„Du kannst unendlich viel, wenn du schweigen kannst, wo reden nichts fruchtet.“
Johann Caspar Lavater, „Salomo, oder Lehren der Weisheit“, 1785
Der Aphorismus ist eine eigenständige Literaturform. Kurze Sprachtexte in Prosa, ohne Erzählfiktion, meist nur ein Satz, sprachlich und sachlich zugespitzt. Zunächst wurde diese literarische Form vor allem in Frankreich gepflegt. Dort wurde sie zu einer richtigen Modegattung, der Französischen Moralistik, insbesondere durch die Maximensammlung des Herzogs Francois de La Rochefoucauld, die 1665 erschien. Obwohl diese bei den Deutschen begeistert aufgenommen wurde, dauerte es nochmals rund 100 Jahre, bis der Aphorismus auch in der deutschen Literatur gepflegt wurde. Die Gattungsgeschichte beginnt in Deutschland mit den „Sudelbüchern“ des Georg Christoph Lichtenberg, geschrieben ab 1765.Seither ist der Aphorismus nicht mehr aus der Literatur wegzudenken. Ein bekannter Aphoristiker der Neuzeit aus Deutschland ist der kirchenkritische Autor Karlheinz Deschner.
Nicht unbedingt immer eine Fundgrube für Hochliterarisches, aber aufgrund des Zwangs zur Kürze eine Plattform für Aphoristiker: Twitter.
Eine wahre Fundgrube an nachdenkenswerten, bissigen, melancholischen, aber auch ganz liebevollen Sprüchen sind die „Unfrisierten Gedanken“ des 1966 verstorbenen Polen Stanislaw Jerzy Lec. Von ihm stammt:
„Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Worten“.
„Es wird mir flau zu Mute, wenn ich bedenke, dass er am Ende doch ein Engländer ist, und dem widerwärtigsten Volke angehört, das Gott in seinem Zorne erschaffen hat. Welch ein widerwärtiges Volk, welch ein unerquickliches Land! Wie steifleinen, wie hausbacken, wie selbstsüchtig, wie eng, wie englisch!“
Heinrich Heine, „Shakespeares Mädchen und Frauen“, erstmals erschienen 1838
Ein Kleinod und Lesevergnügen ist dieses Buch für jeden, der nicht nur Shakespeare, sondern auch den scharfzüngigen HH schätzt. Man ahnt es bereits: Wenn Heinrich Heine, Shakespeare-Verehrer und Bewunderer der holden Weiblichkeit, über die Frauenfiguren des englischen Dramatikers schreibt, dann nicht nur mit viel (Lust-)Gefühl, sondern auch mit der ihm eigenen Spottlust. Schon das Vorwort nutzt der frankophile Heine, der zu dieser Zeit bereits in Paris lebte, um in einem kurzen Streifzug mit den Engländern abzurechnen und die Rezeption und Nachwirkung Shakespeares in anderen Ländern aufzuzeigen:
„Besser als die Engländer haben die Deutschen den Shakespeare begriffen. Und hier muss wieder zuerst jener teure Name genannt werden, den wir überall antreffen, wo es uns eine große Initiative galt. Gotthold Ephraim Lessingwar der erste, welcher in Deutschland seine Stimme für Shakespeare erhob. Er trug den schwersten Baustein herbei zu einem Tempel für den größten aller Dichter, und, was noch preisenswerter, er gab sich die Mühe, den Boden, worauf dieser Tempel erbaut werden sollte, von dem alten Schutte an zu reinigen.“
So wird die Galerie der Schönen, der Intrigantinnen, der Leidenden und der Holden aus Shakespeares Dramen von der Präambel an bereits weit aus mehr als ein bloßer Streifzug durch die dramatische Frauenwelt – Heine, der begnadete Feuilletonist, nimmt die Miniaturen sozusagen als journalistische „Aufhänger“, um über Kultur, insbesondere die Theaterwelt und Literatur, Politik, Soziales, Religion und viele weitere Themen zu schreiben. Insbesondere findet sich in diesem Buch, das ein wenig ein Schattendasein unter den Heine`schen Werken führte, eine treffende Analyse des Antisemitismus, selbstverständlich bei den Frauenfiguren aus dem „Kaufmann von Venedig“.
Die „Shakespeare Gallery“ wurde 1836 zunächst vom britischen Verleger Charles Heath veröffentlicht: 45 Bilder von Frauenfiguren aus Shakespeares Dramen, Stahlstiche fiktiver Cassandras, Ophelias, Cleopatras, Julias bis hin zu einer ziemlich vergrätzt schauenden und leicht übergewichtigen Lady Macbeth. Das britische Original war mit Zitaten aus den Stücken ergänzt – ein Ansatz, der eines Heines kaum würdig gewesen wäre. Dieser, wie immer in Geldnöten, nahm das Werk als Auftragsarbeit an. Für die deutsche Ausgabe, für die der Verleger Henri-Louis Delloye die Lizenz erhalten hatte, schrieb Heine 1838 innerhalb weniger Wochen ausführliche Essays zu den „dramatischen“ Frauenfiguren, die oftmals alles andere zum Inhalt haben – nur nicht die Frau. Nur jene weiblichen Gestalten aus den Komödien wurden dann auch in der deutschen Ausgabe von HH mit Zitaten aus den Shakespeare`schen Werken beglückt.
Selbst diese Schönheitsgalerie stieß bei der preußischen Zensur auf Missfallen, wie Jan-Christoph Hauschild, Autor, Germanist und Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf in seinem Nachwort zur Ausgabe 2014 schreibt.
Den Beamten missfiel, dass Heines „ungezügelte Spottlust (…) die Gegenstände seiner vielfachen Antipathien mit dem ganzen Übermut seines reichen Talentes“ geißle. „Hauptsächlich“ sei es England, das er „mit schneidendem Witz und galliger Bitterkeit“ verfolge und wozu sein „Enthusiasmus für Frankreich und Franzosentum“ den „entschiedensten Gegensatz“ bilde.
Letztendlich ging das Werk jedoch durch und war eines von den insgesamt nur vier Heine-Büchern, die in Preußen verkauft werden durften. Zum Glück. Denn nebst den außerliterarischen Streifzügen und Seitenhieben bot Heine damals schon mit seinen Schriften dem Lesepublikum einen hervorragenden Zugang zu Shakespeares Welt – das Buch verdient allein deswegen einen besseren Rang in der Shakespeare-Literatur, als es bisher innehatte. So sieht Eduard Engel in seinem Vorwort zur 1921 erschienenen Gesamtausgabe Heines nur zwei deutsche Schriftsteller, die in ihrer Shakespeare-Kenntnis von gleichem Rang seien: Heinrich Heine und Goethe.
Wie immer man im einzelnen über Heines Auffassungen Shakespeare`scher Gestalten - er spricht durchaus nicht bloß immer von den weiblichen – denken mag, der Wert seiner kleinen und größeren Abhandlungen über Shakespeares Meisterdramen kann keinem entgehen, der die Werke gründlich kennt, aber auch keinem, der einigermaßen mit der Shakespeare-Literatur vertraut ist. Und man wäge die wissenschaftliche Grundlage, worauf Heine zu jener Zeit, vor dem Erscheinen der bedeutendsten Arbeiten über Shakespeare fußen konnte.“
Die Bandbreite der Themen, die Heine anhand der Frauenportraits auffächert, kann hier in einer Inhaltsangabe kaum wiedergegeben werden. Ich halte es wie Heine selbst und übernehme den Schlüsseldienst:
„Die vorstehenden Blätter sollten nur dem lieblichen Werke als flüchtige Einleitung, als Vorgruß, dienen, wie es Brauch und üblich ist. Ich bin der Pförtner, der Euch diese Galerie aufschließt, und was Ihr bis jetzt gehört, war nur eitel Schlüsselgerassel.“
Heinrich Heines „Shakespeares Mädchen und Frauen“ wurde nun anlässlich des Jubiläumsjahres von Hoffmann und Campe wieder aufgelegt – das Buch ist auch handwerklich gut gemacht, mit den Abbildungen von 1838 versehen, im Schuber und mit Lesebändchen.
Und jedes Jahr wie jedes Jahr
zehrt und zerrt der Hunger der Toten
an dem Fleisch der Lebendigen. Löset die Knoten!
Seid wie ein Kamm im verfilzten Haar.
„Auch hinter einem älteren Bruder, der die Naziherrschaft nicht überlebt hat, bin ich hergelaufen. Yom Kippur heißt der jüdische Fasten- und Versöhnungstag. In meiner Vorstellung sind die Toten aber nicht versöhnlich, weil sie uns nicht verzeihen, dass wir sie überlebt haben.“
Ruth Klüger, „Zerreißproben“, kommentierte Gedichte, erschienen beim Paul Zsolnay Verlag 2013
Das als Schuld empfundene Überleben – Ruth Klüger trägt diese Last ihr Leben lang mit sich mit. Wie andere Brandmale, Verletzungen und Ab-Stempelungen, seelisch und körperlich. Nicht nur durch die Nummer am Handgelenk bleiben die Opfer auch Jahrzehnte nach dem Holocaust gebrandmarkt und gepeinigt: „Denn die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht“, schreibt Ruth Klüger im ersten Teil ihrer Autobiographie, „weiter leben“ (deutsche Erstausgabe: 1992, Wallstein Verlag Göttingen). Erst in ihren 60igern entschließt sich Ruth Klüger dazu, „dieses Stück Mahnmal“ entfernen zu lassen.
„Da habe ich sie dann endlich auswendig gewußt, denn vorher hatte ich immer Mühe gehabt, sie mir zu merken: A-3537. Sie war immer nur eine Hundemarke in dem Sinne, daß die eigentliche Zahlenfolge bedeutungslos war und ich sie nie als eine Einheit empfunden habe, nicht einmal wie eine Haus- und Telefonnummer, warum sollte ich sie mir dann merken? Die Ziffern waren nur auf der Haut, nicht im Kopf. Nur als Tatsache, als Phänomen, als Zeichen waren sie wichtig, aber dann so sehr, daß man sie für die Toten anbehielt. Anbehielt? Wie ein Kleidungsstück? Für die Buchhaltung in Auschwitz, wenn man diese makabren Genauigkeiten so nennen kann, war sie unnötig, denn ob markiert oder nicht, die Juden wurden vernichtet.“ („unterwegs verloren“, Paul Zsolnay Verlag, 2008).
Im Gegensatz zu den bislang hier vorgestellten Lyrikerinnen ist die Annäherung an die Person Ruth Klüger, an ihr Denken, ihre Haltung leichter. In zwei Büchern gibt sie Selbstauskunft. Einfacher macht es dies jedoch nicht. Denn Ruth Klüger verfügt über einen klaren, analytischen Verstand, der vor keiner „Zerreißprobe“ zurückschreckt, der Innerstes offen legt, auch dieses in den familiären und freundschaftlichen Bindungen. Und ihr Verstand ist nicht korrumpierbar, nicht durch Sentiment manipulierbar: Davon zeugt auch das Ende ihrer jahrzehntelangen Freundschaft zu Martin Walser, dem sie in „Tod eines Kritikers“, Walsers Marcel Reich-Ranicki Aufarbeitungsroman, „geradezu klassische Muster der Diskriminierung“ vorwirft.
„Lieber Martin, seit wir uns vor 55 Jahren kennenlernten, ist viel Wasser in den Bodensee geflossen, und nicht nur heilig-nüchternes, für Hölderlins Schwäne zum Tunken geeignetes. Damals war die große Mordwelle gerade vorbei, und Deutschland stand am Anfang der großen Gleichgültigkeitswelle. Darauf folgte die Welle des triefenden Philosemitismus. Jetzt sieht es hierzulande nach einem Rückfall aus in das, was wir Juden in der Nazizeit ironisch-wehmütig >den guten, alten Riches von 1910< nannten, nämlich die gemäßigte Judenverachtung weiter Bevölkerungsschichten aller Klassen, mit der sich (scheinbar) leben ließ. In Deiner Friedenspreisrede hast Du über eine Moralkeule gejammert, mit der Ungenannte Dich und andere Deutsche bedrohen. Jetzt spielst Du >Sieger und Besiegte<, und dabei ist Dir selber unversehens die von Dir heraufbeschworene Keule in die Hände gerutscht, aber wo, bitte, steckt denn hier die Moral?
(„unterwegs verloren“ – auch für diese Freundschaft gilt der Buchtitel, auch dies ein weiterer Verlust, denn: „Denn das Judesein ist kein Klub, aus dem man austreten kann.“Zu einer kurzen Besprechung des Buches geht es hier: “unterwegs verloren”).
Zeit wird es an dieser Stelle, die biographischen Fakten aufzureihen: Ruth Klüger wird 1931 in Wien geboren, die Eltern, „junge Menschen aus Arthur Schnitzlers Welt“, die Kindheit beinahe behütet – denn an viel kann sich Ruth Klüger später nicht erinnern aus dieser Stadt, in der sie die ersten elf Jahre verbrachte: Mit dem Judenstern an der Kleidung macht man keine Spaziergänge, schreibt sie trocken. Wien ist kalt, kinderfeindlich, „bis ins Mark judenfeindlich“. 1997 kehrt sie für einige Zeit nach Wien zurück, vor der Statue des heiligen Nepomuk kommen ihr einige Zeilen:
Am Bauernmarkt (Auszug)
Lieber Scheinheiler, mach was Fein`s:
nimm dich der jüdischen Kundschaft an,
damit ich nicht ertrinken tu am Bauernmarkt eins.
(In „Zerreißproben”).
Denn die Rückkehr nach Österreich und Deutschland – Jahrzehnte später – bleibt, trotz mancher freundschaftlicher Verbindungen immer auch von „unsichtbaren Gefahren“ geprägt. Im Alter von elf Jahren wird Ruth Klüger mit ihrer Mutter zunächst nach Theresienstadt, dann Auschwitz und Christianstadt deportiert. Der bewunderte Vater, der ältere Halbbruder – sie überleben nicht.
Mit einem Jahreszeitlicht für den Vater (Auszug)
Meine Kerze will dein Augenlid berühren,
wenn dein Aug´ sie auch nicht sehen kann.
Blinde Väter barfuß durch die Welt zu führen
steht sich leider nur für Königstöchter an.
Wind weht vom Stillen Ozean.
„Ich habe dieses Gedicht jahrelang mit mir herumgetragen und daran herumgebastelt. Ich habe es mir im Stehen und Gehen aufgesagt und es verändert. Jede Änderung war wie ein neues Hinterherlaufen (>mit kurzen Kinderschritten<). Es ist die Suche nach einem Vater – wenn man ein solches Hinterherlaufen eine Suche nennen kann -, den ich nicht gefunden habe. Wie sollte ich auch? Ich habe ihn als Achtjährige zuletzt gesehen und weiß nichts Wissenswertes über ihn. Eines habe ich allerdings im Laufe dieser Bemühungen wiederentdeckt und wiedergewonnen, nämlich die Muttersprache, mein österreichisch gefärbtes Deutsch.“ (In: “Zerreißproben“)
Mit ihrer Mutter gelangt Ruth Klüger 1947 in die USA. Sie erkämpft sich, gegen mancherlei Widerstände, auch gegen materielle Not, gegen eine beklemmende Ehe ein Studium und macht ihren Weg als Germanistin, unter anderem lehrt sie an den Universitäten von Virginia, Princeton und in Irvine/Kalifornien. 1988 nimmt sie eine Gastprofessur in Göttingen wahr. Eine Annährung mit dem Land der Täter wird schrittweise wieder möglich. Mit ihren beiden autobiographischen Büchern „weiter leben“, das von der Kindheit in Wien und der Wirklichkeit in den Konzentrationslagern erzählt, sowie „unterwegs verloren“, das die amerikanischen Jahre und die deutsche Annährung schildert, wird Ruth Klüger auch im deutschsprachigen Raum als Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin bekannt. In den beiden Büchern finden sich auch bereits Hinweise auf die Gedichte – erste schrieb sie bereits 1944 im KZ – die sie ihr Leben lang verfasste.
2013 erschienen einige Gedichte eines Lebens beim Paul Zsolnay Verlag, von der Autorin selbst kommentiert – unter dem programmatischen Titel „Zerreißproben“.
„Ich möchte Gedichte vorstellen, die etwas mit meinem Leben zu tun hatten, und sagen, was es war. Oft war es etwas, was ich verdrängen wollte und das sich nicht verdrängen ließ.“
So handelt diese Lyrik von Verlusten und Ängsten, von den Erinnerungen an das Geschehen am Heldenplatz, die Kindheit in Wien, das Geschehen in den Lagern, aber auch von den späteren Jahren, dem „Scheidungsblues“, den Gefühlen für die eigenen Kinder – Ruth Klüger hat zwei Söhne – und natürlich auch von ihrem Beruf, der ungebrochenen Liebe zur deutschen Dichtung.
Deutsche Sprache
In diesen Lauten, die ich zu verlernen
versuchte, weil die spitzen Konsonanten
das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten,
von deren Land durch Meere zu entfernen
mir auch gelang, um unter andern Sternen,
in einer andern Mundart die verbannten
noch zu begraben, die doch innen brannten,
so wie Metalle, die nicht Asche werden:
In diesen Lauten löst sich nun die schmale,
die Kinderstimme, die klug-schlau das Leiden
in Verse stülpte, wie in eine Schale
und zeigt mir mühelos zum zweiten Male
in scharfen, unbiegsamen Zackigkeiten
den Trost der klaren, offenen Vokale.
Anna Mitgutsch ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ich kannte bisher nur ihre belletristische Seite – von ihren Romanen hatte ich „Die Züchtigung“ und „Familienfest“ gelesen. Die Züchtigung ist ein Buch, das einen lange nicht loslässt. Siehe hier die aktuelle Besprechung bei den Schreibtischmetamorphosen: Rezension “Die Züchtigung”. “Familienfest” handelt von einer jüdischen Familie in den USA und das Ringen um ihre Identität. Anna Mitgutsch ist eine Schriftstellerin mit einer klaren, leisen, streckenweise auch sehr lyrischen Sprache.
Ein Stil, den offenbar auch die Wissenschaftlerin pflegt. Das ist einerseits erfreulich: Da ist keine, die dem Leser meint, die Welt erklären zu müssen. Da ist eine, der die Welt ebenso ein Rätsel bleibt, dem sie sich fragend, fast schon zögerlich annähert. Wo andere Statements abgeben, wirft Anna Mitgutsch Fragen auf: Das ist das Kennzeichnende ihres Essaybandes „Die Welt, die Rätsel bleibt“, der 2013 beim Luchterhand Literaturverlag erschienen ist. 17 Essays, in vier Kapitel gegliedert: Schriftstellerportraits, Literatur, Transzendenz, Fremdsein. Schon die letzten beiden Kapiteltitel verdeutlichen: Nichts erschließt sich der Grazerin auf den ersten Blick, die Welt ist kein offenes Buch.
Diese Qualität, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, statt Antworten vom Band zu liefern, macht die Wissenschaftlerin aus. Es macht dem Leser das Buch jedoch auch den Zugang mitunter schwer. Gerade dort, wo man eventuell konkrete Informationen erwartet, also bei den Schriftsteller-Portraits, werden so viele Fragen aufgeworfen, dass ab und an das Ziel, die Absicht des Portraits hinter den Fragen verschwindet. So in dem „nachgetragenen“, also fiktiven Brief an Sylvia Plath, der die Abgrenzung zwischen Kunst und Leben zu ergründen versucht. Übrigens ist jedem Beitrag eine Frage als Leitmotiv vorangestellt.
Anna Mitgutsch versucht also nicht, mit Sprache das Unsagbare zu benennen, aber sie unternimmt den Versuch, die Welt der Literatur, der Sprache, der Philosophie etwas zu enträtseln. Besonders stark, informativ und detailreich sind in diesem Essayband die Beiträge über jüdische Literatur und Literaten sowie der Essay „Die Grenzen der Integrität - Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen“. Allein ihre Gedanken über den umstrittenen Begriff der „inneren Emigration“ lohnen die Lektüre dieses Buches schon.
Zitat: “Der Emigrant Hans Sahl nennt die Zeit von 1933 bis 1945, die Zeit von Verfolgung und Flucht, die Zeit der Diktatur und des Zivilisationsbruchs, eine >Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur<. Wer sich mit den Biographien der Vertriebenen beschäftigt hat, mit den gewaltsam abgebrochenen Leben von Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Arthur Koestler, Stefan Zweig, Ernst Toller, Walter Hasenclever, die Flucht und Verzweiflung in den Tod trieben, wer die literarischen Zeugnisse der Entbehrungen, Erniedrigungen und Verluste der Emigranten gelesen hat, die ihre Flucht überlebten, dem erscheint es unangemessen, ja zynisch, das Wort Emigration im Zusammenhang mit jenen zu gebrauchen, die in einer entvölkerten Kulturszene plötzlich ins Zentrum rückten und ungeschoren blieben oder zu Ehren kamen, auch wenn sie beteuerten, es sei gegen ihren Willen geschehen. Es wäre aber auch frivol, alle, die ihre Heimat nicht verlassen konnten oder wollten, gleichwertig nebeneinander zu stellen, denn es gab einen literarischen Widerstand, der tödlich war, dessen Mittel mutiger und weniger verdeckt waren, so daß sie nicht nur späteren Germanisten, sondern auch der Gestapo und der Zensurbehörde auffielen. Die Lyrikerin Alma Johanna Koenig, die Schriftsteller Albrecht Haushofer und Hans Vogl mögen keine berühmten Autoren gewesen sein, aber sie büßten mit dem Leben für ihren Widerstand, der mit ihrem Werk in Einklang stand.”
Aus dem Inhalt: Essays unter anderem über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertesz, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Marlen Haushofer, Isabella Stewart Gardner, und andere.
Über die Autorin: Anna Mitgutsch wurde in Linz geboren. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis.
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 978-3-630-87418-0, € 19,99
Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir
Von all deiner Wonne; denn eben ist`s,
Daß ich gelauscht, wie, goldner Töne
Voll, der entzückende Sonnenjüngling
Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt´;
Es tönten rings die Wälder und Hügel nach.
Doch fern ist er zu frommen Völkern,
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.
Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)
Friedrich Hölderlin – so sprachgewaltig er ist, so wenig selbsterklärend ist er auch.
Etwas literaturwissenschaftliche Unterstützung zum Gedicht findet sich hier:
„Was hier als zweistrophige Ode vorliegt, ist das Ergebnis einer vom Autor selbst vorgenommenen Kürzung eines in vier Strophen geschriebenen Gedichtes. Diese Kürzung entspricht einer gewissen Resignation, denn nun ist nur noch vom „Sonnenuntergang“ die Rede: Das Gedicht ist dabei zwar auch Naturgedicht, vor allem aber Ausdruck eines Verlustes, einer Entbehrung.
Der „entzückende Sonnenjüngling“, als Erscheinung des Sonnengottes, hat im Abschied von der Erde diese zwar noch mit „goldenen Tönen“ versehen (eine poetische Deutung des Abendrotes). Nun aber hat er die Erde verlassen – und das Naturgedicht gewinnt hier symbolische Bedeutung, denn es steht nun die Nacht bevor, mit der auch die Abwesenheit des Gottes droht.
Das lyrische Ich versucht in seiner „trunkenen“ Seele noch die Erinnerung zu bewahren – und dies ist bei Hölderlin die eigentliche Aufgabe des Dichters. Aber von der „Wonne“ und Anwesenheit der Götter kann nur als vergangen gesprochen werden, denn eine Hoffnung auf Wiederkehr besteht nicht mehr.
Hatte die frühere Fassung mit dem Titel „Dem Sonnengott“ noch mit der Erwartung seiner Wiederkehr – im Naturbild gesprochen: des anderen Tages – geschlossen, so bleibt in der Kurzfassung nur noch das Bedauern.
Hölderlins Gedicht beschreibt nicht einfach einen Sonnenuntergang, sondern es stellt den Verlust der Götter vor Augen, prophezeit gleichsam eine ewige Nacht. Andere Völker mögen noch fromm sein und an die Götter oder die Natur glauben – die Kurzode ist, gerade aufgrund ihrer Kürzung, ein Aufschrei in einer dunkel gewordenen Welt.
Hölderlin hatte die längere Fassung Mitte 1798 an Schiller gesandt, erschienen ist aber dann erst die Kurzfassung im „Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung auf das Jahr 1800“. Hölderlin ist damals aber von den wenigsten verstanden oder gar anerkannt worden. Nachdem er sich mehr und mehr in den Wahnsinn als eine Art innere Emigration zurückgezogen hatte (er lebte von 1806 bis zu seinem Tod im noch heute erhaltenen Tübinger Turm am Neckar), lasen ihn die Romantiker, aber seine wirkliche Entdeckung erfolgte erst Anfang des 20. Jahrhunderts.“
Quelle:
Professor Mathias Mayer, Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg, erschienen in der Serie „100 große Gedichte“, Augsburger Allgemeine, 20. August 2013.