Joseph Roth im Kino - Verflixte Gastfreundschaft. Preview mit Buster Keaton.

Our Hospitality (Verflixte Gastfreundschaft bzw. Bei mir Niagara). Angaben zum Film: http://de.wikipedia.org/wiki/Verflixte_Gastfreundschaft

“Bei mir - Niagara” ist der geschmacklose Ha-Ha-Ha-witzige Titel eines amerikanischen Meisterfilms mit Buster Keaton (Der Titel ist nicht amerikanisch). Der Film spielt in der “guten alten Zeit”, der man in Amerika so wenig nachtrauert, dass man sie sogar verspottet. Wer diesen Film sieht, sehnt sich bestimmt nicht mehr in eine Zeit zurück, deren Gemütlichkeit grotesk ist, deren gesellschaftliche Vorurteile barbarisch sind. Es ist ein großes Meisterstück, nicht eine Zeit zu verhöhnen, sondern eine Sentimentalität auszurotten. Das war Sinn und Zweck dieses Films. Nirgends ward ich mir so der Wahrheit bewußt, daß Lächerlichkeit tötet. In diesem Film bricht der neue Mensch endgültig mit der Romantik seiner Vorfahren-Zeit. So ist dieser Film beinahe eine historische Etappe. Wäre er eine geschriebene Satire, er (beziehungsweise sie) käme in die Literaturgeschichte. Eine Filmgeschichte haben wir noch nicht.

Joseph Roth in “Filme. Zwei deutscher und ein amerikanischer.”, erschienen in der Frankfurter Zeitung, 8. Februar 1925

Ganz frisch erschienen ist beim Wallstein Verlag, der in mehreren Büchern die journalistischen Texte und Essays von Joseph Roth neu herausbringt, der Titel “Drei Sensationen und zwei Katastrophen”. Darin versammelt sind die Feuilletons zur Welt des Kinos, zu dem Joseph Roth durchaus ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Entsprechend giftig, bissig und zuweilen hintergründig sind seine Zeitungsbeiträge, insbesondere wenn es sich um Schmonzetten des deutschen Kinos handelt. Als “Sneak Preview” auf das Buch, zu dem sicher noch eine eingehende Besprechung hier folgt, zunächst diese 1925 erschienene Lobeshymne auf Buster Keatons Film “Our Hospitality”, der inzwischen unter dem deutschen Titel “Verflixte Gastfreundschaft” bekannt ist. Der Ha-Ha-Ha-witzige Titel “Bei mir Niagara” hat offenbar nicht nur bei Joseph Roth Missfallen erregt.

Auch dieses Buch aus dem Wallstein Verlag überzeugt durch seine sorgfältige Edition. Die beiden Herausgeber Rainer-Joachim Siegel und Helmut Peschina haben für ein fachkundiges Nachwort und ein umfangreiches Quellenverzeichnis mit vielen weiteren Informationen gesorgt. Zu den Verlagsinformationen geht es hier lang: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313828-joseph-roth-drei-sensationen-und-zwei-katastrophen.html

In der Zeitung “Das Illustrierte Blatt” - so im Anhang des Buches zu lesen - schrieb Joseh Roth 1926 in seinem Artikel “Die Spaßmacher der Welt”:
“Zwischen ihm (Charlie Chaplin) und Harold Lloyd steht der traurigste Clown: Buster Keaton. Er siegt am Schluß, aber es fällt ihm schwer. Er ist niemals ein Frohlockender. Er kennt keinen Triumph. Fast ist ihm in der Niederlage wohl. Wenn er gewinnt, vergisst er nicht die Relativität des Gewinns.”

Wie treffend! Und deshalb hier zu meinem Favoriten unter den stummen Helden “Our Hospitality” in voller Länge:

Joseph Roth: April. Die Geschichte einer Liebe (1925).

„Manchmal wusste ich, dass Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen, deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich, jedesmal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum Versiegen. Ich liebte Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wusste nicht, wieviel ihr verlorenging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jede andere Sehnsucht ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und pflegte.“

Die erste der Erzählungen Joseph Roths, die herausragt aus den frühen Vorversuchen, ist für mich „April. Die Geschichte einer Liebe“, veröffentlicht 1925. Schon zuvor hatte Roth über Frauen geschrieben – einsame Frauen, alleinstehende Frauen, verlassene Frauen, Geliebte, Witwen, Mütter. Doch „April“, dieser einerseits zarten, poetischen Erzählung, andererseits aber auch desillusionierenden Liebesgeschichte, ist das Bild auf „die Frau“, aber auch auf die Zeitläufte erstmals befreit von jugendlicher Rührseligkeit. Roth spielt in dieser Erzählung stilistisch auf einer Klaviatur poetischer Bilder, neusachlicher Flapsigkeit und expressionistischem Ausdruck – geprägt zwar auch von den literarischen Stilen seiner Zeit, ließ er sich dennoch nicht festlegen, zeigt vielmehr an dieser Erzählung, wie groß die Bandbreite seines Talentes ist.

Fast schon müßig zu betonen, dass die Liebe – beziehungsweise die Lieben - unglücklich verläuft in diesem „Intermezzo“.

Der Erzähler kommt in eine kleine Stadt, verliebt sich zunächst in Anna, Mutter eines unehelichen Kindes und dann in eine unbekannte Schöne, die am Fenster sitzt. Anna erzählt ihm, die Unbekannte sei todkrank. Der Erzähler beschließt, wieder abzureisen – am Bahnhof sieht er ein letztes Mal die scheinbar kranke Schöne, sie, das blühende Leben ist offensichtlich mit einem Mann verlobt, den er verabscheut. So oder so – die Liebe zu beiden Frauen wird durchlebt im rasenden Tempo, wird stark empfunden, bleibt aber doch nur ein Spiel auf Zeit.

Dies ist der äußere Rahmen, den Roth jedoch auch nutzt, um eine ganze kleine Stadt, eine kleine Welt lebendig werden zu lassen. Mit wenigen Strichen zeichnet er Miniaturen, lässt Typen und Charaktere auferstehen: Den windigen Kellner Ignaz, der lieber Politiker wäre, den würdigen Postdirektor, den vom Ehrgeiz zerfressenen Eisenbahnassistenten, der auch bei der Liebe (die er nicht empfinden kann) die rote Eisenbahnassistentenmütze im Blick behält. Der Erzähler ist ein assoziierender Flaneur:

„Ich pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie wachsen.“

Vor allem ist „April“ jedoch auch die Geschichte einer Liebe zu einer mystifizierten Unbekannten: In Gegensatz zu der Kleinstadt, in der sich der Erzähler nur auf Durchreise befindet, steht das glitzernde, schillernde New York.

„Manchmal träumte ich von einer großen Stadt, es war vielleicht New York. Ich atmete das Rasseltempo ihres Lebens, ihre Straßen rannten groß, breit, unaufhaltsam, mit Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfaßsäulen, ich weiß nicht, wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts stand. Große Fabriken qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen Pausen hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu hören. Es war eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt gewordenen, ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren. Diese Musik aber reizte auf. Es war nur häßlicher, nicht falscher Rhythmus.“

Der Erzähler fühlt sich am Ende von diesem Rhythmus mitgezogen – er steigt in den Zug, lässt alles hinter sich, denn:

„Das Leben ist sehr wichtig!“ lachte ich. „Sehr wichtig!“ und fuhr nach New York.

Joseph Roth, oftmals als Mystiker und Mythomane bezeichnet, greift hier den Mythos der Großstadt, der vor allem durch die expressionistische Literatur geisterte, auf. Anklänge von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Dos Passos „Manhattan Transfer“, das wie „April“ 1925 erschien, sind zu spüren in dieser Erzählung. Synkopisch im Duktus, eine „Sinfonie der Großstadt“.

Für Roth, den in Galizien geborenen Juden, hat New York jedoch noch eine weitere Bedeutung, die über den Mythos der großstädtischen Moderne hinausgeht. Die Vereinigten Staaten waren vor allem für die verarmte jüdische Landbevölkerung aus Südosteuropa ein Fluchtpunkt, ein gelobtes Land, die Auswanderungswelle war enorm. Joseph Roth greift dieses Thema in seiner journalistischen Arbeit auf, unter anderem in seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“.

Dieser 1927 veröffentlichte Aufsatz erschien 2012 in einer illustrierten Buchausgabe – siehe hier die Besprechung bei „Glanz&Elend“.

Eine ähnliche journalistische Arbeit findet sich auch im Werk der französischen Reporterlegende Albert Londres.

Ein weiteres Buch zum Thema: Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht, Roberta Maierhofer, Andrea Strutz (Hrsg.): “Nach Amerika nämlich! Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert”, Wallstein Verlag.

„April. Die Geschichte einer Liebe“ kann beim Projekt Gutenberg gelesen werden.

Joseph Roth: Kranke Menschheit (1919).

“Kopf? Eine heikle Angelegenheit. Je schiefer ein Kopf sitzt, desto fester ist sein Träger überzeugt, dass alle anderen Köpfe schief sind und er seinen eigenen hoch und gerade trägt.”

Quelle: “Kranke Menschheit”, undatierte Erzählung, in: “Joseph Roth - Die Erzählungen”, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2008.

Diese frühe Erzählung, vermutlich um 1919 entstanden, entwickelt in wenigen Zügen die Geschichte eines Mannes in der Aufnahmestation einer Nervenheilanstalt.
In Rückblenden wird nur wenig Skizzenhaftes über diesen Heinrich Reinegg angedeutet - offensichtlich ein Mensch, der vom Krieg und den damit zusammenhängenden Erlebnissen schwer traumatisiert ist. Zunächst erscheint Reinegg wie ein Spaziergänger, ein zufälliger Besucher in der Klinik. Auch im Wartezimmer verwischen sich die Grenzen zwischen “drinnen” und “draußen”, lässt Roth den Leser zeitweise im Unklaren: Werden die Patienten wegen körperlicher Gebrechen behandelt oder hat ihre Seele gelitten? Und was ist unter “Normalität” zu verstehen? Was bedeutet Menschsein und wo gehört man hin? Für Heinrich Reinegg klärt sich diese Frage - scheinbar - mit der Aufnahme in die Klinik, der letzte Satz der Erzählung lautet:

“Es ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort, wohin ich gehöre.”

Joseph Roth selbst musste sich in seinem Leben gezwungenermaßen immer wieder mit diesen Fragen nach der “Normalität” auseinandersetzen. So war sein Vater psychisch erkrankt, seine Ehefrau Friederike Reichler litt an Schizophrenie (sie wurde 1940 Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms) und Roth selbst war ein schwerer Trinker, eine Erkrankung, die heute in einer psychiatrischen Klinik behandelt würde. Auch seine Lebensumstände - immer wieder entwurzelt und heimatlos, ständig in materieller Not - trugen nicht zu seiner seelischen Beständigkeit bei.

Joseph Roth: Hotel Savoy (1924).

„Mir gefiel dieses Hotel nicht mehr: die Waschküche nicht, an der die Menschen erstickten, der grausam wohlwollende Liftknabe nicht, die drei Stockwerke Gefangener. Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drinnen in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen.“
Joseph Roth, „Hotel Savoy“, 1924

Das Hotel als Mikrokosmos, in dem eine ganze Welt sich einfindet: Dies ist als Motiv in der Literatur nicht unbekannt. In diesem schmalen Frühwerk von Joseph Roth wird das Hotel jedoch sogar zum Sinnbild einer ganzen Epoche – als Schauplatz des Auseinanderklaffens der Klassen, als Ort der Verlorenheit der Kriegsheimkehrer, als Ausgangspunkt einer Revolution.

Das Hotel Savoy, gleichsam das Europa der Zwischenkriegszeit. Ein Ort, der alles ermöglicht:

„Mit einem Hemd konnte man im Hotel Savoy anlangen und es verlassen als Gebieter von zwanzig Koffern.“ Oder als toter Mann: „Viele Heimkehrer hat der Tod im Hotel Savoy erreicht. Er hatte ihnen sechs Jahre lang nachgestellt, im Krieg und in der Gefangenschaft – wem der Tod nachstellt, den trifft er auch.“

Die Handlung dieses Romans ist schnell erzählt. Roth hat das Geschehen im polnischen Lodz angesiedelt, man schreibt das Jahr 1919. Der Kriegsheimkehrer Dan sehnt sich nach einem Ort der Ruhe:

„Zum ersten Mal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens erscheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braungetäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehorchen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen.“

Solcher Luxus bleibt dem ehemaligen Soldaten, der einst davon träumte, Schriftsteller zu werden, jedoch versagt. Er kommt dort im Savoy unter – jedoch dort, wo die Armen hausen, dahinvegetieren, sterben: In den oberen Stockwerken. Oben sie – unten die: Die Reichen, die Industriellen, die Kapitalisten, die in der Bar Schampus süffeln und nackte Mädchen tanzen lassen.

„Das Hotel Savoy“, sagt Zwonimir zu den Heimkehrern, „Ist ein reicher Palast und ein Gefängnis. Unten wohnen in schönen, weiten Zimmern die Reichen, die Freunde Neuners, des Fabrikanten, und oben die armen Hunde, die ihre Zimmer nicht bezahlen können und Ignatz die Koffer verpfänden. Den Besitzer des Hotels, er ist ein Grieche, kennt niemand, auch wir beide nicht, und wir sind doch gescheite Kerle. Wir haben alle schon lange Jahre nicht in so schönen, weichen Betten gelegen wie die Herrschaften im Parterre des Hotel Savoy. Wir haben alle schon lange nicht so schöne, nackte Mädchen gesehn wie die Herren unten in der Bar des Hotels Savoy.“

Die Hoffnungen der Arbeiter, der Kriegsversehrten, der verarmten jüdischen Bevölkerung richten sich vor allem auf die Ankunft eines der ihren, der in den USA sein Glück machte: Henry Bloomfield. Dan, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird, wird dessen Sekretär – ein Mittler zwischen den Welten, der ebenso voller Mitgefühl von dem Los der Entwurzelten und Verarmten zu erzählen vermag wie von der Befindlichkeit eines Bloomfields, der in der Heimatstadt zu einer Art „Heilsbringer“ erkoren wird. Eine Rolle, vor der dieser letztlich flüchtet. Nach dessen Abreise entlädt sich der Zorn, die Gewalt: Im „Hotel Savoy“ bricht eine Revolution aus, das Gebäude liegt am Ende in Trümmern. Und Dan reist ab – ohne Perspektive, ohne konkretes Ziel.

Der Roman erschien zunächst 1924 in der Frankfurter Zeitung als Fortsetzung und löste ein großes Echo aus: So präzise, so ironisch hatte Roth in diesem Buch den Untergang einer Epoche beschrieben, so sehr traf er mit diesem Werk, das auch als Fabel gelten könnte, den Geist seiner Zeit. Es ist die Zeit der Entwurzelung, der Verunsicherung, der Heimatlosigkeit. Die Wunden des ersten Krieges bluten noch und werden zur nächsten Katastrophe führen.

Hellsichtig schreibt Roth:
„Es sah aus, als wollte ein neuer Krieg ausbrechen. So wiederholt sich alles: Der Rauch steigt wieder aus den Schornsteinen der Baracken, Kartoffelschalen liegen vor den Türen, Fruchtkerne und faule Kirschen – und Wäsche flattert auf ausgespannten Schnüren. Es wurde unheimlich in der Stadt.“

Insbesondere die Schicksale und Empfindungen der Kriegsheimkehrer schildert Roth eindringlich und eindrucksvoll – er selbst war zunächst zwar als kriegsuntauglich eingestuft worden und vertrat zudem eine pazifistische Haltung, meldete sich jedoch zum Militärdienst 1916 auch aus Gewissensbissen heraus – zu viele andere Weggenossen aus dem Literaturstudium in Wien hatten sich schon zuvor zur Front gemeldet.

„Es ist wieder die Zeit der Heimkehrer. (…) Der Staub zerwanderter Jahre liegt auf ihren Stiefeln, auf ihren Gesichtern. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Stöcke plump und abgegriffen. Sie kommen immer denselben Weg, sie fahren nicht mit der Eisenbahn, sie wandern. Jahrelang mögen sie so gewandert sein, ehe sie hier ankamen. Sie wissen von fremden Ländern und fremden Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift.“

Mit starken Bildern, präziser Sprache, melancholisch, aber unsentimental entwirft Roth auf den wenigen Seiten dieses Romans ein ganzes Bild seiner Epoche, ein Weltbild. Dies macht das Werk unbedingt empfehlenswert.

„Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen. Im Felde nicht, wenn wir, von einem unverstandenen Willen getrieben, fremde Männer totmachten, und in der Etappe nicht, wenn wir alle, nach dem Befehl eines bösen Menschen, gleichmäßig Beine und Arme streckten.“

Die Kriegserfahrungen wurden für den 1894 in Ostgalizien geborenen Joseph Roth zu einem einschneidenden Erlebnis. Dies und der Untergang der alten Zeit, der Zerfall Österreich-Ungarns wurden Themen, die der Schriftsteller und Journalist immer wieder aufgriff. Roth erlangte schließlich mit den Romanen HiobundRadetzkymarsch hohe Bekanntheit. 1933 musste der jüdische Schriftsteller nach Frankreich emigrieren, er starb, verarmt und an den Folgen seiner jahrelangen Alkoholerkrankung leidend, in Paris am 27. Mai 1939.

„Hotel Savoy“ gibt es als gebundene Sonderausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-03669-5, 128 Seiten, 10,00 Euro
und als dtv-Taschenbuch, ISBN: 978-3-423-13060-8, 128 Seiten, 7,90 Euro.

Weitere Romane aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen:
Alfred Döblin, “Berlin Alexanderplatz”
Georg Fink, “Mich hungert”
Erich Maria Remarque: “Im Westen nichts Neues”

Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt (1995).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

Jetzt ist es wieder soweit. Was mussten wir nicht alles ertragen an katastrophalen Reiseerlebnissen unserer Freunde und Verwandten und natürlich deren fotografische Zeugnisse von übervollen Stränden und Berge, Berge, Berge…  Doch es waren nicht die schlimmsten Reisen der Welt. Denn mit dem, was Hans Magnus Enzensberger  in “Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt” darbietet, kann das kaum mithalten. Dieses Buch ist eine gedruckte Medizin gegen Reisefieber und hinterläßt beim Leser die Erkenntnis, daß die Vorstellung einer Reise oft schöner ist als die Reise selber.

HME sieht im Massentourismus eine besonders perfide Form des  Kreuzzugs und will mit diesem Buch nur eines erreichen, und dieses sagt er deutlich: “Abschreckung”. Und was gibt es Schöneres für einen Reisemuffel wie mich, als sich seiner Empfehlung vorbehaltlos anzuschließen, sich im Sessel zurückzulehnen und in den Schreckenberichten zu schmökern. Diese Horrorstücke aus aller Welt haben jedoch mit dem zeitgenössischen Fernreisebetrieb wenig zu tun und sind eher Beispiele für einen ausgeprägten Individualtourismus.

35 dramatische, bizarre und mitunter komische Reportagen hat HME zusammengetragen. Seine literarisch Reisenden sind nicht etwa Amateure, sondern die absoluten Profis. Kapuscinski, Theroux, Chatwin, Bouvier. Die legten binnen eines Monats mehr Kilometer zurück als wir in anderthalb Leben. Und schlingerten von einer Katastrophe zur nächsten. Was ist diesen “Reisemasochisten” nicht alles widerfahren: Der Schriftsteller Evelyn Waugh schipperte 1931 in teuflischen Unwettern mit dem Schaufelraddampfer den malariaverseuchten Kongo hinauf, Bruce Chatwin entrann mit Mühen den Wirren eines Militärputsches im westafrikanischen Benin und der polnische Autor Ryszard Kapuscinski wäre 1991 im sibirischen Workuta fast erfroren, als er sich bei -35 Grad mitten in der gottverlassenen Stadt verirrte.

Man lese nur einmal den Bericht von Evelyn Hall vom Versuch, den “Mexikanischen Adler”, einen Nachtzug, zu erreichen. Einmal abgesehen vom trüben Nieselregen, der gemeiner als jeder ehrliche Wolkenbruch Gepäck und Kleidung durchtränkt, gehen dem Reisenden die mexikanischen Beamten an die Nieren, die ihn durch den Regen von einem Bahnsteigende ans andere hetzen, weil er vor Besteigen des Zuges eine unauffindbare Zollstation passieren muß. Oder Alfred Döblin in Krakau! Was kann es Schlimmeres für einen Dichter geben, als von “inferioren” Elementen, wie er sich ausdrückt, um ein Trinkgeld gebeten zu werden, also für etwas zu bezahlen, das er niemals bekommen hat. Reisen bildet, heißt es. Döblin und andere variieren diese Erkenntnis zu einem bisweilen bitteren “Reisen kostet”.

Der Reiseleiter Enzensberger hat zwischen diese Erlebnisberichte philosophische Fundsachen und Reisereflexionen gestreut, die zum Nachdenken über Sinn und Unsinn des Reisens anregen. Wie auch immer, die stattliche Sammlung erbitterter Reisegegner unterhält prächtig und ließ mich an Ringelnatz und dessen Touristenpaar denken: “Es waren einmal zwei Ameisen, die wollten nach Australien reisen. Doch in Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh. Und so verzichteten sie weise, auf den restlichen Teil der Reise.”

Das Buch gibt es seit dem Frühjahr 2014 auch als rororo-Taschenbuch – und der schwungvollen Verlagsvorschau merkt man an, dass es dort wohl auch den Texter begeisterte:

„Endlich mal ein anderes Urlaubsbuch: defätistisch, finster – und von der ersten bis zur letzten Seite wunderbar unterhaltsam! Statt schneeweißem Strand, wildem Sex und ewiger Sonne erleben die Protagonisten dieser Reisen endlose Plackerei, fürchterliche Unterkünfte und grausames Wetter – und Hunger, üble Langeweile und Todesgefahr statt Friede, Freude, Eierkuchen. Wie alle Horrorgeschichten haben auch solche vom Reisen einen perversen Reiz. Diese großartige Anthologie bietet Abenteuer auf allen Kontinenten, von Urumtschi bis Huehuetenango, von Frankfurt bis Petuschki und Katmandu bis Kompong Som. Und welch erlesene Autorenschar: Bruce Chatwin, George Orwell, Rolf D. Brinkmann, Joseph Roth, Alfred Döblin, Liam O’Flaherty, Ryszard Kapuscinski, V.S. Naipaul, Paul Nizan, Evelyn Waugh u.v.m.!

«Alles Unglück des Menschen kommt nur von daher, dass sie es nämlich nicht verstehen, allein in einem Zimmer zu bleiben»: Das wusste schon Blaise Pascal vor dreihundert Jahren. Viele der Reisenden, denen wir hier begegnen, wären wohl wirklich lieber zu Hause geblieben, allein in ihrem Zimmer, anstatt das erleben zu müssen, was ihnen in der Fremde zustieß. Etwa George Orwell 1931 in Paris («Schlucht von hohen, leprösen Häusern»), Rolf Dieter Brinkmann 1972 in Rom («eine Toten-Stadt: vollgestopft mit Särgen und Zerfall und Gräbern») oder Joseph Roth 1925 in Vienne, der vielleicht ältesten Stadt Frankreichs (und nicht zu verwechseln mit Vienna, Wien).“

Hier findet sich eine Leseprobe: Nie wieder!

Robert Seethaler: Der Trafikant (2012).

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„Franz` sexuelle Erlösung bedeutete nicht gleichzeitig eine Besserung seines Gesamtzustandes. Das Feuer, das jetzt zwischen seinen Schenkeln entzündet war, brannte lichterloh und würde nie mehr zu löschen sein, so viel war ihm klar. Dabei – und auch das war ihm auf schmerzhafte Weise bewusst geworden – gab es noch so viel zu lernen. Zu kurz war diese eine Nacht gewesen, selbst ein komplettes Leben schien nicht auszureichen, um das Mysterium Frau in seiner ganzen schrecklichen Schönheit begreifen zu können. An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns, hatte der Professor gesagt. Das wird schon so sein, dachte Franz, aber dann ist es halt so.“

Robert Seethaler, „Der Trafikant”,  Kein & Aber Verlag.

Auch wenn hiermit schon das melancholische Ende verraten wird – ja, der Franz, er zerschellt, jedoch nicht nur an den Klippen des Weiblichen. Vielmehr wird er im Strom der Zeit weggerissen, zermalmt – aber nicht ohne vorher noch ein paar ganz bemerkenswerte Schritte zu tun, Entwicklungsschritte für sich, seine Männlichkeit, aber auch für die Menschheit im Allgemeinen und die Wiener im Besonderen.
Der Franz – er ist mein heimlicher, kleiner literarischer Held der letzten Lesemonate. Anfangs möchte man den Buben aus der österreichischen Provinz am liebsten adoptieren und bemuttern – wenn er denn nicht schon eine ganz patente Mutter hätte. Der Tod des mütterlichen Liebhabers zwingt den 17jährigen von der heimischen Schürze und dem Salzkammergut hinaus in die große Stadt. Wien kurz vor dem Anschluss – die Gemütlichkeit geht langsam flöten, man meint den preußischen Stechschritt der lederbestiefelten Nazis schon auf den Straßen zu hören.

Da steht der Franz anno 1937 in Wien - ein bisschen tapsig, ein bisschen neben der Spur, aber gut aufgehoben bei einem anarchistisch angehauchten, einbeinigen Trafikanten. Die Trafik: Neben dem Kaffeehaus geistige Heimat belesener und rauchender Wiener. Der Trafikant: Ratgeber in politischen Fragen, Philosoph und kleiner Geschäftsmann.

„Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles und jedes, und da sei  es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt zugrunde gerichtet.“

Ähnlich wenig Optimistisches äußert Trafikant Trsnjek auch zu Liebesabenteuern – dafür findet Franz einen zweiten großväterlichen Freund und Ratgeber in der Nachbarschaft: Den jüdischen „Deppendoktor“ Sigmund.

„Also gut“, sagte Freud. „Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal die Begrifflichkeiten klären. Ich vermute, wenn wir von deiner Liebe sprechen, meinen wir in Wahrheit deine Libido.“

„Meine was?“

„Deine Libido. Das ist die Kraft, die Menschen ab einem gewissen Alter antreibt. Sie schafft ebenso viel Freude wie Leid und hat, etwas vereinfacht gesprochen, bei Männern ihren Sitz in der Hose.“

„Auch bei Ihnen?“

„Meine Libido ist längst überwunden“, seufzte der Professor.

Dumm nur, dass Franzens Libido ihn zu einem beehmischen Meedel der berechnenderen Sorte treibt – die mag den Jungen zwar, aber muss eben auch schauen, wo sie in diesen unsicheren Zeiten bleibt. Und als Tänzerin in einem Varieté ist die richtige Auswahl aus überlebenstaktischen Gründen leicht zu treffen.Franz ist es jedenfalls nicht. Geplagt also von Liebeskummer und Libido erlebt der zunächst politisch unbeleckte Landbub mit, wie rund um ihn alles zusammenbricht: Menschen, auch der einbeinige kriegsversehrte Otto, verschwinden und sterben in den Kellern der Gestapo, Juden und politisch Andersdenkende werden verfolgt und ermordet und der hochbetagte Freud muss sich in das Exil retten.

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Juden müssen in Wien-Erdberg Gehsteig reiben. vermutlich in der Hagenmüllergasse. Aufgenommen im März 1938. aus “Hans Petschar; Anschluss - Eine Bildchronologie” © Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H.

„Herr Professor, ich glaube, ich bin ein riesengroßer Depp“, sagte Franz nach ein paar Augenblicken angestrengt nachdenklichen Schweigens. „Ein von hinten bis vorne verblödeter oberösterreichischer Schafsschädel.“

„Gratuliere, die Einsicht ist die Hebamme der Besserung!“

„Ich habe mich nämlich gerade gefragt, was meine kleinen, dummen Sorgen überhaupt für eine Berechtigung haben neben diesen ganzen verrückten Weltgeschehnissen.“

„Ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Erstens sind Sorgen in Bezug auf Frauen zwar meistens dumm, aber selten klein. Und zweitens könnte man die Frage auch andersrum stellen: Was hat dieses ganze verrückte Weltgeschehen überhaupt für eine Berechtigung neben deinen Sorgen?“

Sorge dich nicht, lebe – vielleicht will Freud dies seinem jungen Freund mitteilen, denn er selbst sieht den ganzen Irrsinn klar heranziehen: ein Weltgeschehen wie „ein Tumor, ein Geschwür, eine schwärende, stinkende Pestbeule, die bald platzen und ihren ekeligen Inhalt über die gesamte westliche Zivilisation entleeren wird.“

Gerade humorig sind sie nicht gestimmt, die Herrschaften in Robert Seethalers Roman. Die Geschichte ist traurig. Und die Zeiten sind schwer. Und trotzdem durchhaucht dieses Buch eine wundersame Leichtigkeit des Stils, die angesichts der sich zuspitzenden Dramatik keine Schwere, sondern allenfalls eine bittersüße Melancholie hervorruft.

Seethaler – Jahrgang 1966! – schreibt, als sei er selbst als junger Zuhörer neben Stefan Zweig, Arthur Schnitzler oder auch Joseph Roth bei einem großen Braunen oder einer Melange im Kaffeehaus gesessen und habe deren Sprache erlauscht. Mit leisen Tönen wird eine traurige Geschichte von schweren Zeiten erzählt.
Seethaler verfügt über eine Sprache, die mich wiederum verführt hat, so ungewöhnlich viele Zitate in diese Besprechung einzustreuen. Eine Inhaltsangabe gäbe diesen besonderen „Sound“, diese Sprachmelodie nicht nur nicht wieder, sondern würde sogar in die Irre führen: Denn das Stück endet tragisch, der Weg dorthin ist es aber nicht. Man meint, dem Buch zuweilen anzuhören, zwischen welchen Polen es pendelt – ein bisschen Walzertakt, ein wenig Wienerwald, Marschmusik, gemütliches Wienerisch und im Hintergrund das Radio, aus dem plärrend die hysterische Stimme des Anstreichers dringt. Der Roman hat den Sound der Wiener Heldenplatz-Zeit.

Franz jedenfalls wird vom Weltgeschehen aufgerüttelt und zu einer ganz eigenen Rebellion gegen die nationalsozialistischen Verbrecher motiviert. Die Rebellion gestaltet sich explizit freudianisch und endet mit einem großen Fanal. Im engeren Sinne ist es ein Entwicklungsroman: Ein junger Mensch, der nach Orientierung sucht. Der erfährt, dass das Leben mit den Jahren nicht unbedingt leichter, sondern komplizierter wird. Der aber auch von Haus aus so viel Substanz und Anstand mitbringt, dass er den Anfechtungen widersteht. Und sich für das Richtige entscheidet. Ein kleiner Held in schlimmen Jahren.

Die Geschichte von Franzens` Nacht-Träumen ist ein ganz herrlicher Einfall von Robert Seethaler: Ein Mensch nutzt seine wirren unbewussten Traumgesichter zu einer  versponnen, kleinen Geste des Widerstands. Wunderbar. Ich kann nur empfehlen: Selber lesen! Und träumen!