Unlängst war ich bei einer Feier Ohrenzeugin eines fachkundigen Gespräches über Kunst. Ein Maler, Bruder der Gastgeberin, freut sich über seine erste Einzelausstellung in Berlin. Einziger Stressfaktor: Der Transport seiner großformatigen Gemälde von Düsseldorf in die Bundeshauptstadt. Großes Format, praktischer Rat: Er solle doch künftig einfach kleinere Bilder malen, warf der Pragmatiker der Runde ein. Und meinte das ganz ernst.
Ich stelle mir den Gesichtsausdruck von James Joyce vor bei der Frage, warum er für einen Tag in Dublin so viele Seiten braucht. Oder wie Thomas Mann reagiert hätte, hätte man ihn aufgefordert, „Joseph und seine Brüder“ doch bitte in einem Band abzuhandeln. Und, na ja, „Jahrestage“, „Zettel`s Traum“, und sowieso beinahe alles von Dickens und Dostojewski - mal ehrlich: Kurz fassen konnten die Jungs sich wohl nicht, oder?
Aber das ist eben das Kreuz mit der Kunst: Sie lässt sich in kein Format pressen. Und dennoch erlebe ich immer wieder eine leise seelische Erschütterung, wenn mich jemand ganz erstaunt-großäugig frägt: „Waaaaaas? So dicke Bücher liest Du?“ Je nach Veranlagung folgt dann meist ein Zusatz, der zwischen Selbsterkenntnis - „Das könnte ich nie!“ - oder wahlweise leichter Überheblichkeit - „Die Zeit muss man ja auch haben!“ - variiert. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Aphorismus als Replik. Bis dahin verschanze ich mich trotzig, eine Antwort verweigernd, hinter einem Wall aus richtig fetten Schinken.
Allerdings trifft das Diskutieren über dicke Dinger einen kleinen wunden Punkt: Auch wenn ein Buch mich nicht packt, mir nicht gefällt, oder auch einfach nur zum falschen Zeitpunkt daherkommt - ich tue mir furchtbar schwer mit dem Abbruch. Bis zum bitteren Ende treibt mich die Hoffnung, wir könnten doch noch Freunde werden. Und je dicker die Dinger sind, desto dramatischer wird dann die Geschichte zwischen dem Buch und mir – Ungeduld steigert sich zu Zorn, Unmut und Wut, fürchterliche Rachegelöbnisse gegenüber dem Autoren, der mich da wider Willen über 1000 Seiten an sich binden will, folgen. Beruhigend ist es, dass es auch anderen Lesern so geht – siehe Achims Kommentare unter #VerschämteLektüren. Andererseits da aber auch der strenge Rat von Arno Schmidt, sich die Lesezeit gut einzuteilen: http://saetzeundschaetze.com/2014/01/17/arno-schmidt-zettels-traum-und-das-apostroph-am-freitisch/
Kapituliere ich ausnahmsweise vorzeitig, plagt mich noch lange, lange Zeit ein schlechtes Gewissen. Drei abgebrochene dicke Dinger, die mich wohl bis ans Ende meiner Lesertage verfolgen:
„Unendlicher Spaß“ von David Forster Wallace, knapp 1400 Seiten. Ich nahm mir das Buch vor, als ich mit Grippe auf das Sofa gefesselt war. Zunächst las ich - buchstäblich - wie im Fieber. Mit der Körpertemperatur sank auch das Lesevergnügen. Seite 800: Ich war genesen und der Spaß hatte ein Ende. Jedes Mal, wenn ich seither an dem Buch im Regal vorbeilaufe, fällt mich dieser Lesergewissensteufel an: „Mensch, nur noch 600 Seiten, die hättest Du doch auch noch geschafft, jetzt musst Du aber wieder von vorne anfangen, wer weiß, vielleicht wäre es doch noch…“ Aus der Nummer komme ich nur noch raus, wenn ich das Buch weggebe. Buch weg, Spaß aus.
„Der Herr der Ringe“ von Tolkien. Schon drei Anläufe habe ich unternommen, dieses dicke Ding in Griff zu kriegen. Es gibt da diese eingeschworene Fangemeinde, die flüstern Tolkien-Laien ein, man müsse nur die ersten soundsoviel Seiten bis zur Mittelerde überstehen, dann werde es so richtig gut, aber so was von gut…Ich hab`s versucht, beim Literaturgott, ich hab`s versucht! Drei Anläufe! Dreimal bin ich in den Ring gesprungen und habe fulminant versagt. Einfach aufgegeben. Und seit ich die Verfilmung sah, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich in diesen Ring noch einmal einsteige.
Tja, und der dritte vorzeitige Abbruch: Er geschah aus Respekt. Ich bin noch auf der Suche nach der Zeit, die ich brauche, um ihn zu lesen: Proust. Und hoffe insgeheim auf eine Chefin wie die Queen, die in Alan Bennetts schönem Buch „Die souveräne Leserin“ einen ihrer Minister in Urlaub schickt, um genau dieses zu tun: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen. Inzwischen steht das dicke Ding in mittlerweile zwei Ausgaben in meinem Regal und heischt nach Zuwendung. Ich suche noch nach ihr. Aber die Zeit wird kommen. Irgendwann.
Mit welchen dicken Dingern seid ihr nicht fertig geworden?