Brecht stellt Fragen

Frage (Auszug)
Wie soll die große Ordnung aufgebaut werden
Ohne die Weisheit der Massen?

Brecht war einer, der Gegebenes infrage stellte.
Der nichts nicht hinterfragte.
Niemals fraglos war.
Antworten, Meinungen, Haltungen einnahm und verdeutlichte, ja das auch.
Aber vor einer Antwort kam zunächst die Frage.

“Eine Frage”, “Fragen und Antworten”, “Lob des Zweifels”, “Fragen eines lesenden Arbeiters”:
Nicht wenige seiner Gedichttitel werfen Fragen auf.
Das Hinterfragen als politisches Programm.

Aber auch als Liebender, einer der frägt.
Die Frage als Geste der Zuneigung. Als Zeichen der Teilnahme. Des Miterleben-wollens. Die Frage ein Zeichen der Sehnsucht, des Einander-Erkennens, des Aufeinander-Bezogenseins.

FRAGEN (Auszug)

Schreib mir, was du anhast! Ist es warm?
Schreib mir, wie du liegst! Liegst du auch weich?
Schreib mir, wie du aussiehst! Ist`s noch gleich?
Schreib mir, was dir fehlt! Ist es mein Arm?

Schreib mir, wie`s dir geht!

In den kleinen Fragen zeigt sich die große Liebe. So ist man sich auch in der Ferne einander nah.
Nicht immer sind es die großen Fragen, die unser Leben bestimmen.
In den kleinen, alltäglichen Gesten liegt das, was das Menschsein ausmacht.
Für mich die liebevollste aller Fragen: Wie war dein Tag?

Übrigens: Falls sich der eine oder andere frägt, was er die nächsten Tage unternehmen soll - hier ein Hinweis auf das Brecht-Festival in Brechts Geburtsstadt Augsburg. Thema: Brecht im Exil.

Die Liebe und die Literatur - gestaltet zum Verlieben…

So schön kann die Liebe und Literatur sein - die Literaturliebe und literarische Liebeleien in Szene gesetzt von Claudia Baumann. Mehr zu den Arbeiten der Kommunikationsdesignerin hier: http://www.claudiabaumann.de/

Emily Elizabeth Dickinson - Let my first Knowing be of the thee

Let my first Knowing be of the thee
With morning’s warming Light -
And my first Fearing, lest Unknowns
Engulph thee in the night –

Dass du im warmen Morgenlicht
mein erstes Denken seist,
mein erstes Bangen auch, dass nicht
nachts Fremdes dich umkreist.

Emily Elizabeth Dickinson (1830-1886)

Übertragung von: Bertram Kottmann, http://www.recmusic.org/lieder/get_text.html?TextId=31457

Morgendämmerungen über den Dächern von Augsburg:

 

Stefan George - Komm in den totgesagten park und schau:

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen wolken unverhofftes blau,
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau
Von birken und von buchs, der wind ist lau.
Die späten rosen welkten noch nicht ganz,
Erlese, küsse sie und flicht den kranz.

Vergiss auch diese letzten astern nicht,
Den purpur um die ranken wilder reben,
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Stefan George

Noch ein letztes Aufbäumen des Sommers - hier im Botanischen Garten Augsburg.

BotanischerGarten (9)

#Portrait. C. F. D. Schubart - Der Rebell und die Forelle

An Mops

Sei dumm!
Dies wünsch′ ich dir zum neuen Jahr!
Warum?
Weil Dummheit in dem alten Jahr
So manches Schöpsen Glück gebar.
Darum
Sei dumm!

Er war ein Multitalent: Dichter, Komponist, Organist und Revoluzzer. Und er war der berühmteste politische Gefangene seiner Zeit: Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 bis 1791). Obwohl auch von Schiller bewundert, von Hölderlin geschätzt und von anderen verehrt, ist Schubart heute jedoch als Schriftsteller weitestgehend vergessen. Nur wenige wissen, dass der Text des Liedes “Forelle”, das Franz Schubert vertonte, von Schubart stammt.

Schubart war ein „wilder Hund“: Unangepasst, mit einer spitzen Feder und Zunge, den gemeinsamen Zechgelagen mit Freunden nicht abgeneigt – und er hatte das Talent, sich immerfort in Schwierigkeiten zu bringen. Ein lebenslustiges Naturell und ein kritischer Geist in einem, so erlebten ihn die Freunde, die er auch in Schriftstellerkreisen in hoher Zahl hatte. Viele von ihnen setzten sich später, als Schubart der “berühmteste” politische Gefangene in der Festung Hohenasperg war, für ihn ein.

Der Sohn eines Pfarrvikars und Lehrers legte sich schon früh mit der Obrigkeit an. Der Württemberger war bis 1769 Organist und Musikdirektor am Hof in Ludwigsburg, wurde dann aber wegen seiner Kritik an Aristokratie und Geistlichkeit des Landes verwiesen.

Mit der ab 1774 in Augsburg erscheinenden Zeitschrift Teutsche Chronik wurde er deutschlandweit berühmt-berüchtig: Die Mischung aus Nachrichten und der Veröffentlichung populärer Dichter diente Schubart vor allem auch als Plattform für Angriffe gegen Gott & die Welt. Weil also auch in der Chronik gegen Kirche & Staat, deren totalitären Anspruch und Verschwendungssucht an den Höfen polemisiert wurde, verbot der Augsburger Magistrat den Druck, der dann ab 1775 in Ulm fortgesetzt wurde.

Als Schubart jedoch unter anderem des württembergischen Herzogs Karl Eugen Mätresse Franziska von Hohenheim als “Lichtputze, die glimmt und stinkt” verspottete, schritten die Schergen ein. Schubart wurde entführt, ab 1777 war er im Kerker der Bergfestung Hohenasperg kaserniert. Ohne Besucher, mit Schreib- und Leseverbot in den Anfangsjahren, blieb Schubart zehn Jahre eingesperrt. Trotzdem entstanden weitere Gedichte - so auch dieses:

Liebe im Kerker

H – ist der Ort, wo ich gefangen bin.
In Banden wein’ ich hier mein Trauerleben hin,
Und immer dennoch bleibt dies unglückvolle Leben
Der Liebe Tyrannei zum Opfer hingegeben.

Gezwungen tugendhaft, weil du nicht bei mir bist,
Fluch’ ich der Unschuld oft, die mir beschwerlich ist.
Noch bis zur Wuth verliebt soll ich die Liebe zwingen!
Wie schwer, wie grausam ist’s, bei meiner Pein zu ringen

Ach, eh’ einmal die Ruh’ dies arme Herz erquickt,
Eh’ die Vernunft einmal die Glut in mir erstickt:
Wie oft, wie oft werd’ ich noch lieben, noch bereuen,
Verlangen, hassen, flehn, verzweifeln, suchen, scheuen!

Mich mir entreißen – ja! – denn dies gebeut die Pflicht.
Und alles will ich thun, nur dich vergessen nicht.

Erst die politische Intervention Preußens führte zu seiner Freilassung 1787. Seine mit Angriffen gespickte Publikationstätigkeit setzte er nach der Haftentlassung in der Vaterländischen Chronik fort. Zugleich aber wurde er in Stuttgar zum Hoftheaterdirektor und Hofdichter ernannt - und schrieb in dieser Funktion Huldigungsgedichte auf Herzog Karl Eugen. Schubart starb 1791 in Stuttgart.

Aus der Bibliotheca Augustana: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Schubart/sch_intr.html

Frank Suppanz charakterisiert den Revoluzzer in einem Essay für Reclam so:
“Vielseitig begabt, impulsiv, rücksichtslos, freiheitsliebend, Wein, Weib und Gesang intensiv zugetan und vor deftigster Sprache nicht zurückschreckend - als eine Art Prototyp des Kraftgenies der Sturm- und Drang-Zeit lässt sich der am 24. März 1739 im württembergischen Obersontheim Geborene beschreiben. (…). Es wäre zu einseitig, in Schubart nur den literarischen Polemiker zu sehen. Er war ein hochbegabter Klavierspieler und Organist; sein Talent verhalf dem vormaligen Hilfsprediger und Lehrer zu Anstellungen und verschaffte ihm weithin Anerkennung. Die Musik schien differenziertere Seiten in Schubarts Charakter zum Vorschein zu bringen. In seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst argumentiert ein Vollblutmusiker mit klassizistischen Normen - für Angemessenheit als Maßstab des musikalischen Ausdrucks und für feine Nuancierung als Voraussetzung eines schönen Vortrags.”

Aus den “Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst”:
“Wer ein gefühlvolles Herz hat, wer den Dichter und Musiker nachzuempfinden weiß, wen der Strom des Gesangs selbst mit fortwälzt, wer die himmlische Schöneit in den Stunden der Weihe unverschleiert sah, der bedarf nur Winke - und er wird schön singen, wird jedes Stück schön vorzutragen wissen.”

So wie nachfolgend Elisabeth Grümmer in einer Version von “Die Forelle”, eines der bekanntesten Lieder von Franz Schubert, dessen Text Schubart zwischen 1777 und 1783 während seiner Gefangenschaft schrieb - die Forelle steht für sein eigenes Schicksal. Das Gedicht erschien erstmals 1783 im Schwäbischen Musen-Almanach.

Die Forelle

In einem Bächlein helle,
Da schoß in froher Eil
Die launische Forelle
Vorüber, wie ein Pfeil:
Ich stand an dem Gestade
Und sah in süsser Ruh
Des muntern Fisches Bade
Im klaren Bächlein zu.

Ein Fischer mit der Ruthe
Wol an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand.
So lang dem Wasser Helle,
So dacht’ ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.

Doch endlich ward dem Diebe
Die Zeit zu lang; er macht
Das Bächlein tückisch trübe:
Und eh’ ich es gedacht,
So zuckte seine Ruthe;
Das Fischlein zappelt dran;
Und ich, mit regem Blute,
Sah die Betrogne an.

Ihr, die ihr noch am Quelle
Der sichern Jugend weilt,
Denkt doch an die Forelle;
Seht ihr Gefahr, so eilt!
Meist fehlt ihr nur aus Mangel
Der Klugheit; Mädchen, seht
Verführer mit der Angel –
Sonst blutet ihr zu spät.

Bertolt Brecht am Boden

 

Die Vaterstadt, so sah sie ihn wohl: Am Boden liegend. Mit Füßen getreten. Das Plakat heute ein frühmorgendlicher Straßenfund vor der Augsburger Brecht-Gedenkstätte. Nicht ohne Ironie, das: Lange tat man sich hier mit dem “großen Sohn” der Stadt allzu schwer. Jetzt jedoch ist er Tourismuskulturmarke. In Maßen.
Aber was soll das heißen: Lasst mich in Ruhe?
Müde war er vielleicht bisweilen. Doch Ruhe gab er nie. Bis heute noch ein Unruhestifter unter den Nachgeborenen. Und das ist gut so. Nicht liegen bleiben. Aufstehen und weiterleben.

ANGESICHTS EINER ABGESCHLAGENEN BAUMWURZEL,
EINEM GESTÜRZTEN MANN GLEICHEND

Ich bin gefallen. Wie mich nun erheben?
Ein wenig Ruhe möchte Wunder tun.
Ich würde gern erst morgen wieder leben
Wüßt ich nur, daß auch meine Feinde ruhn!

(1941)

Charles Bukowski und die Schwerkraft

we are always asked
to understand the other person’s
viewpoint
no matter how
out-dated
foolish or
obnoxious.

one is asked
to view
their total error
their life-waste
with
kindliness,
especially if they are
aged.

but age is the total of
our doing.
they have aged
badly
because they have
lived
out of focus,
they have refused to
see.

not their fault?

whose fault?
mine?

I am asked to hide
my viewpoint
from them
for fear of their
fear.

age is no crime

but the shame
of a deliberately
wasted
life

among so many
deliberately
wasted
lives

is.

Charles Bukowski

Am 16. August 1920 wurde im deutschen Andernach Charles Bukowski geboren. Gestorben am 9. März vor 20 Jahren in Los Angeles.

Irgendwann, in der Clique meiner Jugend, war es angesagt, den „dirty old man“ zu lesen. Kaputt in Hollywood, der Mann mit der Ledertasche, das Leben und Sterben im Uncle Sam Hotel. Gelesen, kaum verstanden, geschweige denn verdaut, Mimikry, aufgesetzte Coolness. Einige jener überwanden das nie.

Später von den Gedichten wieder eingeholt. Begegnungen mit einem Mann, der um sein Leben ringt, schreibend. Eine rein geographische Querverbindung – mein zweiter Lebensort ist Augsburg, Sitz des Augsburger MaroVerlags: „Kein anderer Autor ist mit der Geschichte des MaroVerlages so eng verbunden, wie Charles Bukowski. Sie finden hier alle lieferbaren Titel des sensiblen Rauhbeins, die zum Teil in Buchhandlungen kaum bekannt sind.“

Von Augsburg nach Sulzbach-Rosenberg: Dort zeigt man, in Zusammenarbeit mit der deutschen Bukowski-Gesellschaft, derzeit die Ausstellung „All about Hank“. Etwas vollmundig die Ankündigung, überschaubar und ohne erkennbare Struktur die Schau. Sie wird mir aus anderen Gründen in Erinnerung bleiben. Ein Satz, der hängen bleibt: „Er saß am liebsten allein zuhaus und trank.“ Widerstreitende Gefühle in der Auseinandersetzung mit dem Dichter. Spürbar ein Überlebenswille. Wieviel Kraft das kostet. Die Frage, inwieweit jedoch manches auch (zur durchaus verkaufsfördernden) Pose erstarrte. Wo die Liebesfähigkeit blieb. Was überhaupt bleibt – “but age is the total of our doing”. Es bleiben: 439 Gedichte unter anderem. Doch Gedichte sind: Puzzlestücke. Interpretierbar. Man kann von seinem eigenen „viewpoint“ aus alles hineindeuteln. Und: Eine Ausstellung ist eine Ausstellung ist eine Ausstellung. Man kann sich einem Menschen nicht aus der Ferne annähern. Aus der Ferne lieben kann man ihn weiterhin. Entweder oder, wie es bei der Bukowski-Gesellschaft heißt: Geliebt oder verdammt.

Für viele ist er jedoch einer der wenigen modernen amerikanischen Lyriker, die sie überhaupt präsent haben. Und danach: Lange nichts. Die moderne amerikanische Poesie - bei uns eine große Unbekannte. Noch eine Querverbindung zu Sulzbach-Rosenberg: Geburtsort von Walter Höllerer (1922-2003), Mitherausgeber der „Akzente“. Und nicht zuletzt ein großer Kenner der amerikanischen Lyrik.

Und noch ein Hinweis: 2007 erschien beim österreichischen Jung und Jung Verlag eine Anthologie junger amerikanischer Lyrik, herausgegeben von Ron Winkler. Im Vorwort zu „Schwerkraft“ schreibt er:
„Erstaunlich: Während wir eigentlich permanent verschiedenste Formen US-amerikanischer Gegenwart importieren, bekommen wir nur spärliche Einblicke in die Regungen ihrer Lyrik, zumal der Lyrik junger Autoren. Sind wir zu wenig mutig, was Kunst anbetrifft, die sich noch keine Trademarks erarbeiten konnte? Sind wir zu uninteressiert? Sind wir zu arm für Gedichte? Zu reich?“
Schön, dass sich dieser Verlag so mutig zeigte, diesen Band mit „neunzehn Stimmen, die uns auf verschiedene Weise Impulse herüberfunken aus einer äußerst regen und vielfältigen Szene“, auf den Buchmarkt zu bringen. Gedichte von „postmoderner Launenhaftigkeit neben Texten, in denen die Beatlyrik nachwippt; pointierte kleine Sets genauso wie stoffsatte Mittelstreckenballaden und myriadische Meditationen.“ Besser als Ron Winkler, der neben weiteren jungen deutschen Autoren die Gedichte seiner Zeitgenossen übersetzte, kann man dies nicht auf den Punkt bringen. Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlags kann ich die Gedichte für sich selbst sprechen lassen – unter der Rubrik „American Poets“ wird in nächster Zeit von Zeit zu Zeit „Schwerkraft“ ausgeübt. Mehr zum Buch hier: http://www.jungundjung.at/content.php?id=2&b_id=83

Ein erster Einblick:

DIE ERFINDUNG DER LIEBE

höhlenfrau und höhlenmann liegen seit an seit, und jeder kopf ist voller lichter bilder, die der andere nicht sehen kann. selbst wenn sie ohren, münder, nasen aneinanderreiben, bleibt der schädel eine wand. in diesem kopf besudelt eine gazelle mit blutigem huf den pfuhl. im andern tackern dornen eine flickarbeit aus dickicht und gesichtern. jetzt schauen sie sich an. ist das eine welt in des anderen funzelauge? nein, nur der widerschein der höhle, feucht, finster und vertraut. traurig kicken sie globen umher. die gazelle ist verblasst. das dickicht ist bloß das dickicht da draußen. ich bin hungrig, macht der eine. ich bin auch hungrig, macht der andere.

Matthea Harvey, 1973, lebt in New York.

TRIO 16: Buchhandlungen. Paris, London, New York. Und die lieben Kleinen.

Eine häufig von mir frequentierte Buchhandlung hat einen schrecklichen Fliesenboden. Selbst in der „gemütlichen“ Leseecke. Zwei der Verkäuferinnen latschen da bevorzugt mit Flip-Flops. Grausames Geräusch. Flip Flops sind Fussballtröten mit Fußschweiß - beides in Sommer- und WM-Zeiten Geräusche, die mich beim Lesen stören. Und das ertrage ich gar nicht. Quietschende Nervtöter in den heiligen Tempeln der Literatur. Innerlich habe ich den Buchhändlerinnen schon mehrfach gekündigt. Wegen Literaturkannibalismus. Dennoch: Amazon flipt-flopt zwar nicht, nervt aber noch mehr. beispielsweise durch immer neue Schlagzeilen im fragwürdigen Umgang mit Belegschaft, Verlagen und auch Endkunden. Erfreulicherweise kommen von letzteren immer mehr an die Basis zurück - den Einzelhandel. Und da kann man auch mal akustische Ausfallerscheinungen in Kauf nehmen, wenn man dafür sieht, wieviel mehr an Beratung, Wissen, Fachkompetenz und auch Leidenschaft für das Medium Buch der Händler vor Ort mitbringt.

Zudem gibt es in Augsburg noch Auswahl an weiteren, kleinen feinen Buchhandlungen ohne Fliesenboden: Empfohlen sei hier an erster Stelle die Buchhandlung am Obstmarkt - der Buchhändler, ein literarisches Urgestein, Brechtkenner, Herausgeber der Keuner-Hefte, Veranstalter literarischer Großereignisse in der Fuggerstadt.

Seit 1719 (!!!) gibt es die Schlosser`sche Buchhandlung - klein, aber fein! Die Buchhändler sind nicht einfach “nur” Verkaufspersonal, sondern wandelnde Lexika. Und im 1. Stock findet man die schöne Auswahl von Zweitausendundeins.

Ebenfalls mit langer Tradition: Rieger&Kranzfelder, seit 1731 in Augsburg. Das Ambiente ist nicht von schlechten Eltern - ist die Buchhandlung doch in einem ehemaligen Fuggerhaus zu finden. Ein Blick auf die Fotogalerie lohnt sich.

Sophie Weigand, bekannt als Literaturbloggerin, widmet den “Kleinen” jetzt eine ganz eigene Internetpräsenz: Für Leserinnen und Leser eine tolle Fundgrube mit neuen Adressen, für Buchhändler eigentlich ein “Muss”, da mitzumachen: http://diekleinsten.wordpress.com/

Für all die tollen Buchhandlungen gibt es drei prominente Vorbilder, die sich auch in der Literatur niedergeschlagen haben - ich habe sie hier in den vergangenen Wochen vorgestellt.

Berühmt, famous, fabelhaft - “Shakespeare and Company” in Paris: http://saetzeundschaetze.com/2014/06/11/sylvia-beach-shakespeare-and-company-zum-110-bloomsday/
Sylvia Beach erzählt hier selbst, wie es tatsächlich war. Eine charmante Dame!

Amüsant, unterhaltsam, lehrreich - “84, Charing Cross Road” in London:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/05/helene-hanff-84-charing-cross-road-und-die-kunst-des-briefeschreibens/
Anthony Hopkins in der Rolle des schüchternen Antiquars zitiert in der Verfilmung des Buchwechsels Yeats:

Das Gedicht lässt sich hier nachlesen: http://saetzeundschaetze.com/2014/03/26/leisetreten/

Bücher, Kunst, soziales, politisches Engagement - “Sunwise Turn” in New York:
http://saetzeundschaetze.com/2014/06/25/madge-jenison-sunwise-turn-a-human-comedy-of-bookselling/

 

 

 

 

 

 

 

“Sunwise Turn, founded and operated by Mary Mowbray-Clarke and Madge Jenison, was located in midtown Manhattan from 1916 until it closed in 1927 was concurrent with Shay’s shop.  One of the first bookstores in the U.S. to be owned by women, Sunwise Turn sponsored lectures by Robert Frost, Theodore Dreiser, and Amy Lowell among others.  It was the first “gallery” to exhibit the work of the painter Charles Burchfield among other new artists of the time, which perhaps influenced the artistic tastes of their young intern named Peggy Guggenheim.”

Aus: http://www.newyorkboundbooks.com/2011/10/03/the-sunwise-turn-the-modern-bookshop/

Dieses Trio - ein kleiner literarischer Gruß an den Buchhandel vor Ort.
Ich muss dann los. Bücher kaufen.

Das Augsburger Wunderzeichenbuch

Wunder gibt es immer wieder. Beispielsweise, dass verschollene Bücher eines Tages wieder auftauchen. Dass dieses Buch von einem großen Verlag reproduziert wird. Und dass die Weltbuchpremiere in Augsburg stattfindet. Ist ja nicht so, als wäre Augsburg Berlin oder München. Eher etwas zwischen Crailsheim und Bielefeld. Das war aber schon mal anders.
Einst war Augsburg der Nabel der Welt. Die Fugger und Welser hielten die globalen Fäden in der Hand, Kaiser Karl V., in dessen Reich die Sonne nie unter-, das Geld aber manchmal ausging, kam wie andere Gekrönte&Gesalbte zum Schnorren, stiftete nebenbei einen Religionsfrieden, Martin Luther floh über die Annastiege, Gustav II. Adolf becircte Bürgerstöchter im kleinen goldenen Saal, und auch Götz von Berlichingen und Wallenstein randalierten in der Gegend herum.
Doch die freie Reichsstadt war nicht nur Schauplatz politischer und religiöser Auseinandersetzungen, sondern auch ein Zentrum der Kunst und des Kunsthandwerks. Insbesondere der Buchdruck florierte. Davon profitierte unter anderem die sogenannte Wunderzeichen-Literatur, die große Verbreitung fand.


Hunger, Pest, Kriege, alltägliche Gewalt: Wozu lebt da der Mensch? Man klammerte sich an Wunder. Oder sah in jedem Naturphänomen den Vorboten der nächsten Katastrophe. So sehr hat sich der Mensch nicht verändert – immer noch schauen wir wahlweise nach Meteoriten oder UFOs am Himmel. Immer noch wird der nächste Weltuntergang angekündigt.
2008 wurde das Augsburger Wunderzeichenbuch der Öffentlichkeit wieder vorgestellt. Lange war es verschwunden, dann im Kunsthandel wieder aufgetaucht. Von einem Privatsammler wurde das Original dem Taschen Verlag für eine Faksimile-Ausgabe zeitweise überlassen.


Arno Widmann stellte das Augsburger Wunderzeichenbuch gescheit und ausführlich in der Frankfurter Rundschau vor:
(http://www.fr-online.de/literatur/wunderzeichenbuch-phantomzeichnungen-zur-loesung-der-weltraetsel,1472266,25628124.html).
Er nennt es eines der schönsten Bücher des Jahres. Wie recht er damit hat: Ob nun Wunderzeichenbuch oder eine leicht chaotische, unchronologische Materialsammlung – die Bilder sind wundervoll, das Buch - wie so viele aus dem Taschen Verlag - eine Pracht.


Ich habe es gesehen, gestaunt und bewundert. Und so sitze ich hier und hoffe auf eine wundersame Geldvermehrung, Lotteriegewinn, einen Goldesel oder ähnliches. Denn die Pracht hat natürlich ihren Preis. Verwunderlich wäre es andererseits nicht, schlüge ich heute dennoch zu – weil ich gerne nochmal schauen und staunen möchte, bevor der nächste Weltuntergang kommt. Denn Buch-Wunder gibt es immer wieder, aber eben auch nicht alle Tage.

Das Augsburger Wunderzeichenbuch, erschienen im Taschen Verlag:
http://www.taschen.com/pages/de/catalogue/classics/all/03107/facts.das_wunderzeichenbuch.htm

Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner (1).

Die Frage, ob es einen Gott gibt

Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“

Bertolt Brecht.

Illustration: Andrés Rosa Navarro

So kurz sie mitunter sind, die Brecht`schen Geschichten vom Herrn Keuner: Sie fordern ihre Zeit ein. Sie erschließen sich meist nicht auf den ersten Blick, nicht auf das erste Lesen. Sie stehen da, diese Parabeln (rund 120 Einzeltexte Brechts, entstanden über einen Zeitraum von rund 30 Jahren, werden dazugezählt) und geben erst einmal Rätsel auf. Die Auseinandersetzung damit leistet Denkarbeit ab. Manchmal auch unter Zuhilfenahme der eigenen Finger:

„Andreas Sisic hat die Geschichte „Freundschaftsdienste“ illustriert. Darin erben drei Söhne 17 Kamele. Laut Testament soll „der Älteste die Hälfte, der zweite ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel der Kamele bekommen“. Sie fragen einen Araber um Rat. Der leiht ihnen ein Kamel und will, was bei der Teilung übrig bleibt. Die Rechnung geht auf, der Alte bekommt es zurück. Sisic zeichnete eine Hand mit 18 Fingern, einer davon hoch erhoben. „Wenn man sich die Geschichte durchliest, fängt man an zu rechnen. Da habe ich die Finger dazugenommen“, erklärt er seine Idee. „Dadurch, dass die Finger so herumbaumeln, verdeutlichen sie eine gewisse Ratlosigkeit.“

Quelle: Augsburger Allgemeine, 6. Februar 2014

Der Zweckdiener

Herr K. stellte die folgenden Fragen:
“Jeden Morgen macht mein Nachbar Musik auf einem Grammophonkasten. Warum macht er Musik? Ich höre, weil er turnt. Warum turnt er? Weil er Kraft benötigt, höre ich. Wozu benötigt er Kraft? Weil er seine Feinde in der Stadt besiegen muß, sagt er. Warum muß er Feinde besiegen? Weil er essen will, höre ich.”
Nachdem Herr K. dies gehört hatte, daß sein Nachbar Musik machte, um zu turnen, turnte, um kräftig zu sein, kräftig sein wollte, um seine Feinde zu erschlagen, seine Feinde erschlagen, um zu essen, stellte er seine Frage: “Warum ißt er?”

„Herr K. ist ein Mann ohne Gesicht. Ohne Alter, ohne Beruf, ohne Biographie. Man könnte ihn für ein Phantom halten, zeigte er, der Mann ohne Eigenschaften und ohne Unterleib, nicht eine höchst vitale Regung: er denkt. Herr K. ist Denker – dies ist sein einziger Beruf und seine einzige Wollust.“

So charakterisiert der Theater- und Literaturkritiker Benjamin Henrichs den Herrn Keuner in seinem Beitrag zur “Zeit-Bibliothek der 100 Bücher” (suhrkamp taschenbuch, Herausgeber Fritz J. Raddatz). Dem Mann, für den das Denken ein sinnliches Vergnügen ist, geben zwar auch die Studierenden der Hochschule Augsburg, die nun an einem Keuner-Projekt beteiligt waren, kein Gesicht – aber sie geben einigen seiner Parabeln eine höchst originelle, eigenständige Gestalt. Andreas Sisic mit der Hand und ihren 18 Fingern war daran ebenso beteiligt wie Renate Aab, Miriam Frank, Daniela Grabner, Julia Herrmann, Kathrin Holzer, Lisa König, Matthias Mödl, Andrés Rosa Navarro, Marina Rauch, Stephanie Reis, Paul Rietzl, Ruben Rodrigues und Moritz Schmid.

Die Studierenden setzen sich im Sommersemester 2013 an der Hochschule Augsburg in der Fakultät für Gestaltung unter Leitung von Professor Mike Loos mit den Keuner-Geschichten auseinander. „Aufgabe der Studierenden war es hier, Illustrationen zu entwickeln, die eine eigenständige Position zu Brechts Denkmodellen erkennen lassen“, so Mike Loos. „Ich schätze die Keuner-Geschichten wegen ihrer Zeitlosigkeit und Uneindeutigkeit. Oft wird nicht klar, welche Stellung der Herr Keuner bezieht, und das lässt Freiraum für spannende Interpretationen und Meinungsbildung“, sagt Matthias Mödl. Er setzte „Wenn Herr K. einen Menschen liebte“ grafisch um.

Illustration: Matthias Mödl

Dass diese Illustrationen neben aller hohen Anforderung auch einen hohen Anreiz für die Studierenden mitbringen, zeigt sich an der Lust, auch noch einen Band 3 der „Geschichten des Herrn Keuner“ zu illustrieren. Ich freue mich darauf.

Zu beziehen sind die „Geschichten vom Herrn Keuner“, Band 2, 8,00 €, über die Buchhandlung am Obstmarkt, Büchergilde/Brechtshop Augsburg. Buchhändler Kurt Idrizovic gab den Anstoß für das Projekt und ist auch Herausgeber. Außerdem können die Keuner-Geschichten auch über www.strichnin-comic.de bestellt werden.

Illustration: Stephanie Reis. Wer wissen will, wie die Geschichte weitergeht…der kaufe sich das Heft!

Bertolt Brecht: Was nicht passt, wird passend gemacht

Ein Leser gab per E-Mail seiner Verwunderung Ausdruck, warum ich nichts über das Brechtfestival schreibe, das derzeit in dessen Geburtsstadt läuft, zumal ich dort wohne und BB-Verehrerin sei. Somit hat das Brechtfestival schon seinen hauptsächlichen Zweck erfüllt: Die Kunde, dass in Augsburg etwas stattfindet, ist durch die Bundesrepublik gegangen.

Und dies, lieber Leser, ist genau der Grund, warum ich nicht über dieses Festival geschrieben habe (aber jetzt also doch): Es geht weniger um Brecht (Die Vaterstadt, wie find ich sie doch? Im Festivaltaumel noch und noch),  als um eine „Marke“.  Ein Dichter wird besetzt&vereinnahmt. Ich muss den Blog hier nicht zum Teil einer Marketingkampagne machen, die ich mit zwiespältigen Gefühlen sehe.

Vor dem Festival ist nach dem Festival: Lange tat sich Augsburg schwer mit seinem Brecht und tut es prinzipiell immer noch. Aktuell die Debatte um sein Geburtshaus. Ein schmales Handwerkerhaus im Altstadtviertel: Schön pittoresk, als Ausstellungs- und Veranstaltungsort jedoch kaum geeignet. Nun will man es der Tourismusinstitution übergeben – die könne das besser vermarkten.

sososo 019Darum geht es: Mit Brecht, so wurde entdeckt, kann man Staat machen. Man lockt den einen oder anderen bildungswilligen Reisenden an. Aber wie findet Brecht im Alltag statt? Wie sehr ist er ein Brecht zum Anfassen? Das mögen naive Fragen sein – vielleicht will ein Großteil derer, die nun auch eifrig das Festival besuchen, ansonsten nicht mit den Brecht`schen Fragen behelligt werden. Vielleicht mag man gerne „Morgens und abends zu lesen“, aber nichts über den Brecht, der den Engel schnell verführt und fickt? Vielleicht gerne den „Mackie Messer“ singen, aber nicht die „Ballade von der Billigkeit“? Brecht ist eben nicht durchgängig salonfähig.

Aber was ich mir wünschte – das nach dem Festival-Taumel und –Stress etwas bliebe bis zum nächsten Event. Dass es einen öffentlichen Ort gibt, an dem Brecht täglich zu finden ist. Einen Ort, der Raum für Ausstellungen bietet, für Diskussionen, Aufführungen, für das Leben. Nach Berlin hat Augsburg das zweitgrößte Brecht-Archiv der Welt. In der Stadt- und Staatsbibliothek. Zu besuchen während der täglichen Öffnungszeiten. Archiv&Brecht-Haus gehörten zusammen. Und sie gehörten geöffnet und belebt. Nicht nur an Festivaltagen.

Pikanterie am Rande: Während des Festivals präsentiert die weltweit zweitgrößte Sammlung eine Ausstellung – in der städtischen Sparkasse. Im Festivalbegleitheft greift die Bank jedoch nicht dieses als Slogan auf:

“Der Bankraub ist eine Initiative von Dilettanten. Wahre Profis gründen eine Bank.”

Sondern denn doch lieber zu Oscar Wilde:

„Wenn Banker Banker treffen, reden sie über Kunst. Wenn Künstler Künstler treffen, reden sie über Geld.“

So sehe ich das mit diesem Festival. Aber ich will die Leser dieses Blogs nicht mit lokalpolitischen Possen langweilen. Hier ist es so, und anderswo ist es auch nicht anders.

Und wer weiß, vielleicht hätte BB der ganze Festivalrummel auch amüsiert? Wer alles da war: Die Tiger Lillies, Nina Hagen, Laila&SYMFOBIA, heute kommt noch Patti Smith. Ben Becker haben sie diesmal zuhause gelassen, erfreulicherweise. Wer alles zugehört hat: Nervöse Damen, die zu viel Kaffee trinken und aufgespeedet von der „ewig jungen“ Nina Hagen schwärmen. Im Zeichen der herannahenden Kommunalwahl die Herren, die mit rahmengenähten Budapestern sich auf bierverklebten Linoleumboden volksnah geben. Jede Menge Jungvolk, das das Stadttheater bei „Bonaparte zum Wackeln bringt (das war wirklich was). Hingegangen bin ich natürlich auch zu dem einen und anderen „Event“. Genossen habe ich es auch. Wenn schon mal was los ist, hier. Und trotzdem wünschte ich mir: Brecht wäre für alle da. Unbegrenzt, nicht nur für die Dauer eines Festivals und ein eindeutiges Zielpublikum.

Ohne Vermarktung. Ohne Vereinnahmung. Kultur für`s Volk.

Die Künstlernamen sind – wo gefettet – mit einem Geburtstagsständchen hinterlegt. Morgen ist es soweit. Zum Schluss noch ein Blick auf die Gedenktafel an seinem Geburtshaus. Der „Friedrich“ wurde ausgespart. Ich weiß nicht, ist es ein Versehen, oder war es dem Zeilenfall geschuldet – letzteres nehme ich an. Was nicht passt, wird passend gemacht.

Gegen Verführung

1
Laßt euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon den Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.

2
Laßt euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!

3
Laßt euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.

4
Laßt euch nicht verführen!
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Auch Philosophen sind den körperlichen Bedürfnissen unterworfen. Hierin macht Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Tausendsassa – Jurist, Politiker, Humanist (damals ging das vielleicht noch zusammen) - keine Ausnahme. Was ansonsten nicht so geschmiert lief auf der Reise nach Italien – dies zeigt Klaus Krolzig in seiner Besprechung eines spät veröffentlichten Werkes des französischen Essayisten auf. Und stellt dem Schriftsteller Montaigne gleich die passende Diagnose aus.

Montaigne - Tagebuch 417 Monate und 8 Tage dauert die Reise, die Montaigne  am 22. Juni 1580 beginnt und über die er präzise Tagebuch führt. Nach seiner Rückkehr im November 1581 stürzt sich Montaigne in die Politik, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird.  Das Tagebuch verschwindet in einer Truhe in seinem berümten Schloß. Dort taucht es im 18. Jahrhundert wieder auf. Abschriften werden angefertigt, doch das Original geht auf mysteriöse Weise verloren. Der Anfang dieses Reisetagebuches fehlt bis heute. Die Geschichte der verspäteten Auffindung des Manuskripts, das rätselhafte Verschwinden des Originals und seine Publikation, schon dies gleicht einem Kriminalroman. Oder auch einer Reise. Denn erst 178 Jahre nach dem Tod des Autors, als das Tagebuch 1770 entdeckt wird, publiziert der bekannte Enzyklopädist Jean Baptiste le Rond d’Alembert erstmals das Werk in seiner Gesamtheit.

Die Tatsache, daß Montaignes Reisetagebuch bisher relativ gering geschätzt wurde, hängt vielleicht mit seiner komplizierten Struktur zusammen. Das Werk bricht in zwei Teile auseinander. In jenen Teil, den Montaigne selbst verfasst hat, sowie  in einen Teil, den ein Unbekannter geschrieben hat. Wer dieser Unbekannte ist, der immerhin die ersten 200 Seiten dieser Reise protokollierte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Für Hans Stilett muß es ein Sekretär gewesen sein, der vielleicht nach dem Diktat von Montaigne die erste Hälfte der Reise beschrieben hat.

Jetzt aber machen wir uns auf den Weg:

Nach sieben Meilen Reise erreichen Montaigne und seine  Begleiter zunächst  Vitry-le-Francois, wo man ihnen Denkwürdigkeiten erzählt. Etwa von ein paar Mädchen, die sich der ihnen zugewiesenen Frauenrolle radikal verweigerten: “Sieben, acht Mädchen hatten den Plan ausgeheckt, sich als Männer zu verkleiden und ihr Leben  in der Öffentlichkeit so getarnt fortzuführen” . Wofür sie, wie der Sekretär trocken anmerkt,  “wegen der gesetzwidrigen Praktiken, mit denen sie dem Mangel ihres Geschlechts abzuhelfen suchten, erhängt wurden.”

Als Leser muß man schon eine gewisse Geduld aufbringen, wenn man vor allen Dingen während des Aufenthaltes Montaignes in den Bädern von Lucca seitenlang alle Details zu lesen bekommt über das, was er zu sich genommen und was er von sich gegeben hat.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Montaignes Reise nach Italien ist keine Bildungsreise. Die Reise findet ihren Sinn vielmehr im Unterwegssein. Er beschreibt alles, was er um sich herum und in sich selbst vorgefunden hat, insofern stilistisch eine Fortführung seiner berühmten Essais. Die Reise nach Italien ist nicht zuletzt eine Reise zu den berühmtesten Kurbädern der Spät-Renaissance.  Zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken, der nie müde wird, seine körperlichen Zustände bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Seit 1577 leidet Montaigne an Nierensteinen und damit verbundenen Koliken.

“Am 24. schied ich früh morgens einen trüben Urin aus, der schwärzer war, als ich ihn je gesehen hatte. Dazu einen kleinen Stein. Dies beendete aber keineswegs den Schmerz, den ich unterhalb des Nabels und im Glied verspürte. Am 26. löste sich ein Stein, der jedoch in der Harnröhre stecken blieb. Von da an hielt ich bis zum Mittagessen den Urin zurück, denn ich wollte dessen Druck verstärken. So konnte ich schließlich den Stein ausstossen, nicht ohne Mühsal mit ziemlichem Blutverlust zuvor und danach. Er war groß und lang wie ein Tannenzapfen. An einem Ende aber wies er eine Verdickung auf, die einer Eichel glich. Um die ganze Wahrheit zu sagen: er hatte haargenau die gleiche Form meines Schwanzes.”

Da ich beruflich fast täglich mit Patienten zu tun habe, die an Nierensteinen und dessen Folgen zu leiden haben, habe ich  die genaue Beobachtung  seiner Krankheitssymptome mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Anhand dieser Beschreibungen würde man heute eine Nephrolithiasis und Urolithiasis mit Dysurie und Harnwegsinfekten diagnostizieren, medikamentös und operativ ohne Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.  Unter den damaligen Umständen jedoch eine Krankheit, die für Montaigne den sicheren Tod bedeutete. Mit der Deutung eines anderen Symtoms lag Montaigne jedoch ziemlich daneben:

“Als ich im Bad die Dusche auf den Unterleib gerichtet hielt, schien mir dies die Blähungen auszutreiben. Zugleich ging die Schwellung meines rechten Hodens eindeutig zurück, an der ich sehr oft leide. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß die Schwellung von den Fürzen herrührt, die sich im Hoden verfangen.”

Die Reiseroute führt  über Frankreich in die Schweiz, wo man von Basel aus den Rhein überschreitet und nach Deutschland kommt. Die weiteren Stationen sind Lindau, Kempten, Füssen und Augsburg. Über die Deutschen heißt es,  “Sie haben die gute Eigenschaft, vom ersten Wort an zu sagen, welchen Preis sie verlangen: Handeln hat da wenig Zweck. Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde, aber, sagte der Herr de Montaigne, weder Betrüger noch Spitzbuben.”

Anekdotenreich beschreibt Montaigne seinen Aufenthalt in Augsburg.

“Nach Aussage der Augsburger gibt es in der Stadt zwar Mäuse, aber keine Ratten, von denen das übrige Deutschland heimgesucht wird. Darüber erzählen sie zahlreiche Wunder. So schreiben sie ihre Bevorzugung einem dort beigesetzten Bischof zu; und von der Erde seines Grabes, die sie in haselnußkleinen Klümpchen verkaufen, behaupten sie, daß sie überall, wo man sie ausstreue, das Ungeziefer vertreibe.”

(Anmerkung der Blogbetreiberin, wohnhaft in Augsburg: Dies ist auch heute noch gängige Praxis.)

Weiter geht es über Süd-Tirol nach Venedig. Kurz vor Florenz muß  die Reisegesellschaft einen Angriff marodierender Banditen abwehren. Während eines ersten Aufenthaltes in Rom besucht Montaigne die antiken Stätten, wohnt einer Teufelsaustreibung bei, begutachtet die ausgestellten Häupter der Heiligen Petrus und Paulus und prüft skeptisch das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika.  Das Beschneidungsritual der Juden wird ebenso nüchtern beschrieben wie der Fußkuss beim Papst.

Hier endet das vom Sekretär Montaignes verfasste Tagebuch und Montaigne selbst greift nun zur Feder. Warum er seinen Sekretär in Rom entlassen hat bleibt offen. Die Reise war in Rom zu Ende. Hier hat er sich bis auf einen zwischenzeitlichen Abstecher in die Bäder von Lucca monatelang aufgehalten.  Das Tagebuch ist vor allem auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte, eine Alltagsgeschichte aus der Spät-Renaissance.

Ergänzt wird der reich illustrierte und schön gesetzte Band der Anderen Bibliothek durch ein kluges Vorwort des Übersetzers und zahlreichen Anmerkungen zum Textverständnis.

“Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581”, erschien im Januar 2014 als 349. Band der Anderen Bibliothek. Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett,  492 Seiten, 38 Euro.

“So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen:  Sie bereiteten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais.”

J.W. v. Goethe

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt (2013).

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„Es liegt eine merkwürdige Kraft in Dingen: Sie können, einmal hergestellt, unser Leben verändern.“

Neil MacGregor, „Shakespeares ruhelose Welt“

Seltsam ist`s, im Nebel zu wandeln…seit Tagen hängt eine Nebelwand über der Fuggerstadt. Von der Straße dringen die Geräusche nur wie in Watte gepackt in mein Arbeitszimmer. Selbst das Augsburger Rathaus, sonst vom Bürofenster fast handgreiflich nah, bleibt in ein diffuses Licht gehüllt. Das Wahrzeichen der Stadt im Nebelkleid. Ich überlege, ob vor 400 Jahren, als der Grundstein für diesen Bau, der, so ein neuzeitlicher Slogan, „Bürgersinn und Bürgerstolz“ repräsentieren soll – und – so ist doch anzunehmen – auch in der freien Reichsstadt zum Repräsentationszweck der wenigen Privilegierten, der wenigen wirklich „Freien“, vor allem auf dem Rücken des städtischen „Unterbaus“ erhoben wurde, ein Bau, der wahrscheinlich Leben&Kraft der Handwerker, Arbeiter, Arbeitssklaven kostete – gut, ich überlege, ob dieser Bau auch schon vor vierhundert Jahren wochenlang im Nebel versank. Und warum sich die Augsburger Patrizier darin überschlugen, Florenz, die mächtige Konkurrentin im Handel, durch Kopieren des Renaissancestils zu übertrumpfen, statt Eigenes zu gestalten, und ob auch an der Themse heute Nebel herrscht…

Vom nebeligen Augsburg 2014 zur Grundsteinlegung 1615 in der freien Reichsstadt sind es nur wenige Schritte zurück in das London der 1590er Jahre. Ein Denkmal wie das Augsburger Rathaus vermag immer noch Geschichten zu erzählen vom Ehrgeiz und den Ambitionen reicher Kaufleute, von Machtbewusstsein und Machtdemonstrationen, von Konkurrenz und Wettbewerb in einer bereits globalisierten Welt.

9783406652875_largeEiner, der solche Geschichten ebenfalls trefflich wiedergibt, ist Neil MacGregor. Der Kunsthistoriker war Leiter der National Gallery in London, seit etlichen Jahren ist er der oberste Hüter des Sammelsuriums im British Museum. Bereits mit seiner „Geschichte der Welt mit 100 Objekten“ landete er einen Bestseller. Zum Shakespeare-Jubiläumsjahr kam nun ein „Sequel“ – bewusste Wortwahl, denn dieses Buch lebt mit und vom Medium Bild und der multimedialen Weiterverwertung als Radioreihe und Hörbuch. „Shakespeares ruhelose Welt“, ein schön aufgemachter Bildband, der am Beispiel von 20 Objekten mitten hineinstößt in das turbulente, von der Pest gebeutelte, von den Iren und Schotten in die Zange genommene, den Spaniern und Katholiken unterwanderte, Magie-gläubige, nach Italien schielende und von aufständischen Lehrlingen gerüttelte London unter Elisabeth I.

Neil MacGregor erhebt nicht den Anspruch, Shakespeares Dramen zu analysieren oder Neues aus dem Dichterleben zu enthüllen.

„Vom Charisma der Dinge bewegt, unternimmt dieses Buch zwanzig Reisen in eine vergangene Welt – dies aber nicht in der Absicht, uns irgendeinem bestimmten Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht der Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. Wir wissen über das, was er tat, recht wenig, können nicht hoffen, mit auch nur annähernden Sicherheit aufzudecken, was er dachte, woran er glaubte. Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunkeln. Stattdessen aber erlauben uns die Objekte in diesem Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben (…).“

Wahren Shakespearianern bietet dieser opulente Bildband also keine neuen Erkenntnisse zu Leben und Werk. Es ist aber auch weitaus mehr als nur ein „coffee table book“, das sich im Jubiläumsjahr hübsch auf dem Wohnzimmertisch ausmacht. Kein „biopic“ auf Papier to go ohne inhaltlichen Anspruch – sondern ein fundiert und lebendig geschriebener Führer durch die englische Geisteswelt und Geschichte dieser dramatischen Zeit. Das Buch eröffnet einen Blick auf die Welt, in der der Dichter und seine Anhänger lebten. Unterstützt von den Shakespeare-Kennern des British Museums, das im vergangenen Jahr die Ausstellung „Shakespeare: Staging the world“ zeigte, verknüpft Neil MacGregor historisches Geschehen, Zeitkolorit, Dokumentiertes mit den Dramen und der Gedankenwelt Shakespeares. Und zeigt damit auch auf, wie modern der Dichter zu seiner Zeit war…

Ein Beispiel: Noch die Eltern des Dramatikers, mutmaßt Neil MacGregor, hatten wohl nie das Ticken einer Uhr gehört. Zimmeruhren waren um 1590 etwas Neues, ein Statussymbol. „Zeit des Wandels, Wandel der Zeit“ ist dieses Kapitel überschrieben. Mit den Uhren wird das Diktat der Zeit ein anderes, wird sich der Alltag der Menschen verändern. Reflektionen über die Zeit – sie sind auch ein fester Bestandteil Shakespearscher Werke. MacGregor verknüpft dieses geschickt, zeigt, was die Stunde geschlagen hat – sowohl im Alltag der Leute, als auch auf der Bühne des „Globe“.

Weil man vom Schöpfer von „Romeo und Julia“, „Othello“, „Hamlet“ und „Macbeth“ so wenig wissen kann, bringt der MacGregor die Welt, in der Shakespeare lebte, auf andere Weise nahe - mit Gabeln, Mützen, Kelchen, Spiegeln. In einem, dem letzten Kapitel macht der Kunsthistoriker das Shakespear`sche Werk zum Objekt: Denn nicht nur die Dinge haben die Macht (siehe Eingangszitat), das Leben der Menschen  zu verändern.

Auch die Worte, die Sprache können es auf den Kopf stellen, uns zu Taten bewegen, eine Welt zum Einsturz bringen. So mancher ist in ein Shakespeare-Stück gegangen und kam, wie nach einem Sommernachtstraum, als ein anderer heraus. Und auch  450 Jahre nach seiner Geburt ist der große Dramatiker und Lyriker William Shakespeare immer noch ein großer Weltveränderer - der Zauber und die Macht seiner Worte ungebrochen. Sein Werk hat die Jahrhunderte überlebt, und viel mehr als das: Es ist immer noch in uns lebendig. Dies verdeutlicht Neil MacGregor eben vor allem im letzten Kapitel „Shakespeare erobert die Welt“. Lauten könnte es auch: „Shakespeare hilft, in der Welt zu bestehen“. Denn selbst in den dunkelsten Winkeln hilft und trägt das Dichterwort weiter - sei es bei der Trauung von Marcel Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto, sei es im Gefängnisalltag auf Robben Island. Für ein einziges Buch durften sich die Gefangenen rund um Nelson Mandela für die lange Dauer der Haft entscheiden – die Wahl fiel auf Shakespeares gesammelte Werke.

Neil MacGregor, „Shakespeares ruhelose Welt“, C. H. Beck, 2013, 347 Seiten mit 125 farbigen Abbildungen, 29,95 Euro.

Paul Klee. Ikarus im Krieg.

„Je schreckensvoller die Welt ist, desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.“

Paul Klee

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Dichter malen mit Worten. Maler schreiben mit Bildern. Manche können beides. So Paul Klee (1879-1940), der dichtende Maler, malende Dichter, Dichtermaler. Er wirkt nicht nur durch sein bildnerisches Werk. Auch durch seine Tagebücher und vor allem die Gedichte. Klee war schon früh ein intensiver Leser, verfasste bald eigene Texte. Das Schreiben wird intensiver, als er seine spätere Frau Lily Stumpf kennenlernt. In den Tage-, den sogenannten „Geheimbüchern“ sind um die Jahrhundertwende zahlreiche Gedichte an und über „Eveline“ zu finden. Und, so meint sein Sohn Felix später, der vielfach Begabte sei sich „in seiner künstlerischen Entwicklungszeit“ nicht immer in klaren gewesen, „ob er zur Musik, zur Malerei oder zur Dichtung“ greifen sollte. Die Malerei wird sein Hauptmedium werden – doch der spielerische, fast schon dadaistische Umgang mit Sprache bleibt ein Erkennungsmerkmal Klees, sei es in seinen verspielten Bildtiteln oder in den „Schriftbildern“.

Der Tod für die Idee, 1915

Eine Lebensphase Klees möchte ich aus gegebenen Anlass in den Mittelpunkt dieses Beitrags stellen: In diesem Jahr steht europaweit der Beginn des 1. Weltkriegs vor hundert Jahren im Zentrum vieler Ausstellungen und Veranstaltungen. In Augsburg ist noch bis zum 23. Februar eine Klee-Ausstellung unter dem Titel „Mythos Fliegen“ zu sehen.

Mit der Freiheit über den Wolken hat dies in Klees Wahrnehmung jedoch wenig zu tun. Vielmehr wird der Sturz des Ikarus bildnerisch von ihm thematisiert. Der „Fliegersturz“ (1920), so ein Bildtitel, kommt nicht von ungefähr – auch Paul Klee wird von der Kriegsmaschinerie erfasst, ist ab 1916 zum Militärdienst verdonnert. Er kommt als Kunstmaler bei den „Königlich-Bayrischen Fliegertruppen“ an verschiedenen Orten in Einsatz, muss die Tarnbemalung der Kampfflugzeuge ausbessern. Ab Januar 1917 ist er auf dem Flugplatz in Gersthofen bei Augsburg stationiert, auch hier als Maler, Schreiber und gelegentlich als Fotograf. Perversion des Krieges: Flugschüler fallen ständig mit ihren Maschinen auch in der Heimat vom Himmel, verunglücken tödlich während der Ausbildung. Nach dem Prinzip „trial and error“ wird das Flugzeug als neues technisches Kampfmittel hinter der Front erprobt. Auch Klee muss ab und an diese Trümmerreste fotografisch dokumentieren, hält sich das mit kaum verdeckten Zynismus vom Leib: “Habe heute den kaputten Aeroplan aufräumen helfen, auf dem zwei Flieger vorgestern ihr Leben lassen mußten. Er war übel zugerichtet. Die Arbeit war ganz stimmungsvoll.”

„Ich bin gewappnet,
ich bin nicht hier,
ich bin nicht in der Tiefe,
bin fern…
ich bin so fern…
Ich glühe bei den Toten.“
(1914).

(Alle Gedichtzitate aus: „Gedichte“, Paul Klee, Herausgeber Felix Klee, erschienen im Arche Verlag)

Wie jedoch das Schreckliche in der Kunst ausdrücken? Wie das Grauen, das eine Katastrophe auslöst, in Wort und Bild festhalten? Klee, der noch 1914 mit August Macke zur berühmten Tunisreise aufbricht – „Die Farbe hat mich!“ – kommt zurück in ein Europa, das bereits brodelt. Wenige Monate später ist nichts mehr, wie es vorher war. Anders als seine Malerkollegen Franz Marc und August Macke lässt Klee sich nicht vom Hurra-Patriotismus anstecken. Klee bleibt der kühle Skeptiker, dem diese Aufwallungen wohl schon vom Charakter her fremd sind. August Macke fällt bereits im September 1914 in der Champagne, Franz Marc am 4. März 1916 in Verdun. Dieses Datum hat für Klee eine besondere Bedeutung: Einen Tag später, am 5. März, erhält er seinen Einberufungsbefehl.

Fliegersturz, 1920

Dabei ist er Pazifist. Heute wird dazu oft der Zusatz gestellt: Ein „passiver“. Was hat das zu bedeuten? Kriegsdienstverweigerung gab es zu Zeiten des 1. Weltkrieges nicht. Verweigern gab es in einem Staat, der letztendlich Militärstaat war, nicht. Wer verweigerte, wurde als Psychopath eingestuft, von Militärärzten wieder fronttauglich gemacht. Klees deutscher Vater hatte sich nie um die Einbürgerung seines Sohnes in die Schweiz, wo Klee geboren war, bemüht. Also war für den Künstler, der damals in München lebte, der Weg vorgezeichnet. Er hatte Frau und Kind. Hätte er desertieren sollen?

Traum

Ich finde mein Haus: leer,
ausgetrunken den Wein,
abgegraben den Strom,
entwendet mein Nacktes,-
gelöscht in die Grabschrift.
Weiß in weiß.
(1914).

Spurensuche im Werk: Da ist der Widerstand durchaus zu spüren. “Ich habe diesen Krieg längst in mir gehabt. Daher geht er mich nichts an. Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten, mußte ich fliegen. Und ich flog. In jener zertrümmerten Welt weile ich nur noch in der Erinnerung, wie man zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich ,abstract mit Erinnerungen’.” Dieser Tagebucheintrag von 1915 wird oftmals dafür angeführt, dass Klee ein kühler, beinahe distanzierter Beobachter des von ihm als „wahnsinnig“ bezeichneten  Krieges gewesen sei, fast ungerührt geblieben sei von der „Urkatastrophe“. Doch es scheint auch, als verlässt die in Tunesien gefundene Farbe wieder das Bild. Kleinformatige Zeichnungen, oft auf amtlichem Vordruckpapier, auf Flugzeugmaterial hergestellt, Entwürfe ohne Farbe, aber nicht farblos. Dies war freilich auch dem Materialmangel geschuldet. Und inhaltlich eben durchaus nicht distanziert vom Geschehen rings um ihn. Schon die Titel sprechen Bände: „Die beiden Schreie“, „Der Tod für die Idee“ oder auch „Fitzlibutzli“, diese Ironisierung des Kaisers Wilhelm II, der Titel angelehnt an das Gedicht von Heinrich Heine, an den „vitzlibutzli“ (Auszug):

Fitzlibutzli, 1918
Fitzlibutzli, 1918

Auf dem Haupt trug er den Lorbeer,
Und an seinen Stiefeln glänzten
Goldne Sporen – dennoch war er
Nicht ein Held und auch kein Ritter.

Nur ein Räuberhauptmann war er,
Der in’s Buch des Ruhmes einschrieb,
Mit der eignen frechen Faust,
Seinen frechen Namen: Cortez.

Unter des Kolumbus Namen
Schrieb er ihn, ja dicht darunter,

Und der Schulbub auf der Schulbank
Lernt’ auswendig beide Namen –

Nach dem Christoval Kolumbus
Nennt er jetzt Fernando Cortez.

Klee desertiert anders, muss wohl auch Abstand nehmen durch eine gewisse Flucht nach Innen. Denn während der gesamten Einsatzzeit hängt wie ein Damoklesschwert die Möglichkeit, dass er doch an die Front versetzt wird, über ihm. Nicht von ungefähr in dieser Zeit auch seine Lektüre, beispielsweise des „Robinson Crusoe“, kleine Fluchten mit der Literatur. Oder der Künstler, gefangen auf einer seltsamen Insel? Denn dem Grauen an der Front gegenüber steht der langweilige Alltag, der Stumpfsinn und Bürokratismus in der Kaserne, die Entfernung zur Familie, der Stubendienst. In der Augsburger Ausstellung wird dies anhand vieler Postkarten, die Klee an seine Frau und den Sohn schreibt, deutlich – welche Einschränkungen die kreative Seele in dieser fremden Welt erleben muss. Aber er hat auch Glück – Vorgesetzte, die sein Talent respektieren, ihm gewisse Freiheiten geben. Selbst die Arbeit an Ausstellungen ist möglich. Es entstehen zudem „Schubladenbilder“ – Skizzen, die er in der Schreibstube fertig, die er schnell in eine Schublade schieben kann, wenn jemand kommt.

Landschaft mit fliegenden Vögeln, 1918.

Klee behält also Bodenhaftung. Das „Fliegen“ in seinen Tagebucheintragungen ist nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen. Der Flug, das Abheben, dies meint zum einem die Distanz in der Kunst zur Realität: “Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten, musste ich fliegen. Und ich flog.” Auch die religiösen, die mythischen Themen nehmen zu. „Und es ward Licht“ heißt ein Bild. Klee entdeckt später weitere Flugobjekte, in seinen letzten Lebensjahren werden die Engelsbilder zu einem wichtigen Bestandteil seines Schaffens.

Elend.

Land ohne Band,
neues Land,
ohne Hauch
der Erinnerung,
mit dem Rauch
von fremden Herd.
Zügellos!
wo mich trug
keiner Mutter Schoß.
(1914)

Doch ganz realitätsabgewandt ist Klee, wie oben schon angeführt, eben nicht. „Der Krieg fördert die Production im ethischen Sinne“, schreibt er. Was meinen soll: Die Auseinandersetzung mit dem Kriegs-Wahnsinn findet durchaus ihren Niederschlag, wenn auch nicht so eindeutig und plakativ erkennbar wie in Noldes „Soldaten“ oder Beckmanns „Kriegserklärung“. Bei Klee geschieht dies verschlüsselter, weniger deutlich, erkennbar jedoch an einigen stilistischen Mitteln:  „Winkelformationen, Zickzack-Linien, die auch aggressiv zu deuten sind, tauchen in dieser Zeit auf – und interessanterweise hören die auch kurz nach dem Krieg wieder auf. Also das ist eine absolute Spezifik für die Werke, die in dieser Zeit entstanden sind. Das ist ein Ausdruck für Bedrohung, Angst, Todesangst, für den Krieg und für Zerstörung”, wird in der Augsburger Ausstellung erläutert. Mit Mitteln des Konstruktivismus gegen die allgemeine Destruktion.

Landschaft der Vergangenheit, 1918.

Eine deutliche Sprache spricht das Bild “Der Held mit dem Flügel”: Eine verstörende Radierung, die einen missgestalteten Krieger mit verkümmertem Engelsflügel zeigt. Klee selbst notiert dazu im Bildrand: “Von der Natur mit einem Flügel besonders bedacht, hat er sich daraus die Idee gebildet, zum Fliegen bestimmt zu sein, woran er zugrunde geht.”

Hier geht es zur Ausstellung in Augsburg: http://www.mythos-fliegen.de/AugsburgII 008

Bertolt Brecht - Zufluchtsstätte. Atemholen vor kälteren Zeiten

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Ein Augenaufmerker am Wegesrand: In der Brechtstadt Augsburg ist man schon gerüstet. Es kommen, frei nach Ingeborg Bachmann, vielleicht doch noch kältere Tage. Vorsorge ist alles – ob in der Heimat oder auf dem Weg.

Zufluchtsstätte

Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind
Wird das Stroh nicht wegtragen.
Im Hof für die Schaukel der Kinder sind
Pfähle eingeschlagen.

Die Post kommt zweimal hin
Wo die Briefe willkommen wären.
Den Sund herunter kommen die Fähren.
Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn.

Bertolt Brecht (1937)

Brecht hält sich zu der Zeit, als das Gedicht entstand, tatsächlich an einer Zufluchtsstätte auf – im Exil, geflohen vor den Nationalsozialisten. Er ist mit Helene Weigel und anderen in Dänemark, an einem eigentlich idyllischen Ort, der Insel Fünen.

Der neue Ort zwischen Heimat und Provisorium: Für die Kinder muss gesorgt sein. Gegen die Stürme, auch gegen die politischen, muss man sich wappnen. Wetterfest machen. Aber doch bleibt man in Bereitschaft, auf dem Sprung. Denn die Deutschen rücken näher. Vier Himmelsrichtungen, vier Türen stehen offen zur weiteren Flucht. Vorsorge ist alles.