“Der Kultus der Sinneslust war mir immer die Hauptsache: Niemals hat es für mich etwas Wichtigeres gegeben. Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren. Daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte.”
Ein Beitrag von Klaus Krolzig
Anlässe gibt es genug, die Memoiren des “größten Liebhabers aller Zeiten” vorzustellen. An erster Stelle sind da die Valentinstagiaden zu nennen, die uns in dieser (sitten- und zügellosen) Karnevals-(Faschings-)woche begleiten. Zweitens ist dem Beginn von Casanovas Aufzeichnungen vor genau 225 Jahren zu gedenken. Und drittens hat mich die Nachricht, daß der Versandhändler und Verlag “Zweitausendeins” in diesen Tagen wieder Filialen schliessen mußte und vollends auf den Online-Handel setzt, auf die Idee gebracht, diese im Jahre 1964 von “Zweitausendeins” verlegte Gesamtausgabe der Werke Casanovas noch einmal zur Hand zu nehmen. Sie umfaßt nicht nur die 4000-seitige “Geschichte meines Lebens”, sondern auch den einzigen Roman “Eduard und Elisabeth”, sowie zahlreiche theoretische Schriften und Briefe Casanovas an seine Zeitgenossen. Ergänzt wird die in Leinen gebundene 7500-seitige Dünndruckausgabe durch einen querformatigen Bildband, der die “Geschichte meines Lebens” reichhaltig illustriert.
Auf der Grundlage des französischen Urtextes, der erst 1960 vom Verleger Brockhaus vollständig und unzensiert ediert wurde, ist dies die erste deutsche Übersetzung in zwölf Bänden. Die Geschichte des Manuskripts ist ebenso spektakulär und abenteuerlich wie das Leben Casanovas. Er vermachte es kurz vor seinem Tod seinem Neffen, dessen Nachkommen es an den Leipziger Verleger Brockhaus verkauften. Nach einem Luftangriff auf den Verlag wurde es 1943 unbeschädigt im Safe einer Bank eingelagert. 1945 wurde es von den amerikanischen Besatzern den deutschen Eigentümern zurückgegeben. 2010 ging das auf Französich verfasste Manuskript von “Histoire de ma vie”, das seit 1821 im Besitz der deutschen Verlegerfamilie Brockhaus war, für 7 Millionen Euro an die französiche Nationalbibliothek.
Casanova wurde 1725 als Sohn eines Schauspielerehepaars in Venedig geboren, Promotion zum “Doktor beider Rechte” 1741 an der Universität Padua, für kurze Zeit katholischer Priester und Orchestergeiger und jahrelang von einem reichen Gönner finanziert. Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Spione der Inquisition hatten ihn als Betrüger, Freimaurer, Astrologen, Kabbalisten und Gotteslästerer denunziert (möglicherweise aus Rache für sein Interesse an einer der Mätressen des Inquisitors). Er wurde auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis geworfen. Erst fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach den Bleikammern Venedigs zu entkommen.
Seine Flucht verschaffte ihm Berühmtheit an den europäischen Fürstenhöfen, aber bedeutete auch ein Exil, das achtzehn Jahre dauern sollte. Nun begann sein Leben als Reisender. Ein eifriger Forscher hat herausgefunden, dass Casanova in seinem Leben fast 60 000 Kilometer zurückgelegt hat. Er machte in Paris mit der Gründung der Nationallotterie ein Vermögen, nur um das Geld in den Spielklubs von London, in den Literatursalons von Genf und in den Bordellen von Rom mit beiden Händen wieder auszugeben. Mit den Jahren musste Casanova jedoch feststellen, dass Attraktivität und Manneskraft nachliessen. Die jungen Schönheiten, die er so bewunderte, wiesen ihn immer öfter ab. Gealtert, erschöpft und mittellos musste er ein Angebot des jungen Grafen Josef Waldstein annehmen, der ihn als Bibliothekar nach Schloss Dux in Nordböhmen holte, wo er 65-jährig seine Memoiren zu schreiben beginnt. Er schreibt ununterbrochen wie ein Besessener, bis seine Aufzeichungen abrupt mit einer Reise enden, die er als 49-Jähriger nacht Triest unternimmt. Niemand weiss, warum er genau hier aufhörte. Vielleicht wollte er seine Geschichte vor dem fünfzigsten Lebensjahr beenden, als er das Leben nicht mehr wie früher geniessen konnte. Acht Jahre später stirbt er nach langer, qualvoller Leidenszeit an einer Prostata-Hypertrophie.
Bis heute eilt Casanova der Ruf eines Abenteurers und Frauenhelds voraus, was auch mit seinen Selbstbeschreibungen zu tun hat: “Ich war hinlänglich reich von der Natur mit einem angenehm und stattlichen Äußeren begünstigt.” Aber sein vielseitiges Werk, das er neben den Memoiren hinterlassen hat, legt die Vermutung nahe, daß er vor allem Schriftsteller und Intellektueller war, der mit Geistesgrößen wie Voltaire, Katharina die Große, Benjamin Franklin und Mozart befreundet war. Sein eigentlicher Ruhm beruht nicht auf dem Umstand, daß er Hunderte von Frauen “besessen” hat - in den Memoiren sind “nur” 116 namentlich erwähnt, Historiker und Wissenschaftler gehen heute jedoch davon aus, daß es noch weit mehr Amouren gab in seinem Leben. Die Beschreibungen der zahlreichen Liebesaffären mit Gräfinnen, Mägden und Nonnen nehmen jedoch nur etwa ein Drittel des Buches ein. Daneben lesen wir von der spektakulären Flucht aus den Bleikammern Venedigs, von Duellen, Betrügereien, beschwerlichen Reisen, Verhaftungen und Begegnungen mit Fürsten und Scharlatanen.
Die Schilderungen seiner intimen Erlebnisse sind bei aller Deutlichkeit doch stets diskret und dezent. Casanova war kein Trophäenjäger, kein Don Juan, den die Frauen nur als Beute interessierten, weil er sie verachtete. Er verstand es vielmehr, jeder Frau, in der er verliebt war, glauben zu machen, daß er nur sie und keine andere lieben könne. Er wollte sie nicht nur beglücken, sondern auch glücklich machen. Zu einer längeren und tieferen Bindung war er jedoch nicht geschaffen. Einmal schreibt er:
“Ich dachte darüber nach, was für eine Art von Verzauberung mich wohl zwingen könnte, mich immer wieder in eine Frau zu verlieben, die mir neu vorkam und mir dasselbe Verlangen einflößte, das die letzte von mir geliebte in mir geweckt hatte, die ich erst dann zu lieben aufgehört hatte, als sie nicht mehr mein Verlangen erregte. War aber diese Frau, die mir neu vorkam, auch wirklich neu? Durchaus nicht, denn es war immer wieder dasselbe Theaterstück, nur der Titel war neu.”
Mit solchen Ansichten gehört Casanova ganz seiner Epoche an, für die Erotik und erotischer Genuß so selbstverständlich waren wie Essen, Trinken, und Schlafen. Dem Leser seiner Memoiren gibt er noch folgendes auf den Weg: “Mein Werk ist voll von ausgezeichneten moralischen Unterweisungen. Aber was nützen die, wenn die reizenden Schilderungen meiner Sünden die Leser eher dazu anregen, sie zu begehen, als sie zu bereuen?”
Das fand auch die Kirche, die das anstößige Werk 1834 auf den Index setzte.