Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902 (1928).

„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“

Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“, 1928, wiederaufgelegt und herausgegeben von Christian Klein im Wallstein Verlag, 2014.

Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romane von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ (Besprechung siehe hier) die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.

Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen - dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“ (Besprechung siehe hier), der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:

„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”

Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Sozialismus und die Furcht davor, die konservativ-kaisertreue Klasse, die – bereits am Ende – ihr Heil auch im Krieg sieht und sucht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist:La guerre, ce sont nos parents.

„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.

Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:

„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“

Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“:
„Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges.
Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“

So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.

Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:

„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“

Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird. Eine ausführliche Biographie, geschrieben von Carsten Tergast, ist online hier zu finden: http://blog.zvab.com/2008/04/28/ernst-glaeser-gefeiert-verfemt-vergessen-zur-karriere-eines-deutschen-schriftstellers/

Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“:
“Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“

Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.

Zur Seite des Wallstein Verlags zum Roman: http://www.wallstein-verlag.de/9783835313361-ernst-glaeser-jahrgang-1902.html
Eine weitere Besprechung gibt es bei den Literaturen: http://literatourismus.net/2014/01/ernst-glaeser-jahrgang-1902/
In der Zeit wurden die Romane Ernst Glaesers und Georg Finks zusammen rezensiert: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jugend-erster-weltkrieg

#VerschämteLektüren (4): Susanne Haun und die Schwarte

Endlich, endlich, endlich - ein Bekenntnis zur Historienschinkenromanschwarte.
Mal im Ernst und Butter bei die Buchfische: Frage ich beispielsweise in meinem Bekanntenkreis, dann will keiner was gewußt haben. Ken Follett? Nie gehört. Der Medicus? Ja, igitt. Sinuhe, der Ägypter? Was ist denn das? Diana Gabaldon? Bleib mir weg damit!
ABER IRGENDJEMAND MUSS DIE DINGER DOCH GELESEN HABEN.
Denn: Historische Romane sind wahre Bestseller.
Ich vermute mal: Viele tun es, aber tun so, als ob nicht. Ich hab` auch noch nie nicht mit Begeisterung einen Dan Brown verschlungen, niemals nicht…

Wie man dieses Genre nicht nur kaufen, sondern auch nutzen kann, zeigt uns eine Künstlerin. Jeden Tag bezaubert mich Susanne Haun mit ihren wunderbaren Bildern, immer angereichert durch eigene Gedanken zum Entstehungsprozess, zur Kunst und zur Philosophie. Oftmals kombiniert mit ausgewählten Zitaten großer Denker. Da ist es doch irgendwie sehr beruhigend, dass Susanne zur Entspannung auch mal zu ganz anderer Lektüre greift und Platon, Freud & Co. dafür links liegen lässt.
Susanne also zu ihrem “schlechtesten Lieblingsbuch”, bei dem sie wirklich Stehvermögen (oder besser gesagt Hörvermögen) zeigt:

„Die Jahrhundert-Saga von Ken Follett. Ich habe sie ausgesprochen gerne (ungekürzt) gehört. Jeder der drei Teile ist so ungefähr um die 35 Stunden lang. Sie beginnt mit dem 1. Teil, den Sturz der Titanen im Jahr 1914 und berichtet von verschiedenen Familien in Deutschland, Russland, England und Amerika. Follet webt geschichtliche Handlung in Familiendramen ein.
Im 2. Teil, dem Winter der Welt, berichtet er weiter von den Familien und ihrer Auseinandersetzung mit dem 2. Weltkrieg. Vom Kalten Krieg, dem Freiheitskampf der Schwarzen, dem geteilten Deutschland erzählt er in seinem letzten Teil, den Kindern der Freiheit.kenfollett

Mir ist völlig klar, dass sich jegliche geschichtliche Wahrheit den Familiengeschichten unterordnet. Und doch ist es für mich entspannend, diese Bücher zu hören.“

Was die FAZ übrigens zur Jahrhundert-Saga meint, steht hier: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ken-follett-sturz-der-titanen-die-renaissance-des-schuetzengrabens-11087109.html

Hier geht es zum Blog von Susanne Haun: http://susannehaun.com/

Georg Fink: Mich hungert (1929).

„Unterernährung - das war der Trumpf, den die Gesellschaft ausspielte. Nicht gegen den Krieg, aber gegen die Feinde. O, Krieg ist Krieg. Macht dem Krieg ein Ende, und es gibt keine Feinde! Die Ursache wolltet ihr bestehen lassen, und ihr empörtet euch moralisch über ihre Folgen. Unterernährung - Wir kannten sie von jeher. Man hat Kinder photographiert, skelettierte Säuglinge an den leeren Brüsten ihrer Mütter. Auf einmal sah man sie! Warum? Jetzt konnte man sie zur Propaganda gebrauchen! Jetzt bediente man sich ihres Elends, ihres Jammers, um das Mitleid der Welt - für sie? nein! für sich! - zu gewinnen. Aber leere Brüste, verhungerte Säuglinge hatte es schon vorher, schon immer gegeben! Da sah sie niemand, denn sonst hätte man selbst helfen müssen. Plötzlich wurde das Proletariat entdeckt, sein abgehärmtes Gesicht, seine verkrüppelten Knochen, sein leerer Topf…“

„Mich hungert“, Georg Fink (Kurt Münzer), Erstausgabe 1929, 2014 im Metrolit Verlag wieder erschienen.

Berliner Kinder um 1900. Quelle: Metrolit Verlag

Als am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten die Bücher missliebiger Autoren verbrannt wurden, war auch ein Roman darunter, der vier Jahre zuvor als ein literarisches Ereignis (neben „Im Westen nichts Neues“ und „Berlin Alexanderplatz“, ebenfalls 1929 erschienen) gefeiert worden war: „Mich hungert“ von dem bis dato völlig unbekannten Autoren Georg Fink. Das Buch, angeblich die Autobiographie eines Proletarierkindes im Vorkriegs-Berlin, verkaufte sich sensationell, wurde von Thomas Mann und Ernst Weiß gelobt und in 13 Sprachen übersetzt. Mit den Flammen 1933 verschwand auch der Roman aus dem Bewusstsein – verbrannt und vergessen. Doch jetzt wurde das Buch wiederentdeckt - dank des Metrolit Verlag, der es im Frühjahr 2014 wieder aufgelegt hat.

Dass solche Bücher dem Vergessen entrissen werden, ist eine wichtige und löbliche Tat an sich. Doch allein sein Schicksal macht ein Buch nicht zu großer Literatur, zu einem großen Roman - den literarischen Stil zu überhöhen, diese Beurteilung mag einigen Rezensenten in der Freude der Wiederentdeckung aus der Feder geflossen sein. Denn Georg Finks halbdokumentarischer Roman hinterließ bei mir stark gemischte Gefühle. So eindrucksvoll und eindrücklich diese Schilderung einer Kindheit in Armut vor und nach dem 1. Weltkrieg ist, so nackt und nüchtern die Situation des städtischen Proletariats im Berlin in den Jahren nach 1900 gezeichnet wird, so stilistisch schwer erträglich sind etliche Passagen, in denen der angebliche Ich-Erzähler melodramatisch, eigentlich weinerlich und schwülstig über sein eigenes Schicksal, die Liebe zu seiner Mutter schreibt oder allgemein-philosophisch wird. Als Schilderung seiner Zeit, als authentische Darstellung der Verelendung der Großstadtbevölkerung ist dieses Buch ein wichtiges Dokument. Literarisch bleiben Fragezeichen offen.

Fragezeichen warfen im Erscheinungsjahr auch die Auskünfte über den angeblichen Autoren Georg Fink auf. Der renommierte Autor Kurt Münzer hatte das Manuskript dem Cassirer Verlag empfohlen, stellte sich später als Mentor des jungen Schriftstellers dar und schrieb selbst beinahe hymnisch anmutende Besprechungen über das Buch. Erst im Schweizer Exil gestand Kurt Münzer ein, dass es sich um eine anfängliche Selbstinszenierung, die ihre Eigendynamik entwickelt hatte, gehandelt habe. Jetzt - 2014 - ist das nur noch eine zusätzliche Anekdote zum Buch. Und trotz der angesprochenen Mängel: Wer sich mit deutscher Geschichte beschäftigt, insbesondere mit Sozialgeschichte, wer Interesse an der Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg hat und Einblick erhalten will in deutsche Umstände nach 1918, für den kann dieser Roman eine aufschlussreiche Quelle sein. Denn ganz unbekannt waren dem Autoren Münzer/Fink die dargestellten Milieus sicher nicht.

Finks Roman erzählt von der Nachkriegs- und Inflationszeit am Beispiel einer Familie in Berlin-Mitte, die durch die Alkoholexzesse des Vaters mehr und mehr verelendet. Georg König, die jugendliche Hauptfigur, wird schon als Kind zum Betteln gezwungen, die Schwester zur Prostitution herangezogen, ein weiterer Bruder wird kriminell. Nur Georg, der diese Entwicklung aus der Rückschau erzählt, kann aufgrund seiner schulischen Begabung und durch die Förderung eines Fabrikanten dem Leben auf der Straße entkommen.

- In geradezu apokalyptischer Befriedigung wird der Zusammenbruch von Gesellschaft und Moral entworfen. Doch alles das vergeht über dem Zusammenbruch der überarbeiteten Mutter. “So habe ich den Krieg erlebt, und alle seine Schrecken versanken vor Mutters erstem Wehlaut.” Nicht zuletzt diese mit Remarque geteilte wehe Weichheit sehnsüchtiger Muttersymbiose mag es gewesen sein, die den Erfolg von Finks Roman ausmachte. Hier teilten sich indes auch die Wege der literarischen Kriegsverarbeitung. Solch klagendes Weh, das ein Gutteil der damaligen Literatur über das Elend der betrogenen Jugend durchzieht, war den anderen ein Gräuel. -
so Erhard Schütz in einer Besprechung in der „Zeit“.

Man urteile selbst - zwei Textpassagen, die aufzeigen, wie sehr Münzer/Fink zwischen kritisch-anteilnehmender Bestandsaufnahme und elegischem Ton schwankt:

„Die Armen hatten es gut. Ihre Männer fielen: umso besser: es gab die Rente. Und die kam ins Haus und wurde nicht vertrunken und mit Straßenmädchen durchgebracht, die Gattinnen hatten bloß zu lachen, aber die Mütter zu weinen. Und in unsern Häusern, wo dreißig und fünfzig Parteien in Höfen, Seitenflügeln, Quergebäuden, Kellern und den leer gewordenen Ställen lebten, gab es viel Aufschrein, Schluchzen nachts, Ausbrüche von Jammer und Geheul, wenn die Kinder die letzte Verlustliste brachten, wenn die Postbotin mit bebendem Mund ein Päckchen abgab…“

„So begann der Krieg. Vier Jahre floß Blut aus der Menschheit. Ich begriff so wenig. Aber doch sah ich den Sonnenschein auf der Erde liegen, starrte in den silbernen Mond, in die Sterne. O, wie gelassen, wie beseligt, wie schön alles im All - und auf Erden!…Ich sah in den Mond, mit Ehrfurcht und Entsetzen: es focht ihn nicht an. Bedeutete das so wenig? Waren wir ein Nichts? Unser Leben nur ein Traum der unausgekühlten Erde, ein Spiel ihres Feuers?“

Zum Verlag und den Angaben zum Buch geht es hier.

 

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1929).

Bild: Rose Böttcher
Bild: Rose Böttcher

„Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind.“

Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“.

2014 liegt der Beginn des 1. Weltkrieges, der vielfach auch als „Urkatastrophe“ bezeichnet wird, genau 100 Jahre zurück. Dieses Gedenkjahr lässt erneut auf ein Buch zurückgreifen, das als das „Anti-Kriegsbuch“ der deutschen Literatur bezeichnet wird. Über 20 Millionen Mal seit seinem Erscheinen 1929 verkauft, in über 50 Sprachen übersetzt: Ein Weltbestseller.

Ein Buch und seine Geschichte:

Erich Paul Remark, so der eigentliche Name des Schriftstellers, wird 1898 in Osnabrück geboren. Der musisch begabte junge Mann träumt eigentlich davon, Komponist zu werden. Dem voran steht jedoch die Schullaufbahn – überall Klassenbester scheint die Aufnahme in das Lehrerseminar perfekt zu werden. Aus dieser gewöhnlichen Jugend wird Erich Maria Remarque jedoch wie so viele andere seines Jahrgangs gerissen: Noch als Schüler wird er 1916 eingezogen und kommt nach einer kurzen Ausbildung nach Flandern an die Front. Die traumatischen Kriegserlebnisse verarbeitet er später in seinem Buch.

Remarque überlebt das Inferno, arbeitet nach dem Krieg kurz als Lehrer, entscheidet sich dann aber gegen den ungeliebten Beruf und für eine Laufbahn als Schriftsteller. Die ersten Versuche zeitigen wenig Erfolg – um sich über Wasser zu halten, schlägt er sich als Vertreter für Grabsteine und als Organist durch. 1925 kommt Remarque schließlich nach Berlin, hier genießt er die „Goldenen Zwanziger“, soweit es die Mittel erlauben, in vollen Zügen.

Tagsüber Redakteur bei einer Sportzeitschrift, bleibt ihm die Zeit, um weiter literarisch zu arbeiten. Mit „Im Westen nichts Neues“, das er 1928 fertiggestellt hat, ist auch eine der größten Fehlentscheidungen der deutschen Verlagsgesichte verbunden: Der Fischer Verlag lehnt das Manuskript ab, auch beim Ullstein Verlag, wo es dann erscheint, hat man zunächst Zweifel: Die Menschen, so meinte man, haben genug vom Krieg, die Masse an Kriegsliteratur nach 1918 habe den Markt erschöpft. Eine Dekade später wolle das niemand mehr lesen.

Doch schon die Reaktionen auf ein Vorabdruck in der Vossischen Zeitung zeigen: Das Buch wird ein ungeahnter großer Erfolg werden. Innerhalb weniger Wochen wird es zum  Bestseller, 1930 in Hollywood verfilmt – Carl Laemmle, der Schwabe, der Universal Pictures gründete (auch über ihn ist bei Sätze&Schätze ein Portrait zu finden) produziert den Film, der heute ebenfalls im Rang eines Klassikers ist und damals zum Kassenerfolg wurde.

In der Heimat von Erich Maria Remarque beginnen zu dieser Zeit bereits die Folgen der „Urkatastrophe“ ihre Wirkung zu zeigen – die Weimarer Republik, von Beginn an gebeutelt, geht der nächsten, noch größeren Katastrophe entgegen. Bereits bei der Uraufführung des Hollywood-Films in Deutschland kommt es zu Krawallen nationalsozialistischer Störtruppen, angeführt von Goebbels. Gegen den Autoren wird gehetzt. 1932 kehrt Remarque Deutschland den Rücken, zunächst geht er in die Schweiz, dann in die USA, die deutsche Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt. Anders als andere Vertriebene kann der Schriftsteller dort von seinen Honoraren und Einkünften – unter anderem arbeitet er auch an Drehbüchern mit, verfasst weitere Romane, die zwar Verkaufserfolge werden, jedoch nicht mehr an „Im Westen nichts Neues“ heranreichen – komfortabel leben. Er verkehrt mit Hollywood-Größen, hat eine Beziehung zu Marlene Dietrich, heiratet schließlich die Schauspielerin Paulette Godard. In die Schweiz kehrt er immer wieder zurück – dort stirbt er 1970.

Deutschland kehrte er jedoch den Rücken, auch auf die deutsche Staatsbürgerschaft – die ihm zudem auch nicht wieder angeboten wurde – legte er keinen Wert mehr. Denn, da der Verfasser des bekanntesten Antikriegsromans für die Nationalsozialisten nicht mehr fassbar war, so hielten sie sich an seiner in Deutschland verbliebenen Familie schadlos: Seine Schwester Elfriede wurde am 29. Oktober 1943 zum Tode verurteilt, nachdem sie die Damenschneiderin von einer Kundin wegen angeblich kritischer Äußerungen denunziert worden war. Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes, äußerte dazu: “Ihr Bruder ist uns ja entkommen, sie nicht.”

Was hebt nun „Im Westen nichts Neues“ heraus aus den Romanen dieser Jahre? Was macht dieses Buch zu einer Besonderheit, das einerseits Millionen von Menschen so wichtig wurde, andererseits den Hass einer Verbrecherclique heraufbeschwor?

„Ich war außerordentlich überrascht über die politische Wirkung. Ich habe etwas Derartiges gar nicht erwartet“, sagte Remarque später in einem Interview, „mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode gegenüberstellt.“ So wie der junge Paul Bäumer, aus dessen Perspektive die Kriegsteilnahme erzählt wird, fühlten sich Hunderttausende Soldaten um ihr Leben betrogen – und dies betraf nicht nur deutsche Soldaten, was den weltweiten Erfolg des Buches erklärt. Die schlichte Ich-Erzählung zieht mit ihrer simplen, fast schon reduzierten Sprache den Leser in ihren Bann – man meint, die Enge der Schützengräben, den Schmutz, den Lärm, den Geruch fast mitzuerleben. Die beinahe lakonische Schilderung des Frontgeschehens wird durchbrochen durch fast schon poetische Reflektionen, kleine Fluchten, die sich Paul alias Erich Maria gedanklich erlaubt.

Letztendlich sind es Passagen wie diese, die einmal gelesen, nicht zu vergessen sind:

„Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen von Hunderttausenden existieren.“

Das Tragische daran ist: Als Remarque dies schrieb, konnte noch nicht einmal geahnt werden, wie wenig die Kultur erst recht wenige Jahre später der Gewalt und der Ermordung von Millionen entgegenzusetzen hatte.

Nachtrag:
Eine informative, ausführliche und wohlformulierte Besprechung von “Im Westen nichts Neues” findet man beim Blog “aus.gelesen”.

Paul Klee. Ikarus im Krieg.

„Je schreckensvoller die Welt ist, desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.“

Paul Klee

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Dichter malen mit Worten. Maler schreiben mit Bildern. Manche können beides. So Paul Klee (1879-1940), der dichtende Maler, malende Dichter, Dichtermaler. Er wirkt nicht nur durch sein bildnerisches Werk. Auch durch seine Tagebücher und vor allem die Gedichte. Klee war schon früh ein intensiver Leser, verfasste bald eigene Texte. Das Schreiben wird intensiver, als er seine spätere Frau Lily Stumpf kennenlernt. In den Tage-, den sogenannten „Geheimbüchern“ sind um die Jahrhundertwende zahlreiche Gedichte an und über „Eveline“ zu finden. Und, so meint sein Sohn Felix später, der vielfach Begabte sei sich „in seiner künstlerischen Entwicklungszeit“ nicht immer in klaren gewesen, „ob er zur Musik, zur Malerei oder zur Dichtung“ greifen sollte. Die Malerei wird sein Hauptmedium werden – doch der spielerische, fast schon dadaistische Umgang mit Sprache bleibt ein Erkennungsmerkmal Klees, sei es in seinen verspielten Bildtiteln oder in den „Schriftbildern“.

Der Tod für die Idee, 1915

Eine Lebensphase Klees möchte ich aus gegebenen Anlass in den Mittelpunkt dieses Beitrags stellen: In diesem Jahr steht europaweit der Beginn des 1. Weltkriegs vor hundert Jahren im Zentrum vieler Ausstellungen und Veranstaltungen. In Augsburg ist noch bis zum 23. Februar eine Klee-Ausstellung unter dem Titel „Mythos Fliegen“ zu sehen.

Mit der Freiheit über den Wolken hat dies in Klees Wahrnehmung jedoch wenig zu tun. Vielmehr wird der Sturz des Ikarus bildnerisch von ihm thematisiert. Der „Fliegersturz“ (1920), so ein Bildtitel, kommt nicht von ungefähr – auch Paul Klee wird von der Kriegsmaschinerie erfasst, ist ab 1916 zum Militärdienst verdonnert. Er kommt als Kunstmaler bei den „Königlich-Bayrischen Fliegertruppen“ an verschiedenen Orten in Einsatz, muss die Tarnbemalung der Kampfflugzeuge ausbessern. Ab Januar 1917 ist er auf dem Flugplatz in Gersthofen bei Augsburg stationiert, auch hier als Maler, Schreiber und gelegentlich als Fotograf. Perversion des Krieges: Flugschüler fallen ständig mit ihren Maschinen auch in der Heimat vom Himmel, verunglücken tödlich während der Ausbildung. Nach dem Prinzip „trial and error“ wird das Flugzeug als neues technisches Kampfmittel hinter der Front erprobt. Auch Klee muss ab und an diese Trümmerreste fotografisch dokumentieren, hält sich das mit kaum verdeckten Zynismus vom Leib: “Habe heute den kaputten Aeroplan aufräumen helfen, auf dem zwei Flieger vorgestern ihr Leben lassen mußten. Er war übel zugerichtet. Die Arbeit war ganz stimmungsvoll.”

„Ich bin gewappnet,
ich bin nicht hier,
ich bin nicht in der Tiefe,
bin fern…
ich bin so fern…
Ich glühe bei den Toten.“
(1914).

(Alle Gedichtzitate aus: „Gedichte“, Paul Klee, Herausgeber Felix Klee, erschienen im Arche Verlag)

Wie jedoch das Schreckliche in der Kunst ausdrücken? Wie das Grauen, das eine Katastrophe auslöst, in Wort und Bild festhalten? Klee, der noch 1914 mit August Macke zur berühmten Tunisreise aufbricht – „Die Farbe hat mich!“ – kommt zurück in ein Europa, das bereits brodelt. Wenige Monate später ist nichts mehr, wie es vorher war. Anders als seine Malerkollegen Franz Marc und August Macke lässt Klee sich nicht vom Hurra-Patriotismus anstecken. Klee bleibt der kühle Skeptiker, dem diese Aufwallungen wohl schon vom Charakter her fremd sind. August Macke fällt bereits im September 1914 in der Champagne, Franz Marc am 4. März 1916 in Verdun. Dieses Datum hat für Klee eine besondere Bedeutung: Einen Tag später, am 5. März, erhält er seinen Einberufungsbefehl.

Fliegersturz, 1920

Dabei ist er Pazifist. Heute wird dazu oft der Zusatz gestellt: Ein „passiver“. Was hat das zu bedeuten? Kriegsdienstverweigerung gab es zu Zeiten des 1. Weltkrieges nicht. Verweigern gab es in einem Staat, der letztendlich Militärstaat war, nicht. Wer verweigerte, wurde als Psychopath eingestuft, von Militärärzten wieder fronttauglich gemacht. Klees deutscher Vater hatte sich nie um die Einbürgerung seines Sohnes in die Schweiz, wo Klee geboren war, bemüht. Also war für den Künstler, der damals in München lebte, der Weg vorgezeichnet. Er hatte Frau und Kind. Hätte er desertieren sollen?

Traum

Ich finde mein Haus: leer,
ausgetrunken den Wein,
abgegraben den Strom,
entwendet mein Nacktes,-
gelöscht in die Grabschrift.
Weiß in weiß.
(1914).

Spurensuche im Werk: Da ist der Widerstand durchaus zu spüren. “Ich habe diesen Krieg längst in mir gehabt. Daher geht er mich nichts an. Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten, mußte ich fliegen. Und ich flog. In jener zertrümmerten Welt weile ich nur noch in der Erinnerung, wie man zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich ,abstract mit Erinnerungen’.” Dieser Tagebucheintrag von 1915 wird oftmals dafür angeführt, dass Klee ein kühler, beinahe distanzierter Beobachter des von ihm als „wahnsinnig“ bezeichneten  Krieges gewesen sei, fast ungerührt geblieben sei von der „Urkatastrophe“. Doch es scheint auch, als verlässt die in Tunesien gefundene Farbe wieder das Bild. Kleinformatige Zeichnungen, oft auf amtlichem Vordruckpapier, auf Flugzeugmaterial hergestellt, Entwürfe ohne Farbe, aber nicht farblos. Dies war freilich auch dem Materialmangel geschuldet. Und inhaltlich eben durchaus nicht distanziert vom Geschehen rings um ihn. Schon die Titel sprechen Bände: „Die beiden Schreie“, „Der Tod für die Idee“ oder auch „Fitzlibutzli“, diese Ironisierung des Kaisers Wilhelm II, der Titel angelehnt an das Gedicht von Heinrich Heine, an den „vitzlibutzli“ (Auszug):

Fitzlibutzli, 1918
Fitzlibutzli, 1918

Auf dem Haupt trug er den Lorbeer,
Und an seinen Stiefeln glänzten
Goldne Sporen – dennoch war er
Nicht ein Held und auch kein Ritter.

Nur ein Räuberhauptmann war er,
Der in’s Buch des Ruhmes einschrieb,
Mit der eignen frechen Faust,
Seinen frechen Namen: Cortez.

Unter des Kolumbus Namen
Schrieb er ihn, ja dicht darunter,

Und der Schulbub auf der Schulbank
Lernt’ auswendig beide Namen –

Nach dem Christoval Kolumbus
Nennt er jetzt Fernando Cortez.

Klee desertiert anders, muss wohl auch Abstand nehmen durch eine gewisse Flucht nach Innen. Denn während der gesamten Einsatzzeit hängt wie ein Damoklesschwert die Möglichkeit, dass er doch an die Front versetzt wird, über ihm. Nicht von ungefähr in dieser Zeit auch seine Lektüre, beispielsweise des „Robinson Crusoe“, kleine Fluchten mit der Literatur. Oder der Künstler, gefangen auf einer seltsamen Insel? Denn dem Grauen an der Front gegenüber steht der langweilige Alltag, der Stumpfsinn und Bürokratismus in der Kaserne, die Entfernung zur Familie, der Stubendienst. In der Augsburger Ausstellung wird dies anhand vieler Postkarten, die Klee an seine Frau und den Sohn schreibt, deutlich – welche Einschränkungen die kreative Seele in dieser fremden Welt erleben muss. Aber er hat auch Glück – Vorgesetzte, die sein Talent respektieren, ihm gewisse Freiheiten geben. Selbst die Arbeit an Ausstellungen ist möglich. Es entstehen zudem „Schubladenbilder“ – Skizzen, die er in der Schreibstube fertig, die er schnell in eine Schublade schieben kann, wenn jemand kommt.

Landschaft mit fliegenden Vögeln, 1918.

Klee behält also Bodenhaftung. Das „Fliegen“ in seinen Tagebucheintragungen ist nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen. Der Flug, das Abheben, dies meint zum einem die Distanz in der Kunst zur Realität: “Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten, musste ich fliegen. Und ich flog.” Auch die religiösen, die mythischen Themen nehmen zu. „Und es ward Licht“ heißt ein Bild. Klee entdeckt später weitere Flugobjekte, in seinen letzten Lebensjahren werden die Engelsbilder zu einem wichtigen Bestandteil seines Schaffens.

Elend.

Land ohne Band,
neues Land,
ohne Hauch
der Erinnerung,
mit dem Rauch
von fremden Herd.
Zügellos!
wo mich trug
keiner Mutter Schoß.
(1914)

Doch ganz realitätsabgewandt ist Klee, wie oben schon angeführt, eben nicht. „Der Krieg fördert die Production im ethischen Sinne“, schreibt er. Was meinen soll: Die Auseinandersetzung mit dem Kriegs-Wahnsinn findet durchaus ihren Niederschlag, wenn auch nicht so eindeutig und plakativ erkennbar wie in Noldes „Soldaten“ oder Beckmanns „Kriegserklärung“. Bei Klee geschieht dies verschlüsselter, weniger deutlich, erkennbar jedoch an einigen stilistischen Mitteln:  „Winkelformationen, Zickzack-Linien, die auch aggressiv zu deuten sind, tauchen in dieser Zeit auf – und interessanterweise hören die auch kurz nach dem Krieg wieder auf. Also das ist eine absolute Spezifik für die Werke, die in dieser Zeit entstanden sind. Das ist ein Ausdruck für Bedrohung, Angst, Todesangst, für den Krieg und für Zerstörung”, wird in der Augsburger Ausstellung erläutert. Mit Mitteln des Konstruktivismus gegen die allgemeine Destruktion.

Landschaft der Vergangenheit, 1918.

Eine deutliche Sprache spricht das Bild “Der Held mit dem Flügel”: Eine verstörende Radierung, die einen missgestalteten Krieger mit verkümmertem Engelsflügel zeigt. Klee selbst notiert dazu im Bildrand: “Von der Natur mit einem Flügel besonders bedacht, hat er sich daraus die Idee gebildet, zum Fliegen bestimmt zu sein, woran er zugrunde geht.”

Hier geht es zur Ausstellung in Augsburg: http://www.mythos-fliegen.de/AugsburgII 008

TRIO 1: Schiffe versenken. Ein Dampfer, drei Bücher - African Queen

BildIm Trockendock: Armin Strohmeyr - „Abenteuer reisender Frauen“ (Piper Verlag, 2012). Portraits von 15 Frauen, die meist auf eigene Faust, oft gegen alle Widerstände, mutig und entschlossen die Welt erobern: Von Catalina de Erauso, einer streitbaren Nonne, die sich in Südamerika in Männerkleidern als Konquistador(in) durchschlägt über die wissensdurstige Wittelsbacher Prinzessin Therese von Bayern, die als weiblicher „Humboldt“ galt, bis hin zu Mary Kingsley, die sich trotz ungünstiger familiärer Voraussetzungen nach Afrika aufmachte und den Kannibalen die Stirn bot (nur bildhaft gesprochen): Armin Strohmeyr (http://www.armin-strohmeyr.de/) hat ungeheuer viel für dieses Buch recherchiert, packt dieses Wissen jedoch in mit leichter Hand geschriebene Kurzportraits.

Eines davon ist Katharine Hepburn (1907-2003) gewidmet. Der Beitrag konzentriert sich auf die Abenteuer der Schauspielerin während der Dreharbeiten zu „African Queen“ – jenem Kassenerfolg, der nicht nur die Hepburn ins Rampenlicht rückt, sondern auch ein Schiff: Die „Graf Goetzen“, dampfendes Sinnbild für den kolonialen Irrsinn der Europäer in Afrika. Katherine Hepburn spielt die verklemmte Rosie, die mit „Leichtmatrose“ Humphrey  auszieht, mit der „African Queen“ die „Graf Goetzen“ zu versenken. Im wahren Leben begegnen sich die Schauspielerin und das Dampfschiff übrigens nicht.

BildAnker gehisst: Die Dampfschifffahrt geht weiter mit Alex Capus – „Eine Frage der Zeit“ (btb-Taschenbuch, 2009). Der Schriftsteller veröffentlichte 2007 einen Roman über die Graf Goetzen. 1913 wird das Dampfschiff im Auftrag der Ostafrikanischen Eisenbahn-Gesellschaft gebaut. Von der Meyer-Werft in Papenburg wird es – in seine einzelnen Teile zerlegt – an den Tanganjika See transportiert. Drei Männer der Werft begleiten das Schiff an seinen Bestimmungsort – und finden sich plötzlich in militärische und diplomatische Geplänkel involviert. Moralische Skrupel, politische Überzeugungen, Grundwerte – all dies wird in der Hitze des Dschungels und des Gefechts über Bord geworfen. Capus erzählt diese Geschichte dreier Antihelden und eines Dampfers mit großer Verve: Ein Stück Kolonialgeschichte, unterhaltsam präsentiert, die deutsche Großmannssucht sowie den Irrsinn der Kolonialpolitik der europäischen Staaten ironisch-kritisch beleuchtend.

BildEndstation: C.S. Forester bringt mit „African Queen“ (Unionsverlag, 2012) den Dampfer in den Hafen. Oder auf den Grund. Wie auch immer.

Wer auf der Graf Goetzen – die übrigens auf Afrikas zweitgrößtem See dem Vernehmen nach immer noch ihre Kreise zieht - anheuert, kommt an der „African Queen“ nicht vorbei. Der Unionsverlag führt diesen Roman unter der Rubrik „Schmöker“ – ein schönes Bekenntnis zur Unterhaltungsliteratur, wie ich finde. Cecil Scott Forester, jener britische Schriftsteller, der derzeit neu entdeckt wird, schrieb das Buch um eine prüde alternde Jungfer und den trinkfreudigen, wenn auch nicht trinkfesten Mechaniker bereits 1935. Kein großer literarischer Wurf, aber tatsächlich ein Schmöker im besten Sinne. Die „African Queen“ ist jenes Boot, das im Roman die „Königin Luise“ versenkt. Angesichts der sich vor dem Zweiten Weltkrieg wieder abzeichnenden Spannungen zwischen Großbritannien und den Deutschen war dieses Ende politisch motiviert – das Buch erschien in den 50er Jahren in Deutschland nur unter Auslassung einiger anti-deutscher Passagen. Vermutlich jedoch wurde die Königin-Luise-Graf-von-Goetzen von den Deutschen selbst geflutet – ein Beispiel mehr für den Irrwitz des Krieges, der in beiden hier vorgestellten Romanen anhand der Geschichte eines Dampfers persifliert wird.

Das britisch-deutsche Verhältnis hat sich mit den Jahrzehnten beruhigt. Die Wunden, die die europäischen Kolonialmächte in den afrikanischen Staaten geschlagen haben, sind dagegen immer noch offen.