Ich wohne auf dem Grund
einer Sanduhr.
Es ist weich hier
träge
halbdunkel
es regnet Sand
es rieselt
winzige runde
Zeitstückchen.
Wenn ich
am ersticken bin
kippt das Glas um.
Von Luft erstochen
von Licht erblindet
von Verlangen
und Verzweiflung
zerrissen
lebe ich
einen Augenblick lang.
Dann
falle ich auf meinen Platz
am Grund einer Sanduhr
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht beim Literatur- und Photokunst-Projekt Zeitzug - Time train und darf an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von Herausgeberin Renate Milena Findeis veröffentlicht werden - herzlichen Dank! Noch eigens hingewiesen sei auf den Erzähl- und Essayband “Cernowitz”.
Tamar Radzyner wurde 1932 in Lodz geboren, überlebte Auschwitz, verlor ihre Eltern und den größten Teil ihrer Verwandtschaft in der Shoah und starb 1991 in Wien. Vor und nach ihrer Inhaftierung war sie im polnischen Widerstand aktiv. Beim Verfassen ihrer deutschen Gedichte verwechselte Tamar, deren Muttersprache Polnisch gewesen war, das eine oder andere Mal den Akkusativ mit dem Genetiv. Ihre älteste Tochter Joana, die in Wien aufgewachsen war und heute als Korrespondentin für den ORF in Warschau arbeitet, wollte die Grammatikfehler ausbessern. Die Korrekturen der Tochter wurden von der Mutter, die stolz auf ihren polnischen Akzent war, ignoriert. Bis zu ihrer Emigration im Jahre 1959 schrieb Tamar in Polnisch. Ein Notizbuch mit unveröffentlichten Gedichten aus dieser Zeit wird von Tochter Joana sorgsam verwahrt. Die in deutscher Sprache verfassten Gedichte wurden kaum publiziert. Tamar betrachtete ihre Gedichte als eine Form der Psychoanlayse „so erpare ich mir das Honorar“- deutsche Grammatik und Syntax: das war ihre Psychotherapie.
Die Gewohnheit
Nach vierzig Jahren
der Selbstzerfleischung
stelle ich fest:
es ist eine äußerst
langweilige Tätigkeit.
Durch die Begrenztheit
der Materie,
des Werkzeugs
beschränkt,
wiederholt sich
immer öfter
im Kreislauf
das Muster.
Mit meiner
Nonkonformität konform,
an meinen Protest
gewöhnt,
mit dem inneren
Schweinehund
aufs tiefste befreundet –
verspreche ich
nichts mehr
und erhoffe nichts.
Schlimm ist –
nicht das Gefangensein –
schlimm ist –
sich nichts unter der Freiheit
vorstellen zu können.
Den Zweiten Weltkrieg erlitt Tamar Radzyner in der radikalsten Form und überlebte ihn, wundersam, weil sie an das kommunistische Polen mit ihrer ganzen Seele glaubte. „Die Internationale“ war für sie von sakraler Bedeutung. Die Demontage Stalins im Jahre 1965 und antisemitische Kampagnen in Polen beraubten sie dieses Glaubens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Mitglied des Polnischen Parlaments, und den beiden Töchtern emigrierte sie 1959 nach Wien. In Österreich wechselte Radzyner von dem ihr vertrauten Polnischen in das ihr fremde Deutsch, ihre wahre Heimat wurde die Kunst. Bei einem Friseur wartend, fand sie in einem Magazin die Anzeige „Texte für Lieder gesucht“. Sie folgte diesem Aufruf, das war der Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Georg Kreisler. Es war die erfüllendste Zeit ihres Lebens. Sie schrieb Gedichte, Liedertexte, Sketches, übersetzte aus dem Polnischen, Russischen, Hebräischen und Jüdischen. Eine Sternstunde für Tamar war, als im Österreichischen Parlament, zum Gedenken an die Opfer des Holocaust, eines ihrer Gedichte rezitiert wurde.
Dank einer Begegnung mit Joana Radzyner wurde ich auf die Gedichte von Tamar Radzyner gestossen, die mich berührten. Emigranten, auch wenn sie aus verschiedenen Ländern stammen, haben eine feine Antenne für Schicksalsgefährten.
So entstand meine Übersetzung, Tamars deutscher Gedichte ins Russische, aus einem rein persönlichen Motiv. Beinahe unbekannt den Namen nach, hat ihre Lyrik für mich einen besonderen Stellenwert: verfasst von einer Frau, die den Tod überlebte und den Prozess des Überlebens poetisch festhielt.
Igor Pomerantsev
Damals
Eine Dame weinte
weil die Tasse
die ihr seit Kindheit
gehörte
zerbrach.
Wie schade
sagte ich.
Wie schade.
Ein junger Rat
Im Rathaus meinte
sie mußten doch
in Auschwitz
Dokumente haben!
Mein Gott
sagte ich.
Mein Gott.
Eine Dame seufzte:
auch wir hatten oft Hunger
und kein Kleid
fürs Theater …
Ja, der Krieg
sagte ich.
Der Krieg.
Wenn mich wer fragt
wie es damals war
kann ich nichts sagen.
Wieder
Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird.
Wieder baute ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter den Mauertrümmern
erstickt.
Wieder binde ich mich an Menschen
als ob ich nicht wüßte
daß die einem als erste
weggenommen werden.
Ich habe nichts dazugelernt.
Unter dem Schutthaufen der Zeit
hüte ich die Hoffnung.
Emigranten
Von langem Laufen betäubt
keuchend
kommen wir an
und wollen für einen Moment
unsere schwarze Koffer abstellen
wie die anderen sein.
Doch man drückt uns
eine Erdkugel in die Hände,
eine bunte Erdkugel
aus echtem Plastik
elektrisch beleuchtet.
Man fragt: “Wohin wollt ihr?
wo gelb - von dort kommt ihr her,
wo grün - herrscht Krieg
wo rosa - seid ihr unerwünscht…”
Gelb, grün, rosa ist die Erdkugel.
Habt ihr keine andere?
Eine mit winzigen Plätzchen
wo man eine Weile
Ruhe atmen darf
Pfeife rauchen darf
Augen schließen darf
in der Sonne?
“Ein guter Witz”
- lachen die Beamten -
“eine andere Erdkugel!”
klopfen uns auf die Schulter
und schließen zur Mittagspause.
Wir warten am Stubenring
am Bankerl.
Fette Tauben promenieren gleichgültig
die wissen, daß wir fremd sind.
Die brauchen nichts von uns.
Die Ameisen
Klein, schwarz, beweglich
ruhelos strebend,
von fremdem, perfektem Instinkt getrieben
kommen die an,
ekelhaft.
Nichts haben sie mir getan,
keinen Schaden zugefügt,
unsere Geraden kreuzen sich nicht,
fremde Welten, gleichgültige Galaxien,
irgendwie bewundernswert
ekelhaft.
So nehme ich meine Zyklondose
sprühe Tod
und da unten
geschieht das große Sterben.
Die kleinen, schwarzen Körper zucken,
krümmen sich, schrumpfen,
Panik, Chaos, ausweglose Flucht,
heroisches Leichenschleppen -
Schreie auf unhörbaren Wellen -
Über die leblosen Körper
schreite ich,
tausendfach vergrößert
durch den Tod in meiner Hand,
mit milder Weisheit,
mit leichtem Ekel,
ich
der Ameisengott.