George Saunders: Zehnter Dezember

George Saunders malt schwarz. Tiefschwarz. Die zehn Erzählungen sind in den USA der nahen Zukunft angesiedelt, dystopisch könnte man sie nennen.

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„Wenn man Geschichte studierte, Kulturgeschichte, dann kam einem die eigene Epoche kleinlich vor. Es gab verschiedene Theorien der Einwilligung. In biblischen Zeiten konnte ein König über ein Feld reiten und sagen: Die da. Und dann wurde sie zu ihm gebracht. Und sie wurden ordentlich vermählt, und wenn sie einem Sohn das Leben schenkte, super, holt die Wimpel raus, die behalt ich. Ob sie in jener ersten Nacht drauf stand? Wahrscheinlich nicht. Ob sie zitterte wie Espenlaub? Egal.“

Aus: „Sprung zum Sieg“ in „Zehnter Dezember“, George Saunders, 2014, Luchterhand Literaturverlag.

Unschlüssig, unschlüssig, unschlüssig. „Zehnter Dezember“ von George Saunders wurde mit Lorbeeren überkränzt. 2013 in den USA erschienen, rief es das New York Magazine zum Buch des Jahres auf, nannte Saunders „einen Autor, der schreibt wie ein Heiliger“.
Der Amerikaner, 1958 geboren, nach mehreren anderen Jobs wie viele seiner Zunft in den USA über das Literaturstudium zum Autoren geworden, macht nun mit diesem Erzählband auch hierzulande Furore. Zehn unheilige Geschichten, selig machen sie nicht.
Dies in doppelter Hinsicht: Saunders malt die eigene und die kommende Epoche nicht kleinlich, sondern schwarz. Tiefschwarz. Die zehn Erzählungen sind in den USA der nahen Zukunft angesiedelt, dystopisch könnte man sie nennen. Da werden Menschen medikamentösen-chemischen Experimenten unterworfen, die sie zu Sexgier und Mordlust treiben. Frauen aus Dritt-Welt-Ländern hängen als Dekosklavinnen in Gärten, wie missbrauchte Blumenblüten. Funcenter, Freizeitparks, in denen Mittelalter nachgelebt wird – bis hin zum Raubrittertum des Besitzers, der Angestellte versklavt und vergewaltigt. Von wegen fortgeschrittene Praxis der Einwilligung.

Daneben aus der amerikanischen Gegenwart Bekanntes und Vertrautes: Traumatisierte Kriegsveteranen, McDonald`s und Butterfinger, Luxusautos und Schrottwagen, Luxusimmobilien und Enteignungen im Vorstadt-Ghetto. Saunders zeichnet ein düsteres Bild von der Lage seiner Nation, von der Weiterentwicklung seines Landes: Konsumversessen, konsumabhängig lassen die Menschen sich scheinbar willenlos steuern. Bis zu ihrem Niedergang. Ein Vater, der sich ruiniert, um den Kindern genau das bieten zu können, was die Nachbarn haben. Ein Sohn, der sich demütigen lässt im Ritterkostüm, um die Eltern – krank, aber ohne Versicherung – über die Runden zu bringen. Eine Alte, die nach 15 Jahren vor die Türe gesetzt wird.

Wenig Hoffnung kommt da auf, vor allem beim Blick in die Zukunft – die Menschen instrumentalisiert, entwürdigt, Menschenrechte ein Relikt aus der Vergangenheit. Dass Saunders damit in das Herzen einer bestimmten amerikanischen Leserschaft oder auch den Zeitgeist trifft, verwundert nicht.Obama als Hoffnungsträger hat rasch jeden Glanz verloren, die Zweiklassengesellschaft driftet brutal auseinander, anhaltende Kriegseinsätze, der fragwürdige Umgang mit Kriegsgefangenen, der fragwürdige Umgang mit den inneren Bürgerrechten, NSA und Überwachung, undsoweiterundsofort: All das wirft die Frage auf, wohin das Land steuert. Und Saunders greift diese Themen auf, packt in seine Geschichten diese Ängste und Verunsicherungen. Deutlich wird dies insbesondere dort, wo er die Klassen aufeinanderprallen lässt – beispielsweise in „Welpe“, als eine begüterte, behütende Mutter in einem White-Trash-Haushalt landet, um für ihre Kids einen Hund zu besorgen. Es endet tragisch – nicht für jene, die das Geld haben. Oder in „Die Semplica-Girl-Tagebücher“, dem Bericht eines Vaters, der nur das Beste will – was in dieser Welt immer auch das Teuerste ist.

Trotz der Schwarzmalerei: Saunders setzt auf den Menschen, den einzelnen Menschen, der Hero wird für eine Stunde, einen Tag. Den pummeligen Jungen, der einen Selbstmörder rettet. Den Nachbarsjungen, der eine Vergewaltigung oder Schlimmeres verhindert. Den Kollegen, der Unrecht nicht hinnehmen will. Wenn diese Erzählungen eine geheime Botschaft ausstrahlen, dann diese – dass manche inneren Werte, manche Vorstellungen von „Recht/Unrecht Gut/Böse“ nicht auszumerzen sind.

Allein seligmachend ist dies jedoch nicht. Unschlüssigkeit rief/ruft beim mir die Sprache/Stil hervor. Wer sich hier über den gehäuften Einsatz von „/“ in den letzten Zeilen/Sätzen wundert – eine der stilistischen Eigenheiten des Mr. Saunders. Ein Rezensent bemerkte, der letzte Erzählband des Amerikaners sei so postmodern gewesen, dass er wiederum beinahe unlesbar sei. Deshalb sei man beinahe glücklich, nun „Zehnter Dezember“ in den Händen zu halten. Eine Qualitätsaussage ist dies für mich nicht. Der „////“-„Tick“ – und hier stimme ich mit Günter Keil überein – ist ein Merkmal einer „allzu lässigen, um Unkonventionalität bemühten Prosa“.
Maren Wulf schreibt: „Mal ist der Ton knapp, beinahe schon karg, ein anderes Mal von unbändiger Lust am Fabulieren gekennzeichnet. Immer wieder umgangssprachlich, aber nicht flach. Temporeich.“ D`accord. Damit schon. Aber leider: Angereichert durch zu viele Manierismen.

„Greenway-Mädel: Quasi zauberhaft hier.
Drinnen Leslie Torrini zu Besuch (!). Das = Hammer. Leslie war noch nie solo hier. Sagt, ihr gefällt, dass unsere SGs nah am Teich hängen und sich drin spiegeln. Ruft zu Hause an und sagt, sie will Teich haben. Leslies Mutter nennt Leslie verwöhntes Balg und sagt, kein Teich. Das = großer Treffer für Lilly.“

Das = Beispiel für sprachlichen Manierismus. Leserin sagt, muss nicht sein. Geschichtenimmanente Verstörungsmomente stärker (!) ohne Ablenkung durch postmoderne Spielerei. Geschichten auch so gut oder Leserin verwöhntes Balg?

Hier geht es zur Verlagsseite inklusive Leseprobe: http://www.randomhouse.de/Buch/Zehnter-Dezember-Stories/George-Saunders/e441654.rhd

„Zehnter Dezember“ gibt es seit neunten November auch als Taschenbuch: http://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Zehnter-Dezember-Stories/George-Saunders/e483949.rhd

19 comments on “George Saunders: Zehnter Dezember”

  1. Habe das Buch auch gerade hier liegen, lese immer mal darin mit, ja genau, ich stimme dir voll kommen zu: mit Unschlüssigkeit. Mal wieder eine großartig geschriebene Rezension - mit wunderbar geistreichen und humorvollen Wendungen!

    1. Liebe Jutta,
      fein, dass wir auch bei der Unschlüssigkeit Gemeinsamkeiten entdecken - das finde ich nämlich den blödesten Zustand beim Lesen…Tut gut, zu wissen, dass ich bei diesem Buch nicht alleine in dem Zustand bin 🙂

      1. Geht mir auch so - zwischendurch beschleicht mich angesichts der Begeisterung anderer der Verdacht, ich würde etwas Entscheidendes nicht sehen, lesen, verstehen … So kann ich mich beruhigt der Hausarbeit zuwenden, von der ich immer noch nicht voll ständig lassen kann 😉 Dir einen schönen Sonntag!

      2. Angesichts haushalterischer Dinge verharre ich jedoch gerne lieber in Unschlüssigkeit - lohnt es sich, dem Staub den Kampf anzusagen oder nicht? Lieber nicht…und so habe ich einen Entschluss und damit einen schönen Sonntag! Dir auch - bei was auch immer 🙂

  2. Das Buch also = mit Einschränkungen zu genießen. Mir auch zuviel unnütze ablenkende Wortspielerei, wenn ich deine Rezension so lese. Danke für die schöne Besprechung!

  3. Ich nehme Deine wunderbar zu lesende Besprechung als Nicht-Lesetipp, mache einen Haken an Saunders und wende mich anderer Lektüre zu. Einen schönen Sonntag mit hoffentlich nicht allzu viel Regen wünscht Claudia

    1. Nicht-Lesetipp: Bitte gib dies auch an Anna weiter, dass ich schon wieder ganz brav war! 🙂
      Hier=gelegentliche Schauer, Sommer kann Entwicklung. VG Birgit im Saunderssprech. Schönen Sonntag auch Dir, Birgit

  4. Inhaltlich hört sich das sehr interessant an. Aber mir geht der postmoderne Stil ziemlich auf den Keks. Ich bin ja schon mit David Foster Wallace nicht wirklich warm geworden. Und der hat sich, obwohl postmoderner Autor par excellence, auf der Formebene noch zurückgehalten. Sowas muss wirklich nicht sein. Schade. Danke für die Vorstellung!

    1. Da stimme ich mit Dir überein, auch was DFW anbelangt…den Unendlichen Spaß habe ich zu zwei Dritteln geschafft, dann aber kapituliert. Und das, obwohl die Formebene da noch konventionell ist. Die Erzählungen von Saunders sind insofern leichter zu lesen, weil eben Erzählungen und kein 1400-Seiter, bei dem man irgendwann den Faden verliert. Dafür jedoch die Sprachspielereien, die ab einem bestimmten Ausmaß eher enervieren.

  5. Liebe Birgit, vielen Dank für die Nicht-Empfehlung, aber ich hatte auch schon genügend Spaß bei deiner Besprechung und beim Lesen der Kommentardialoge. Habe im Moment sowieso grad wenig Zeit und hebe mir deine anderen Blog-Beiträge bzw. Empfehlungen für verschneite Vorweihnachtstage auf ( das heisst muss mir aufheben 🙁 )
    Dir einen guten Start morgen in die Woche und liebe Grüße von
    B. zu B.
    🙂

  6. Habe das Buch letztes Jahr zu Weihnachten bekommen, bin aber irgendwie überhaupt nicht reingekommen in die Geschichten. Vielleicht bin ich zu blöd 😉 Ich werde es aber nochmal probieren, gelegentlich ist es ja auch einfach falsches Buch zur falschen Zeit. Aber deine Rezension machte Sinn. Mal schauen, ob Herr Saunders und ich noch irgendwann zueinander finden. Schöne Woche!

  7. Liebe Birgit,
    Mir ging es mit Saunders ähnlich. Und jetzt geht es mir wieder so mit Donald Antrim, der ja gerade überall so gelobt wird mit „Das smaragdene Licht in der Luft“. Womöglich liegt es bei mir gerade daran, dass ich mit der aktuellen US-amerikanischen Literatur nicht klar komme. Der neue Franzen ging ja auch nur bis Seite 250 gut.
    Gruß Marina

  8. Liebe Birgit, verwöhnt würde ich Dich nun nicht nennen. Ich poche da eher auf die Hoheit des eigenen Geschmacks - der darf selbstverständlich schriftstellerische Form als übertriebenen Spieltrieb empfinden. Neugierig bin ich trotzdem geworden und werde mir den Saunders mal zulegen. Verspätete Adventsgrüße (oder besser: vorrätige; uns bleiben ja noch drei), Sonja

  9. Der Inhalt macht mich neugierig, die Beschreibung des Schreibstils schreckt mich ab-
    ich frage mich, ob er auch der ewig empfundenen Zeitlosigkeit geschuldet ist, oder daran, dass es gar nicht so einfach ist etwas Neues zu schaffen? Erst gestern dachte ich über Stile nach und wieder einmal landete ich beim Schnörkellosen …
    herzliche Grüsse
    Ulli

  10. Ach jetzt verstehe ich das mit dem „/“ - tsts, hat lange gedauert, ich lange gerätselt, bis endlich klar geworden, dass nicht das englische „Ich“ gemeint, sondern Spiegelstrich. So. Ah ja. Der kleine Auszug aus dem Buch ist witzig, WhatsAppig. Ob allerdings über vermutlich +300 Seiten noch lustig, andere Frage. Deine unschlüssige Besprechung = fröhlicher Zeitvertreib. Merci 4 z.

  11. Nachdem ich entgegen der ganzen lobenden Stimmen mit Saunders „Lincoln im Bardo“ so überhaupt nicht klar kam, beziehungsweise die Virtuosität und die Innovation im Text nicht erkannt. Maniriert, ja das war auch LIncoln im Bardo … nicht meins. Somit ist durch deine wunderbare Besprechung die Entscheidung gefallen: Der zehnte Dezember fliegt von der Liste. Danke.

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