„Du hast mich gefragt, wie denn die Albaner so seien“, sagte er zu Dan Marvin, als Gibraltar nicht mehr weit vor ihnen lag. „Nun, wenn die Sprache zu herausragenden Werken fähig ist, so auch die Menschen, die sie sprechen. Wie könntet ihr an seinen Ufern vorbeifahren, ohne dieses Land sehen zu wollen? Wollt ihr nicht erleben, wie ein Volk aus jahrhundertelangem Schlaf erwacht, also gewissermaßen von den Toten aufsteht?“
Vor einigen Sommern saß ich zwei Wochen in einem winzigen Dorf auf Korfu fest. An manchen Tagen, so bildete ich mir ein, waren gegenüber die karstigen Hügel und Berge der albanischen Küste zu sehen. Nichts ist anregender für die Phantasie als freie Zeit und eine fehlende Busverbindung. Albanien begann mich zu beschäftigen – ich hatte so meine Klischees und Vorurteile im Kopf, geprägt von Halbhalbwissen und einigen Pressemeldungen über die Berliner Unterwelt. Die Albaner, so das Klischeehafte zusammenfassend, sind ein ursprünglich wildes, zähes Bergvolk, die heute ihre Jagdreviere aus Not und Bedrängnis in die westlichen Großstädte verlagert haben. Der weitaus größere Anteil der Bevölkerung schlägt sich dagegen unter noch schwierigeren Zuständen in der Heimat herum, einer dieser winzigen südosteuropäischen Nationen, die von den Westlern so gerne als das „Armenhaus“ Europas bezeichnet werden. Albanische Literatur? Erst recht ein weißer Fleck auf der Karte – außer Ismail Kadare, „Der General der toten Armee“, war mir nichts bekannt. Von der langen Kultur dieses Volkes weiß ich – wie wohl die meisten Menschen meiner Umgebung: NICHTS.
Umso gelegener kam mir seinerzeit die Chance, für „We read Indie“ den Erstlingsroman einer jungen albanischen Autorin besprechen zu dürfen. Nun, so ganz hat Anila Wilms es nicht geschafft, mit einem Schlag meine Klischeekiste aufzuräumen. Aber „Das albanische Öl“ ist auch kein Gegenwartsroman über die heute existierende kleine Republik (Verfassung seit 1998) zwischen Montenegro und Mazedonien, sondern führt mitten hinein in die Zwischenkriegszeitwirren, als Albanien plötzlich zum Rummelplatz der Großmächte wurde. Die Schauplätze des Romans – das obligatorische Kaffeehaus, der Marktplatz, die amerikanische Botschaft, die eher einem Bretterverschlag gleicht – all das führt zurück zu den Bildern vom „wilden Albanistan“ und verfestigt den Eindruck, dass es dort „irgendwie anders“ zugeht. Blutrache, Stammesfehden und andere Hinweise auf die albanische Kultur, insbesondere die der Bergvölker, auf die Rolle der Beys und der Stammesältesten tun im Roman ihr Übriges, um die Vorstellungen von einer archaischen Gegend zu verfestigen.
Anila Wilms hat diese Bilder jedoch auch durchaus bewusst gesetzt, fast schon als ironische Akzente, wie sie in einem Interview mit dem DAAD-Magazin verdeutlichte:
„Auf der europäischen Seite ist es vermutlich genauso schwierig, die eigene Weltanschauung zu durchschauen und sich in die Logik einer anderen Kultur hineinzudenken. Die westliche Zivilisation beruht auf Renaissance, Reformation und Aufklärung. Das alles hat der byzantinisch und osmanisch geprägte Balkan verpasst, diese beiden Teile Europas liegen kulturell einige Jahrhunderte auseinander. So wie Albaner diese Kluft nicht so einfach überwinden können, um Deutsche, Amerikaner, Franzosen oder Briten zu verstehen, so können diese auch nicht ohne Weiteres eine vorindustrielle Kultur nachvollziehen, die noch durch und durch traditionell, abergläubisch und voraufklärerisch ist. Was schief geht, ist die Kommunikation – sie kommt einfach nicht zustande.“
Diese Missverständnisse zwischen Orient und Okzident sind das eigentliche Kernthema ihres Romans – am Ende stehen nämlich alle Akteure auf diesem temporären Rummelplatz der Geschichte mit leeren Händen da, gewonnen ist gar nichts.
Die Autorin führt mit ihrem Roman, einer Mischung aus Komödie, Krimi und Satire, zurück in das Jahr 1924. Damals war das Land, das seit jeher unter Fremdherrschaft und wechselnden Einflüssen litt, besonders zerrissen: Zwischen Ende des Ersten Weltkrieges und 1924 wechselten die Regierungen schneller als manche ihrer Protagonisten wohl die Leibwäsche. An jedem Ende zerrte eine Großmacht – denn in Albanien wurden reiche Erdölvorkommen vermutet, die Interessen waren also durchaus lebhaft und aufgeheizt. Anila Wilms greift eine historische Episode auf, anhand der sie das ganze Gespinst der diplomatischen Verwirrungen auffächert: Zwei junge Amerikaner werden auf einer Brücke in den nördlichen albanischen Bergen ermordet (ein wenig erinnert das Szenario an die „Brücke über die Drina“ von Ivo Andric). In der Hauptstadt Tirana löst dieser Mord ein politisches Erdbeben aus – konkurrierende innenpolitische Mächte, die Diplomaten und Agenten des Auslands, insbesondere der USA und Großbritanniens, Journalisten und Geschäftsmänner verfallen in Hektik. Der Mord muss aufgeklärt oder einem politisch opportunen Gegner in die Schuhe geschoben werden – um jeden Preis. In die Schuhe geschoben wird das Attentat einigen Unschuldigen im wahrsten Sinne des Wortes – erste Opfer der Unruhen sind nämlich drei junge Hirten. Sie haben die Tat beobachtet, der Jüngste der Brüder kann nicht widerstehen und holt sich die amerikanischen Edeltreter. Sein Pech, dass sogar belgische Spürhunde auf die Spur gesetzt werden – die drei Hirten werden schnell und unbürokratisch höher gehängt, werden zum Opfer der politischen Irrungen und Wirrungen. Der vergleichsweise schmale Roman ist voller solcher Volten – manchmal macht es die üppige Phantasie der Autorin, die gerne auch die Erzählebenen wechselt, dadurch jedoch etwas mühsam, der Geschichte zu folgen. Etwas weniger Exotik, etwas weniger Nebenschauplätze, weniger Personal – eine stringentere Erzählweise hätte der Geschichte an sich sicher nichts von der Spannung genommen, den Erzählfluss jedoch verstärkt.
Wie die ausländischen Vertreter in diesem Wirrwarr ticken, ist den albanischen Machtmenschen, denen es mehr um ihr eigenes denn das Interesse ihres Volkes geht, bald bewusst: „Vom Geschick der ersten Schachzüge würde alles Weitere abhängen. Fuad Herri hatte längst begriffen, wie man mit den Westlern umgehen musste. Ihr Zorn konnte sehr bedrohlich werden, und Amerika besaß die größte militärische Schlagkraft der Welt.“
1924 in Albanien – 2013 im Libanon: Die Welt dreht sich, aber manche „Spiele“ bleiben eben immer gleich. Auf andere, leichtere Art und Weise als beispielsweise John Dos Passos in seinem „Orient-Express“, fast 90 Jahre zuvor geschrieben, macht Anila Wilms deutlich, wie sehr der Balkan lange Zeit bloßer Spielball der Großmächte war. Ein Erbe, an dem der Landstrich, der später hinter den Eisernen Vorhang fiel, noch lange zu leiden hatte.
Insofern ist die so ironisch anmutende Komödie auch eine politische Parabel. Samt dem tragisch-komischen Ende: Natürlich wird am Ende der Täter aufgedeckt – doch zurück bleiben ein zerrüttetes Parlament, ein desillusionierter Diplomat, dem der letzte Idealismus geraubt wird, und ein zerrissenes Land, das einmal mehr den Machtgierigsten in die Hände fällt.
„Nini, mein Sohn, in dieser letzten Schlacht werden die Fäulnis des Orients und die Leuchtkraft des Okzidents endgültig aufeinander prallen. Laster, Ignoranz und Niedertracht gegen Gerechtigkeit, Aufklärung und Ritterlichkeit!“
So einfach und endgültig, wie sich einer der albanischen Oppositionellen, vom Westen verklärt und beeinflusst, die Lösung wünscht, macht es uns die Geschichte jedoch nicht. Albanien wird noch lange zerrissen bleiben – vielleicht wird Anila Wilms, die mit diesem Roman ein hervorragendes Debüt gegeben hat, in weiteren Büchern von der Entwicklung ihres Landes schreiben. Mit ihr macht es jedenfalls sehr viel Spaß, dieses zwar nahe, aber doch so fremde Land kennen zu lernen.
Anila Wilms selbst ist 1971 in Tirana, der albanischen Hauptstadt, zur Welt gekommen. Als DAAD-Stipendiatin kam sie 1994 nach Berlin. Ihren ersten Roman schrieb sie abwechselnd in deutscher und albanischer Sprache – ein spannendes Experiment, wie ich meine. Für diesen Erstling wurde sie mit dem Förderpreis des Adelbert-von-Chamisso-Preises 2013 und dem Stuttgarter Krimipreis 2013 ausgezeichnet.
Der Roman erschien im Transit Verlag, Informationen zum Buch hier:
https://www.transit-verlag.de/produkt/das-albanische-oel-oder-mord-auf-der-strasse-des-nordens/
Diesen Roman habe ich seinerzeit auch gelesen, mit sehr viel Gewinn!
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Danke für den Hinweis auf den Indie-blog !
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Stimmt, Albanien ist auch für mich ein ziemlich weißer Fleck auf der (nicht nur literarischen) Landkarte.
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