TRIO 24: Ach du dickes Ding!

Unlängst war ich bei einer Feier Ohrenzeugin eines fachkundigen Gespräches über Kunst. Ein Maler, Bruder der Gastgeberin, freut sich über seine erste Einzelausstellung in Berlin. Einziger Stressfaktor: Der Transport seiner großformatigen Gemälde von Düsseldorf in die Bundeshauptstadt. Großes Format, praktischer Rat: Er solle doch künftig einfach kleinere Bilder malen, warf der Pragmatiker der Runde ein. Und meinte das ganz ernst.

Ich stelle mir den Gesichtsausdruck von James Joyce vor bei der Frage, warum er für einen Tag in Dublin so viele Seiten braucht. Oder wie Thomas Mann reagiert hätte, hätte man ihn aufgefordert, „Joseph und seine Brüder“ doch bitte in einem Band abzuhandeln. Und, na ja, „Jahrestage“, „Zettel`s Traum“, und sowieso beinahe alles von Dickens und Dostojewski - mal ehrlich: Kurz fassen konnten die Jungs sich wohl nicht, oder?

Aber das ist eben das Kreuz mit der Kunst: Sie lässt sich in kein Format pressen. Und dennoch erlebe ich immer wieder eine leise seelische Erschütterung, wenn mich jemand ganz erstaunt-großäugig frägt: „Waaaaaas? So dicke Bücher liest Du?“ Je nach Veranlagung folgt dann meist ein Zusatz, der zwischen Selbsterkenntnis - „Das könnte ich nie!“ - oder wahlweise leichter Überheblichkeit - „Die Zeit muss man ja auch haben!“ - variiert. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Aphorismus als Replik. Bis dahin verschanze ich mich trotzig, eine Antwort verweigernd, hinter einem Wall aus richtig fetten Schinken.

Allerdings trifft das Diskutieren über dicke Dinger einen kleinen wunden Punkt: Auch wenn ein Buch mich nicht packt, mir nicht gefällt, oder auch einfach nur zum falschen Zeitpunkt daherkommt - ich tue mir furchtbar schwer mit dem Abbruch. Bis zum bitteren Ende treibt mich die Hoffnung, wir könnten doch noch Freunde werden. Und je dicker die Dinger sind, desto dramatischer wird dann die Geschichte zwischen dem Buch und mir – Ungeduld steigert sich zu Zorn, Unmut und Wut, fürchterliche Rachegelöbnisse gegenüber dem Autoren, der mich da wider Willen über 1000 Seiten an sich binden will, folgen. Beruhigend ist es, dass es auch anderen Lesern so geht – siehe Achims Kommentare unter #VerschämteLektüren. Andererseits da aber auch der strenge Rat von Arno Schmidt, sich die Lesezeit gut einzuteilen: http://saetzeundschaetze.com/2014/01/17/arno-schmidt-zettels-traum-und-das-apostroph-am-freitisch/

Kapituliere ich ausnahmsweise vorzeitig, plagt mich noch lange, lange Zeit ein schlechtes Gewissen. Drei abgebrochene dicke Dinger, die mich wohl bis ans Ende meiner Lesertage verfolgen:

Also, DAS habe ich mit dem unendlichen Spaß nun doch nicht angestellt: http://www.unendlicherspass.de/2009/10/10/unendlicher-spas-die-reiseausgabe/

„Unendlicher Spaß“ von David Forster Wallace, knapp 1400 Seiten. Ich nahm mir das Buch vor, als ich mit Grippe auf das Sofa gefesselt war. Zunächst las ich - buchstäblich - wie im Fieber. Mit der Körpertemperatur sank auch das Lesevergnügen. Seite 800: Ich war genesen und der Spaß hatte ein Ende. Jedes Mal, wenn ich seither an dem Buch im Regal vorbeilaufe, fällt mich dieser Lesergewissensteufel an: „Mensch, nur noch 600 Seiten, die hättest Du doch auch noch geschafft, jetzt musst Du aber wieder von vorne anfangen, wer weiß, vielleicht wäre es doch noch…“ Aus der Nummer komme ich nur noch raus, wenn ich das Buch weggebe. Buch weg, Spaß aus.

Gucken statt lesen war in dem Fall einfacher für mich…

„Der Herr der Ringe“ von Tolkien. Schon drei Anläufe habe ich unternommen, dieses dicke Ding in Griff zu kriegen. Es gibt da diese eingeschworene Fangemeinde, die flüstern Tolkien-Laien ein, man müsse nur die ersten soundsoviel Seiten bis zur Mittelerde überstehen, dann werde es so richtig gut, aber so was von gut…Ich hab`s versucht, beim Literaturgott, ich hab`s versucht! Drei Anläufe! Dreimal bin ich in den Ring gesprungen und habe fulminant versagt. Einfach aufgegeben. Und seit ich die Verfilmung sah, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich in diesen Ring noch einmal einsteige.

Die Zeit wird kommen. Auch für das dicke Proust-Ding.
Die Zeit wird kommen. Auch für das dicke Proust-Ding.

Tja, und der dritte vorzeitige Abbruch: Er geschah aus Respekt. Ich bin noch auf der Suche nach der Zeit, die ich brauche, um ihn zu lesen: Proust. Und hoffe insgeheim auf eine Chefin wie die Queen, die in Alan Bennetts schönem Buch „Die souveräne Leserin“ einen ihrer Minister in Urlaub schickt, um genau dieses zu tun: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen. Inzwischen steht das dicke Ding in mittlerweile zwei Ausgaben in meinem Regal und heischt nach Zuwendung. Ich suche noch nach ihr. Aber die Zeit wird kommen. Irgendwann.

Mit welchen dicken Dingern seid ihr nicht fertig geworden?

Djuna Barnes: The book of repulsive women (1915).

Djuna Barnes (1892-1982), die mit ihrem Roman “Nachtgewächs” weltberühmt wurde, war auch eine begabte Maler- und Zeichnerin. Tatsächlich hatte sie sich in jungen Jahren zunächst der bildenden Kunst zugewandt. Ab 1912 studierte sie Kunst, zunächst am New Yorker Pratt Insitute, später an der Art Students League. Bereits an der Pratt begann sie, für den Brooklyn Eagle zu schreiben und zu illustrieren - mehr und mehr aber wandte sie sich schließlich dem Schreiben zu.

1915 erschien ihr erstes Buch - oder vielmehr Heft: “The book of repulsive women” mit acht Gedichten und fünf Zeichnungen. Das Buch, das Teil der “Special Series” von Chap Books war, wurde zunächst für 15 Cents verkauft - fand aber, vor allem, weil hier ganz offen über die lesbische Liebe geschrieben wurde, so viel Absatz, dass der Preis bald auf 50 Cents gesteigert werden konnte. In Wort und Bild beschreibt Djuna Barnes die Liebe. Die Liebe unter Frauen - zu dieser Zeit immer noch ein mehr als wagemutiges Unterfangen. Die Zeichnungen erinnern an den Ästhetizismus von Aubrey Beardsley, der auch für den malenden William Faulkner ein Vorbild war.

IN GENERAL

What altar cloth, what rag of worth
Unpriced?
What turn of card, what trick of game
Undiced?
And you we valued still a little
More than Christ.

 

 

 

 

SEEN FROM THE “L”

So she stands—nude—stretching dully
Two amber combs loll through her hair
A vague molested carpet pitches
Down the dusty length of stair.
She does not see, she does not care
It’s always there.

The frail mosaic on her window
Facing starkly toward the street
Is scribbled there by tipsy sparrows—
Etched there with their rocking feet.
Is fashioned too, by every beat
Of shirt and sheet.

Sill her clothing is less risky
Than her body in its prime,
They are chain-stitched and so is she
Chain-stitched to her soul for time.
Ravelling grandly into vice
Dropping crooked into rhyme.
Slipping through the stitch of virtue,
Into crime.

Though her lips are vague as fancy
In her youth—
They bloom vivid and repulsive
As the truth.
Even vases in the making
Are uncouth.

Auch für das 1928 erschienene Buch “The Ladies Almanack” entwarf Djuna Barnes das Cover. Ebenso illustrierte sie für viele andere Künstlerinnen und Künstler, mit denen sie in Paris und New York verkehrte, bevor sie sich von den meisten Menschen zurückzog. 1943 fand in Gugggenheims Galerie “Art of This Century” eine Ausstellung ihrer Gemälde und Zeichnungen statt. Es war die einzige Anerkennung, die sie als bildende Künstlerin in der Öffentlichkeit fand.

Ein von ihr gemaltes Portrait des von ihr verehrten James Joyce findet sich hier:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/16/djuna-barnes-paris-joyce-paris-und-nochmal-james-joyce/

 

Cover Illustration für das Magazin “The Trend”, 1914.

Edgar Allan Poe - The Raven

Once upon a midnight dreary, while I pondered weak and weary,
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore,
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door.
`’Tis some visitor,’ I muttered, `tapping at my chamber door -
Only this, and nothing more.’

Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.
Eagerly I wished the morrow; - vainly I had sought to borrow
From my books surcease of sorrow - sorrow for the lost Lenore -
For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore -
Nameless here for evermore.

And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain
Thrilled me - filled me with fantastic terrors never felt before;
So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating
`’Tis some visitor entreating entrance at my chamber door -
Some late visitor entreating entrance at my chamber door; -
This it is, and nothing more,’

So beginnt eines der berühmtesten amerikanischen Gedichte und die populärsten Verse von Edgar Allan Poe. Erstmals veröffentlicht 1845, wurde es sofort zum Erfolg, mehrfach in Zeitungen nachgedruckt und dann im Herbst 1845 in der Sammlung “The Raven and Other Poems” in Buchform veröffentlicht. An den unheimlichen Versen versucht sich seither alles, was Rang und Namen hat, insbesondere natürlich die Herren des gepflegten Horrors. Hier gruselt Christopher Lee:

Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer,
`Sir,’ said I, `or Madam, truly your forgiveness I implore;
But the fact is I was napping, and so gently you came rapping,
And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door,
That I scarce was sure I heard you’ - here I opened wide the door; -
Darkness there, and nothing more.

Deep into that darkness peering, long I stood there wondering, fearing,
Doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before;
But the silence was unbroken, and the darkness gave no token,
And the only word there spoken was the whispered word, `Lenore!’
This I whispered, and an echo murmured back the word, `Lenore!’
Merely this and nothing more.

Back into the chamber turning, all my soul within me burning,
Soon again I heard a tapping somewhat louder than before.
`Surely,’ said I, `surely that is something at my window lattice;
Let me see then, what thereat is, and this mystery explore -
Let my heart be still a moment and this mystery explore; -
‘Tis the wind and nothing more!’

Die Handlung wird erzählt von einem Dichter, der um seine verstorbene Geliebte Lenore trauert. Der Frauenname nimmt Bezug auf eine Schauerballade von Münchhausen-Autor Gottfried August Bürger (1774). Hier ist es die Frau, die trauert, und die ihrem in der Schlacht gefallenen Geliebten Wilhelm wiederbegegnen will:

„O Mutter! was ist Seligkeit?
O Mutter! was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
Und ohne Wilhelm, Hölle!
Lisch aus, mein Licht! auf ewig aus!“

Zurück zu Poe: Der Erzähler, das lyrische Ich, hört ein Klopfen an der Tür und erhofft sich, es ist Lenore. Stattdessen kömmt: Ein Rabe. Hiervon erzählt auch Horror-Ikone Vincent Price, begleitet von theatralischem Donner:

Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,
In there stepped a stately raven of the saintly days of yore.
Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he;
But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door -
Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door -
Perched, and sat, and nothing more.

Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling,
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,
`Though thy crest be shorn and shaven, thou,’ I said, `art sure no craven.
Ghastly grim and ancient raven wandering from the nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the Night’s Plutonian shore!’
Quoth the raven, `Nevermore.’

Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly,
Though its answer little meaning - little relevancy bore;
For we cannot help agreeing that no living human being
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door -
Bird or beast above the sculptured bust above his chamber door,
With such name as `Nevermore.’

Ursprünglich wollte Poe eine Eule zu Besuch kommen lassen. Als ihm das Gedicht jedoch immer länger geriet und zudem der Vogel zu sprechen anhub - NEVERMORE - entschloss sich Poe, einen Raben zur gefiederten Hauptfigur zu erheben. Ein Jahr nach Erscheinen des Gedichts veröffentlichte Poe mit dem Essay “Philosophy of Composition” eine Analyse der Gedichtentstehung. Angestrebt habe er Wahrheit zur Befriedigung des Intellekts, Schönheit zur lustvollen Erhebung der Seele, dazu benötige der Dichter Präzision und Einfachheit im Ausdruck - dann, in der höchsten Entwicklung, rühre dies die Seele zu Tränen. “Melancholie ist die legitimste aller Tonarten”, meint Poe.

But the raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only,
That one word, as if his soul in that one word he did outpour.
Nothing further then he uttered - not a feather then he fluttered -
Till I scarcely more than muttered `Other friends have flown before -
On the morrow he will leave me, as my hopes have flown before.’
Then the bird said, `Nevermore.’

Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken,
`Doubtless,’ said I, `what it utters is its only stock and store,
Caught from some unhappy master whom unmerciful disaster
Followed fast and followed faster till his songs one burden bore -
Till the dirges of his hope that melancholy burden bore
Of “Never-nevermore.”‘

But the raven still beguiling all my sad soul into smiling,
Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust and door;
Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking
Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore -
What this grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore
Meant in croaking `Nevermore.’

Auch Christopher Walken wird begleitet von Donner und Schauer:

This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing
To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom’s core;
This and more I sat divining, with my head at ease reclining
On the cushion’s velvet lining that the lamp-light gloated o’er,
But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o’er,
She shall press, ah, nevermore!

Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer
Swung by Seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor.
`Wretch,’ I cried, `thy God hath lent thee - by these angels he has sent thee
Respite - respite and nepenthe from thy memories of Lenore!
Quaff, oh quaff this kind nepenthe, and forget this lost Lenore!’
Quoth the raven, `Nevermore.’

`Prophet!’ said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil! -
Whether tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore,
Desolate yet all undaunted, on this desert land enchanted -
On this home by horror haunted - tell me truly, I implore -
Is there - is there balm in Gilead? - tell me - tell me, I implore!’
Quoth the raven, `Nevermore.’

Das Gedicht wurde zahlreiche Male übersetzt, übertragen und adaptiert. Die bekannteste deutsche Übertragung stammt wohl von Hans Wollschläger, dem berühmten Joyce-Übersetzer. Ich möchte jedoch auch auf die Übertragung durch Hedwig Lachmann hinweisen - die Lyrikerin und Übersetzerin ist heute leider beinahe vergessen. Ein Portrait von ihr gibt es hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/12/09/vergessene-dichterin-hedwig-lachmann/

Und natürlich: Auch Tim Burton, der Filmemacher mit Sinn fürs schräg-schauerige, kommt nicht am Raben vorbei:

`Prophet!’ said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil!
By that Heaven that bends above us - by that God we both adore -
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore -
Clasp a rare and radiant maiden, whom the angels name Lenore?’
Quoth the raven, `Nevermore.’

`Be that word our sign of parting, bird or fiend!’ I shrieked upstarting -
`Get thee back into the tempest and the Night’s Plutonian shore!
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!
Leave my loneliness unbroken! - quit the bust above my door!
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!’
Quoth the raven, `Nevermore.’

And the raven, never flitting, still is sitting, still is sitting
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming,
And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore!

James Joyce und Gertrude Stein: Eine herzhafte Abneigung.

„Wenn man zweimal die Rede auf Joyce brachte, wurde man nicht wieder eingeladen. Es war, als ob man einem General gegenüber einen anderen General lobend erwähnte. Beim erstenmal, wenn man den Fehler machte, lernte man, es nicht wieder zu tun. Man konnte jedoch immer einen General erwähnen, den der General, mit dem Mann sprach, besiegt hatte.“

Ernest Hemingway, „Paris - ein Fest fürs Leben“

Tatsächlich lebten Gertrude Stein und James Joyce beide lange in Paris, vermieden jedoch den Kontakt. Joyce kam 1920 in die französische Hauptstadt, auf Einladung von Ezra Pound, der wie Hemingway und Sherwood Anderson zum Stein`schen Kreis gehörte. 1940 flüchtete Joyce nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich nach Zürich.

Gertrude Stein kam 1903 nach Paris, wo sie ihren berühmten Salon begründete, der von jungen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen besucht wurde (nicht aber von Joyce). Auf sie wird der Begriff der „lost generation“ zurückgeführt. Sie starb 1943 in Paris.

In ihrer Autobiographie „Autobiographie von Alice B. Toklas“ erwähnt sie Joyce zweimal – aber nur ganz kurz. Ein Zitat daraus: „Picasso sagte einmal, als er und Gertrude Stein sich miteinander unterhielten, ja, Braque und James Joyce, sie sind die Unverständlichen die jeder verstehen kann.“ Auch Picasso durfte wiederkommen.

Stein äußerte sich in Interviews und privat noch mehrfach über das nicht konkurrenzlose Verhältnis: “Joyce is good. He is a good writer. People like him because he is incomprehensible and anybody can`t  understand him. But who came first, Gertrude Stein or James Joyce? Do not forget that my first great book, Three Lives, was published in 1908. That was long before Ulysses. But Joyce has done something. His influence, however, is local. Like Synge, another Irish writer, he has had his day.”

Joyce kommentierte dies so: “I hate intellectual women.”

Wilhelm Genazino. Aus den Notizbüchern III. Tarzan am Main.

Italo Svevo in Triest.

“Zum Glück hat Frankfurt bisher der Versuchung widerstanden, sich Literaturstadt zu nennen. Es gibt (oder gäbe) dafür ein paar deutliche Anreize. Immerhin lockt Jahr für Jahr die Buchmesse hunderttausende von Ausstellern und Besuchern in die Stadt. Verwenden ließe sich auch der Hinweis, dass der vermutlich bedeutendste deutsche Dichter ein Frankfurter war und hier seine Jugend verbrachte und außerdem ein heute noch oft gelesenes Werk über diese Jugend geschrieben hat. Merkwürdigerweise ist Frankfurt - trotz Goethe, trotz Adorno, trotz Schopenhauer, trotz Struwwelpeter (http://saetzeundschaetze.com/2013/07/12/struwweltpeter-von-anfang-an-ein-streitfall/) - eine Stadt ohne literarischen Ruf geblieben. Für Frankfurt beruhigend muss man dazu sagen: Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Literaturstadt, obwohl es da und dort nicht an Versuchen mangelt, die eine oder andere Gloriole in die Welt zu setzen. In keinem einzigen Fall richten sich die Städte nach solchen Marketingansprüchen. Zum Beispiel ist die irische Hauptstadt stolz darauf, gleich drei weltberühmte Autoren (James Joyce, Samuel Beckett, Oscar Wilde) für ihre Heimatdichter halten zu dürfen. Aber Dublins Vitalität weist jeden musealen Anstrich energisch zurück.

Fernando Pessoa in Lissabon

Auch in Lissabon regt sich dann und wann das Verlangen, sich die Schleife einer Literaturhauptstadt umbinden zu lassen, weil der kaum zu überschätzende Fernando Pessoa dort geboren wurde und viele Jahre lang in einem bedrückend belanglosen Büro gearbeitet hat. Ähnlich heftig bemüht sich das italienische Triest darum, noch heute davon zu profitieren, dass der grandios bescheidene Italo Svevo ein Sohn der Stadt war und seine Nachkommen noch heute dort leben. Wer Dublin, Lissabon oder Triest heute besucht, atmet erleichtert auf, dass diese Städte trotz aller Anstrengungen ihrem literarischem Ruhm entkommen sind. Niemand spricht von Goethe, niemand von Adorno; alle sprechen von der Bankenstadt, der Autostadt, der Messestadt.”

Wilhelm Genazino, “Tarzan am Main - Spaziergänge in der Mitte Deutschlands”, Carl Hanser Verlag 2013.

James Joyce in Dublin.

Wilhelm Genazino und seine Spaziergang-Meditationen - ein Merkmal seiner Romane. Die Gedanken fließen dahin, während die Füße tragen. Assoziatives Herumstreunen, das ist eine Beschäftigung, die der Schriftsteller auch im “echten Leben” pflegt. Im Sammelband “Tarzan am Main” erzählt Genazino in kurzen Stücken von seiner Wahlheimat, der er seit den 70er-Jahren, aus dem Schwarzwald in die “provinzielle” Metropole kommend, treu geblieben ist. Alltagssituationen, Alltagskomik, Reflektionen über die Entwicklungen und Fehlentwicklungen städtischen Lebens, aber auch Streifzüge durch die eigene Biographie - immer unterhaltsam, immer niveauvoll, immer auch ein wenig misanthrop. Genazino schildert seine ersten Jahre als Redakteur bei der Satirezeitung “pardon”, plaudert aus dem Inneren des Literaturbetriebs, schreibt über seinen Freund Robert Gernhardt.

Alles in allem die geeignete Einstimmung auch für alle Buchmesser-Besucher.

PS: Augsburg, meine Wahlheimat seit den 80erJahren, versucht auch dann und wann - nach langem Widerstreben freilich - sich die Gloriole der Brechtstadt II (nach Berlin) zu verleihen. DAS wird erst ein langer Spaziergang.

James Joyce: Chamber Music (1907).

Dear heart, why will you use me so?
Dear eyes that gently me upbraid,
Still are you beautiful — but O,
How is your beauty raimented!

Through the clear mirror of your eyes,
Through the soft cry of kiss to kiss,
Desolate winds assail with cries
The shadowy garden where love is.

And soon shall love dissolved be
When over us the wild winds blow-
But you, dear love, too dear to me,
Alas! why will you use me so?

Lean out of the window,
Goldenhair,
I heard you singing
A merry air.

My book was closed;
I read no more,
Watching the fire dance
On the floor.

I have left my book,
I have left my room,
For I heard you singing
Through the gloom.

Singing and singing
A merry air,
Lean out of the window,
Goldenhair.

Was oftmals in den Hintergrund gerät: James Joyce schrieb auch Lyrik. Joyce’s erstes Buch, das publiziert wurde, war die Sammlung von Liebesgedichten unter dem Namen “Chamber Music”. Seine Lyrik fiel unter anderem T.S. Eliot und Ezra Pound auf, der über „Chamber Music“ schrieb: “the quality and distinction of the poems in the first half … is due in part to their author’s strict musical training … the wording is Elizabethan, the metres at times suggesting Herrick.”

Die Gedichte wurden mehrfach vertont, unter anderem von Geoffrey Moyneux Palmer, Ross Lee Finney, Samuel Barber und Syd Barrett von Pink Floyd. James Joyce veröffentlichte drei Gedichtbände: Kammermusik (1907), Pöme Penysstück(1927); Collected Poems (1936). 1932 jedoch hatte er bereits schon damit aufgehört, Lyrik zu schreiben.

Im Vorwort des insel-Taschenbuches „James Joyce – Liebesgedichte“ heißt es:
“Die Joyceschen Liebesgedichte orientieren sich handwerklich perfekt an älteren Formen, füllen aber dieses Formenrepertoire mit einer modernen Auffassung dessen, was die Liebe ist. Der Effekt ist eine eigenartige Spannung. Sie klingen sprachlich, rhythmisch und reimtechnisch nach einer vergangenen Zeit, transportieren freilich Sehnsüchte, die durchaus modern sind. Joyce ging es darum, »die perfektesten Liebeslieder unserer Zeit« zu schreiben, was in seinen Augen nur möglich war, solange er nicht wirklich verliebt war, sondern dichtend eine ideale, überwirkliche Liebe besingen konnte.”

Enrique Vila-Matas: Dublinesk (2013).

„Er wendet sich wieder den Zeitungsnachrichten zu und liest, dass Claudio Magris meint, die Reise im Kreis wie bei Odysseus, der wieder heimkehrt - die traditionelle, klassische, ödipale und konservative joycesche Reise -, werde um die Mitte des 20. Jahrhunderts ersetzt durch die lineare Reise nach vorn: eine Art Pilgerfahrt, eine Reise, die immer weiter führt, auf einen unmöglichen Punkt der Unendlichkeit zu, wie eine gerade Linie, die zögernd ins Nichts vorstößt.
Er könnte sich jetzt als Reisender geradeaus begreifen, doch er will keine Probleme und beschließt, dass seine Lebensreise traditionell, klassisch, ödipal und konservativ verlaufen soll.“

„Riba neigt nicht nur dazu, das Leben zu lesen wie einen literarischen Text, sondern bisweilen sieht er die Welt auch als ein wüstes Gestrüpp oder Knäuel.“

„Seit jeher hegte er eine große Bewunderung für Schriftsteller, die jeden Tag aufs Neue eine Reise ins Unbekannte wagen und dabei doch den ganzen Tag nur in ihrem Zimmer hocken. Hinter verschlossenen Zimmertüren bewegen sie sich nicht weg vom Fleck, und dennoch finden sie gerade in dieser Begrenzung die absolute Freiheit, der zu sein, der sie sein wollen, sich dorthin zu begeben, wohin auch immer ihre Gedanken sie führen.“

Enrique Vila-Matas, “Dublinesk”, 2013, Die andere Bibliothek

Also noch einer, der von Joyce, Bloom und Dublin nicht lassen kann. Enrique Vila-Matas erzählt von einem alternden Verleger, aus dem Literaturgeschäft ausgestiegen, dem Alkohol entsagt, in der Ehe fremdelnd, den wenigen Freunden entfremdet, in den Weiten des Internet verloren. Eine Reise nach Dublin soll eine Wende bringen - zum Guten oder zum Schlechten. Auf den Spuren von Joyce und Bloom soll die Literatur zu Grabe getragen werden. Die Reise wird dublinesk, grotesk, burlesk.
Eingeschränkte Leseempfehlung meinerseits: Ein Buch über die Literatur voller Anspielungen und Bezüge auf alles, was Rang und Namen hat - Magris, Pessoa, Freud, Robert Walser, Hugo Claus, Gadda, Melville. Es bleibt unter anderem der Eindruck zurück, dass Vila-Matas hier nicht nur seiner eigenen Literaturbessenheit freien Lauf lässt, sondern sie auch ein wenig zur Schau stellt. Dazwischen aber wunderbare Textpassagen, Reflektionen, Selbstfindungsabsätze - über die drei wichtigen “L”: Das Leben, die Liebe, die Literatur.
Kein leichtes Lesevergnügen, auch wegen zeitweiliger Redundanz und Langatmigkeit. Aber eine Fundgrube für Joyce- und Beckett-Fans.

In der Bloggerwelt stieß jedoch die deutsche Übersetzung und das Lektorat auf harsche Kritik. Zum Weiterlesen seien folgende Links empfohlen:

http://www.enriquevilamatas.com/escritores/escrschlickerss1.html

http://andreas-oppermann.eu/2013/07/13/hat-der-lektor-von-enrique-vila-matas-dublinesk-zu-viel-getrunken/

http://www.theomag.de/83/am395.htm

http://kopkastagebuch.wordpress.com/2013/07/10/glucklich-wie-ein-trottel/

Reto Hänny: Blooms Schatten (2014).

Alleswahr (3)„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag:
http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html

Literarische Orte: Vladimir Nabokov zeichnet die Wege in Ulysses nach

Vladimir Nabokov zählte zu den großen Bewunderern von James Joyce. Insbesondere Ulysses empfand der Schöpfer von “Lolita” als brillant. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler gab anderen Lehrern dieses mit:

“Instead of perpetuating the pretentious nonsense of Homeric, chromatic, and visceral chapter headings, instructors should prepare maps of Dublin with Bloom’s and Stephen’s intertwining itineraries clearly traced.”

Und weil es Nabokov nicht nur beim Reden beließ, zeichnete er selbst in einer Karte die Wege von Leopold Bloom und Stephen Dedalus, die sie am 16. Juni 1904 durch Dublin führten, nach. Nützlich kann die Karte durchaus auch am nächsten Bloomsday (16.6.2015) oder bei jedem anderen Dublin-Besuch auf den Spuren von „Ulysses“ sein.

Dass die Ulysses-Tour schon lange nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch touristisch erschlossen wurde, ist naheliegend (Link zum Flyer von Dublin Tourism hier). Im Zentrum des Geschehens: Die 7 Eccles Street No. 4, das Domizil der Blooms.

 

Ernest Hemingway: Paris, ein Fest fürs Leben (1964).

„Paris hat kein Ende, und die Erinnerung eines jeden Menschen, der dort gelebt hat, ist von der jedes anderen verschieden. Wir kehrten immer wieder dorthin zurück, ganz gleich, wer wir waren oder wie es sich verändert hatte, oder unter welchen Schwierigkeiten oder mit welcher Mühelosigkeit man hingelangen konnte. Paris war es immer wert, und man bekam den Gegenwert für alles, was man hinbrachte. Aber so war das Paris unserer ersten Jahre, als wir sehr arm und sehr glücklich waren.“

Ernest Hemingway, „Paris - ein Fest fürs Leben“, Rowohlt Verlag.

Wenn es eine Hymne auf das Paris der 20er-Jahre, das Paris der amerikanischen Bohème zu dieser Zeit, auf das Leben, die Liebe und die Literatur gibt, dann ist es wohl dieses Buch: „Paris - ein Fest fürs Leben“. Ernest Hemingway beschreibt darin seine Pariser Jahre von 1921 bis 1926: Ein junger Schriftsteller mit dem eisernen Willen zum Erfolg, vom Ehrgeiz getrieben, vom Staunen überwältigt. Mit Hadley, seiner ersten Frau, und dem Baby Bumby lebt er arm, aber glücklich. Streunt durch die Stadt, auf der Suche nach gelebter Literatur - und stößt so auch auf „Shakespeare and Company“:

„Damals hatten wir kein Geld, um Bücher zu kaufen. Ich borgte mir Bücher aus der Leihbibliothek von Shakespeare and Company; das war die Bibliothek und der Buchladen von Sylvia Beach in der Ruhe de l`Odéon 12. Auf einer kalten, vom Sturm gepeitschten Straße war hier im Winter ein warmer, behaglicher Ort mit einem großen Ofen, mit Tischen und Regalen voller Bücher, mit Neuerscheinungen im Fenster und Fotografien berühmter Schriftsteller, sowohl toter wie lebender, an der Wand. (…)
Als ich zum ersten Mal den Buchladen betrat, war ich sehr schüchtern, und ich hatte nicht genügend Geld bei mir, um der Leihbibliothek beizutreten. Sie sagte mir, dass ich den Beitrag jederzeit, wenn ich Geld hätte, bezahlen könnte, und stellte mir eine Karte aus und sagte, ich könnte so viele Bücher mitnehmen, wie ich wollte.“

Hemingways Passfoto 1923

In den Erinnerungen, die zwar erst posthum veröffentlicht wurden, ist nachzuspüren, wie Hemingway zunächst mit beinah großen Augen im Salon der Gertrude Stein sitzt und das „spezielle“ Pariser Flair aufsaugt. „Endlich angekommen!“, scheint er den Lesern in den ersten Kapiteln zu erklären. Selbst die Probleme werden eher poetisch verbrämt:

„Aber Paris war eine sehr alte Stadt, und wir waren jung, und nichts war dort einfach, nicht einmal Armut noch plötzliches Geld, noch das Mondlicht, noch Recht und Unrecht, noch das Atmen von jemand, der neben einem im Mondlicht lag.“

Willi Winkler schrieb dazu in der Süddeutschen Zeitung:
„Vom Glück, vom reinen, kindlichen Glück handelt dieses Buch, und es teilt sich jedem Leser mit, der mit dem jungen Autor in einem noch nicht fashionablen Viertel aufwacht, wenn die Sonne die nassen Fassaden der Häuser trocknet.“

Hadley und Ernest anno 1922

Hemingway schwärmt von den Begegnungen, ist überwältigt, gibt seiner fast ehrwürdigen Bewunderung - vor allem für Joyce - ihren Raum. Nur nach und nach wandelt sich der Ton, kommt der spätere, ältere, großmäuligere „Hem“ durch. Beispielsweise in den Kapiteln zu seinem wohl engsten Schriftstellerfreund F. Scott Fitzgerald. Hemingway geht wenig gnädig mit dessen Ehefrau Zelda um, nimmt den Kumpel spürbar in Schutz.

„Damals kannte ich Zelda noch nicht, und deshalb wusste ich nicht, mit welchem Handicap er belastet war. Aber wir sollten es bald genug kennenlernen.“

„Zelda hatte einen furchtbaren Kater. Am vergangenen Abend waren sie in Montmartre gewesen und hatten sich gezankt, weil Scott sich nicht betrinken wollte. Er hatte beschlossen, so erzählte er mir, ernsthaft zu arbeiten und nicht zu trinken, und Zelda behandelte ihn, als ob er ein Störenfried und Spielverderber wäre.“

Jedoch - auch wenn bei Veröffentlichung des Paris-Buches Fitzgerald bereits lange verstorben war - manches erscheint wie ein posthumer kleiner Verrat an der Freundschaft, wie purer Klatsch, wenn auch auf literarischem Niveau. So die Episode „Eine Frage der Maße“, als Fitzgerald Hemingway in einer Bar gesteht, Zelda habe ihm seine körperliche Ausstattung vorgeworfen.

 „Komm raus, ins Büro“, sagte ich.
„Wo ist das Büro?“
„Das WC.“

Wir kamen zurück und setzten uns wieder an unseren Tisch.
„Du bist völlig in Ordnung“, sagte ich. „Du bist okay. Dir fehlt überhaupt nichts.“

Trotz solcher Aus- und Abschweifungen: „Paris, ein Fest fürs Leben“ ist ein must-read. Auch eine wichtige Quelle für all jene, die aus dem Blickwinkel eines der wichtigsten Autoren den literarischen Aufbruch in die Moderne miterfahren wollen.
„Dieses Buch ist nicht nur ein herausragendes literarisches Werk, sondern auch ein Schlüsseltext zur Kulturgeschichte der Moderne. Das legendäre Paris der zwanziger Jahre ist in dieser Prosa wie in klaren Bernstein gebannt. Und es ist ein grandioses Porträt des Künstlers als junger Mann.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Hemingway hatte seine Pariser Aufzeichnungen aus den 20er-Jahren bei einem späteren Aufenthalt im Pariser Ritz 1956 wiederentdeckt und begann mit den Überarbeitungen seiner handschriftlichen Notizen. Dies zog sich über mehrere Jahre bis zu seinem Suizid hin. Das Buch wurde letztendlich von seinem Literaturagenten und seiner vierten Ehefrau Mary noch vollständig editiert und 1964 veröffentlicht. Aus diesem Gesichtspunkt werden die Pariser Episoden auch zu den wehmütigen Erinnerungen eines älteren, kranken Mannes, an eine Zeit, als noch alles möglich schien:

„Ich habe dich gesehen, du Schöne, und jetzt gehörst du mir, auf wen du auch wartest und wenn ich dich nie wiedersiehe, dachte ich. Du gehörst mir und ganz Paris gehört mir, und ich gehöre diesem Notizbuch und diesem Bleistift.“

Ernest Hemingway mit seinem Sohn “Bumby”, 1924 in Paris. Quelle: Credit Line: Ernest Hemingway Collection. John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.
Link to the Ernest Hemingway Media Gallery

Hemingway, der trotz seiner Macho-Attitüde, dieser Jäger- und Kumpel-Fassade, wohl ein weicher, zerbrechlicher Mensch war, von ständigen Selbstzweifeln geplagt, gerade was sein Schreiben anbelangt, erzählt in diesem Buch noch aus der Perspektive eines literarischen „Frischlings“, der lernen und Erfahrungen sammeln will. Und vor allem einen Helden verehrt - seine erste schüchterne Frage an Sylvia Beach lautet denn auch:

 „Wann kommt Joyce her?“

Es dauert, bis er mit dem Schriftsteller, den er - wie so viele andere dieses Zirkels, siehe Sylvia Beach und Djuna Barnes, - vergöttert und verehrt, kennenlernt. Zunächst kann er ihn nur durch ein Fenster betrachten. Wie ein Kind, das sich am Süßwarenladen die Nase plattdrückt:

„Wir waren vom Gehen wieder hungrig, und Michaud war für uns ein aufregendes und ein teures Restaurant. Dort aß Joyce damals mit seiner Familie. Er und seine Frau an der Wand - Joyce hielt die Speisekarte in einer Hand in die Höhe und beäugte die Speisekarte durch seine dicken Brillengläser, Nora neben ihm, ein herzhafter, aber wählerischer Esser, Giorgio dünn, geziert, mit gestriegeltem Hinterkopf, Lucia mit schönem, lockigem Haar, ein noch nicht ganz erwachsenes Mädchen. Sie sprachen alle Italienisch.“

Trotz der Verehrung für Joyce - der Ire wird in dem Buch nur an wenigen Stellen erwähnt, während anderen literarischen Größen, denen Hemingway begegnet, ganze Kapitel und Absätze gewidmet sind: Gertrude Stein, Sherwood Anderson, Ezra Pound und Fitzgerald sowieso. Vielleicht - aber dies ist reine Spekulation - eine Art selbstschützende Schreibhemmung: Um den verehrten Literaturgott nicht durch die falschen Worte vom Sockel zu holen. Dabei haben Hemingway und Joyce durchaus ihre gemeinsamen Erlebnisse gehabt. In einer Anekdote heißt es, Joyce, ein „kleiner, dünner, unathletischer Mann“, habe sich, wenn er und sein Trinkkumpel Hemingway in eine Kneipenschlägerei gerieten, hinter „Hem“ versteckt. Um aus sicherer Position den Amerikaner anzufeuern: „Deal with him, Hemingway, deal with him!“.

Was zumindest gesichert ist: Beide, sowohl Hemingway als auch Joyce, hatten schwerwiegende Alkoholprobleme mit gesundheitlichen, psychischen wie physischen Folgen. Das Paris der 20er-Jahre war ein Fest fürs Leben. Der Preis dafür würde später bezahlt.

Djuna Barnes: Paris, Joyce, Paris (1922).

“Als ich eines Abends aus dieser Kirche kam, schaute ich ins Café Aux Deux Margots hinein und trank ein Glas Wein, während Joyce, James Joyce, der Autor des verbotenen Ulysses, über die Griechen sprach.
Ein ruhiger Mann, dieser Joyce, mit dem Hinterkopf eines afrikanischen Götzen, lang und flach. Dem Hinterkopf eines Mannes, der mit der vulgären Notwendigkeit geistigen Stauraums gebrochen hatte.“

“Joyce lebt in einer Art dem Zufall überlassener Zurückgezogenheit. Es freut ihn, wenn Freunde vorbeischauen, und angeblich geht er dann überall mit hin und trinkt, was sich bietet. Er hat einen Widerwillen gegen Kunstgespräche, und seine Freunde sind ganz gewöhnliche Menschen.
Sein Hauptthema ist die griechische Mythologie, und er wird niemals müde, darüber zu sprechen, was es mit dem Ursprung des namens Orion auf sich hat, ein Stück Aufklärung, das dem streng akademischen Geist höchst anstößig erschiene, denn er macht aus den Griechen `ungezogene Jungs´, und sorgt dafür, dass sie sich, über die Kluft hinweg, mit Rabelais die Hand schütteln.“

Djuna Barnes, „Paris, Joyce, Paris“, insel taschenbuch

Wenn Djuna Barnes (1892-1982) über Joyce in diesem schmalen Buch im Anschluss an das zweite Zitat noch schreibt: „Er gleitet von einem Thema zu nächsten, ohne eindeutige Unterteilungen vorzunehmen“, so ist darin vielleicht auch eine Selbstskizzierung enthalten. Abschweifend, assoziativ, mysteriös ihr Stil. Aber auch: Leichthändige, luftige Skizzen. Das alles sind diese drei Impressionen, dieses Trio kurzer Stücke über die Stadt, in der die amerikanische Schriftstellerin lange Jahre lebte. 1919 kam sie erstmals nach Paris - zuhause bereits eine anerkannte Journalistin, im Auftreten außergewöhnlich und extravagant. Sie blieb, trotz ihrer anfänglichen leichten Enttäuschung (oder enttäuschten Erwartungshaltung) bis 1940.

Paris, so möchte man meinen, war für die Bohémienne aus Greenwich Village, wie gemacht. Doch es ist durchaus nicht Liebe auf den ersten Blick. In „Vagaries Malicieuses“, dem ersten der im Taschenbuch versammelten Prosastücke, wird die Stadt an der Seine einem kritischen, ironisch-distanzierten Blick unterworfen:

„Ich antwortete ihm, der Blumenmarkt lasse mich vergleichsweise kalt. „Denn einmal“, sagte ich, „hatte ich einen Freund, dem ich Blumen schickte, und nun, da ich keine mehr schicken darf, gehören Blumen für mich zu den Dingen, über die ich besser nicht nachdenke“, und ich setzte hinzu, der Vogelmarkt löse in mir Empfindungen aus, denen ich nicht nachgeben könne. Ich hätte nämlich gern fünf zierliche Freundinnen, denen ich sie schicken könnte. Fünf kleine Mädchen, die mit geschlossenen Augen und geöffneten Händen in einer Reihe sitzen müssten, um fünf sich drängende Hänflinge in Empfang zu nehmen. (…)
Und was nun die Gemüsemärkt und Märkte angeht, wo Fisch und Leber und Hirne in Tümpeln ebenso kalten wie schönen Bluts liegen, über all diese Dinge mag ich überhaupt nicht nachdenken…“

Reisepass 1929

Leicht macht Djuna Barnes ihren Lesern den Zugang nicht. Abschweifende Gedanken, herumschweifende Sätze - erst nach und nach erschließt sich der Sinn, wird die Spöttelei in den maliziösen Launen, Einfällen (ihre Biographin Kyra Stromberg weißt im Nachwort des Buches darauf hin, dass Barnes auch aufgrund ihrer bleibend mangelhaften Beherrschung der französischen Sprache oftmals Mutter- und Gastsprache mischte wie in den „Vagaries Malicieuses“) zu einer versteckten Liebeserklärung an die Stadt Paris.

„Spötter behaupten, Djuna Barnes habe mit ihrem feingestochenen Stil, der bombastisch und theatralisch, aber auch kalt und messerscharf sein kann, keine Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und so weiter verfasst, sondern lauter erste Sätze. Wahr ist, dass viele ihrer Sätze so komplex sind, dass man ihre Bedeutung nicht beim ersten Lesen verstehen kann“, so Verena Auffermann in einem biographischen Aufsatz über die Barnes. Deren Pariser Jahre fallen in ihre größte Zeit - später wird sie, eine der bekanntesten „expatriates“, verarmt und vergessen in New York leben. Doch in den 20er Jahren ist sie Mitglied und Vorzeigefrau der amerikanischen Emigranten an der Seine.

Berenice Abbott - Portraits in Paris, 1920er Jahre. Quelle: http://blog.stylesight.com/vintage/berenice-abbott-at-paris-jeu-de-paume

„…in jenem wuseligen Paris, in dem James Joyce lebt, den Djuna Barnes verehrt wie niemanden sonst. Aber auch Ezra Pound, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald haben sich dort eingefunden. Sie haben alle ihre Rolle beim Aufbruch in die Moderne. Die Rolle der Frauen im Kreis der Intellektuellen und Künstler war weit mehr als die der Hebamme bei der Geburt des Modernism. 1922 verlegte Sylvia Beach, die in der Rue de l`Odéon ihre Buchhandlung betrieb, den Ulysses von James Joyce. Die Journalistin Janet Flanner schrieb ihre Letters from Paris, die im New Yorker erschienen. Berenice Abbott fotografierte das Pariser Leben, Gertrude Stein hielt Hof und arbeitete nachts an ihrer eigenen Moderne. Djuna Barnes war 1919 im Auftrag von „McCall`s Magazine nach Paris gekommen.“

Verena Auffermann über Djuna Barnes in „Leidenschaften - 99 Autorinnen der Weltliteratur“, btb Taschenbuch.

So war also Paris. Für Djuna Barnes aber - wie auch für die anderen der genannten Literaten, bis auf die Stein, die Joyce in herzlicher Abneigung verbunden war - war er das Epizentrum: Der Schöpfer des „Ulysses“. Eines der drei Prosastücke ist ausschließlich ihm gewidmet: „James Joyce“, ein Portrait, das 1922 wenige Wochen nach dem Erscheinen des Mammutwerkes in der „Vanity Fair“ erschien. Das erste Zusammentreffen, es wird geradezu mystifiziert:

„Und dann, eines Tages, kam ich nach Paris. Ich saß im Café Aux Deux Margots, das auf die kleine Kirche Saint-Germain-des-Prés hinausgeht, und sah, wie sich aus dem feuchten Nebel ein großer Mann löste, der, den Kopf leicht gehoben und abgewandt, dem Wind ein wohlgeordnetes Durcheinander von rotem und schwarzem Haar überließ, das sich an einem vorgereckten Kinn in einem schütteren Keil fortsetzte.“

James Joyce, gezeichnet von Djuna Barnes

Mit Worten Bilder schaffen, Szenen festhalten - das ist eine Qualität, die der amerikanische Journalismus hatte. Zumal sich Djuna Barnes sich auch nicht um journalistische - oder andere - Konventionen kümmerte, literarische Grenzen überschritt. das Portrait wird zu einer eindeutigen Ergebenheitserklärung:

„Man sagt ihm nach, er sehe gleichzeitig traurig und müde aus. Er sieht zwar traurig aus, und er sieht auch müde aus, doch ist das die Traurigkeit eines Mannes, der ein mittelalterliches Anrecht auf eine Betrübnis erwirkt hat, die ohne Zeit ist und ohne Ort; es ist die Müdigkeit eines Mannes, der sich aus freien Stücken der Schaffung einer Überfülle in der Beschränkung verschrieben hat.“

„Das ist ungefähr Joyce, und man fragt sich doch, ob Irland nicht endlich seinen Mann hervorgebracht hat.“

1941, schon in den USA, erinnert sich Djuna Barnes an ihr Paris, an ihrer Pariser Jahre. Ein wehmütiges „Klagelied auf das Linke Ufer“ entsteht. Erinnerungen an Menschen, Orte, vor allem aber an James Joyce:

„James Augustin Joyce (er war dank der geistigen Verwirrung eines Gemeindeschreibers in Rathgar Augusta getauft worden) wies einem Zeitalter den Ausgang.“

Durch den Tod, die Flucht vor den Nazis, durch einen Ozean getrennt von all jenen, die sie kannte und liebte, entfährt ihr in diesem Essay ein letzter Seufzer:

„Das Schreckliche ist ja nicht, dass all diese Dinge geschehen konnten, sondern, dass sie alle vorbei sind.“

Sylvia Beach: Shakespeare and Company (1962).

„Die Subskribenten in Paris wurden dank der nahezu täglich in der Presse veröffentlichten Bulletins auf dem Laufenden gehalten. Meine Freunde bei der Zeitung betrachteten den Ulysses – mit vollem Recht – als ein Ereignis von weltweiter Bedeutung, geradezu als ein sportliches Ereignis, und es erschien auch tatsächlich ein Artikel über Ulysses in dem englischen Blatt The Sporting Times, bekannt als The Pink `Un – aber da war das Buch selbst schon herausgekommen.“

Sylvia Beach, „Shakespeare and Company“, Suhrkamp Taschenbuch

Am 16. Juni ist zum 110. Male „Bloomsday“ – jener Tag, an dem Leopold Bloom im “Ulysses” anno 1904 durch Dublin streift. Nun, da sich dieser sagenhafte literarische Feiertag wieder nähert, ist es an der Zeit, auf eine Frau aufmerksam zu machen, die wesentlich zum Erfolg des „Ulysses“ beigetragen hat: Die Buchhändlerin Sylvia Beach. 1917 kommt die Amerikanerin, 1887 in Baltimore geboren, nach Paris – wie viele andere dieser Generation kommt sie, liebt sie, bleibt sie. Und verwirklicht ihren Traum, einen Buchladen zu gründen, eine amerikanische Buchhandlung mit Leihbücherei an der Seine. 1919 wird „Shakespeare and Company“ eröffnet und zu einem Treffpunkt der amerikanischen und französischen Literaturszene. Anekdote an Anekdote reiht sich in Sylvia Beachs 1956 erstmals erschienenen Erinnerungen „Shakespeare and Company“: Alles, was damals Rang und Namen hat, findet sich früher oder später in der Rue de l`Odéon ein oder wird zum Kunden: Ezra Pound, Sherwood Anderson, André Gide, Hemingway, Gertrude Stein, Scott F. Fitzgerald, Paul Valéry…

„Ich lebte zu weit von meinem Vaterland entfernt, um die Kämpfe unserer Schriftsteller um freie Ausdrucksmöglichkeit entsprechend verfolgen zu können, und als ich 1919 meine Buchhandlung eröffnete, ahnte ich nicht, dass sie von den Verboten ihren Nutzen haben würde. Ich glaube, diesen Verboten und der dadurch geschaffenen Atmosphäre verdankte ich viele meiner Kunden - alle jene Pilger der zwanziger Jahre, die über den Ozean kamen, sich in Paris niederließen und das linke Seineufer kolonisierten.“

Wer heute Buchhändler(in) wird, der weiß: Man braucht dazu Leidenschaft, Engagement, Wissen, Belesenheit und auch wirtschaftliches Geschick. Das alles - und noch viel mehr - hat Sylvia Beach in die Waagschale geworfen. Jede Zeile ihrer Erinnerungen an ihr Lebensprojekt spricht davon. Aber vor allem brachte sie eines mit: Ein großes Herz für ihre Kunden. Nicht wenige davon waren eben jene schwierige Spezies, die sich Schriftsteller nennt. Sylvia Beach scheint ihnen - vor allem den Autoren aus Übersee - eine Mischung aus bemutternder Freundin und intellektueller Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Da tischlert dann selbst Ezra Pound für die Einrichtung des Buchladens, André Gide organisiert Lesungen und Hemingway befreit die Rue de l`Odéon symbolisch von den Nazis. Und Sylvia Beach gibt viel zurück - die Buchhandlung wird für manchen zum zweiten Heim, geschickt vermittelt sie Kontakte, schlichtet Streit, glättet Eifersüchteleien - mit wechselndem Erfolg:

„Der letzte ängstliche Besucher, den ich zu Gertrude (gemeint ist Gertrude Stein) führte, war Ernest Hemingway. Er wollte seinen Streit mit ihr beilegen, fand aber nicht den Mut, allein zu ihr zu gehen. Ich billigte sein Vorhaben, redete ihm gut zu und versprach, ihn in die Rue Christine zu begleiten, wo Gertrude und Alice damals lebten. (…) Ein Zwist flammt leicht einmal zwischen Schriftstellern auf, aber ich habe festgestellt, dass er sich gelegentlich einfrisst wie ein Schmutzfleck.“

Die Stein, niemals einfach, lässt sich als eine der Wenigen nicht von der netten Buchhändlerin erweichen - als Sylvia Beach schließlich das Unternehmen ihres Lebens wagt und Verlegerin des „Ulysses“ wird, kündigt ihr die amerikanische Schriftstellerin Freund- sowie die Kundschaft im Buchladen. Das Leben ist manchmal steinhart.

Zwar hätschelt und pflegt Sylvia Beach alle sensiblen Schreiberseelen, aber nur bei einem wird aus der Bewunderung der bescheidenen Buchhändlerin geradezu Heldenverehrung: James Joyce.

 „Joyce` Stimme, von einem süßen Klang wie die eines Tenors, bezauberte mich.“

 „Es war überwältigend für mich, mit dem größten Dichter meiner Zeit zusammen zu sein, aber Joyce hatte eine so unglaublich einfache Art, dass ich mich trotzdem frei und unbefangen fühlte.“

Wohlgemerkt: Sie spricht von dem größten Dichter ihrer Zeit, da war dessen Jahrhundertwerk noch nicht einmal beschrieben. An dieser Stelle werden die Erinnerungen einer Buchhändlerin auch zur literaturwissenschaftlichen Quelle ersten Ranges. Ganz bescheiden und zurückgenommen erzählt Sylvia Beach von den Schwierigkeiten, die Joyce sowohl auf der Insel als auch in den USA mit der Zensur hat.

„Jede Hoffnung auf eine Veröffentlichung in Ländern englischer Sprache war, zumindest auf lange Zeit, geschwunden. Und da saß nun James Joyce in meinem kleinen Buchladen und seufzte tief.
Auf einmal kam mir der Gedanke, dass man doch etwas unternehmen könne, und ich fragte: Würden Sie Shakespeare and Company die Ehre erweisen, Ihren Ulysses herausbringen zu dürfen?
Er nahm mein Angebot auf der Stelle mit Freuden an.“

Damit beginnt für Sylvia Beach das eigentliche Abenteuer ihres Lebens. 1922 erscheint der Ulysses, „Shakespeare and Company“ wird eine begehrte Adresse. Doch die Zeiten sind nicht danach:

„Die Buchhandlung war berühmt geworden. Sie steckte immer voll von neuen und alten Kunden, und mehr und mehr wurde in Zeitungen und Zeitschriften über sie geschrieben. Man zeigte sie sogar den Touristen der American Express, wenn sie vorüberfuhren - in Autobussen, die ein paar Sekunden vor Nr. 12 stehenblieben. Trotz alledem begann Shakespeare and Company die Wirtschaftskrise ernstlich zu spüren. Die Geschäfte, die schon durch die Abreise meiner Landsleute gelitten hatten, gingen nun rasch immer schlechter.“

Nach der deutschen Besatzung schließt Sylvia Beach den Buchladen für immer. Sie lebt bis zu ihrem Tod 1962 in Paris, begraben ist sie jedoch in den USA. Der Buchladen in der Nr. 12 bleibt zwar geschlossen, später jedoch wird die Buchhandlung Le Mistral in der Rue de la Bûcherie zu Ehren Sylvia Beachs in „Shakespeare and Company“ umbenannt. Auch dieser Laden, ebenfalls von einem US-Amerikaner, George Whitman (inzwischen von seiner Tochter), betrieben, wird zu einem literarischen Treffpunkt - hier verkehrten Henry Miller, Allen Ginsberg, William S. Burroughs und andere.

„Shakespeare and Company - eine Buchhandlung in Paris“: Sicher war es die richtige Entscheidung von Sylvia Beach, das Schreiben anderen zu überlassen. Doch wo die Lebenserinnerungen sprachlich zu wünschen übrig lassen, machte dies die Literaturliebhaberin durch ihre Leidenschaft für Bücher und Schriftsteller wett. So werden das Paris der Zwischenkriegszeit, die intellektuelle Atmosphäre an der Seine, das Leben der literarischen Exilanten aus den englischsprachigen Ländern sowie deren kleinen und großen „Macken“ lebendig - und verlocken zu einem Bummel durch die Buchhandlungen der Stadt der Bücherliebe.

Zitate über Old Bill.

James Joyce dichtet in der Art von W.S. an seine Verlegerin Sylvia Beach:

Who is Sylvia, what is she
That all your scribes commend her?
Yankee, young and brave is she
The west this pace did lend her
That all books might published be.

Is she rich as she is brave
For wealth of daring misses?
Throngs about her rant and rave
To suscribe Ulysses
But, having signed, they ponder grave.

Then to Sylvia let us sing
Her darling lies in selling.
She can sell each mortal thing
That`s boaring beyond telling
To her let us buyers bring.
J.J.
nach W.S.

In: “Shakespeare and Company”, Sylvia Beach

Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen:

“Shakespeare ist für aufkeimende Talente gefährlich zu lesen; er nötigt sie, ihn zu reproduzieren, und sie bilden sich ein, sich selbst zu produzieren.”

Ruth Klüger, “Zerreißproben”, Gedichte, 2013, Paul Zsolnay Verlag:

Zuviel Shakespeare, 4. Strophe
Wer nie unter Wörtern zusammengesackt,
sticht zu wie Laertes und stirbt als ein Held.
Doch Hamlet erklärt noch im letzten Akt,
wortgewandt sterbend, sein Leben der Welt.

Ruth Klüger kommentiert ihr Gedicht - eines von zweien, die sich in diesem Buch um Shakespeare drehen - so: “Das Gedicht ist einerseits Ausdruck von Sprachskepsis und andererseits praktisch das Gegenteil, nämlich Staunen darüber, wie vielseitig Shakespeare die Sprache an sich thematisiert. (…) Hamlet verschwendet, wie wir wissen, fünf Akte aufs Aufschieben eines Racheaktes, zu dem er verpflichtet ist, und erklärt uns in jedem einzelnen haargenau, wenn auch nicht unbedingt überzeugend, was ihn vom Handeln abhält. Der Tatmensch Laertes hingegen, der auf genau dieselbe Weise verpflichtet ist, nämlich den Mord am Vater zu rächen, nimmt keine Rücksicht, sondern tut`s einfach, mordet und stirbt auf der Bühne, während sein Opfer, der von ihm getötete Hamlet, bis zum letzten Atemzug redet und redet.”

Peter Brook, “Vergessen Sie Shakepeare” (zum Buch: http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/92-Vergessen_Sie_Shakespeare.html):

“Sie werden sich alle noch gut erinnern, wie vor gar nicht langer Zeit die Leute ernsthaft daran gingen aufzuklären, ob Shakespeare wirklich gelebt hat oder nicht, und es hat in den vergangenen hundert Jahren viele Theorien gegeben, die den Namen “Shakespeare” durch andere ersetzten: Bacon, Marlowe, Oxford und so weiter. Das Widersinnige ist auch hier die Tatsache, daß es uns nicht weiterbringt. Man ändert den Namen und sonst gar nichts. Das Geheimnis bleibt bestehen.”

William Somerset Maugham, “Ein Mann mit Gewissen”, Erzählung:

“Einige Tage beschäftigte ich mich mit dem Problem des Gewissens. Die Moralisten versuchen uns zu überzeugen, daß es zu den mächtigsten Antriebskräften menschlichen Verhaltens zählt. Seitdem Vernunft und Mitleid übereingekommen sind, die Hölle als hassenswerten Mythos zu betrachten, sehen viele brave Leute das Gewissen als den obersten Wachtposten an, der die menschliche Rasse auf dem Pfad der Tugend wandeln lässt. Shakespeare zeigte, dass es uns allen zu Feiglingen macht (…).”

Michael Köhlmeier, “Shakespeare erzählt”, 2004, Piper Verlag:

“Tatsächlich erscheinen die Figuren der Weltliteratur vor Shakespeare blaß und relativ unabhängig von uns. Das heißt, sie kommen uns gerade deshalb so blaß vor, weil sie ein von uns unabhängiges Leben führen. Ein literarisches Leben eben. Die Figuren nach Shakespeare aber lassen sich alle auf Shakespearsche Grundmuster zurückführen - wie auch anders: Der Meister hat den Berg ausgebeutet bis auf den letzten Stein.
Also läßt sich zusammenfassen: Shakespeare hat den Menschen und in der Folge die Literatur neu erfunden.”

Virginia Woolf, Tagebuch, 15.8.1924

“Warum übrigens gefallen einem dichterische Werke erst richtig, wenn man älter ist? Mit 20 konnte ich nicht zum Vergnügen Shakespeare lesen, beim besten Willen nicht, obwohl Thoby mich immer wieder dringend dazu aufforderte; jetzt lebe ich auf, wenn ich beim Spazierengehen daran denke, daß ich heute abend 2 Akte von King John lesen werde & mir als nächstes Richard den 2ten vorgenommen habe.”

Friedrich Dürrenmatt, Playboy-Interview, 20.12.1980

DÜRRENMATT: Ich weiß gar nicht, warum mir immer nachgesagt wird, daß ich die Menschen verachte. Das hat auch Ludwig Marcuse einmal behauptet, ein Mann, den ich sehr schätze.

Vielleicht deshalb, weil in Ihren Stücken, die Sie als Komödien ausgeben, reihenweise Menschen umgebracht werden.

DÜRRENMATT: Aber das stimmt doch gar nicht. Das ist ein reines Gerücht. Ich habe viel weniger Leichen als Shakespeare, weil ich zum Beispiel nie Schlachten beschrieben habe. In “Herkules und der Stall des Augias” ist überhaupt keine Leiche, in “Play Strindberg” auch nicht. Das Stück “Der Meteor” hat vier Leichen, gut, aber das ist doch mäßig. In meiner Bearbeitung des “Titus Andronicus” kommt sogar ein Neger, der bei Shakespeare stirbt, mit dem Leben davon. Da habe ich mich also zurückgehalten. Aus mir einen Komödien-Eichmann zu machen, das geht nicht. Aber ich brauche ja meine Stücke nicht zu verteidigen. Ich habe mich nie darum gekümmert, was andere über mich sagen.

Der Schweizer Dramatiker am 20.12.1980 in einem Interview im Playboy - diesem Magazin, dass alle wegen der tollen Literaturbesprechungen kaufen. :-)

Dietrich Schwanitz, „Bildung. Alles, was man wissen muss“, 1999, Eichborn Verlag:

„Es war England vorbehalten, der Menschheit den Dichter aller Dichtern und den Dramatiker aller Dramatiker zu schenken, der nächst Gott von der Welt am meisten geschaffen hat: William Shakespeare (1564-1616), geboren am Tage des Heiligen Georg, des Schutzpatrons Englands, dem 23. April 1564, zu Stratford-upon-Avon, verheiratet mit der acht Jahre älteren Anne Hathaway aus Stratford, verschwunden und in London wieder aufgetaucht, von Kollegen als Hansdampf-in-allen-Gassen beschimpft, Schauspieler, Teilhaber, und Stückeschreiber des Theaters der Lord Chamberlain`s Men, Autor von Komödien, Historien und Tragödien, Verfasser von Kassenschlagern und theatralisches Genie par excellence, adoptiert von den Dichtern der deutschen Romantik und zum Vorbild erhoben, der kleine Bruder Gottes, dessen Werk er am achten Schöpfungstag durch seine eigene poetische Schöpfung verdoppelt, gestorben an seinem Geburtstag, dem 23. April 1616, dem Tag der Vollendung, in der Pfarrkirche zu Stratford begraben, während er selbst ewig weiterlebt in seinen unsterblichen Werken. Amen.“

Das war 1999 - inzwischen hat sich die Wissenschaft auf diese Lebensdaten festgelegt: Gesichtert scheint der Tauftag am 26.4. 1564, der Todestag am 3.5.1616.

Stefan Zweig, Tagebuch, 14.9.1912:

“Gar nichts gearbeitet. Gar nichts. Nur gelesen, Shakespeare allerdings (einer merkwürdigerweise, der mich immer reizt, statt zu entmutigen) dann Briefe dictiert und abends wieder lang gelesen. Aber jetzt muß ich endlich beginnen, ich zehre zu viel von Vergangenem.”

Isaac B. Singer. Oder auch: Das (Über-)Leben, die Liebe, die Literatur und Katzencontent.

„Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale. Die Geschichte der alten jüdischen Literatur kannte keinen Unterschied zwischen Dichter und Propheten. Nicht selten wurde unsere alte Dichtung zum Gesetz, zum Leben selbst.“

Dies sagte Isaac Bashevis Singer (1904-1991) in seiner Rede in Stockholm, als er 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wie die Literatur ins Leben eingreifen kann – davon später mehr. Vorab nur dieses: Unter all den Büchern Singers, die ich gelesen habe – „Max, der Schlawiner“, „Die Familie Moschkat“, „Jakob, der Knecht“ - und seinen Erzählungen ist mir der Roman „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ das liebste. Und dies nicht aus rein literarischen Gründen, aber auch.

Isaac. B. Singer, 1975. Quelle: http://www.thejewishmuseum.org/core/uploaded/exhibitions/davidson_19_280w.jpg

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“, das ist eigentlich die Geschichte dreier Lieben und im Mittelpunkt ein entscheidungsschwacher, wankelmütiger, aber dennoch liebenswerter Held, den man gerne an die Hand nehmen würde, um ihm bei seinen Irrungen und Wirrungen zu begleiten. New York, 1949: Herman Broder, ein polnischer Jude, hat den Holocaust überlebt, weil ihn Yadwiga, das christliche Dienstmädchen seiner Familie auf dem Dachboden eines Bauernhauses versteckte. Nach Ende des Krieges erfährt er, dass seine Ehefrau Tamara erschossen wurde, auch die beiden Kinder wurden ermordet, kein Mitglied seiner Familie überlebte. Mit Yadwiga emigriert er in die USA, er heiratet sie aus Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Das Drama dieser Ehe: Sie liebt ihn, immer schon, er sie nicht. Zuviel trennt das analphabetische polnische Mädchen und den gebildeten Mann, der sich jetzt als Ghostwriter für einen Rabbi durchschlägt – um dem engen Heim zu entkommen, gibt er sich Yadwiga gegenüber als Büchervertreter aus.

„Jedesmal, wenn er fortging, verabschiedete sie sich von ihm, als regierten die Nazis in Amerika und sein Leben wäre in Gefahr. Sie legte ihre heiße Backe an die seine und bat ihn, sich vor den Autos in acht zu nehmen, seine Mahlzeiten nicht zu vergessen und daran zu denken, sie anzurufen. Sie hing an ihm mit der Ergebenheit eines Hundes. Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

Denn da ist Mascha, die komplizierte, nervöse Geliebte, eine Überlebende wie er, eine Sheherazade, der er von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle ergeben ist.

„In Schifrah Puahs Zimmer war es jetzt dunkel, und immer noch saß Mascha auf dem Stuhl in Hermans Zimmer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Herman wußte, daß sie irgendeine ungewöhnliche Geschichte für ihr Liebesspiel vorbereitete. Mascha verglich sich mit Sheherazade. Das Küssen, das Liebkosen, das leidenschaftliche Liebemachen war immer begleitet von Geschichten aus den Ghettos, den Lagern, ihrem eigenen Wandern durch die Ruinen Polens.“

http://www.youtube.com/watch?v=9ISJhfpZPGc

Auch Herbert liest! ist von diesem Buch durchgerüttelt.

Mit Mascha und ihrer Mutter in der Bronx führt Herman ein Doppelleben, von dem Yadwiga langsam ahnt. Doch vollends verwirrend und unhaltbar wird die Situation, als die totgeglaubte Ehefrau Tamara in New York erscheint – fast einer Gespenstererscheinung gleich, ein Dybbuk. Sie möchte Herman nicht zurück – doch diesen stürzt Tamaras Auftauchen in weitere, noch tiefere Gewissensbisse. Zusätzlich katalysierend wirkt auf Herman, dass sowohl die momentane Ehefrau als auch die Geliebte schwanger werden – nichts fürchtet der Vater, der seine Kinder verlor, mehr, als ein neues Kind in diese chaotische Welt zu setzen, in dieses fragile Leben, das stets vom Zusammenbruch bedroht ist. Tamara, die sich selbst für geisteskrank hält, erweist sich am Ende als die Lebenstüchtigste. Sie baut sich eine neue Existenz auf, nimmt Yadwiga und deren Kind zu sich. Mascha nimmt sich das Leben. Und Herman verschwindet – irgendwo, spurlos.

„Mehrere Male hatte Tamara Hermans Namen in die Vermißtenspalten der jiddischen Presse setzen lassen, aber ohne Erfolg. Tamara glaubte, daß Herman sich entweder umgebracht hatte oder sich einer amerikanischen Version seines polnischen Heubodens versteckte. Eines Tages machte der Rabbi Tamara die Mitteilung, das Rabbinat habe wegen der Massenvernichtung die Beschränkungen gelockert, so daß verlassene Frauen ein zweites Mal getraut werden könnten.
Tamara hatte erwidert: „Vielleicht in der nächsten Welt – mit Herman.“

So endet das Buch.

Weit mehr als eine tragisch-komische Erzählung von einer Menage zu viert, weit mehr als eine Geschichte vom Vergehen, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. Es ist ein Roman, der vor allem auch die Feinde der Liebe zwischen den Zeilen benennt – eine grausame, chaotische Welt, ein unerbittlicher Gott, die Begrenztheit der Menschen.
Dazu: Die Schuld der Überlebenden. Während Hermans Situation zwischen den Frauen immer unhaltbarer wird, wendet sich der Ton des Romans, vom Komischen zunehmend mehr in das Tragische, wird zu einer Betrachtung der Situation überlebender Holocaust-Opfer. Ein Buch der Verluste – die Familie, die geliebten Menschen verloren, die Heimat, die Zuversicht, den Glauben, nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Glauben an das eigene Vermögen, an die eigene Kraft, ein Verlust, der Herman und auch Mascha zu wankelmütigen, neurotischen Menschen werden lässt. Immer auf der Flucht, auch vor sich selbst.

„Die Bibel, der Talmud und die Kommentare unterwiesen den Juden in einer Strategie: Fliehe das Böse, verbirg dich vor der Gefahr, vermeide Kraftproben, geh den zornigen Mächten des Universums so weit wie möglich aus dem Wege. Der Jude hat nie verächtlich auf den Fahnenflüchtigen herabgeblickt, der sich in einem Keller oder auf einem Dachboden verkroch, während draußen in den Straßen Armeen aufeinanderprallten.
Herman, der moderne Jude, hatte dieses Prinzip um einen Schritt erweitert: Er hatte sogar den Halt des Glaubens an die Thora aufgegeben. Er betrog nicht nur Abimelech, sondern auch Sarah und Hagar. Herman hatte kein Bündnis mit Gott geschlossen und hatte keine Verwendung für Ihn. Er wollte nicht, daß sein Same so zahlreich werde wie der Sand im Meer. Sein ganzes Leben war ein Spiel der Verstohlenheit (…).“

Isaac Bashevis Singer ist in meinen Leseraugen ein ganz Großer – nur wenige können das, diesen schmalen Grat zwischen Tragik und Komödie beschreiten, in ein Buch beides packen, ja, eigentlich die ganze Welt: Das Lachen, das Schmunzeln, die Freude, die Trauer, das Weinen, das Unglücklichsein. Vielleicht – mit solchen Kategorisierungen möchte ich jedoch eher zurückhaltend sein – ist dieses „verschmitzt-melancholische“ tatsächlich ein Charakteristikum der jüdischen Literatur. E. Michael Salzer schrieb über Singer: „Nie zuvor gab es bei den sonst eher langweiligen Nobelfeiern so viel zu lachen (…). Und allein die Begründung, die Isaac B. Singer für sein hartnäckiges Festhalten an seiner Sprache, in der er schrieb, lieferte: „Ich schreibe gerne Gespenstergeschichten und nichts gefällt Gespenstern mehr, als eine sterbende Sprache. Je sterbender die Sprache, desto lebendiger sind die Geister. Gespenster lieben Jiddisch und so viel ich weiß, sprechen sie es auch alle.“

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ erschien 1966 unter dem Titel „Sonim, die Geschichte fun a Liebe“. Mir begegnete dieses Buch Anfang der 1990er-Jahre. Und, da Maren von Orten und Menschen mir neulich schon die Katzenkurzgeschichte über Herman M. Broder entlockte, jetzt die Fortsetzung. Ja, auch dieses ist in gewisser Weise ein Lebensbuch, das mich begleitet seither, das ich mehrmals gelesen habe und das einen besonderen Platz einnimmt. Wie sehr die Literatur manchmal ins Leben eingreift, zumindest in eines der sieben Katzenleben, dafür ist es auch ein Beispiel.

Ich hatte mich damals (1990er-Jahre) in eine Landredaktion versetzen lassen, die Gründe, na ja, die üblichen. Das war dort, wo die Narren zum Lachen in den Keller gingen. Oder Sonntagmittag Landwirte in voller Montur in die Redaktionsstube latschten, mit der Schützenergebnistabelle vom Samstagabend, mich, die „diensthabende“ Redakteurin anschauten und fragten: „Isch koi Moa doa?“. Ohne meinen verehrten Kollegen E. hätte ich dieses Jahr nicht überlebt. Ein Literatur-Aficionado. Montags lag oft die Flohmarkt-Ausbeute auf meinem Tisch. So lernte ich Tom Wolfe kennen, Thomas Wolfe, Hunter S. Thompson und manche andere.

Und eines Montags lag da: „Feinde, die Geschichte einer Liebe.“ Doch nicht nur jenes – zwischen den Schreibmaschinen (dies war die Zeit zwischen Bleisatz und Computer, liebe Kinder) – ein Karton mit fünf, sechs winzig kleinen Katzenkindern. Der Verleger hatte sie vom Dachboden geholt, das Muttertier war in der Früh von einem Traktor (!) überrollt worden. Wir sollten ein Bild für die Rubrik „Tiere suchen ein zuhause“ machen. Das vorwitzigste der Teilchen wollte das jedoch nicht abwarten – krabbelte aus dem Karton, landete auf meinem Schreibtisch, schnupperte am Buch und bepisste es. Damit war ich adoptiert. Ob ich wollte oder nicht (eigentlich wollte ich nicht). Kollege E. und ich tauften die Katze „Herman M. Broder“ nach dem Roman (woher das „M.“ kommt, weiß ich bis heute nicht), das Buch kaufte ich mir neu. Katzenurin stinkt abscheulich.

Herman, die Geschichte einer Katze

Herman, das untreue Mistviech, hat mich später nach etlichen Irrungen und Wirrungen wegen einer anderen Frau verlassen. Das Buch aber ist geblieben.

PS: Keine Sorge – dies wird nun kein Blog mit ständigem Katzencontent. Aber wenn selbst der große Joyce ein Buch über die Katzen von Kopenhagen schreibt, dann darf ich das auch mal…

TRIO 4: Wenn Schriftsteller ihren Liebsten schreiben…

… kommen manchmal (aber auch nur manchmal) ganz bezaubernde Dinge dabei heraus.

Ganz begeistert bin ich von einem Brief, den James Joyce 1936 aus Dänemark an seinen Enkel Stephen James schickte. Der liebevolle Opa teilt dem Vierjährigen auf eine recht skurrile, lyrisch-versponnene Art und Weise mit, warum er ihm keine Kopenhagener Katze schicken kann. In seiner Heimat Irland waren mit Süßigkeiten gefüllte Katzen ein beliebtes Geschenk.
Statt über Süßigkeiten schreibt Joyce über Polizisten, die im Bett liegen und Buttermilch trinken, über rote Jungs auf roten Rädern, die den Job der Polizisten erledigen - und kommt ganz am Schluss auf eine geniale Idee. Aber die wird hier nicht verraten…

Schließlich mussten auch die Joyce-Anhänger viel Geduld haben, bis „Die Katzen von Kopenhagen“ erscheinen durften: Es dauerte bis 2012, bis die rechtlichen Voraussetzungen für die „Welturausgabe“ geklärt waren. Oftmals wird ja jedes Fitzelchen, das ein berühmter Autor hinterlässt, später als Sensation vermarktet. Oft ist das auch viel Lärm um nichts. Bei den dänischen Katzen war ich ein wenig skeptisch – aber sie zeigt den augenzwinkernden, humorvollen Joyce, der auch im „Ulysees“ aufblitzt, und dem zudem Harry Rowohlt mit seiner Übersetzung den passenden Ton gibt. „Die Katzen von Kopenhagen“ erschien im Juli beim Hanser Verlag, die Illustrationen von Wolf Erlbruch (2003 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet) sind an sich schon eine Schau – so richtig schöne, dicke Buttermilch-Katzen. So ein O-papa!

James Joyce: „Die Katzen von Kopenhagen“, Hanser Verlag, fester Einband, 32 Seiten, empfohlen ab 5 Jahren. Durchgehend farbig illustriert, ISBN 978-3-446-24159-6

dürrenmatt 001„Also, wenn es einen Gott gibt, muss er einen unendlichen Humor haben. Der muss wahnsinnig Freude haben, Welten in die Luft zu jagen, der ist wie ein Kind, das mit Zinnsoldaten spielt. Und da dem Moral oder sonst was anzudichten, nein, ich glaube, der hat einfach Freude am ganzen Spektakel. Und das hat unbewusst der kreative Mensch auch. Ich habe nie etwas geschrieben mit Hass. Ich habe einfach Freude an dem, was man kreiert.“

So äußerte sich Friedrich Dürrenmatt in einem Film seiner Frau Charlotte Kerr, „Portrait eines Planeten“ (1984). Ein Jahr zuvor sind die Beiden mit Maximilian Schell bei einer Aufführung im Münchner Circus Krone und sehen eine Dressur mit Tiger und Nashorn. Schell schreibt später: „Das seid ihr“. Und Dürrenmatt beginnt, wie es einem kreativen Gott gebührt, einen eigenen Kosmos zu schaffen. „Das Nashorn schreibt der Tigerin“ erschien 2002, zwölf Jahre nach seinem Tod. Charlotte Kerr hatte dafür die verspielten Zeichnungen und Bildgeschichten zusammengestellt und kommentiert, die Dürrenmatt ihr während ihrer Verbindung und Ehe zeichnete. Er selbst ist das Rhinozeros, Charlotte Kerr die Tigerin, dazu wird die Dürrenmattsche Welt ergänzt durch imaginäre Kinder und allerlei Viehzeugs…So lernt man den Schriftsteller nicht nur von seiner privaten, sondern auch von einer „tierisch“ amüsanten Seite kennen: Beim Reisen, beim Papstbesuch, beim Dichten, beim erfreuten Fernsehgucken, als die Mauer fällt. Ein Picasso oder Matisse ist der Schweizer zwar nicht – aber was zählen schon die zeichnerischen Fertigkeiten, wenn einer sich solche kommunikative Mühe gibt? Welche Partnerin wäre über solche Liebesbeweise nicht erfreut?

Friedrich Dürrenmatt: Das Nashorn schreibt der Tigerin. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 206 Seiten, ISBN-10: 3351029616, nur noch antiquarisch zu erhalten.

Und auch F. Scott Fitzgerald schreibt an jemanden, der ihm lieb und teuer ist. Zugleich aber auch verhasst: An sich selbst. Ab 1937 arbeitet der Schriftsteller in Hollywood. Er ist depressiv, trinkt unmäßig, kann nicht mehr schreiben. Sein letzter Roman, „The last tycoon“ bleibt unvollendet – F. Scott Fitzgerald stirbt, verarmt und verlassen, am 21. Dezember 1940. Eine Postkarte aus Hollywood an sich selbst – welch ein trauriges Symbol der Einsamkeit.

Aus einem Brief aus besseren Tagen stammt dieses Zitat:

„Ich habe gehört, Du wurdest gesehen, wie Du in alten, verdreckten Unterhosen durch Portugal gerast bist und zermahlenes Glas gekaut hast und auf der Suche nach Material warst für eine Story über Boulespieler. Und dass Du der Mann für die Öffentlichkeitsarbeit von Lindberg geworden bist. Und dass Du gerade einen Roman beendet hast, der aus hunderttausend Wörtern besteht - genauer gesagt ausschließlich aus dem Wort Klöten, das Du immer wieder neuen Gruppierungen zuordnest. Dass Du spanischer Staatsbürger bist und jetzt immer in einem Ganzkörperweinschlauch steckst, mit einer Reißverschlussöffnung zum Pissen daran. Dass Du in den Schwarzhandel mit der Spanischen Fliege zwischen San Sebastian und Biarritz involviert bist, wo Deine Mittelsmänner das Zeug auf den teuren Böden der Casinos verstreuen.“

Sein Briefwechsel mit Ernest Hemingway erschien 2013 unter dem Titel „Wir sind verdammt lausige Akrobaten“  – zur Buchbesprechung geht es hier:
http://saetzeundschaetze.com/2013/10/19/ernest-hemingway-und-f-scott-fitzgerald-eine-brieffreundschaft/