Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe (1966).

„Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale. Die Geschichte der alten jüdischen Literatur kannte keinen Unterschied zwischen Dichter und Propheten. Nicht selten wurde unsere alte Dichtung zum Gesetz, zum Leben selbst.“

Dies sagte Isaac Bashevis Singer (1904-1991) in seiner Rede in Stockholm, als er 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wie die Literatur ins Leben eingreifen kann – davon später mehr. Vorab nur dieses: Unter all den Büchern Singers, die ich gelesen habe – „Max, der Schlawiner“, „Die Familie Moschkat“, „Jakob, der Knecht“ - und seinen Erzählungen ist mir der Roman „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ das liebste. Und dies nicht aus rein literarischen Gründen, aber auch.

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“, das ist eigentlich die Geschichte dreier Lieben und im Mittelpunkt ein entscheidungsschwacher, wankelmütiger, aber dennoch liebenswerter Held, den man gerne an die Hand nehmen würde, um ihm bei seinen Irrungen und Wirrungen zu begleiten. New York, 1949: Herman Broder, ein polnischer Jude, hat den Holocaust überlebt, weil ihn Yadwiga, das christliche Dienstmädchen seiner Familie auf dem Dachboden eines Bauernhauses versteckte. Nach Ende des Krieges erfährt er, dass seine Ehefrau Tamara erschossen wurde, auch die beiden Kinder wurden ermordet, kein Mitglied seiner Familie überlebte. Mit Yadwiga emigriert er in die USA, er heiratet sie aus Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Das Drama dieser Ehe: Sie liebt ihn, immer schon, er sie nicht. Zuviel trennt das analphabetische polnische Mädchen und den gebildeten Mann, der sich jetzt als Ghostwriter für einen Rabbi durchschlägt – um dem engen Heim zu entkommen, gibt er sich Yadwiga gegenüber als Büchervertreter aus.

„Jedesmal, wenn er fortging, verabschiedete sie sich von ihm, als regierten die Nazis in Amerika und sein Leben wäre in Gefahr. Sie legte ihre heiße Backe an die seine und bat ihn, sich vor den Autos in acht zu nehmen, seine Mahlzeiten nicht zu vergessen und daran zu denken, sie anzurufen. Sie hing an ihm mit der Ergebenheit eines Hundes. Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

Denn da ist Mascha, die komplizierte, nervöse Geliebte, eine Überlebende wie er, eine Sheherazade, der er von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle ergeben ist.

„In Schifrah Puahs Zimmer war es jetzt dunkel, und immer noch saß Mascha auf dem Stuhl in Hermans Zimmer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Herman wußte, daß sie irgendeine ungewöhnliche Geschichte für ihr Liebesspiel vorbereitete. Mascha verglich sich mit Sheherazade. Das Küssen, das Liebkosen, das leidenschaftliche Liebemachen war immer begleitet von Geschichten aus den Ghettos, den Lagern, ihrem eigenen Wandern durch die Ruinen Polens.“

Mit Mascha und ihrer Mutter in der Bronx führt Herman ein Doppelleben, von dem Yadwiga langsam ahnt. Doch vollends verwirrend und unhaltbar wird die Situation, als die totgeglaubte Ehefrau Tamara in New York erscheint – fast einer Gespenstererscheinung gleich, ein Dybbuk. Sie möchte Herman nicht zurück – doch diesen stürzt Tamaras Auftauchen in weitere, noch tiefere Gewissensbisse. Zusätzlich katalysierend wirkt auf Herman, dass sowohl die momentane Ehefrau als auch die Geliebte schwanger werden – nichts fürchtet der Vater, der seine Kinder verlor, mehr, als ein neues Kind in diese chaotische Welt zu setzen, in dieses fragile Leben, das stets vom Zusammenbruch bedroht ist. Tamara, die sich selbst für geisteskrank hält, erweist sich am Ende als die Lebenstüchtigste. Sie baut sich eine neue Existenz auf, nimmt Yadwiga und deren Kind zu sich. Mascha nimmt sich das Leben. Und Herman verschwindet – irgendwo, spurlos.

„Mehrere Male hatte Tamara Hermans Namen in die Vermißtenspalten der jiddischen Presse setzen lassen, aber ohne Erfolg. Tamara glaubte, daß Herman sich entweder umgebracht hatte oder sich einer amerikanischen Version seines polnischen Heubodens versteckte. Eines Tages machte der Rabbi Tamara die Mitteilung, das Rabbinat habe wegen der Massenvernichtung die Beschränkungen gelockert, so daß verlassene Frauen ein zweites Mal getraut werden könnten.
Tamara hatte erwidert: „Vielleicht in der nächsten Welt – mit Herman.“

So endet das Buch.

Weit mehr als eine tragisch-komische Erzählung von einer Menage zu viert, weit mehr als eine Geschichte vom Vergehen, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. Es ist ein Roman, der vor allem auch die Feinde der Liebe zwischen den Zeilen benennt – eine grausame, chaotische Welt, ein unerbittlicher Gott, die Begrenztheit der Menschen.
Dazu: Die Schuld der Überlebenden. Während Hermans Situation zwischen den Frauen immer unhaltbarer wird, wendet sich der Ton des Romans, vom Komischen zunehmend mehr in das Tragische, wird zu einer Betrachtung der Situation überlebender Holocaust-Opfer. Ein Buch der Verluste – die Familie, die geliebten Menschen verloren, die Heimat, die Zuversicht, den Glauben, nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Glauben an das eigene Vermögen, an die eigene Kraft, ein Verlust, der Herman und auch Mascha zu wankelmütigen, neurotischen Menschen werden lässt. Immer auf der Flucht, auch vor sich selbst.

„Die Bibel, der Talmud und die Kommentare unterwiesen den Juden in einer Strategie: Fliehe das Böse, verbirg dich vor der Gefahr, vermeide Kraftproben, geh den zornigen Mächten des Universums so weit wie möglich aus dem Wege. Der Jude hat nie verächtlich auf den Fahnenflüchtigen herabgeblickt, der sich in einem Keller oder auf einem Dachboden verkroch, während draußen in den Straßen Armeen aufeinanderprallten.
Herman, der moderne Jude, hatte dieses Prinzip um einen Schritt erweitert: Er hatte sogar den Halt des Glaubens an die Thora aufgegeben. Er betrog nicht nur Abimelech, sondern auch Sarah und Hagar. Herman hatte kein Bündnis mit Gott geschlossen und hatte keine Verwendung für Ihn. Er wollte nicht, daß sein Same so zahlreich werde wie der Sand im Meer. Sein ganzes Leben war ein Spiel der Verstohlenheit (…).“

Isaac Bashevis Singer ist in meinen Leseraugen ein ganz Großer – nur wenige können das, diesen schmalen Grat zwischen Tragik und Komödie beschreiten, in ein Buch beides packen, ja, eigentlich die ganze Welt: Das Lachen, das Schmunzeln, die Freude, die Trauer, das Weinen, das Unglücklichsein. Vielleicht – mit solchen Kategorisierungen möchte ich jedoch eher zurückhaltend sein – ist dieses „verschmitzt-melancholische“ tatsächlich ein Charakteristikum der jüdischen Literatur. E. Michael Salzer schrieb über Singer: „Nie zuvor gab es bei den sonst eher langweiligen Nobelfeiern so viel zu lachen (…). Und allein die Begründung, die Isaac B. Singer für sein hartnäckiges Festhalten an seiner Sprache, in der er schrieb, lieferte: „Ich schreibe gerne Gespenstergeschichten und nichts gefällt Gespenstern mehr, als eine sterbende Sprache. Je sterbender die Sprache, desto lebendiger sind die Geister. Gespenster lieben Jiddisch und so viel ich weiß, sprechen sie es auch alle.“

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ erschien 1966 unter dem Titel „Sonim, die Geschichte fun a Liebe“.

17 Gedanken zu “Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe (1966).

  1. Oh auch ich kannte den singer nicht - bin eben durch iteratourismus.net darauf gestoßen. Vielen, vielen Dank für diese große Inspiration - ich werde es einfach lesen müssen!
    An sich möchte man meinen, man bräuchte eine Pause, wenn sich so viele jüdische Lektüren dominosteinweise sammeln. Jüngst erst rezensierte ich eins meiner Lieblinge, schon bald folgt eine Besprechung über eine Neuerscheinung, die das Thema ebenso anreißt. Da wollte ich eine Pause nehmen, doch leider, leider, leider (nur der Geldbeutel trauert) gibt es zu viel gute Lektüren in dieser Sparte auf der Welt.
    liebe Grüße :)

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  2. Ist das toll, über deine Lebensbücher zu lesen, Birgit! Auch dieser Singer hatte sich noch nicht zu mir verirrt, allerdings hatte ich ihn bereits nach dem ersten Teil der Katzengeschichte bestellt und freue mich nach dieser feinen Besprechung jetzt doppelt auf die Lektüre. :-) Wenn ich mir was wünschen dürfte: am liebsten immer mal wieder Buchbesprechungen UND Katzen- oder andere Geschichten aus dem Leben der Birgit B.! Liebe Grüße!

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    1. Immer diese Leserwünsche :-)
      Mein Name ist doch nicht Sheherazade!
      Nein, jetzt im Ernst: Ab und an macht das Freude, auch so zu schreiben, ab und an werde ich das auch tun…aber soviele Katzen&Lebensbücher habe ich leider gar nicht zu bieten :-) LG Birgit

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  3. Egal, ob Katzen-oder Lebensbücher - Du hast immer viel zu bieten! wobei mir diese Kategorie allerdings besonders lieb ist! Ich muss leider zugeben, dass ich nicht (mehr) so viel zum Lesen komme und in gar keinem Fall wohl in dem Ausmaß, wie ich es bei Dir und deinen kommentierenden Lesern sehe. Meine Haupt-Lesezeit liegt so weit zurück wie die Zeit ohne Familie (also über 25 Jahre). aber ich weiß, dass sich das auch wieder ändern wird…. Was ich Dir eigentlich schreiben wollte: Aus deinen Besprechungen nehme ich manchmal irgend etwas mit, das bleibt, als hätte ich das Buch selbst gelesen. Du glaubst gar nicht, wie oft ich zum Beispiel an das von Dir vorgestellte Buch denke, in dem ein Vater (der Autor) durch einen tragischen Unglücksfall seinen Sohn verloren hat und dies verarbeitet. Bei diesem hier wird es mir ähnlich gehen. Ein Lebensbuch von mir ist “Die Jüdin von Toledo” von Feuchtwanger und durch dein hier beschriebenes Buch musste ich gleichzeitig an sein “Exil” denken. Und wenn ich Zeit hätte, würde ich mich jetzt hinsetzen und lesen und wahrscheinlich ziemlich wehmütig an die Zeit denken, die nun über ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Liebe Birgit, ich wünsche Dir eine wunderschöne Woche und grüße ganz herzlich!
    Birgit

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    1. Liebe Birgit,
      Dein Kommentar hat schon einen wehmütigen Unterton. Don´t think twice. Es kommen wieder andere Tage, da ist erneut Zeit für Feuchtwanger (oh ja, ihn mochte ich auch sehr gern lesen…).
      Du glaubst gar nicht, wie gut mir Deine Kommentare tun.
      Herzliche Grüße, Birgit

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  4. Dein Artikel ist nun Anlass für mich, endlich auch mal etwas von Singer zu lesen. Die Verbindung mit der Katzengeschichte finde ich auch gelungen und natürlich würde ich noch gern mehr in dieser Art lesen. Es hat meinen Sonntag wirklich bereichert. Zum Abschluss habe ich mir noch “Herbert liest” angesehen, da werde ich sicher öfter mal reinschauen ab jetzt. Schön fand ich es, dass er meine Erinnerungen an “Djamila” von Aitmatow aufgefrischt hat, das war damals ein Highlight der Schulpflichtlektüre. Lustig finde ich nur die Transkription des Namens im Suhrkamp-Verlag. Erst dachte ich, dass sich Herbert verspricht, weil er immer “Dshamilja” sagte. Aber es gibt ja wirklich unterschiedliche Transkriptionen für die kyrillischen Buchstaben, Ost und West haben sich auch darin unterschieden…

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    1. Danke…aber mit den Katzen u.ä. will ichs nicht übertreiben, die Literatur soll im Vordergrund bleiben. Herbert liest ist einfach erfrischend - es gibt auch eine WordPress-Seite, leider habe ich den Namen nicht parat. Danke für Deinen Hinweis auf die Transkription, das war mir gar nicht bewußt.

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