Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss

Wolfe wurde nur 38 Jahre alt, aber hinterließ unter anderem 2 Monolithen der Literatur. Der Künstlerroman „Von Zeit und Fluss“: Ein gigantisches Unternehmen.

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Bild: (c) Michael Flötotto

“Was ist dieser Traum der Zeit, dieses seltsame und herbe Wunder des Lebens? Ist es der Wind, der die Blätter fliehend die kahlen Wege hinantreibt? Ist es das stürmische Jagen jähzorniger Tage, das sturmesschnelle Vorüberziehen einer Million Gesichter, allesamt verloren, vergessen, entschwunden wie im Traum? Ist es der Wind, der über die Erde hinwegfegt, ist es der Wind, der alle Dinge vor seiner Geißel hertreibt, ist es der Wind, der alle Menschen vor sich hertreibt wie tote fliehende Gespenster? Ist es das eine rote Blatt, das dort am Ast zerrt und bald für immer davonstieben wird?“

„Von Zeit und Fluss“, Thomas Wolfe, OA: 1935, in der Neuübersetzung von Irma Wehrl, 2014, Manesse Verlag.

Amerika. Home of the free. Land der Giganten. Thomas Wolfe (1900-1938) war so einer. Allein schon ein Riese von Gestalt – 1,99 Meter. Und einer, der sich nicht zähmen konnte, nicht zähmen wollte. Alles, aber auch alles aus der kurzen Lebenszeit herauspressen, was an Wörtern in ihm war. Bereits sein Debütroman „Look Homeward, Angel“ ein Gigant. Daneben arbeitete er an Erzählungen, an dem leichteren, kleinen Roman „The Party at Jack`s“, der zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, vor allem aber an der Fortsetzung seiner Künstlerbiographie „Of Time and the River“ – ein Mammutroman von rund 1200 Seiten.

„Wir wissen aus der Biografie des Autors, das Manuskript wäre noch weiter gewachsen, vielleicht dem Autor bis an den Hals, hätte es ihm nicht einer entrissen“, schreibt Schriftsteller Michael Köhlmeier in seinem klugen Nachwort zur deutschen Neuübersetzung „Von Zeit und Fluss“, nun erschienen im Manesse Verlag. Wie bereits „Schau Heimwärts, Engel!“ für Manesse hervorragend übersetzt von Irma Wehrli – Wehrli muss sich offenbar nun Jahre in Thomas Wolfe und sein Alter Ego, Eugene Gant, förmlich hineingelebt haben.

Die beiden großen Romane des 1938 an Tuberkulose verstorbenen Schriftstellers sind zum einem verkappte Autobiographien oder besser noch: Das eigene Leben wird als Folie benutzt, ausgepresst, ausgequetscht, um den amerikanischen Roman zu schreiben. Vielmehr als ein Abbild des eigenen Erlebens (und vor allem des Fühlens, der Entwicklung, der eigenen Gedanken) sind diese beiden Giganten der modernen amerikanischen Literatur eines: Sie sind die Erzählungen vom modernen Amerika, sie sind beinahe Amerika selbst, um es dem teilweise pathetischen Ton Wolfes nachzutun.

Nochmals muss ich auf das Nachwort von Michael Köhlmeier zurückgreifen, besser ließe es sich nicht ausdrücken:

„Es heißt, Thomas Wolfe habe nur ein Thema gehabt: Ich. Erstaunlich bei einem so wenig eitlen Mann. Aber dieser Dichter war kein pathologischer Egomane. In seinem Werk waltet nicht Dostojewski`sche Psychologie, sondern Seelenmythologie, wie sie in der Literatur bis dahin nicht zu beobachten war. (…) „Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens.“ Schrieb Thomas Wolfe. Seine Adepten erhoben diesen Satz zu seiner Lebensphilosophie. Seelenmythologie (für diesen Begriff halte ich meinen Kopf hin) meint Resorption all dessen, was der Fall ist. Und das ist die Familie.“

„Schau Heimwärts, Engel!“, 1929 erschienen, erzählt die Geschichte der Großfamilie Gant – auch Wolfe selbst hatte sieben Geschwister, stammte aus sogenannten „einfachen“ Verhältnissen, die sich jedoch gerade auf eine sensible Künstlerseele wie die seine kompliziert auswirken mussten. Die Familie – Nest und Gefängnis zu gleich. Eugene Gant alias Thomas Wolfe gelingt die Flucht. Die letzten Sätze des Debütromans:

„Doch als er nun zum letzten Mal neben den Engeln auf seines Vaters Veranda stand, schien es, als wäre der Platz schon weit entfernt und verloren; oder vielleicht sollte ich sagen, er glich einem Mann, der auf einem Hügel steht über der Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt: „Die Stadt ist nah“, sondern seine Augen emporhebt zu den in weiter Ferne aufragenden Gebirgszügen.“

„Von Zeit und Fluss“ erschien 1935. Und setzt nahtlos am Ende des Engel-Romans an: Eugene wird von Mutter und Schwester am Bahnhof verabschiedet, macht sich auf zum Studium an der Harvard University. Und damit beginnt eine lange Reise – weit weniger äußerlich, auch wenn es Eugene, den angehenden Schriftsteller in neue Kreise, ebenso zu den Underdogs wie zu den Neureichen verschlägt, auch wenn er Monate in England und Frankreich verbringt. Wichtiger ist die innere Suche, eine Suche, angetrieben von der Sehn-sucht. „Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend“ lautet der Untertitel des Romans. Eugene, ein „grüner Heinrich“ der amerikanischen Moderne, hungert nach Wissen, Bildung, Liebe, Freundschaft, Nähe. Auf 1200 Seiten schildert Wolfe diese Sinnsuche, geprägt von Enttäuschungen, Desillusionierung, Entfremdung, seelischen Blessuren. Und dennoch feiert dieses Buch die Jugend, die Suche, das Werden. Weil Wolfe selbst einer war, der in sich den Zweifel ebenso trug wie die Lebenslust und die Liebe zum Leben, wird der Irrweg zunächst belohnt, ganz am Ende des Romans, durch die Begegnung mit einer Frau. Fortan, so weiß Eugene, wird er „am Dorn der Liebe zappeln“ – auch das wird ein Weg mit Umwegen, der Leser kann es erahnen. Und dann nur noch nach diesem Lesemarathon das Buch mit leiser Trauer schließen. Trauer darum, dass die Legende nicht fortgeschrieben werden konnte.

Wen das Volumen des Romans abschreckt: „Von Zeit und Fluss“ zieht einen mit seiner Sprache, nicht zuletzt dank der kongenialen Übersetzung Wehrlis, in seinen Strom, entreißt einem beim Lesen der Zeit. Wolfe`s Sprache umfasst alle Tonarten, ohne dabei störende Brüche zu hinterlassen – sie ist nüchtern, lyrisch, pathetisch zugleich. Meike Fessmann schreibt in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung:

„Was für eine Fülle, was für eine Kraft, was für ein Überschwang! Wie ein breiter Fluss zieht dieser Roman seine Bahn. Er sammelt Episoden und Ereignisse ein, lässt die Zeit fließen, ruhig, gelassen, stark, um sie dann ganz plötzlich zu stauen. Man gleitet dahin, surft wie auf riesigen Wellen, wird von einem irren Schwung mitgenommen, obwohl dieser Roman alles andere als gefällig ist. Spürbar bleibt der Kampf mit dem in vielerlei Hinsicht autobiografischen Stoff, Thomas Wolfes Neigung zum Ausufern, die schwierige Arbeit des Eindämmens. Doch eben diese Gegenläufigkeit der beiden Bewegungen versteht er auszunutzen und formt daraus seinen eigenen Stil. Dabei bildet der Erzählfluss immer wieder furiose Strudel, die Themen schillern in allen Facetten – beinahe magisch, als stünde die Zeit für einen Augenblick einfach still.“

Ja, so ist es!

Zur Verlagsseite inklusive Leseprobe: http://www.randomhouse.de/Buch/Von-Zeit-und-Fluss-Roman/Thomas-Wolfe/e446713.rhd

Und ein ausführliches Portrait des Schriftstellers (in englischer Sprache):
http://www.nchistoricsites.org/wolfe/bio.htm

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22 comments on “Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss”

  1. Liebe Birgit, verflixt - das werde ich wohl lesen müssen 😉 Und habe schon lange nach einer Formulierung gesucht für: „Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens“ - das ist kurz und klar und wunderbar und ich freue mich sehr über dieses „Fundstück“! Besten Dank und schöne Grüße!

  2. Liebe Birgit, und wieder einmal hast du mein Interesse geweckt (denn ein uneitler Mann kann gern viel über sich selbst schreiben…) und die „Die Familie – Nest und Gefängnis zu gleich“ klingt einfach - lesenswert!
    Ganz liebe Grüße zum Wochenstart und gerade so viel Weihnachtsstimmung wie eben erträglich 😉 sendet und wünscht Dir
    Birgit

    1. Liebe Birgit, langsam kommt die Weihnachtsstimmung - ich habe gerade eben meinen Lektürewunschzettel zusammengestellt. Und da sind jede Menge Bücher von uneitlen Männern drauf. Herzliche Grüße, Birgit

  3. Liebe Birgit,
    um Thomnas Wolfe habe ich bisher immer einen Bogen gemacht, vermutlich, wegen der furchtbar vielen Seiten. Schon der Engel hat ja über 700 davon… Aber mit Deiner Besprechung hast Du mich nun ein bisschen angefeixt. Das klingt sehr spannend und wie Jutta oben so richtig schreibt, diese Formulierung „Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens“ trifft es ja wirklich kurz und knackig - und macht Lust auf den Autor. Meinst Du (letzter verzweifelter Versuch, die Seitenzahl einzudämmen), ich sollte mal mit dem Oktoberfest anfangen? Habe das gerade bei Manege entdeckt und es hat nur gute 100 Seiten, allein das Thema schreckt mich noch ein wenig…
    Liebe Grüsse
    Kai

    1. Lieber Kai,
      das Oktoberfest habe ich dagegen noch nicht gelesen. Ich kenne eine Erzählung von ihm von einer Deutschlandreise - wenn mich nicht alles täuscht, ist sie in dem Band „Reisen durchs Reich“ in der Anderen Bibliothek. Nicht schlecht. Aber ob das eine Annäherung an die beiden Romane ist? Ich glaube nicht - in meiner Erinnerung ist die Erzählung/Reportage ganz anders. Also, wenn dich die vielen Seiten nicht schrecken, würde ich schon zuerst den Engel versuchen…Liebe Grüße, Birgit

  4. Eine sehr schöne Rezension.
    Warum nicht mal 1/2 - 1 Jahr Thomas Wolfe lesen! Wir verschwenden soviel Zeit für Banales, Unwichtiges, Zweit- und Drittrangiges.
    Der Leser wird reich belohnt werden. Es wird ihn verändern. Bitte unbedingt mit „Schau heimwärts, Engel“ beginnen. Nicht erst mit kleineren Dingen verzetteln. Wenn der Leser in diesen ersten Roman eingestiegen ist, wird er nicht mehr loslassen können. Und wenn man das Buch wirklich mal für einige Wochen beiseite legt, geht das auch.
    Wie die Rezensentin oben schreibt, ein Werk von gewaltiger Schönheit, voller Leben und Erkenntnissen. So Mancher wird sich hier und dort in kleinen Beschreibungen oder Gedankengängen wiederfinden. Nach dem „Engel“ können dann „Von Zeit und Strom“ und die weiteren 2 Romane folgen.

  5. Wenn Du ein Buch beschreibst, ist es am Ende nicht mehr eckig, sondern rund durch diese ganzen spannenden Hintergrundinformationen, die die Leselust erst richtig wecken. Ich kenne Thomas Wolfe noch nicht, doch was ich eben las, gefiel mir in der poetischen Sprachgewalt sehr.
    Mal ein lieber Dank fürs Aufmerksamkeit wecken für den Mammutschreiber mit der großen Sprache. Ich mag ihn gern kennenlernen.

    Einstweilen einen herzlichen regnerischen Gruß von der Karfunkelfee

      1. Der Film hat mir gut gefallen (…aber was soll der seltsame deutsche Titel da schon wieder…).

  6. Dank dir füllt sich meine Buchliste weiterhin auf, das hier kommt jetzt an die erste Stelle, danke Birgit!
    Hab einen schönen Tag, hier kommt doch gerade tatsächlich mal die Sonne raus und nu heisst es Gummistiefel an und durch Pfützen platschen 😉
    herzlichst
    Ulli

  7. Ich beschäftige mich indirekt auch gerade mit Thomas Wolfe, d. h., ich lese gerade „Berlin 1936“ von Oliver Hilmes und Thomas Wolfe ist eine der Figuren, anhand deren Hilmes die Lage und die Stimmung in Berlin während Hitlers Olympiade rekonstruiert. Ich wusste noch gar nicht, dass er nur 2 Jahre später starb.

    1. Ah, danke für den Hinweis auf Hilmes - das Buch muss ich jetzt wohl doch noch lesen, nachdem es so gute Besprechungen gibt … aber vor allem wegen Wolfe. Außer mit einigen vereinzelten Texten habe ich mich noch zu wenig mit seinen Texten über Deutschland beschäftigt, das wollte ich schon lange nachholen …

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