Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens.

Das Äußere macht nicht unbedingt den Mann zum herausragenden Liebhaber. Das dachte sich auch Fellini, der in seinem Casanova-Film ausgerechnet Donald Sutherland den legendären Womanizer mimen ließ.

 

“Der Kultus der Sinneslust war mir immer die Hauptsache: Niemals hat es für mich etwas Wichtigeres gegeben. Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren. Daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte.”

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

Anlässe gibt es genug, die Memoiren des “größten Liebhabers aller Zeiten” vorzustellen. An erster Stelle sind da die Valentinstagiaden zu nennen, die uns in dieser (sitten- und zügellosen) Karnevals-(Faschings-)woche begleiten. Zweitens ist dem Beginn von Casanovas Aufzeichnungen vor genau 225 Jahren zu gedenken. Und drittens hat mich die Nachricht, daß der Versandhändler und Verlag “Zweitausendeins” in diesen Tagen wieder Filialen schliessen mußte und vollends auf den Online-Handel setzt, auf die Idee gebracht, diese im Jahre 1964 von “Zweitausendeins” verlegte Gesamtausgabe der Werke Casanovas noch einmal zur Hand zu nehmen. Sie umfaßt nicht nur die 4000-seitige “Geschichte meines Lebens”, sondern auch den einzigen Roman “Eduard und Elisabeth”, sowie zahlreiche theoretische Schriften und Briefe Casanovas an seine Zeitgenossen. Ergänzt wird die in Leinen gebundene 7500-seitige Dünndruckausgabe durch einen querformatigen Bildband, der die “Geschichte meines Lebens” reichhaltig illustriert.

Auf der Grundlage des französischen Urtextes, der erst 1960 vom Verleger Brockhaus vollständig und unzensiert ediert wurde, ist dies die erste deutsche Übersetzung in zwölf Bänden. Die Geschichte des Manuskripts ist ebenso spektakulär und abenteuerlich wie das Leben Casanovas. Er vermachte es kurz vor seinem Tod seinem Neffen, dessen Nachkommen es an den Leipziger Verleger Brockhaus verkauften. Nach einem Luftangriff auf den Verlag wurde es 1943 unbeschädigt im Safe einer Bank eingelagert. 1945 wurde es von den amerikanischen Besatzern den deutschen Eigentümern zurückgegeben. 2010 ging das auf Französich verfasste Manuskript von “Histoire de ma vie”, das seit 1821 im Besitz der deutschen Verlegerfamilie Brockhaus war, für 7 Millionen Euro an die französiche Nationalbibliothek.

Casanova wurde 1725 als Sohn eines Schauspielerehepaars in Venedig geboren, Promotion zum “Doktor beider Rechte” 1741 an der Universität Padua, für kurze Zeit katholischer Priester und Orchestergeiger und jahrelang von einem reichen Gönner finanziert. Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Spione der Inquisition hatten ihn als Betrüger, Freimaurer, Astrologen, Kabbalisten und Gotteslästerer denunziert (möglicherweise aus Rache für sein Interesse an einer der Mätressen des Inquisitors). Er wurde auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis geworfen. Erst fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach den Bleikammern Venedigs zu entkommen.

Seine Flucht verschaffte ihm Berühmtheit an den europäischen Fürstenhöfen, aber bedeutete auch ein Exil, das achtzehn Jahre dauern sollte. Nun begann sein Leben als Reisender. Ein eifriger Forscher hat herausgefunden, dass Casanova in seinem Leben fast 60 000 Kilometer zurückgelegt hat. Er machte in Paris mit der Gründung der Nationallotterie ein Vermögen, nur um das Geld in den Spielklubs von London, in den Literatursalons von Genf und in den Bordellen von Rom mit beiden Händen wieder auszugeben. Mit den Jahren musste Casanova jedoch feststellen, dass Attraktivität und Manneskraft nachliessen. Die jungen Schönheiten, die er so bewunderte, wiesen ihn immer öfter ab. Gealtert, erschöpft und mittellos musste er ein Angebot des jungen Grafen Josef Waldstein annehmen, der ihn als Bibliothekar nach Schloss Dux in Nordböhmen holte, wo er 65-jährig seine Memoiren zu schreiben beginnt. Er schreibt ununterbrochen wie ein Besessener, bis seine Aufzeichungen abrupt mit einer Reise enden, die er als 49-Jähriger nacht Triest unternimmt. Niemand weiss, warum er genau hier aufhörte. Vielleicht wollte er seine Geschichte vor dem fünfzigsten Lebensjahr beenden, als er das Leben nicht mehr wie früher geniessen konnte. Acht Jahre später stirbt er nach langer, qualvoller Leidenszeit an einer Prostata-Hypertrophie.

Bis heute eilt Casanova der Ruf eines Abenteurers und Frauenhelds voraus, was auch mit seinen Selbstbeschreibungen zu tun hat: “Ich war hinlänglich reich von der Natur mit einem angenehm und stattlichen Äußeren begünstigt.” Aber sein vielseitiges Werk, das er neben den Memoiren hinterlassen hat, legt die Vermutung nahe, daß er vor allem Schriftsteller und Intellektueller war, der mit Geistesgrößen wie Voltaire, Katharina die Große, Benjamin Franklin und Mozart befreundet war. Sein eigentlicher Ruhm beruht nicht auf dem Umstand, daß er Hunderte von  Frauen “besessen” hat - in den Memoiren sind “nur” 116 namentlich erwähnt, Historiker und Wissenschaftler gehen heute jedoch davon aus, daß es noch weit mehr Amouren gab in seinem Leben. Die Beschreibungen der zahlreichen Liebesaffären mit Gräfinnen, Mägden und Nonnen nehmen jedoch nur etwa ein Drittel des Buches ein. Daneben lesen wir von der spektakulären Flucht aus den Bleikammern Venedigs, von Duellen, Betrügereien, beschwerlichen Reisen, Verhaftungen und Begegnungen mit Fürsten und Scharlatanen.

Die Schilderungen seiner intimen Erlebnisse sind bei aller Deutlichkeit doch stets diskret und dezent. Casanova war kein Trophäenjäger, kein Don Juan, den die Frauen nur als Beute interessierten, weil er sie verachtete. Er verstand es vielmehr, jeder Frau, in der er verliebt war, glauben zu machen, daß er nur sie und keine andere lieben könne. Er wollte sie nicht nur beglücken, sondern auch glücklich machen. Zu einer längeren und tieferen Bindung war er jedoch nicht geschaffen. Einmal schreibt er:

“Ich dachte darüber nach, was für eine Art von Verzauberung mich wohl zwingen könnte, mich immer wieder in eine Frau zu verlieben, die mir neu vorkam und mir dasselbe Verlangen einflößte, das die letzte von mir geliebte in mir geweckt hatte, die ich erst dann zu lieben aufgehört hatte, als sie nicht mehr mein Verlangen erregte. War aber diese Frau, die mir neu vorkam, auch wirklich neu? Durchaus nicht, denn es war immer wieder dasselbe Theaterstück, nur der Titel war neu.”

Mit solchen Ansichten gehört Casanova ganz seiner Epoche an, für die Erotik und erotischer Genuß so selbstverständlich waren wie Essen, Trinken, und Schlafen. Dem Leser seiner Memoiren gibt er noch folgendes auf den Weg: “Mein Werk ist voll von ausgezeichneten moralischen Unterweisungen. Aber was nützen die, wenn die reizenden Schilderungen meiner Sünden die Leser eher dazu anregen, sie zu begehen, als sie zu bereuen?”

Das fand auch die Kirche, die das anstößige Werk 1834 auf den Index setzte.

Italienische Poesie: Salvatore Quasimodo

ED È SUBITO SERA

Ognuno sta solo sul cuor della terra
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera.

UND SCHON IST ES ABEND

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.

Aus der Sammlung “Acque è terre” (Meere und Länder), entstanden
zwischen 1920-1929.

AMEN PER LA DOMENICA IN ALBIS

Non m`hai tradito, Signore:
d`ogni dolore
son fatto primo nato.

AMEN FÜR DEN WEISSEN SONNTAG

Du hast mich nicht verraten, Herr:
für jedes Leid bin ich der Erstgeborene.

Aus der Sammlung “Oboe sommerso” (Versunkene Oboe), entstanden zwischen 1930-1932.

In ihrer Kürze und Dichte könnte man die ersten Werke von Salvatore Quasimodo beinahe schon als italienische Haikus bezeichnen. Oftmals wortkarge, spröde, fast schon hermetisch in sich verschlossene kurze Sentenzen. Quasimodo (1901-1968) war, nebst den beiden älteren Dichtern Ungaretti und Montale, zunächst ein Vertreter des italienischen Ermetismo. Strenge und Licht - wie zwei Leitfäden ziehen sich diese Oberbegriffe durch seine Dichtung, auch in der späteren, in der Salvatore Quasimodo raum- und wortgreifender wird. Der gebürtige Sizilianer ist in seinem Werk nicht nur geprägt von der Landschaft seiner Heimat, sondern auch von deren reichen klassischem Erbe, den Traditionen der Antike. In einer Selbstbeschreibung hinterliess er dieses:

“Ich bin geboren in Syrakus am 20. August 1901. Mein Vater war bei der Eisenbahn. In der Gluthitze der Schwefelebene klang immerzu das Glöckchen, das die sehr seltenen Züge ankündigte. Die Dörfer in der Umgebung heißen Megara Iblea und Sferro; sie erinnern an Griechenland und seine rauhen Landschaften. Ich wurde getauft in Roccalumera, ein paar Kilometer von Taormina entfernt. Meine Großmutter war eine echte Griechin aus Patras. Ich lernte schnell lesen und schreiben, und ich fand zu den Dichtern. Ich verstand sie damals noch nicht, aber sie haben mir ein unauslöschliches Bild hinterlassen.
Meinen ersten Unterricht erhielt ich in Gela, wo ich das Erdbeben von Messina spürte. Drei Tage später wurde mein Vater in die zerstörte Stadt geschickt. Dort hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod. Die Plünderer wurden erschossen. Wir waren in Eisenbahnwagen eingeschlossen, wenn uns neue Erdstöße von einem Unglück zum anderen trieben.”

Die Begegnung mit dem Tod, die Erfahrungen der Armut, die der Not in einem von Katastrophen geschüttelten Landstrich und die Erfahrung menschlichen Leids während zweier Weltkriege (eines seiner berühmteren Spätwerke setzt sich mit Auschwitz auseinander), sind es, die Quasimodo beeinflussen. Der Antifaschist ist zwar linksorientiert, doch unterwirft er seine Dichtung keiner unmittelbaren politischen Programmatik. Spürbar wird seine Haltung dem Leben (und Leiden) gegenüber eher in der Gegenüberstellung von Licht und Schatten, Leben und Tod. Über alledem jedoch steht eine Idee, eine Verpflichtung:

“Der Dichter will, dass der Mensch mutig lebe.”

Sehr viel mehr und viel ausführlichere Informationen finden sich auf www.planetlyrik.de.

Ignazio Silone: Vino e pane (1936).

L`Aquila, Abruzzen, 1951. Bild: Henri Cartier-Bresson

Cristina, schrieb er, es ist richtig, dass man besitzt, was man hingibt, aber wem und wie soll man geben? Unsere Liebe, unsere Bereitschaft zum Opfer und zur Selbstverleugnung trägt nur Frucht, wenn sie in die menschlichen Beziehungen hineingetragen wird. Die moralischen Kräfte wachsen und gedeihen nur im praktischen Leben. Wir sind nicht nur für uns selbst verantwortlich, sondern auch für die anderen.
Wenn wir empfinden, dass um uns her das Böse herrscht, können wir nicht untätig bleiben und uns mit der Aussicht auf eine überirdische Welt trösten. Das Böse, das bekämpft werden muss, ist nicht das abstrakte Wesen, das man den Teufel nennt; das Böse ist all das, was Millionen von Menschen hindert, im wahrsten Sinne menschlich zu sein. Und dafür sind wir mit verantwortlich…

Ignazio Silone, „Wein und Brot“.

1936 schrieb Silone dieses Buch im Schweizer Exil, das zunächst unter dem Titel „Brot und Wein“ erschien und seither als eines der wichtigsten Bücher der italienischen Resistenza-Literatur gilt.
Silone überarbeitete seinen Roman nochmals 1955. Und trotz bleibender stilistischer Mängel – manches wirkt unausgereift, manches Mal bricht die politische Botschaft zu unmittelbar in die Prosa ein – ist und bleibt „Wein und Brot“ oder eben „Vino e pane“ ein berührendes, packendes Werk.

Der kommunistische Widerstandskämpfer Pietro Spina ist aus dem Exil zurück nach Italien gekommen. Doch kaum betritt er heimischen Boden, sind die faschistischen Häscher hinter ihm her. Er muss sich, ausgerechnet im Gewand eines Priesters, in einem ärmlichen Bergdorf in den Abruzzen verstecken. Hier trifft er auf besitzlose Landarbeiter und Tagelöhner, für die die Ankunft eines neuen Priesters beinahe einem Wunder gleicht. Zerrissen zwischen politischen Idealen, den Zweifeln an den Doktrinen seiner Partei, der Ohnmacht angesichts der Verhältnisse und seiner erzwungenen Untätigkeit ringt Spina ständig mit seinem Gewissen und seiner Gesundheit. Zudem lernt er die junge Cristina kennen, die eigentlich dazu bestimmt ist, Nonne zu werden. Er verliebt sich in sie, kann jedoch kaum im Gewand eines Geistlichen Avancen machen.

„Wein und Brot“ ist ein Abenteuerroman, ein Heimatroman und ein Liebesroman mit neorealistischen Elementen. Silone zeichnet die Notlage der Kleinbauern und Landarbeiten mit viel anteilnehmender Sympathie. Diese kämpfen täglich ums Überleben – da bleibt nur politische Apathie oder der Hang zu Extremen, sei es der Glaube wahlweise an den Kirchenmann oder die Kräuterhexe, sei es die Hoffnung auf einen befreienden Sozialismus oder einen siegreichen „Duce“.

Etwas aufgesetzt wirkt zuweilen die Verbindung von Politik und Religiosität. Silone selbst war ein sozialistischer Christ, der sich, vor allem, als der Stalinismus die kommunistischen Ideale pervertierte, von der kommunistischen Partei abwandte.

„Das ist das traurige Schicksal aller Bewegungen, die sich das Heil der Menschheit zum Ziel gesetzt haben: Sie werden zu Fallen, in denen der Mensch sich selbst verliert.“

Sozialistische Predigten und christliche Symbolik – bis hin zum bitteren Ende, da Cristina, die Unschuld, der Naturgewalt zum Opfer fällt, niederkniend und das Kreuz schlagend ihr Ende erwartend – das könnte mühsamer Lesestoff sein. Doch Silone vermochte es dennoch, seine „Botschaft“ in einen Roman zu packen, der einen, auch aufgrund seiner schlichten Erzählweise, nicht unberührt lässt. Zudem sind die Fragen, wie denn die beste aller Welten zu erreichen sei, zeitlos und dürfen, auch in ruhigen Zeiten, immer wieder gestellt werden.
Auflockernd wirkt zudem der Humor des Schriftstellers. So sieht die Wirtin des falschen Priesters in ihm beinahe den Messias wieder herabgekommen auf Erden:

“Was muss man den tun, fragte Matalena, wenn er wirklich Jesus ist? Muss ich Don Cipriano benachrichtigen? Oder die Carabinieri?
An der Tür des Wirtshauses hing eine Tafel mit polizeilichen Bestimmungen, aber die Ankunft Jesu war darin nicht vorgesehen.”

Silone (1900-1978) stammte selbst von Kleinbauern aus den Abruzzen ab. Bereits 15jährig wurde er Vollwaise, seine Mutter und fünf seiner Geschwister kamen bei einem Erdbeben ums Leben. Schon als junger Mann setzte er sich als Gewerkschafter und Journalist für eine Verbesserung der Verhältnisse für die Landarbeiter ein. Als Mitglied der kommunistischen Partei musste er nach der Machtergreifung Mussolinis abtauchen und ins Exil. Dort wurde er jedoch wegen seiner Kritik am Stalinismus 1931 aus der KP ausgeschlossen. Ab 1944 wieder in Italien, gründete er eine eigene Splitterpartei im Sinne eines humanen christlichen Sozialismus, wendete sich dann später ganz von der Politik ab und konzentrierte sich auf das Schreiben.

Ein ausführlicher Lebenslauf findet sich beim Kiepenheuer&Witsch-Verlag, bei dem Silones Bücher als Taschenbuch erschienen sind sowie eine gute Monographie über den italienischen Schriftsteller: http://www.kiwi-verlag.de/buch/wein-und-brot/978-3-462-01633-8/

Sowie ein Portrait in der Zeit: http://www.zeit.de/1992/38/alles-kam-anders

Italienische Poesie: Giuseppe Ungaretti

Bild: Ilse Bing

Allegria di naufragi (1917)

E subito riprende
il viaggio
come
dopo il naufragio
un superstite
lupo di mare

Freude der Schiffbrüche

Und plötzlich nimmst du
die Fahrt wieder auf
wie
nach dem Schiffbruch
ein überlebender
Seebär

Übertragen von Ingeborg Bachmann

Giuseppe Ungaretti (1888-1970), Salvatore Quasimodo und Eugenio Montale: Sie sind das Dreigestirn des italienischen Ermetismo, einer dunklen, hermetischen Lyrikströmung, vergleichbar mit Benn und Celan. Letzterer ist neben Ingeborg Bachmann und Hilde Domin einer derjenigen, die Ungaretti ins Deutsche übertrugen.

Minimalistisch, auch lautmalerisch, gespeist mit Metaphern und einer aus dem persönlichen Empfinden erwachsenen Symbolik, die sich dem Leser nur schwer erklären, ist seine Lyrik in der Übersetzung eine große Herausforderung.

Selten, dass wie bei dem frühen Gedicht zur „Freude der Schiffbrüche“ die Bedeutung so auf der Hand liegt. Erstaunlich aber zugleich, dass Ungaretti schon als junger Mann wohl vorausahnte, dass sein langes Leben alles andere als frei bleiben würde von Schiffbrüchen. Erfahrungen jedoch, die nicht zum Untergang führen, der Überlebenswille immer mit an Bord.

Ungaretti mit Anna Magnani

„Aber die großen Männer – was sind sie, man trifft sie sehr selten, (sie) sind sehr einfach, sie lachen wunderbar, sie sind streng, ohne es denen zu zeigen, die von Strenge nichts verstehen (aber ich hoffe, ich habe die seine verstanden), und sie sind nicht furchtbar, sondern sie sind etwas mitleidiger als die anderen, etwas großzügiger, etwas kindlicher, sehr viel reifer, und am Ende berührt sich die Weisheit mit der Kindlichkeit, mit der einmal die Götter, die es nicht mehr gibt, ihre Lieblinge zu sich geholt haben.“
Ingeborg Bachmann über Giuseppe Ungaretti

Ungaretti führte ein unstetes, wechselhaftes Leben. Seine zeitweise Annäherung und Unterstützung des italienischen Faschismus wirft zwar einen Schatten auf sein Gesamtwerk. Aber seine Poesie und die Anerkennung seiner schriftstellerischen Leistung bleiben von dieser dunkleren Periode seines Lebens beinahe unberührt.

Weiterführende Informationen, Quelle: Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1977, bei www.planetlyrik.de:
“1888 in Alexandria als Sohn italienischer Einwanderer geboren, steht Giuseppe Ungaretti in seiner Kindheit unter dem Eindruck nordafrikanischer Landschaft: unbarmherzige Sonne, Wüste, Einsamkeit. Von 1912 bis 1914 setzt der junge Italiener die in Ägypten begonnenen Studien in Paris fort, er schließt Freundschaft mit den avantgardistischen Künstlern der Epoche – Apollinaire, Breton, Max Jacob, Picasso. 1915 wird er als Infanterist einberufen, verbringt die folgenden Jahre in den Schützengräben des norditalienischen Karsts. Die Daseinserfahrung dieser Zeit, seinen Aufschrei im Angesicht von Grauen und Tod hält der junge Dichter in einer Art poetischem Tagebuch fest. Nach dem Weltkrieg kehrt Ungaretti für kurze Zeit nach Paris zurück, läßt sich ab 1920 in Rom nieder, ist als Dolmetscher und Zeitungskorrespondent tätig. 1936 folgt er einem Ruf als Professor für italienische Literatur an die Universität São Paulo. 1942 kehrt er nach Rom zurück, hat bis 1958 den Lehrstuhl für zeitgenössische Literatur an der dortigen Universität inne. Dieses Leben in den äußeren Bahnen bürgerlicher Normalität ist stets begleitet von einer hartnäckigen Suche nach der eigenen Identität. Wenige schmale Gedichtbände legen Zeugnis ab von diesem Bemühen: Freude der Schiffbrüche (1919), Der begrabene Hafen (1923), Die Freude (1931), Gefühl der Zeit (1936), Der Schmerz (1947), Das verheißene Land (1950), Das Merkbuch des Alten (1960), Dialog (1968). 1969, ein Jahr bevor Ungaretti in Mailand stirbt, erscheint die erste Ausgabe sämtlicher Gedichte. Ihr Titel ist poetische Konfession: Vita d’un uomo - Leben eines Menschen.”

Il porto sepolto (1916)

Vi arriva il poeta
e poi torna alla luce con i suoi canti
e li disperde

Di questa poesia
mi resta
quel nulla
di inesauribile segreto.

Der begrabene Hafen

Dort kommt der Dichter an
und wendet sich dann zum Licht mit
seinen Gesängen
und er verstreut sie

Von diesem Gedicht
bleibt mir
jenes Nichts
von unerschöpflichem Geheimnis.

Die Übertragungen in die deutsche Sprache durch Ingeborg Bachmann und Paul Celan erschienen im Suhrkamp Verlag:

Luigi Bartolini: Fahrraddiebe (1946).

“Man weiss, dass Verlaine die Diebe liebte. Weil er zusammen mit ihnen im Gefängnis sass, deshalb liebte er sie. Und er nannte sie “die lieben Diebe”. Und was Mörder angeht, so nannte er sie “die süssen Mörder”. Aber das war für ihn lediglich eine Frage des Reims, höchstens eine Frage von Worten, der klingelnden Worte von Dichtern - die nichts bedeuten in der nackten Wirklichkeit der Dinge.”

Luigi Bartolini, “Fahrraddiebe”.

Die nackte Wirklichkeit der Dinge - dies darzustellen war ein Kennzeichen des italienischen Neorealismus. Und dazu gehörte auch die Darstellung der nackten Not im Italien der Kriegs- und Nachkriegszeit. Wo der Diebstahl eines Fahrrads eine Bedrohung der nackten Existenz sein konnte.
Selten jedoch dass, aber manchmal eben doch, ich sagen muss: Ich ziehe die Literaturverfilmung dem Buch vor. “Fahrraddiebe”, 1946 von Luigi Bartolini geschrieben, 1948 von Vittorio de Sica verfilmt, ist einer dieser Fälle. Beide, Film wie Buch, gelten als Meisterwerke des italienischen Neorealismus. Bis auf Ort und Zeit (das Rom der 40er Jahre) und die Rahmenhandlung des Fahrraddiebstahls sowie dem Versuch des Besitzers, wieder an den Drahtesel zu kommen, sind Buch und Film zwei paar italienische Stiefel.

Luigi Bartolini (1892-1963) war nicht nur als Schriftsteller äußerst produktiv und bekannt, sondern auch als preisgekrönter bildender Künstler. Mit seinen kritischen, teil sehr polemischen Schriften zu Kunst und Kultur spaltete er oftmals die Gemüter. Auch politisch nahm er kein Blatt vor den Mund: Wegen seiner kritischen Artikel wurde der bekennende Antifaschist während der Mussolini-Diktatur zeitweise verhaftet und musste vorübergehend Rom verlassen.  Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er als Professor an der römischen Kunsthochschule tätig werden.

Man gehe jedoch aufgrund der politischen Haltung nicht davon aus, Bartolini sei ein Menschenfreund gewesen - nimmt man den Erzähler aus “Fahrraddiebe” als alter ego des Autoren, so trifft man dabei eher auf einen polemischen, überheblichen und wenig sympathischen Misanthropen. Diesem wird am 28. September 1944 sein Fahrrad gestohlen, als er in einem Laden nur kurz Schuhwichse kaufen will. Die Jagd nach seinem Eigentum, das für ihn nicht nur als Fortbewegungsmittel zwischen den verschiedenen Redaktionen wichtig ist, sondern vor allem als Möglichkeit, der Stadt und den Menschen zu entfliehen, wird zu einer tour de force quer durch la citta apertà. Bartolini nimmt den Leser mit, dahin, wo es wirklich weh tut: In die finsteren Gassen, wo sich Hehler, Gauner, Schieber und Huren tummeln. In die finstere Unterwelt rund um den Campo dei Fiori und in das Viertel Trastevere, heute ein für Touristen aufgehübschtes Viertel, seinerzeit Hort der Kleinkriminellen und Verbrecher.

Dies ist eine Qualität des Buches: Durch die realistische Schilderung der Armut und des Niedergangs ist es ein Zeitdokument, ein Abbild Italiens in den letzten Kriegswirren. Beinahe so erschreckend in den Zustandsbeschreibungen wie Malapartes Neapel-Roman “Die Haut”. Abgemildert wird dies durch philosophische Einsprengsel über das Verlieren und das Finden und den Wert des Lebens an sich:

“Es geht im Leben darum, Verlorenes wiederzufinden. Man kann es einmal, zweimal, dreimal wiederfinden, so wie es mir gelungen ist, mein Fahrrad wiederzufinden. Doch das dritte Mal wird kommen, und nichts mehr werde ich finden. So ist es, wiederhole ich, mit dem ganzen Dasein. Es ist ein Lauf über Hindernisse, bis man endlich verliert oder stirbt. Ein Lauf über Hindernisse von Kindheit an!”

Die mehrfache Wiederholung alltäglicher Banalitäten, ständige verbale Ausfälle gegen alles und jeden - Briten, Deutsche, Amerikaner, Gauner, Frauen, Händler - und ein leicht larmoyanter Unterton dämpften bei mir das Lesevergnügen erheblich. Das Buch endet zumindest mit dem Rückkauf des gestohlenen Drahtesels, der Erzähler kann weiterradeln…Ciao!

Auch de Sica zeichnet in seinem Film ein Bild des trostlosen Roms, zeitlich versetzt in die Nachkriegszeit. Statt des Ich-Erzählers spielt ein Arbeiter die Hauptrolle, der mit Plakatekleben seine Familie durchbringen muss. Das Rad ist unabdingbare Voraussetzung für den Job. Als es gestohlen wird, ist damit tatsächlich die Existenzgrundlage geraubt. In Begleitung seines kleinen Sohnes Bruno geht der Arbeiter auf die ergebnislose Suche. Am Ende gerät er selbst in Versuchung zu stehlen - ein Mundraub im klassischen Sinne aus Not, der dem Film mehr Menschlichkeit einhaucht, als das Buch in sich birgt. Zudem vermittlen die familiären Szenen, die Vater-Sohn-Beziehung menschliche Wärme in einer Zeit der Not - Lichtblicke, die der Literaturvorlage fehlen.

Flutschbuch: Donna Leon. Einer ihrer Krimis. Irgendeiner davon.

Inhalt: Commissario Brunetti frühstückt italienisch. Also nur Espresso. Dann geht er ins Büro. Da ist ein Fall. Ansonsten Ärger in der Questura mit dumpfen Vorgesetzten und dumpfen Kollegen. In der Bar zweiter Kaffee und erstes Sandwich. Weiter am Fall arbeiten. Supersekretärinsignora Elettra hat schon Wesentliches recherchiert. Üppiges Mittagessen zuhause. Wieder am Fall arbeiten. Noch üppigeres Abendessen zuhause. Tochter Chiara anhimmeln, Sohn Raffi bremsen, Ehefrau Paolo friedlich halten. Dann müde, Bett, nächster Morgen, italienisches Frühstück.

Bewertung: Als 1993 „Venezianisches Finale“ beim Diogenes Verlag erschien, war ich ganz angetan. Eine spannende Story um den Tod eines egomanischen Künstlers, ein sympathischer Kommissar mit Familie (DIE LESEN SOGAR!). Und, ach ja, dieses Italienflair! Aber: Venedig kann sehr kalt sein. Dass wusste schon Patricia Highsmith, in deren Fußstapfen ich mir anfangs Donna Leon erhoffte. Aber inzwischen sind die Amerikanerin, die seit 1981 in der Lagunenstadt lebt, und ich keine Bücherfreundinnen mehr. Jetzt, über 20 Fälle später, lasse ich die Brunetti-Krimis tutto completto an mir vorbeiflutschen - selbst dann, wenn sie kurz nach Erscheinen bereits mit dem ME-Stempel im Wühlkorb meiner Buchhandlung liegen. Highsmith wusste, wann sie mit Ripley aufhören musste. Donna Leon dagegen hat den Absprung verpasst - oder will die Gelddruckmaschine nicht stoppen. Denn Käufer, Leser, Zuseher (ein zusätzlicher Todesstoß waren für mich die unschaubaren Adaptionen des „ersten“ deutschen Fernsehens) gibt es immer noch. Vielleicht alle getrieben von der Hoffnung, dass sich irgendwann doch irgendetwas ändert in dem so vorhersehbaren Leben der Brunettis. Eine Scheidung wäre erfreulich. Beispielsweise. Oder wenigstens ein Brunetti-Elettra-Seitensprung. Irgendwas, was Leben in die Bude bringt. Ich weiß, da war noch was - eine Kriminalhandlung? Ja, richtig? Meist überkonstruiert und dann plattgewalzt.

Irgendwie hat es sich ausgeflutscht - die Fälle wenig spannend, das Geschehen vorhersehbar, die Figuren ohne Entwicklung. Und für mich ein beinah persönliches Ärgernis: Soviel futtern und trotz zunehmender Jahre kein Gramm mehr auf der Waage - wie Mustergattin Paola das alles verdaut, das verursacht mir literarische Verstopfung. Doch ganz gleich, was und wieviel die Familie köchelt und tafelt - alle bleiben sie  eindimensional, die bella figuras der Donna Leon. Da greife ich denn doch lieber zu einem anderen Serientäter: Schlicht und einfach und doch nie langweilig: Maigret, Non-Maigret, das ist keine Frage - Hauptsache, ein Simenon.

Fazit: Wenn eine Krimireihe sich totläuft, dann ist der Fall schnell gelöst - der Mörder ist immer der Autor. Was dagegen bleibt, auch wenn die Stadt selbst sinkt: Schöne literarische Venedig-Impressionen. Und Rezeptideen. Lass die Kriminalfälle weg, liebe Donna Leon, und schreib einfach noch ein venezianisches Kochbuch.

Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Auch Philosophen sind den körperlichen Bedürfnissen unterworfen. Hierin macht Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Tausendsassa – Jurist, Politiker, Humanist (damals ging das vielleicht noch zusammen) - keine Ausnahme. Was ansonsten nicht so geschmiert lief auf der Reise nach Italien – dies zeigt Klaus Krolzig in seiner Besprechung eines spät veröffentlichten Werkes des französischen Essayisten auf. Und stellt dem Schriftsteller Montaigne gleich die passende Diagnose aus.

Montaigne - Tagebuch 417 Monate und 8 Tage dauert die Reise, die Montaigne  am 22. Juni 1580 beginnt und über die er präzise Tagebuch führt. Nach seiner Rückkehr im November 1581 stürzt sich Montaigne in die Politik, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird.  Das Tagebuch verschwindet in einer Truhe in seinem berümten Schloß. Dort taucht es im 18. Jahrhundert wieder auf. Abschriften werden angefertigt, doch das Original geht auf mysteriöse Weise verloren. Der Anfang dieses Reisetagebuches fehlt bis heute. Die Geschichte der verspäteten Auffindung des Manuskripts, das rätselhafte Verschwinden des Originals und seine Publikation, schon dies gleicht einem Kriminalroman. Oder auch einer Reise. Denn erst 178 Jahre nach dem Tod des Autors, als das Tagebuch 1770 entdeckt wird, publiziert der bekannte Enzyklopädist Jean Baptiste le Rond d’Alembert erstmals das Werk in seiner Gesamtheit.

Die Tatsache, daß Montaignes Reisetagebuch bisher relativ gering geschätzt wurde, hängt vielleicht mit seiner komplizierten Struktur zusammen. Das Werk bricht in zwei Teile auseinander. In jenen Teil, den Montaigne selbst verfasst hat, sowie  in einen Teil, den ein Unbekannter geschrieben hat. Wer dieser Unbekannte ist, der immerhin die ersten 200 Seiten dieser Reise protokollierte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Für Hans Stilett muß es ein Sekretär gewesen sein, der vielleicht nach dem Diktat von Montaigne die erste Hälfte der Reise beschrieben hat.

Jetzt aber machen wir uns auf den Weg:

Nach sieben Meilen Reise erreichen Montaigne und seine  Begleiter zunächst  Vitry-le-Francois, wo man ihnen Denkwürdigkeiten erzählt. Etwa von ein paar Mädchen, die sich der ihnen zugewiesenen Frauenrolle radikal verweigerten: “Sieben, acht Mädchen hatten den Plan ausgeheckt, sich als Männer zu verkleiden und ihr Leben  in der Öffentlichkeit so getarnt fortzuführen” . Wofür sie, wie der Sekretär trocken anmerkt,  “wegen der gesetzwidrigen Praktiken, mit denen sie dem Mangel ihres Geschlechts abzuhelfen suchten, erhängt wurden.”

Als Leser muß man schon eine gewisse Geduld aufbringen, wenn man vor allen Dingen während des Aufenthaltes Montaignes in den Bädern von Lucca seitenlang alle Details zu lesen bekommt über das, was er zu sich genommen und was er von sich gegeben hat.

“Es ging mir ab wie geschmiert. Insoweit erleichterte es meinen Körper ungeheuer.”

Montaignes Reise nach Italien ist keine Bildungsreise. Die Reise findet ihren Sinn vielmehr im Unterwegssein. Er beschreibt alles, was er um sich herum und in sich selbst vorgefunden hat, insofern stilistisch eine Fortführung seiner berühmten Essais. Die Reise nach Italien ist nicht zuletzt eine Reise zu den berühmtesten Kurbädern der Spät-Renaissance.  Zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken, der nie müde wird, seine körperlichen Zustände bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Seit 1577 leidet Montaigne an Nierensteinen und damit verbundenen Koliken.

“Am 24. schied ich früh morgens einen trüben Urin aus, der schwärzer war, als ich ihn je gesehen hatte. Dazu einen kleinen Stein. Dies beendete aber keineswegs den Schmerz, den ich unterhalb des Nabels und im Glied verspürte. Am 26. löste sich ein Stein, der jedoch in der Harnröhre stecken blieb. Von da an hielt ich bis zum Mittagessen den Urin zurück, denn ich wollte dessen Druck verstärken. So konnte ich schließlich den Stein ausstossen, nicht ohne Mühsal mit ziemlichem Blutverlust zuvor und danach. Er war groß und lang wie ein Tannenzapfen. An einem Ende aber wies er eine Verdickung auf, die einer Eichel glich. Um die ganze Wahrheit zu sagen: er hatte haargenau die gleiche Form meines Schwanzes.”

Da ich beruflich fast täglich mit Patienten zu tun habe, die an Nierensteinen und dessen Folgen zu leiden haben, habe ich  die genaue Beobachtung  seiner Krankheitssymptome mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Anhand dieser Beschreibungen würde man heute eine Nephrolithiasis und Urolithiasis mit Dysurie und Harnwegsinfekten diagnostizieren, medikamentös und operativ ohne Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.  Unter den damaligen Umständen jedoch eine Krankheit, die für Montaigne den sicheren Tod bedeutete. Mit der Deutung eines anderen Symtoms lag Montaigne jedoch ziemlich daneben:

“Als ich im Bad die Dusche auf den Unterleib gerichtet hielt, schien mir dies die Blähungen auszutreiben. Zugleich ging die Schwellung meines rechten Hodens eindeutig zurück, an der ich sehr oft leide. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß die Schwellung von den Fürzen herrührt, die sich im Hoden verfangen.”

Die Reiseroute führt  über Frankreich in die Schweiz, wo man von Basel aus den Rhein überschreitet und nach Deutschland kommt. Die weiteren Stationen sind Lindau, Kempten, Füssen und Augsburg. Über die Deutschen heißt es,  “Sie haben die gute Eigenschaft, vom ersten Wort an zu sagen, welchen Preis sie verlangen: Handeln hat da wenig Zweck. Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde, aber, sagte der Herr de Montaigne, weder Betrüger noch Spitzbuben.”

Anekdotenreich beschreibt Montaigne seinen Aufenthalt in Augsburg.

“Nach Aussage der Augsburger gibt es in der Stadt zwar Mäuse, aber keine Ratten, von denen das übrige Deutschland heimgesucht wird. Darüber erzählen sie zahlreiche Wunder. So schreiben sie ihre Bevorzugung einem dort beigesetzten Bischof zu; und von der Erde seines Grabes, die sie in haselnußkleinen Klümpchen verkaufen, behaupten sie, daß sie überall, wo man sie ausstreue, das Ungeziefer vertreibe.”

(Anmerkung der Blogbetreiberin, wohnhaft in Augsburg: Dies ist auch heute noch gängige Praxis.)

Weiter geht es über Süd-Tirol nach Venedig. Kurz vor Florenz muß  die Reisegesellschaft einen Angriff marodierender Banditen abwehren. Während eines ersten Aufenthaltes in Rom besucht Montaigne die antiken Stätten, wohnt einer Teufelsaustreibung bei, begutachtet die ausgestellten Häupter der Heiligen Petrus und Paulus und prüft skeptisch das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika.  Das Beschneidungsritual der Juden wird ebenso nüchtern beschrieben wie der Fußkuss beim Papst.

Hier endet das vom Sekretär Montaignes verfasste Tagebuch und Montaigne selbst greift nun zur Feder. Warum er seinen Sekretär in Rom entlassen hat bleibt offen. Die Reise war in Rom zu Ende. Hier hat er sich bis auf einen zwischenzeitlichen Abstecher in die Bäder von Lucca monatelang aufgehalten.  Das Tagebuch ist vor allem auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte, eine Alltagsgeschichte aus der Spät-Renaissance.

Ergänzt wird der reich illustrierte und schön gesetzte Band der Anderen Bibliothek durch ein kluges Vorwort des Übersetzers und zahlreichen Anmerkungen zum Textverständnis.

“Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581”, erschien im Januar 2014 als 349. Band der Anderen Bibliothek. Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett,  492 Seiten, 38 Euro.

“So habe ich gerade mit großem Interesse die Reisebeschreibungen Montaignes gelesen:  Sie bereiteten mir an manchen Stellen noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais.”

J.W. v. Goethe

Ein Beitrag von Klaus Krolzig