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung für die USA bemüht hatte. Lange galt Maria Leitner als verschollen, von der umtriebigen und herumgetriebenen Einzelgängerin sind wenige private Zeugnisse hinterlassen. Erst Helga Schwarz hat ihr Schicksal zur Gänze aufgedeckt.

In der Reihe der „Wiederentdeckten Schriftstellerinnen“ des AvivA Verlages - der auch Lili Grün aus dem Vergessen holte - wurden nun zwei Bände mit journalistischen und belletristischen Arbeiten von Maria Leitner veröffentlicht.

2013 erschien „Mädchen mit drei Namen“: Neben Reportagen aus Deutschland aus den Jahren 1928 bis 1933 enthält der Band auch den titelgebenden Roman. „Der kleine Berlin Roman“ erscheint wie eine ernstere Variation eines im selben Jahr herausgekommenen Buches von Irmgard Keun: Ein „kunstseidenes Mädchen“, weniger flapsig, mehr Moll im Ton. Veröffentlicht wurde er als Fortsetzungsroman im der Zeitung „Die Welt am Abend“, die am 11. Juli 1932 stolz verkündete:

„Die unseren Lesern durch ihre Romane und Reportagen bekannte Schriftstellerin Maria Leitner hat für die Welt am Abend einen Berliner Roman unter dem Titel Mädchen mit drei Namen geschrieben, mit dessen Veröffentlichung wir morgen beginnen. Maria Leitner schildert in diesem Roman, der besonders Frauen interessieren dürfte, die Erlebnisse eines jungen Mädchens, das aus der Provinz nach Berlin kommt, in die Fürsorge gerät, entflieht, neues Mißgeschick erfährt und zuletzt den Weg findet, der allein eine Rettung aus allem Wirrwarr verheißt.“

Fehlgedacht, wer meint, es sei die in den 1930er-Jahren den Frauen nahegelegte Rettung in Ehestand und Mutterschaft, die der Roman zum Ende propagiert: Schließlich war „Die Welt am Abend“ eine kommunistische Boulevardzeitung und Maria Leitner eine linke, feministische Autorin - die Rettung ihrer Ich-Erzählerin lag folgerichtig im Erwachen ihres politischen Bewusstseins und in der Solidarität mit anderen. Ähnlich wie auch bei anderen Autoren - beispielsweise Theodore Dreiser (der später - leider vergeblich - Maria Leitner aus Europa heraushelfen wollte) oder auch bei Upton Sinclair leidet bei Maria Leitner der literarische Stil ein wenig unter der politischen Intension.

Stärker und dezidierter im Stil sind ihre journalistischen Arbeiten: Der „Bankbeamte vor dem Abbau“, der von den Nöten und Ängsten der unteren Mittelschicht erzählt, das Tauentzien-Girl, das für 16 Mark die Woche rund um die Uhr Reklamezettel verteilt, das Warenhausfräulein, dien Stenotypistin, das Dienstmädchen, die Hebamme, die ledige, selbst noch kindliche Mutter: Es sind die Menschen, meist die Frauen, die in den „Berliner Miniaturen“ und den Großstadt-Reportagen, die Maria Leitner zwischen 1928 und 1933 Jahren schrieb, im Mittelpunkt stehen. Maria Leitner muss nicht nur eine aufmerksame Beobachterin gewesen sein, sondern auch jemand, zu dem die Menschen Vertrauen fassten, dem sie sich öffneten - sie erzählen von der Tristesse ihres Lebens, vom Ringen um jeden Pfennig, von der Hilflosigkeit angesichts der zunehmenden Verarmung, von ihrer Wut und ihrem Zorn. In kurzen Portraits zeichnet sie Figuren dieser Zeit – so wie Fräulein Hase, eine in „Ehren ergraute Sekretärin“:

„Man spricht nur noch über „unsere Kolonien“, „unsere Flotte“, „unsere Kriegshelden“. Für dieses „unser“ haben die Kleinbürger teuer zahlen müssen. Sie wurden enteignet und verproletarisiert. Sie leben wie Proletarier, sie ahnen aber nichts von der Sendung des Proletariats. Sie möchten nur zurückkriechen in eine Vergangenheit, die es nur in den Lesebüchern und in ihrer Phantasie gab. Fräulein Hase früh gealtert, mit einem nervösen Tick behaftet, immer ausgebeutet, geplagt von Hunger und Angst vor einem Hauswirt, der sie und ihre Mutter jeden Tag auf die Straße setzen könnte, hat sich trotzdem nicht geändert.
Sie wäre tief verletzt, wenn man sie als eine Proletarierin ansprechen würde. Sie ist stolz auf ihre gute Familie, sie ist stolz auf ihre Tugend, die sie vor Versuchungen schützte, so drückt sie sich aus.“

Auch der 2014 vom AvivA veröffentlichte Band „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ vereint den (erneut) titelgebenden Roman und weitere Reportagen, die zwischen 1934-1939 entstanden sind. Vor allem anhand dieser Arbeiten wird der außergewöhnliche Mut dieser Frau deutlich: Maria Leitner war als gebürtige Ungarin, Linke, Feministin, Revolutionärin, kritische Autorin und Jüdin im „Dritten Reich“ in mehrfacher Hinsicht gefährdet. Doch noch aus dem Exil reiste sie mehrere Male zurück nach Deutschland, um dort unter Lebensgefahr über die Kriegsvorbereitungen vor Ort zu recherchieren und Material für ihre Veröffentlichungen zu sammeln, die sie noch einige Zeit in französischen, tschechischen und russischen Zeitungen platzieren konnte. Undercover recherchiert sie in Berlin, Leverkusen, Wittenberg, schafft es zu den Giftküchen bei Hoechst, berichtet über die Solinger Waffenschmiede und aus dem noch freien Saarland. Neben der Aufrüstung thematisiert sie auch das Alltagsleben der Deutschen, zwischen „Kraft durch Freude“ und Antisemitismus. Wie stark ihre Überzeugungskraft gewesen sein muss, zeigt eine eher anekdotenhafte Geschichte aus Düsseldorf: Es gelingt ihr, in das längst schon für die Öffentlichkeit gesperrte „Heinrich Heine- Zimmer“ in der Stadt- und Landesbibliothek zu kommen.

„Ich gebe mich damit aber noch nicht zufrieden und gehe in die Kartothekräume der Bibliothek. „Könnte ich, bitte, das Heine-Zimmer sehen?“
Alle Anwesenden, Frauen und Männer, es sind die Angestellten der Bibliothek, halten in ihrer Arbeit inne und blicken mich verwundert an. Einer knurrt: „Wissen Sie denn nicht, daß das Heine-Zimmer geschlossen ist? Von wo kommen Sie denn her?“
„Aus Amerika“, sage ich, „und ich bin in Düsseldorf nur ausgestiegen, um das Heine-Zimmer zu sehen.“
Alle starren mich an, als wäre ich ein Wundertier: die kommt aus Amerika und ahnt nichts davon, wie es in Deutschland zugeht! Aber gab es nicht auch Leute im Krieg, die nichts von ihm wussten? Ich blicke heiter und unbefangen vor mich hin.“

Das Lakonische, der pointierte und spritzige Stil ihrer Reportagen bleibt in den Romanen etwas zurück. Spürbar ist, dass die Journalistin, die den Fakten verhaftet ist, ihrer Phantasie Zügel anlegt – vieles bleibt schemenhaft, die Figuren sind eher „Typen“ als deutlich herausgearbeitet. Aber dennoch ist „Elisabeth, ein Hitlermädchen“, lesenswert, wenn man es als wohl wohleinzigartiges Zeugnis dieser Zeit nimmt. Der Roman, ebenfalls ein Resultat der Recherchen, die Maria Leitner in NS-Deutschland unternahm, zeigt Einblicke in eine Welt, die so häufig nicht dokumentiert sind – in die Welt der jungen Frauen, die aus politischen oder anderen Gründen in Arbeitslager abgeschoben wurden. Schon die Tatsache, dass eine jüdische Linke, aus der Sicht eines Hitlermädchens schrieb, ist ungewöhnlich genug.

Die naive Elisabeth, Schuhverkäuferin, lernt einen SA-Jungen aus besseren Kreisen kennen, wird schwanger, muss abtreiben, kommt in ein Arbeitsdienstlager der Landhilfe im Osten. Dort werden junge Frauen gedrillt und gehirngewaschen. Bei Elisabeth, die anfangs noch tapfer dem Glauben an den „Führer“ anhängt, beginnt nach dem Selbstmord einer Freundin langsam ein Sinneswandel.

Der Roman erschien 1937 in der Pariser Tageszeitung. Es ist anzunehmen, dass wenige derer, die Leitner mit ihren Arbeiten erreichen wollte, „Elisabeth“ gelesen haben. Maria Leitner, das wird an ihren Reportagen spürbar, wollte aufdecken, aufrütteln, hatte – das zeigen auch die beiden Romane – den Wunsch, gerade junge Frauen aus der NS-Euphorie, zu reißen. Das Wort – es blieb ohnmächtig. Aber trotzdem: Zumindest wurde es geschrieben.

Ganz vergessen wurde Maria Leitner auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht. In den 80er Jahren erschienen einige Bücher in der DDR. Zu verdanken ist dies Helga W. Schwarz, die mit ihrem Mann Wilfried nun auch die Herausgeberin der beiden Bände im AvivA Verlag ist. Sie erforscht seit Jahrzehnten das Leben der Autorin. Ein umfassender Aufsatz zu Maria Leitner von Helga W. Schwarz findet sich auf der Homepage der Gesellschaft für Exilforschung.

Noch eine persönliche Anmerkung: Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Beitrag unter der Reihe „Portraits jüdischer Schriftstellerinnen“ veröffentlichen soll. Denn, so ein Auszug aus dem Essay von Helga W. Schwarz:

„Sie hat auch nie „das Jüdische“ vordergründig gestaltet, abgesehen von den Konflikten der jungen Sara in der Novelle Sandkorn im Sturm (1929), die auch eine Zigeunerin sein konnte und der Witwe Bronnen in Danziger Gespenstergeschichte (1939). Maria Leitner hat sich selbstbewusst stets als Ungarin präsentiert, und als solche kannte man sie in ihrem Umfeld – was mir wiederholt mündlich bestätigt wurde. Die in letzter Zeit vordergründige Betonung einer jüdischen Abstammung und der nur daraus abgeleiteten besonderen Gefährdung hätte ihr sicher missfallen, (wobei vermutlich noch nicht völlig geklärte familiengeschichtliche Aspekte hineinspielen könnten). Sie war zweifellos auf Grund ihrer politischen Überzeugungen und Aktivitäten nach 1933 in die bekannte lebensbedrohliche Situation geraten, was sie auch in ihrem Brief an Theodore Dreiser erläutert: „. . . dann wurden meine Bücher verbrannt und mein Name erschien auf der schwarzen Liste. Das geschah hauptsächlich, weil viele Berichte von den Lebensumständen in Deutschland und der bereits frühen Manifestierung der geheimen Unternehmungen der Nazis handelten. Ich machte mit dieser Arbeit für antifaschistische Zeitungen weiter, aber natürlich im Geheimen und unter sehr gefährlichen Umständen als die Nazis an die Macht kamen und zeigte die gigantischen deutschen Kriegsvorbereitungen. . . . Ich wurde in verschiedene KZ-Lager gesteckt und ich war in der Gefahr von den französischen Behörden an die Deutschen ausgeliefert zu werden.

Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft und gegen die Nazi’s, die ich als Gefahr für den Weltfrieden betrachtete. . . aber ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. . . helfen Sie mir, wenn Sie können. . . .“

Nach der Lektüre der beiden Bücher kann ich dies nur bestätigen. Dennoch, auch wenn ihre jüdische Herkunft keinen unmittelbaren Einfluss auf ihr Schreiben gehabt hat und keine Rolle für ihre politischen Reportagen spielte, habe ich mich letztendlich doch für diese Rubrik entschieden. Denn: Die in dieser Rubrik veröffentlichten Portraits erhalten von Beginn an die höchsten Zugriffszahlen und werden von den meisten Leserinnen und Lesern aufgerufen - und dies beinahe täglich, kein Beitrag der Reihe gerät ins Vergessen. Und deshalb steht Maria Leitner hier - weil ich dazu ein klein wenig mit beitragen will, was sich die Herausgeber von „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ erhoffen: „Dieses Buch soll dazu beitragen, daß Maria Leitners Stimme nicht wieder verhallt.“

Die beiden Bände im Aviva Verlag: http://www.aviva-verlag.de/autor-innen-co/maria-leitner/

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902 (1928).

„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“

Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“, 1928, wiederaufgelegt und herausgegeben von Christian Klein im Wallstein Verlag, 2014.

Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romane von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ (Besprechung siehe hier) die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.

Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen - dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“ (Besprechung siehe hier), der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:

„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”

Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Sozialismus und die Furcht davor, die konservativ-kaisertreue Klasse, die – bereits am Ende – ihr Heil auch im Krieg sieht und sucht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist:La guerre, ce sont nos parents.

„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.

Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:

„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“

Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“:
„Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges.
Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“

So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.

Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:

„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“

Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird. Eine ausführliche Biographie, geschrieben von Carsten Tergast, ist online hier zu finden: http://blog.zvab.com/2008/04/28/ernst-glaeser-gefeiert-verfemt-vergessen-zur-karriere-eines-deutschen-schriftstellers/

Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“:
“Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“

Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.

Zur Seite des Wallstein Verlags zum Roman: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313361-ernst-glaeser-jahrgang-1902.html
Eine weitere Besprechung gibt es bei den Literaturen: http://literatourismus.net/2014/01/ernst-glaeser-jahrgang-1902/
In der Zeit wurden die Romane Ernst Glaesers und Georg Finks zusammen rezensiert: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jugend-erster-weltkrieg

Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen (1930/2014).

„Man kommt zu gar nichts mehr. Ich denk jetzt so oft an den Tod. Quatsch. Doch, ich denk oft an den Tod. Das kommt von der Verdauung. Nein, das kommt nicht von der Verdauung. Man wird älter. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet…Nu, für sie ist ja ausgesorgt, so weit bin ich schon, Gottseidank. Wenn ich tot bin, wern sie erst erkennen, was sie an mir gehabt haben. Man wird viel zu wenig anerkannt, im Leben. Hinterher ist zu spät. Hinterher wern sie weinen. Damals, beim alten Leppschitzer warn ja enorm viele Leute. So viel kommen bei mir mindestens auch…“

Kurt Tucholsky, “Herr Wendriner kann nicht einschlafen”, 30. März 1926, “Die Weltbühne”

Der Herr, der hier nicht einschlafen kann, ist der Herr Wendriner. Ein Geschäftsmann und Familienvater im besten Alter, der Spießbürger par excellence. Und wenn Herr Wendriner uff Jedanken kommt, dann wird es ein wenig schräg. So führt Schlaflosigkeit zu solchenen Lebens- resp. Todesweisheiten.

„Schrecklich, wenn man nicht einschlafen kann. Wenn man nicht einschlafen kann, ist man ganz allein. Ich bin nicht gern allein. Ich muss Leute um mich haben, Bewegung, Familie, Arbeit…Wenn ich mit mir allein bin, dann ist da keiner. Und dann bin ich ganz allein. Hinten juckts mich. Ich kenn das. Jetzt wer ich gleich einschlafen. Schlafen…Na, denn gut`n –„

Zwischen 1922 und 1930 erscheinen die Wendriner-Texte aus der Feder Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“. Gesellschaftskritische Kurzgeschichten, Monologe, in denen einer vor sich hinschwadroniert und dabei unbewusst in seine kleine Seele blicken lässt. Nach außen hin braver Familienvater, versucht sich auch der Wendriner mal an einer Geliebten und guckt selbst im klassischen Theater den Schauspielerinnen lieber auf die Beine als ins Textbuch. Zumeist schwadroniert er übers Geschäft und – wenig fachkundig – über Politik: Politik ist letztlich das, was das Geschäft nicht stört. So sind ihm die Sozis ein Gräuel, die Bewegungen am rechten Rand notiert er in einer Mischung zwischen Furcht und Bewunderung – Bewunderung für deren „Ordnungssinn“.

Der Wendriner kam schon bei Erscheinen nicht durchwegs gut an. Zu spitz, zu satirisch und Tucholskys Wort - „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel“ – bewies sich einmal mehr. Aber auch nach Tucholskys Tod und nach dem Ende des Nationalsozialismus war lange Zeit eine unvoreingenommene Rezeption der Geschichten schwierig: Denn Herrn Wendriner ist ein deutscher Jude. Tucholsky wurde der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Dabei, so arbeitete auch sein Biograf Rolf Hosfeld heraus (nur zu empfehlen: „Tucholsky – Ein deutsches Leben“, Rolf Hosfeld), war es vor allem die Abscheu vor dem Spießertum, die den Schriftsteller und Satiriker antrieb. Aus einem Interview der Jüdischen Allgemeinen mit Rolf Hosfeld:

Zu denen, die versagt hatten, zählte für Tucholsky auch die deutsche Judenheit. Kurz vor seinem Tod 1935 hat er einen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Da liest man: »Der Jude ist feige. Er duckt sich.« Tucholsky hatte offenbar einen ziemlichen Abscheu vor den deutschen Juden.

Nicht unbedingt vor den deutschen Juden. Aber vor einem bestimmten Typus des jüdischen Spießers, ja. Herr Wendriner zum Beispiel, ja. Tucholsky hatte eine enorme Abneigung gegen den damals verbreiteten Typus des deutschnationalen Juden. Etwa, wenn Herr Wendriner den SA-Mann vor seinem Geschäft hofiert. Bei Wendriner spielen aber noch andere Aspekte hinein. In seinem ungeordneten Weltbild hat er auch sympathische Züge. Die Wendriner-Geschichten sollten übrigens als Buch erscheinen. Tucholsky unterhielt sich mit Edith Jacobson darüber, wer sie illustrieren könnte. George Grosz wollte Tucholsky nicht, der war ihm zu karikaturenhaft; andere vorgeschlagene Zeichner waren ihm zu antisemitisch.

Das Interview in voller Länge, in dem es um Tucholskys Haltung zum Judentum geht, findet sich hier: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/12535.

Für das geplante Buchprojekt war auch Tucholskys Freund Georg Grosz als Karikaturist im Gespräch. Tucho lehnte ihn als zu verspielt ab. Dennoch: “Der Kapitalist” scheint Wendrinerische Züge zu haben.

Bereits Edith Jacobsohn, die Frau des Weltbühnen-Herausgebers Siegfried Jacobsohn, plante in ihrem Verlag eine Wendriner-Ausgabe. Zustande kam sie schließlich nicht, selbst ihr waren manche Texte zu scharf. 1927 erschienen dann die bis dahin in der Weltbühne gedruckten Texte bei Rowohlt, in dem Sammelband „Mit 5 PS“. Nicht darunter ist selbstverständlich der interessanteste der Wendriner-Texte, weil erst 1930 entstanden: „Herr Wendriner steht unter Diktatur“. Geradezu hellsichtig skizziert Tucholsky das Heraufziehen einer neuen Gesellschaftsordnung mit Herrenmenschen und lässt seinen literarischen Wendehals bei einem Kinobesuch den Salto zur Unterordnung machen – auch Wendriner ist einer jener, die zu jener Zeit noch glauben, als „Schutzbürger“ und mit der rechten Gesinnung geschähe ihnen nichts.

Der Verlag vbb – verlag für berlin-brandenburg hat nun in einem schmalen Bändchen die Wendriner-Texte neu herausgegeben. Ergänzt durch eine weibliche Stimme: Mit den „Lottchen“-Geschichten lässt Tucholsky eine für diese Zeit typische freche Frauenstimme, emanzipiert, witzig und schlagfertig, zu Wort kommen. “Lottchen” war im eigentlichen Leben Lisa Matthias, eine alleinerziehende Journalistin, die Tucholsky 1927 kennenlernte. Ihr widmete er „Schloß Gripsholm“.

Abgerundet wird das Buch durch den Briefwechsel Tucholskys mit Edith Jacobsohn zu ihrem geplanten Buchprojekt, der in dem Bändchen erstmals veröffentlicht wird. Allein schon diese briefschriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beiden ist von hohem Amüsemang und macht das Buch zu einer kleinen Petitesse:

„Lieber dicker Tucho, was is mit Wendrinern, nuuh?“, fleht die Verlegerin namens Franziska Damenbart, und der Tucho antwortet dem „geliebten Weib“, der Wendriner werde schon mit besonderer Sorgfalt verarztet werden.

„Herr Wendriner und das Lottchen“, Kurt Tucholsky, vbb, 2014, 96 Seiten, Halbleinen, Format: 12,5 x 20,5 cm, ISBN: 978-3-945256-01-5.

Zur Verlagsseite:
http://www.verlagberlinbrandenburg.de/Gesamtverzeichnis/Kulturgeschichte/Herr-Wendriner-und-das-Lottchen.html

 

Erich Kästner - Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?

Erich Käster (1899-1974) ist in dem Land, in dem die Kanonen blühn, geblieben - auch als seine Bücher brannten. Von den 25 deutschen Schriftstellern, deren Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen landeten, waren die meisten schon im Exil - darunter Bertolt Brecht (siehe “Brecht und das Exil”) und beispielsweise Erich Maria Remarque. Als die Nazi diesen nicht holen konnten, rächten sie sich an der Schwester: Im Westen nur Grausames.

Kästner blieb und sah zu:

“Er stand da, vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, und sah die Bücher in die Flammen fliegen. Sein Name wurde gebrüllt, gleich nachdem der Rufer “Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!” gewettert hatte. Kästner sah zu. Als plötzlich eine schrille Frauenstimme rief: “Dort steht ja der Kästner!” Da wurde Kästner “unbehaglich”, wie er es später wohl leicht beschönigend beschrieben hat.”

Volker Weidermann in “Das Buch der verbrannten Bücher”.

Kästner wurde später oft, auch mit einem leichten Unterton des Vorwurfs, gefragt, warum er denn geblieben sei, ja, beinahe zur Rechtfertigung gedrängt. Denn im Land, in dem die Kanonen blühn (das Gedicht schrieb er übrigens 1928) hatte er Berufs- und Publikationsverbot, wurden seine Konten gesperrt, wurde er zweimal von der Gestapo verhaftet, andererseits aber auch vom Regime für das Drehbuch des Münchhausen benutzt. Kann man einem zum Vorwurf machen, dass er bleibt, dass er schweigt, ja, dass er auf diese Weise mit dem Leben davon kommen will?

In einem Gespräch sagt die Lebensgefährtin Kästners, Luiselotte Enderle, dazu:

War es denn nicht mutig von Kästner, sich da mitten in diese breit angekündigte Hass-Aktion zu stellen? Enderle spendiert ein überraschendes Lächeln. “Mutig? Och… ich weiß nich. Mutig hat er sich ja nicht so sehr gesehen. Er war ja auch ein ziemlich schmales Hemd.” Sie reckt sich aus den Kissen hoch. “Der Robert Neumann hat mal gemeint, dass Dichter nicht so mutig sein können - mit der geballten Faust kann man ja nich schreiben.”

Die Quelle - zu finden auf spiegelonline einestages - ist nicht nur wegen der Äußerungen Enderles zur Bücherverbrennung interessant. Die Dame hat selbst im hohen Alter noch Temperament und lässt sich von “Jefühlen” umgraben:

Haben sich Kästner und Enderle in ihrer On-und-off-Beziehung bis zum Tod des Schriftstellers 1974 oft über die Bücherverbrennungen ausgetauscht? On-und-off-Beziehung - für die misstrauische Enderle eine grenzwertige Formulierung. “Junger Mann, nun lassen Se man. Der Erich und meine Wenigkeit waren zwar wie Waschfrau und Nachtwächter - ich tagsüber putzwach, er eher Eule - aber deswegen hatten wir doch jenüjend Zeit, die Jefühle umzugraben.”

Kästner selbst äußert sich mehrfach zu seiner lebensbestimmenden Entscheidung:

“Der Held ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen. Er wird zum Märtyrer. Er stirbt offiziell an Lungenentzündung. Er wird zur namenlosen Todesanzeige.” 

“Ich war nur passiv geblieben. Auch damals und sogar damals, als unsere Bücher brannten. (…) Warum erzähle ich das? (…) Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Keiner weiß, ob er aus dem Stoff gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt.”

Man frage nicht (Karl Kraus).

Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause (2014).

Und die Geschichte ist auch nicht
der zerstörerische Bulldozer wie behauptet wird.
Sie hinterlässt Unterführungen, Grüfte, Löcher
und Verstecke. Manche überleben.

Aus: „Die Geschichte, II.“ von Eugenio Montale

Das Gedicht des italienischen Nobelpreisträgers für Literatur ist in voller Länge und in der deutschen Übertragung durch Michael von Killisch-Horn dieser Anthologie vorangestellt:

„Niemals eine Atempause“, Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Joachim Sartorius, 1. Auflage 2014, Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Armenischer Friedhof. Aus dem Projekt “Geheimnis der Bäume”. Mehr dazu hier: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2014/39/genozid-armenier-osmanisches-reich-kathryn-cook

60 Jahre Grundgesetz, 50 Jahre Vertrag von Rom, 25 Jahre Mauerfall – die Jubiläen der vergangenen Jahre waren stets begleitet vom Hinweis, dass Europa die langanhaltendste friedliche Periode seit Menschengedenken erlebt. Wie fragil das Ganze jedoch ist, das zeigen die Ereignisse an der Peripherie, der Bosnienkrieg, die Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und außerhalb des europäischen Kontinents bleibt Frieden immer noch eine ferne Utopie. Es gibt in diesen Tagen auf der Welt so viele Kriege und regionale Konflikte wie lange nicht. Wer jedoch beispielsweise die Auseinandersetzungen in Afrika rein als innerkontinentales Konfliktthema verortet, sollte sich daran erinnern: Viele dieser Auseinandersetzungen, die uns hier wenig (be-)kümmern, sind (auch) späte Früchte europäischer Kolonial- und Eroberungspolitik, Früchte des Zorns, ein Erbe vor allem des 20. Jahrhunderts.

Auf der Insel der europäisch Friedlich-Seligen schadet der Blick zurück freilich niemals: Die Hoffnung, dass aus dem Vergangenen gelernt wird, stirbt zuletzt. Und da ist das 20. Jahrhundert eines, das zweifelsohne und über die beiden Katastrophen der zwei Weltkriege hinaus, Konflikt- und Verarbeitungsstoff ohne Ende bietet. Zumal die Jubelfeiern übertünchen, dass längst nicht alles schwarz-rot-gold ist, was da glänzt. Aus der Geschichte lernen – was wurde gelernt?

1. Weltkrieg, Soldatengräber

Friedensnobelpreisträger Gorbatschow äußerte sich dieser Tage enttäuscht, spricht von einem Zusammenbruch des Vertrauens, einem Neubeginn des Kalten Krieges. Welche Verantwortung übernimmt dabei das Land der Dichter&Denker in der Welt – das Land, das trotz Aufklärung und Sturm&Drang im 20. Jahrhundert zweimal zurück in die tiefste Barbarei steuerte?

Einschub: Ein lesenswerter Beitrag dazu auf form7:
http://form7.wordpress.com/2014/11/09/gorbatschow-zitiert-willy-brandt/

Und welche Rolle übernehmen die Dichter&Denker? Ist die Kunst, frei nach Schiller, eine Tochter der Freiheit? Sind Kunst und Politik verwandt, verbunden oder getrennte Wesen? Kann man dann, wo die Worte unzureichend erscheinen, Gedichte machen? Oder muss man gerade darum ringen, das Unfassbare in Worte zu fassen?

Hierzu Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen besseren Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?

Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?“

Progromnacht. Die brennende Synagoge am Börneplatz in Frankfurt. Quelle: http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/novemberpogromnacht/frankfurt.asp

Was also haben die Dichter zum gewalttätigen zurückliegenden Jahrhundert zu sagen?

Eine lange Vorrede zu einem besonderen Buch: In „Niemals eine Atempause“ stellte Joachim Sartorius als Herausgeber ein „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ zusammen. Dieser lyrische Atlas, in dem sich Gewalttätigkeiten, Katastrophen und Morde ebenso wie der Wille zum Aufbruch, zur Veränderung, der Wunsch nach anderen Verhältnissen niederschlagen, lässt die Stimmen von mehr als 100 Poetinnen und Poeten erklingen: Von Wort- und Schriftführern ihrer Ideologie, Mitläufern und willfährigen Hofdichtern bis hin zur „Schreckenskammer“ der dichtenden Diktatoren und Despoten einerseits, von Widerständlern, Mahnern, Moralisten und Kritikern der Macht andererseits. Erfreulicherweise ist das Buch nicht eurozentrisch, greift ebenso Konflikte auf, die das 20. Jahrhundert auch in anderen Teilen der Welt prägten: Die lateinamerikanische Befreiungsbewegung, der Kampf gegen die Apartheid, die Kriege in Asien, Vietnam und chinesische Kulturrevolution bis hin zum Nahen Osten. Großen Raum nehmen aber selbstverständlich die beiden Weltkriege, Holocaust und Todeslager, Kalter Krieg und Wiedervereinigung (siehe dazu der vorhergehende Beitrag) ein. Jedem Kapitel ist eine Einführung zu Politik und Geschichte vorangestellt, zudem werden etliche Gedichte, vor allem die derjenigen Dichter mit hermetischerer Ausdrucksweise, kurz erläutert und interpretiert.

Das Buch ist chronologisch angeordnet und beginnt mit dem Genozid an den Armeniern (1909-1918) und endet nach einem Kapitel über „Die grüne Utopie“, die das Ende des 20. Jahrhunderts prägte, mit einem Epilog durch Bob Dylan: „Masters of War“. Die „Schreckenskammer“ mit „Gedichten der Despoten“, darunter Stalin, Mussolini, Mao Tse-Tung, ist dem Ganzen abseits als Anhang beigestellt.

2. Weltkrieg, Soldatenfriedhof Lommel

Soviel zum Formalen. Zum Inhaltlichen: Geschichtsschreibung ist niemals objektiv. Lyrik sowieso überhaupt nie. Und jede Auswahl wird von einem Subjekt getroffen. So ist dieses Handbuch der politischen Poesie eben auch eng mit der Person des Herausgebers verknüpft, ein Abbild seiner Entscheidungen. Sartorius („Jurist, Diplomat, Theaterintendant, Lyriker und Übersetzer“ in der bei „Wikipedia“ aufgeführten Reihenfolge), scheint dafür die richtige Wahl: Einer, der sich in der Lyrik auskennt wie in seinem eigenen Zuhause, gebildet, kosmopolitisch geprägt, ein Humanist, ja, durchaus ein Poesie-Diplomat, dem man ausgewogene Entscheidung zutraut, auf dessen Auswahl man sich also auch bei diesem Handbuch stützen mag. In seinem Vorwort umreißt Sartorius kurz das Verhältnis von „Poesie und Macht“:

„Es scheint im Rückblick, gerade dieses Jahrhundert war so beschaffen, dass die Intellektuellen, die Künstler, die Schriftsteller Partei ergreifen mussten. Und die Dichter? Sie bewegen sich in einem besonderen Spannungsfeld. Per definitionem ist der Dichter ein Einsamer, auf dem Rückzug, in Betrachtung versunken. Wenn er die Probleme der Epoche nicht aufgreift, scheint sein Werk ohne Nutzen, wie disqualifiziert.“

Sartorius Anliegen war es, unter dem Meer politischer Gedichte – und letztendlich wäre ja jedes Gedicht als Ausdruck einer menschlichen Befindlichkeit per se politisch – jene beiseite zu lassen, die „dem Zeitgeist verpflichtet, ohne Dauer“ sind. Er begrenzt die Auswahl auf jene, die „politisch“ in dem Sinne sind, dass sie ein politisches (geschichtliches) Thema aufgreifen beziehungsweise eine politische Absicht verfolgen. Schwieriger schon die Entscheidung, was ein „gutes politisches“ Gedicht nun sei:

„Fast immer überschneiden sich Ethik und Ästhetik in einem politischen Gedicht.“

Vietnam. Bild: Horst Faas.

Sartorius weiter:

„Im 20. Jahrhundert wurde aber „angesichts des Schreckens, der sich darin abspielte, bald deutlich“, so Matthias Göritz, „dass diese Haltung so nicht mehr einzunehmen ist. Wörter sind nicht unschuldig, gerade die Dichter wissen das.“ So wurde eine Richtung immer stärker, die sich sowohl vom hermetischen Text wie vom lyrischen Subjektivismus abgrenzte und versuchte, Fakten sprechen zu lassen, also zu erzählen und zu argumentieren, ohne den dem Gedicht spezifischen Empfindungsgeist und seine Erregungskunst hinter sich zu lassen. In diesem Rahmen gibt es Gedichte mit guter Botschaft und von zweifelhafter Machart, und es gibt gute Gedichte mit zweifelhafter Botschaft. Das Urteil, ob es sich um ein Kunstwerk handelt, muss ästhetisch gefällt werden und ist letztlich ganz subjektiv. Ich habe versucht, Gedichte aufzunehmen, die sich politische Themen vornehmen, keine einfache Moral haben und imstande sind, Komplexität des Nachdenkens und der Gefühle zu erzeugen.“

Unter dieser Maßgabe ist diese subjektive Auswahl für das Handbuch – Herausgeber und Verlag weisen darauf hin, dass es die erste Gedicht-Anthologie zur politischen Poesie des 20. Jahrhunderts sei – durchaus gelungen. Doch weit mehr als das Anliegen, sich mittels eines Handbuches einen ersten Überblick zu verschaffen, zählt dieser Gedanke:

„Leiden duldet kein Vergessen“

Denn letztlich rufen diese Gedichte, die auch von persönlichem Leid, Verlusten, aber auch Versagen und Ängsten angesichts menschlicher Gewalt erzählen, vor allem in Erinnerung, wie dünn das zivilisatorische Eis bleibt, auf dem wir in scheinbar friedlichen Zeiten dahingleiten. Dass es nach barbarischen Zeiten auch weiterhin Gedichte geben muss, um der Barbarei, wenn möglich, vorzubeugen. Sartorius endet sein Vorwort damit:

„Dieses Handbuch soll zeigen: Es gibt keine Aneignung der Geschichte durch Gedichte. Aber Gedichte kommentieren die Zeitläufte, sie zeigen Entsetzen, sie klagen an oder sie rufen auf, sie können „eine Schule für Güte, Sühne, Reue und Vergebung sein“ (Zbigniew Herbert in seiner Dankesrede für den Preis der Europäischen Poesie, 1997). Vor allem zeigen sie das Vertrauen ihrer Schöpfer, dass die Worte langfristig auf das Bewusstsein wirken und am Ende Wirklichkeit stärker modellieren als Geschichtsbücher oder politische Entscheidungen.“

Nicht aufgenommen in das Handbuch hat der Herausgeber übrigens eines seiner eigenen Gedichte, dessen Titel lautet: „Im Vernichtungsbuch“. Es beginnt mit diesen Zeilen:

Daß die Bäcker ihre weißen Hände ausziehen.
Daß die Metzger vor den Tieren sterben.
Daß die Dichter einen nutzlosen Mund haben,
den sie rund machen und breit ziehen.
Das steht im Vernichtungsbuch geschrieben.

Wer dagegen zu Wort kommt, dazu in kommender Zeit noch mehr.
Einen ersten Blick ins Buch ermöglicht die Verlagsseite (siehe Leseprobe): http://www.kiwi-verlag.de/buch/niemals-eine-atempause/978-3-462-04691-5/
Auch Wolfgang Schiffer stellt die Anthologie auf seinem Blog “Wortspiele” vor:
http://wolfgangschiffer.wordpress.com/2014/11/18/niemals-eine-atempause/

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (10): Trude Krakauer (1902-1995)

Bild: Rose Böttcher

Lichten Traum

LICHTEN Traum, ihr alten Optimisten,
Immer wußtet ihr ihn zu bewahren.
Kolumbien verlaßt ihr mit Koffern und Kisten,
Hofft, ihr werdet in der Heimat nisten,
Tröstlich winkt sie nach den Trennungsjahren.
Elend, wißt ihr, werdet ihr dort finden,
Not, ihr wollt sie kämpfend überwinden;
BERG und Tal sind noch die sie waren…
Eilt es euch? – Wir lassen euch schon gehen,
Reicht die Hand uns, - mögt ihr glücklich fahren!
Gute Reise und: Auf Wiedersehen!

Trude Krakauer, Bogotá, 5. Februar 1948

Trude Krakauer sah die „alte Heimat“, das „Niewiederland“, nur einmal wieder, 1981 bei einer Reise nach Österreich. Vom „rückwärts gehen“ erwartete sie nicht viel, wie auch dieses beinahe trotzig klingende Gedicht vom lichten Traum erkennen lässt. Andererseits jedoch: Auch das Exil, Kolumbien, war nicht zur Heimat geworden, es gelang ihr in ihrem langen Leben nicht, hier vollständig Wurzeln zu fassen, nur Luftwurzeln blieben ihr, Wurzeln, die keine Erde fanden. Zum Ausdruck kommt dies in einem ihrer späteren Gedichte, „Luftwurzeln“ (Auszug):

Ich hab meinen Halt in der Erde verloren.
Luftwurzeln treib ich, blasse Gedichte,
Die zittern und schwanken und tasten ins Leere.

„Ich habe gerne hier gelebt, aber nie habe ich dieses Land als meine „zweite“ Heimat betrachtet. Man hat nur eine Heimat, so wie man nur eine Mutter hat“, schreibt sie 1993. Dabei verbrachte Trude Krakauer (nicht zu verwechseln mit Trude Dothan, geborene Krakauer) mehr Lebensjahre im kolumbianischen Exil als in der österreichischen Heimat. Am 30. Mai 1902 in Wien geboren, flieht sie nach dem „Anschluss“ Ende 1938 nach Lateinamerika. Hochbetagt, im Alter von 93 Jahren, stirbt sie am 25. Dezember 1995 in Bogotá. Die Heimat hat sie nie vergessen – aber im Gegenzug vergaß die Heimat beinahe sie. Es ist der österreichischen Exilforscherin und Lyikerin Siglinde Bolbecher (1952-2012) zu verdanken, dass Trude Krakauer nicht vollständig aus dem Bewusstsein geriet – und dass ihre Gedichte erhalten blieben und überhaupt veröffentlicht wurden.

Ballade vom Niewiederland

Wer seinen Weg im Niewiederland sucht,
der kommt nirgends an und kehrt nimmermehr heim;
er geht nur und geht, um zu gehen.
Er geht durch die Straßen der Nimmermehrstadt,
da stehen vor den Türen und nicken ihm zu
die kleinen, vergessenen Freuden.
Und jede begrüßt er gerührt und beglückt
und jede hält heimlich das Messer gezückt
und stößt es ihm mitten ins Herz.
Wer seines Wegs im Niewiederland geht,
der weiß es kaum, daß er das Messerlein sucht.
Er geht nur und geht, um zu gehen.

Denn Trude Krakauer teilt – nicht nur in der Zerrissenheit zwischen zwei Welten – das Schicksal vieler Exilanten: Vertrieben, verloren, vergessen. Ihr Name erscheint heute nur marginal in der Literatur, meist in Fachbüchern über die Literatur im Exil. Zu Lebzeiten wurden die Gedichte Trude Krakauers, die bis zu ihrem Lebensende in ihrer Muttersprache schrieb, nur dreimal in österreichischen Publikationen veröffentlicht. Dabei hätte ihr schmales, dafür aber umso intensiveres Werk mehr Aufmerksamkeit verdient. Sicher liegt ihr geringer Bekanntheitsgrad aber auch an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Trude Krakauer prägten. Siglinde Bolbecher, die 1993 die verbliebene österreichische Exilgemeinde in Kolumbien aufsuchte, lernte hier auch Trude Krakauer persönlich kennen. In ihrem Nachwort zur einzigen bislang veröffentlichten Sammlung ausschließlich mit Gedichten von Krakauer, „Niewiederland“, erschienen 2013 in der Reihe „Nadelstiche“ der Theodor Kramer Gesellschaft, zeichnet Bolbecher ein feines Portrait der Dame, die sie in Bogotá kennenlernte:

„Es mangle ihrer Biographie an Leistungen – meint Trude Krakauer mit feiner Ironie -, an denen sich der Lebensfaden festknoten läßt und zugleich ist „Leben“ immer viel mehr als wir erzählen können. „Meine Biographie ist eigentlich in meinen Gedichten enthalten.“ In ihnen nimmt sie die schwierige Kommunikation mit Herkunft, der beglückenden, aber auch tödlichen Mühle der Kindheit und Jugend auf.“

Eines der wenigen Bilder von Trude Krakauer. Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft.

So zurückhaltend wie sie als Person durch diese wenigen Zeilen anmutet, so präzis- unprätentiös ist auch die Sprache ihrer Lyrik. Oftmals mit einer Spur von Bitterkeit angereichert. „Die Zeit heilt alles“ – so der Titel eines Gedichtes – nur die „pochend-wunden Herzen“ nicht.
Ein Auszug:

„Die Zeit heilt alles. Über Massengräber
Weht grünes Gras. Wir halten sie für gütig,
Wenn ihren Schleier unfühlbar und fühllos
Sie über Tote zieht, die uns noch leben,
Und über unsre schmerzhaft wachen Augen
Und unsre wehen, pochend-wunden Herzen.
(…)
Der Tod heilt alles, doch solang ich lebe
Will ich unheilbar sein.

Woher kam die Frau, die später einige der wichtigsten spanischsprachigen Literaten übersetzte (unter anderem Jorge Guillén, Rubén Darío, Blas de Otero) und doch nie viel Aufhebens um sich machte? Die mit anderen Dichtern im Exil befreundet war, aber kaum über ihre eigene Dichtung sprach?

Aufgewachsen war sie in einem liberalen Elternhaus: Ihr Vater, Dr. Heinrich Keller, war nicht nur ein bekannter Kinderarzt, sondern hatte auch mehrere sozialkritische Romane und ein Buch über Pädagogik geschrieben. „Er war sozialdemokratischer Bezirksrat und verstand sich als „Revolutionär“: Freigeist, antiklerikal, dem Fortschritt und dem Humanismus verbunden“, so Siglinde Bolbecher. Eine Haltung, die die Tochter übernahm – doch nicht nur dieses sollte für sie später, im Nationalsozialismus, zur Gefährdung werden. Keller war zwar konvertierter Protestant, dies schützte ihn jedoch vor dem Rassenwahn der Nazis nicht. Der Kinderarzt erzog seine Kinder religionslos. Später, 1938, wird Trude Krakauer Jüdin – als Bekenntnis und Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrem verfolgten Volk. Man sieht an ihrer Biographie – da hat eine bereits in jungen Jahren ihren eigenen Kopf, sucht ihren Weg, will etwas bewegen. Einfach macht sie es ihrer Mutter Nelly, die in ihrer Jugend selbst Gedichte schrieb, nicht. Ein ganz anrührend zartes Gedicht ist dazu zwischen den zuweilen nüchtern bis trotzigen Tönen in ihrer Lyrik zu finden:

Meiner Mutter

Und oft, wenn ich`s zu arg getrieben,
Mein ich, mir sei kein Weg geblieben,
Und alles sei zu Ende.
Und dann kommst du und sprichst ein gutes Wort,
Wie du`s nur kannst und deine lieben Hände
Sie streicheln jedes Leid mir fort.

Vielleicht klingt in diesem undatierten Gedicht auch die Sehnsucht nach dem „Mutterland“, der „Muttersprache“, nach der vergangenen, einigermaßen in Takt gewesen Welt zurück. Doch Trude Krakauer weiß: Es gibt keine Umkehr.

Auch nicht in dieses Wien, in dem sie als junge Frau sich in der sozialistischen Jugendbewegung engagierte, an der Universität ausprobierte – zunächst auf Wunsch der Eltern im Studium der Medizin, dem folgten Staatswissenschaften, zugleich hörte sie Vorlesungen für Karl Kraus, für dessen Sprache sie sich begeisterte und dem ebenfalls Gedichte gewidmet sind. Bereits neben dem Studium arbeitet sie als Englischkorrespondentin für sozialdemokratische Stellen, ist von 1934 an aber für die Kommunisten illegal politisch tätig – ihr Verbleib in Österreich wird lebensgefährlich, bis sie durch ihre Jugendfreundin Thea Weiss ein kolumbianisches Arbeitsvisum erhält.

Dort dann der Aufbau einer neuen Existenz: Sie heiratet den mährischen Chemiker Dr. Emil Krakauer, arbeitet als Übersetzerin und Sekretärin in Bogotá, ist aktiv im “Comité de los Austríacos Libres”, für das sie zusammen mit der deutschen Schriftstellerin Margot Neumann-Hermer Literaturlesungen und andere Vorträge vorbereitet. Ab 1952 bis 1977 ist sie dann in der deutschen Handelsvertretung beschäftigt. Das der nüchterne Rahmen eines Lebens in der „neuen“, der anderen Welt. Die Bezüge zur Heimat werden immer weniger. Und klarsichtig erkennt sie wohl: Das ist Vergangenheit, sie warnt vor „Sehnsuchts-Vergoldungen der alten Heimat“ heißt es in dem Exilliteratur-Buch „Ferne Heimat, nahe Fremde“, herausgegeben von Eduard Beutner:

“Bei der im kolumbianischen Exil gelandeten Lyrikerin Trude Krakauer ist ebenfalls das Realitätsprinzip am Werk: „Erwürge endlich/das Kind in dir,/das spielen will. (…)/Lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen:/plus ist gleich minus,/ Freude ist Schmerz.(…)/Lerne, dass Schönheit brennendes Leid ist,/lerne die Sprache, die nicht verbindet/lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen“, heißt es, vergleichbar mit Jean Amérys bedrängenden Reflexionen über das schwierige Entziffern von Zeichen in der Fremde, bei Krakauer freilich aber zwecks lebensbewältigender Perspektive.”

Lebensbewältigung, nicht zurückschauen, nicht werden zu „Loths Weib“, wie eines ihrer Gedichte heißt. Es gelingt ihr einigermaßen. Und so trägt ihr vermutlich letztes Gedicht vom 12. Jänner 1987 den Titel „Zuletzt“ (Auszug):

Ich gehe mit mir jetzt sehr nachsichtig um,
Eine uralte Frau muß man schonen,
(…)
Der Weg war so kurz – oder war er so weit? -
Ich ging durch so viele Geschichten.

Angaben zum Buch:

Trude Krakauer · Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.)
Niewiederland
Mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher
Theodor - Kramer - Gesellschaft, Wien
2013 · 96 Seiten · 12,00 Euro
ISBN: 978-3-901602-49-8

Erschienen ist der Gedichtband „Niewiederland“ bei der Theodor Kramer Gesellschaft – hier deren eigene Kurzbeschreibung:

Vor fast genau 25 Jahren, am 6. März 1984, wurde die Theodor Kramer Gesellschaft gegründet, um Leben und Werk Theodor Kramers zu erforschen und zur Verbreitung der Literatur des Exils und des Widerstandes beizutragen. Erster Vorsitzender war der Nachlaßverwalter Kramers, Erwin Chvojka. Dem Kuratorium der Gesellschaft gehörten u.a. Erich Fried, Bruno Kreisky und Hilde Spiel an.
Die erste Nummer der Zeitschrift „Mit der Ziehharmonika“, heute „Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“, die sich inzwischen zu einem international anerkannten wissenschaftlichen Forum der Exilliteratur entwickelt hat, erschien im Mai 1984.
1987 erweiterte sich der Interessensbereich der Gesellschaft in Richtung stärkerer Berücksichtigung der gesamten österreichischen Exilliteratur.  Seit 1990 gibt die Theodor Kramer Gesellschaft das Jahrbuch „Zwischenwelt“ heraus. Der Verlag entstand 1995 aus der Notwendigkeit, aus Österreich vertriebenen Autorinnen und Autoren eine Möglichkeit zur Publikation ihrer Werke zu bieten. Wichtig ist uns auch der kritische Blick, den Exilierte oder aus dem Exil Zurückgekehrte auf das Land ihrer Herkunft werfen: Sich mit den Augen anderer und besonders derer sehen zu lernen, die mit Österreich traumatische Erfahrungen verbinden, ist angesichts der offenen Fragen unserer Zeit eine große Aufgabe.
Die Gesellschaft hat bisher eine Reihe wissenschaftlicher Symposien und viele kulturelle Veranstaltungen abgehalten, wie z.B. 2001 “Zur Rezeption des Exils in Österreich” oder in Salzburg “Jiddische Kultur und Literatur aus Österreich”, 2005 und 2006  “Gespräche über die Rückkehr” oder 2009 “Subjekt des Erinnerns” in Wien.
2001 wurde von uns erstmals der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil an Stella Rotenberg (Leeds) verliehen, 2013 geht der Preis an Margit Bartfeld-Feller (Tel Aviv) und Manfred Wieninger (St. Pölten).
Den derzeit 500 Mitgliedern der Gesellschaft aus Österreich, Deutschland, Schweiz, Frankreich, Israel, Italien, den USA, aus Südamerika und Asien stehen ein Archiv und eine umfangreiche Buch- und Zeitschriften-Bibliothek zur Verfügung. Es ist uns gelungen, einen wirklichen Kontakt mit exilierten SchriftstellerInnen und KünstlerInnen aufzubauen; viele unserer Mitglieder sind oder waren im Exil oder in nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Link: http://theodorkramer.at/

Jüdische Autorinnen im Portrait (9): Carry Brachvogel (1864-1942).

„Und nun, da das Dirndlgewand Allgemeingut geworden scheint, nun steht auch ihm, wenn nicht alle Zeichen trügen, eine ähnliche, wenn auch anders geartete Dechaubierung bevor, wie sie einst das selige Tegernseer Chasseresse-Kleid erlebte. Nur sind es diesmal nicht die praktischen Provinzlerinnen, sondern die stillosen Mondänen, die ihre reichberingten Hände nach ihm ausstrecken, es nicht um der Anpassung oder der Bequemlichkeit willen wählen, sondern es aufputzen und aufplundern, daß es mehr an die Maskengarderobe, denn an ein heimisches Sommergewand erinnert. Nun ist schon der Rock so kurz, das Leibchen so tief ausgeschnitten worden, daß jedes bäuerliche Dirndl, dem man sie zumuten wollte, empört fragen würde:
„Ja moanst ebba, da tat` i mi net schama?!“

Carry Brachvogel, „Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder“, Allitera Verlag.

Wer als im Bayerlande Wohnhafte gezwungenermaßen Jahr für Jahr die seltsamsten Erscheinungsformen gen` Oktoberfest an sich vorüberziehen sieht, der kann das Bedauern Carry Brachvogels gut verstehen. So manche bayerische Tradition, die in sich eigentlich Stil und Schönheit birgt, ging im Rummel unter. Was manche B-Prominente heute auf dem Oktoberfest trägt, hat mit Dirndl so viel zu tun wie – ach, jetzt fehlt mir ein Vergleich.

Nur: Carry Brachvogel, die aufmerksame, zuweilen spitzzüngige Beobachterin schrieb dies bereits vor 1923. Und nicht nur in ihren Reflektionen über die bayerische Landestracht ist die Schriftstellerin überaus modern in ihren „Bayerischen Bildern“, die vor 91 Jahren erstmals erschienen. Sie führt mit ihren Reisestücken direkt in das Herz Bayerns:

„Der Schuhplattler beginnt. Norddeutsche Bundesbrüder, die ihr euch in „echt bayerischen“ Singspielhallen rotseidene Röcke, spinatgrüne Hosenträger, geschminktes Lächeln, widerliches Hopsen und komödiantisches Juhuen als „echten Schuhbladla“ aufreden laßt, kommt hierher und seht euch den Tanz an, wie er in Wirklichkeit ist!“

Da erzählt eine voller Liebe und Zuneigung von ihrer Heimat – so sehr, dass man sich mit diesem Buch gerne auf Ausflüge nach Regensburg, der Fraueninsel auf dem Chiemsee oder vor allem nach München, wo Carry Brachvogel lebte, begibt. Doch die Liebe zur Heimat, sie wurde ihr schlecht gedankt: Die Schriftstellerin, zu ihrer Zeit weit über Bayern hinaus in ganz Deutschland als Feuilletonistin, Autorin und Frauenrechtlerin bekannt, starb 1942 in Theresienstadt. Und blieb bis heute beinahe vergessen. „Neuauflagen der Werke Carry Brachvogels, die damals sehr verbreitet waren, sind nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors nicht bekannt. Sie wurde aus der kollektiven Erinnerung verdrängt – und zu Unrecht vergessen.“

Dies schreibt Ingvild Richardsen in einem Vorwort der 2013 endlich wieder erschienenen bayerischen Bilder. Der Band „Im Weiß-Blauen Land“ bildete den Auftakt zu einer Neuauflage einiger ausgewälter Werke von Carry Brachvogel in der „edition monacensia“ im Allitera Verlag, inzwischen gefolgt von einigen Romanen wie „Alltagsmenschen“, eine Posse um die Suche nach einem Ehemann „Der Kampf um den Mann“, aber auch von „Schwertzauber“, einer Auseinandersetzung mit den Leiden des 1. Weltkrieges.

Nur einige der über 40 Werke, die die Schriftstellerin zu Lebzeiten veröffentlicht hatte, darunter Romane, Frauenbiografien, Theaterstücke und sogar einen Krimi. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit wurde sie vor allem durch ihren Einsatz für die Frauenrechte und durch ihren literarischen Salon berühmt. Ingvild Richardsen:

„1913 gründete sie zudem den ersten Schriftstellerinnen-Verein Münchens. Bedeutende Persönlichkeiten traten ihm bei: Ricarda Huch, Annette Kolb, Helene Böhlau, Isolde Kurz und viele andere. Noch 1924, zu ihrem 60. Geburtstag wurde die erfolgreiche Schriftstellerin deutschlandweit gefeiert. Wenige Jahre später zählte nur noch, dass sie jüdischer Herkunft war.“

Im Alter von 78 Jahren mit ihrem jüngeren Bruder nach Theresienstadt verschleppt, wo beide kurz danach verstarben. Danach schien es, als existierte ihr Name nicht mehr. Bis 2012 dauerte es, bis in München, „ihrer“ Stadt, eine Straße nach ihr benannt wurde. Verdienstvoll ist es daher, dass in der Reihe der Münchner Staatsbibliothek nun ihre Werke dem Vergessen entrissen werden. Auch aus literarischer Sicht: Spritzig, witzig, schlagfertig und durchaus unterhaltsam ist der Stil dieser für ihre Zeit so ungewöhnlich emanzipierten, aufrechten Frau. Ingvild Richardsen bereichert den ersten Band der Brachvogel-Reihe mit einem umfangreichen Nachwort zur Biografie der Münchner Schriftstellerin:

„Mit ihrem Lebensstil, ihren Ideen und ihrem politischen Engagement erscheint Carry Brachvogel heute als eine ungewöhnlich moderne und emanzipierte Frau ihrer Zeit. Ihre damaligen Ansichten sind hochaktuell: Wichtigkeit der Arbeit und des Berufes, der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit. So wirkt sie für uns auch als eine Visionärin der modernen Frau. Schon damals hat sie so gelebt, wie es heutzutage viele Frauen tun: alleinerziehend und berufstätig.“

Und ob sie nun in ihren Romanen über das Frauenbild ihrer Zeit schrieb oder in ihren Essays über ihre Heimat – bei alledem wirkt Carry Brachvogel modern, heimatverbunden ohne „tümelnd“ zu sein, neugierig, aufgeschlossen, offen, den Menschen zugeneigt:

Denn dies vor allem wollte ich: Menschen schaffen, nicht Tragantfiguren oder Kostümpuppen. Das Goethewort: „Der Mensch ist dem Mensch am interessantesten“ ist für mich immer ein Glaubensbekenntnis gewesen und geblieben.

Ein schönes Filmportrait über Carry Brachvogel gab es beim Bayerischen Fernsehen:
http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/geschichten/im-weissblauen-land-carry-brachvogel-100.html

Und weitere biografische Angaben beim Literaturportal Bayern:
http://www.literaturportal-bayern.de/autorenlexikon?task=lpbauthor.default&pnd=119079682