Frank Duwalds Liebesreigen der Literatur (3): Frost, Erna Piaf und der Heilige

p1040113Richard Lorenz – Frost, Erna Piaf und der Heilige (2016)

Dass auch Penner in den Himmel kommen, ist eine der vielen Erkenntnisse, die man aus Richard Lorenz‘ melancholischen Roman Frost, Erna Piaf und der Heilige ziehen kann. Denn für Richard Lorenz sind es die Gestrauchelten, für die sein Herz schlägt, die Obdachlosen, die für die Gesellschaft ihr Menschsein eingebüßt haben, nur noch als Kreaturen wahrgenommen werden, an denen man zügig vorbei geht. Lorenz macht sie zu Königinnen und Königen, nimmt ihnen das Geisterhafte und gibt ihnen einen Charakter und damit auch ihre Würde zurück. Was ein harter realistischer Enthüllungsroman hätte werden können, entblättert sich aber nach völlig eigenen literarischen Gesetzen. Hart und realistisch ist der Roman durchaus, aber seine etwas versponnene und humorvolle Sprache lenkt den Text frontal in unser Gewissen, ohne freilich moralisierend zu sein, und dorthin, wo die Gefühle herkommen. Kaum eine Seite geht vorüber, ohne dass man entweder über verblüffende Sätze oder aber kluge Anekdoten staunt. Diese Fülle an Lebensweisheit und Staunenswertem sowie die Tatsache, dass man einen Großteil davon recht schnell wieder vergisst, bewirken eine beinahe traumähnliche Leseerfahrung.

Anderes Thema: Liebesgeschichten laufen ja meist nach demselben Schema ab: Rauschhafter Beginn …, großes Liebesglück …, die Tragödie! Jedoch schreiben auch einige wenige ernstzunehmende Autoren von Liebesromanen diese ewige Geschichte rückwärts. So etwa Nathaniel Hawthorne in Das Haus der sieben Giebel und jetzt Richard Lorenz in Frost, Erna Piaf und der Heilige.

Lorenz‘ Roman beginnt kuriositätenreich in der Kindheit des Protagonisten Frost, einem einsamen, verträumten Jungen, dessen Gedichte Sterbenden helfen, leichter ihre Welt der Qualen zu verlassen. Als Erwachsener arbeitet er in einem nicht ganz alltäglichen Hospiz, einem Sterbehaus für die Armen, ganz ohne Zimmerpalmen und Fahrstuhlmusik. Hier erhalten die Verlorenen die Schmerzmittel, die ihnen den letzten Gang erleichtern sollen, aber auch den Respekt, der ihnen auf der Straße verwehrt bleibt. Es ist eine finstere Kulisse, die Richard Lorenz, dieser Poet der gefallenen Engel, da entwirft. Leiden und Tod sind allgegenwärtig zwischen diesen Wänden. Und Frost hat die Fähigkeit, lindernde Gedichte zu erschaffen, als Erwachsener längst verloren.

Und dann kommt Amelie. Wir finden sie nicht im namenreichen Titel des Romans, aber sie ist der geheime Motor der Geschichte. In ihrem eigenen Leben völlig orientierungslos, ist sie aber immer zum richtigen Zeitpunkt dort, wo man gar nicht wusste, dass man sie braucht.

Die Liebesgeschichte zwischen Frost und Amelie beginnt zaghaft und erfüllt sich erst während jener grotesken Pilgerreise, die die beiden zusammen mit den beiden Obdachlosen Erna Piaf (der heimlichen Tochter von Edith) und dem Heiligen (der seit Jahren behauptet, so krank zu sein, dass er jeden Moment sterbe) nach Paris führt, dem Shangri-La der Heimatlosen. Glück und Zuversicht strömen in die eisige Dunkelheit und beschließen ein Buch der Menschlichkeit.

Frank Duwald

Frank Duwald schreibt seit 1987 über Literatur. Auf seiner Seite dandelion | abseitige Literatur bespricht er vorwiegend Romane und Erzählungen jenseits des Mainstream.

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

3 thoughts on “Frank Duwalds Liebesreigen der Literatur (3): Frost, Erna Piaf und der Heilige

    1. Ich würde sogar empfehlen, mit „Frost“ anzufangen, da er auf Anhieb zugänglicher ist als „Amerika-Plakate“, was aber nicht heißen soll, dass „Amerika-Plakate“ weniger empfehlenswert ist. Ist halt wesentlich komplexer als „Frost“ und fordert sehr viel Phantasie beim Lesen.

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