Mark Twain: Ist Shakespeare tot? (1909/2016). Mit Buchverlosung.
„Als Shakespeare 1616 starb, verfügte die Londoner Welt über großartige literarische Produktionen, die ihm zugeschrieben wurden und die seit vierundzwanzig Jahren höchstes Ansehen genossen. Doch sein Tod war kein Ereignis. Er sorge nicht für Betroffenheit, er erregte keine Aufmerksamkeit.“
Mark Twain, „Ist Shakespeare tot?“, Piper Verlag, 2016.
Heutzutage ist das anders: Von den wenigen biographischen Daten, die man von William Shakespeare hat, ist zumindest der Todestag gesichert: Der 23. April 1616. Und 400 Jahre danach gedenkt die Welt jenes Mannes aus Stratford-on-Avon mit allerhöchster Aufmerksamkeit. Aber im Grunde bräuchte es keine Jubiläen, um an den berühmtesten aller Dichter zu erinnern. Denn jede Minute wird – bewußt oder unbewußt – irgendwo auf der Welt ein Shakespeare-Zitat ausgesprochen, jeden Tag irgendwo auf dem Globus ein Shakespeare-Stück aufgeführt. Der Mann und sein Werk: Sie überstrahlen noch immer alles und alle.
Doch wer war Shakespeare? Seit jeher brodelt die Gerüchteküche: Dass einer aus einfachen Verhältnissen, ohne nennenswerte Bildung, ohne akademische Karriere, ohne die entsprechenden Verbindungen zum berühmtesten Dichter seiner und der nachfolgenden Zeiten aufsteigt – das befeuert die Phantasie. Shakespeare – also jener Shakespeare aus Stratford – so ist die überwiegende Meinung, war nicht Shakespeare, jedenfalls nicht der Mann, der „Romeo und Julia“, „Hamlet“ und „Der Sturm“ schrieb.
Im Grunde ist es für mich zweitrangig, wer Shakespeare wirklich war, solange es diese wunderbaren Stücke gibt und sie immer wieder neu adaptiert und interpretiert werden. Die zeitweise erbittert geführten Debatten zwischen „Shakespearianern“ und „Baconisten“ sind in ihrem Ernst und in ihrer Absurdität streckenweise befremdlich. Und wer für Aufsehen sorgen will, kommt irgendwann mit einem neuen Shakespeare – beispielsweise de Vere – daher. Doch wenn schon spekulieren, dann wenigstens so vergnüglich, wie es nun in einem von Nikolaus Hansen übersetzten Text des bejahrten Mark Twain geschieht.
1909 veröffentlicht der amerikanische Schriftsteller und Satiriker ein schmales Buch: „Is Shakespeare dead?“ und bekennt frei heraus:
„Im Wir-nehmen-an-Handel machen drei separate und voneinander unabhängige Kulte miteinander Geschäfte. Zwei dieser Kulte sind unter den Namen Shakespearianer und Baconisten bekannt, und ich bin der dritte – der Brontosaurier. Der Shakespearianer weiß, dass Shakespeare der Verfasser von Shakespeares Werken ist. Der Baconist weiß, dass Francis Bacon ihr Verfasser ist; der Brontosaurier weiß nicht so genau, wer von beiden sie geschrieben hat, ist aber recht entspannt und zufrieden der festen Überzeugung, dass Shakespeare es nicht war, und er hegt die starke Vermutung, dass Bacon es war.“
Ganz so entspannt bleibt der alte Mark Twain – beim Verfassen des Textes immerhin schon 73 Jahre alt – jedoch im Verlaufe des Büchleins nicht. Die hauptsächliche These, auf die er sich als Beinahe-Baconist stürzt: Die Shakespeare-Dramen zeugen von einem profunden juristischen Wissen, das sich ein ungebildeter Geldmensch aus einem Kaff namens Stratford niemals habe aneignen können. Francis Bacon dagegen war, so Mark Twain, ein Universalgenie mit klassischer Bildung, ein strahlender Stern am Horizont. Sicher ist es zwar in seinen Augen nicht, dass Bacon Shakespeare war – aber so gut wie unmöglich, dass eben jener Shakespeare Shakespeare war.
Hauptsache jedoch, er war:
„Es hat nur einen Shakespeare gegeben. Zwei kann es nicht gegeben haben; schon gar nicht zwei zur selben Zeit. Es braucht Ewigkeiten, einen Shakespeare hervorzubringen, und weitere Ewigkeiten für einen, der ihm ebenbürtig ist. Diesem war niemand vor seiner Zeit ebenbürtig; und niemand in seiner Zeit; und niemand seither. Die Aussichten, jemand könnte ihm in unseren Zeiten ebenbürtig sein, sind nicht gerade rosig.“
Neue Erkenntnisse in Sachen Shakespeare-Detektei birgt dieser Text von Mark Twain dem Leser nicht. Auch war der Satiriker schon in besserer Form: Es gibt unterhaltsamere und bissigere Texte von ihm. Aber dennoch: Mark Twain ist Mark Twain, gerade auch wenn er über einen Shakespeare schreibt, der nicht Shakespeare war. Und so ist der schmale Band eine vergnügliche Lesestunden-Fußnote für alle Shakespeare-Fans und oder eben Liebhaber jenes Dramatikers, der wer auch immer war …
Der Piper Verlag, dem ich für das Rezensionsexemplar danke, hat für das Buch Leander Haussmann für ein Vorwort gewonnen – und der Regisseur und Schauspieler fährt Mark Twain in einem Brief auf dem Verlagsblog vergnüglich in die Parade: Shakespeare war ein Kollektiv, ein „writers room“.
Zum Blog: https://www.piper.de/aktuelles/buchblog/leander-haussmann-schreibt-an-mark-twain
Und wer von euch noch eine Shakespeare-Theorie unter den Kommentaren hinzufügen mag, der hat die Chance, dieses Buch hier zu gewinnen. Verlost wird das Rezensionsexemplar unter den Kommentatoren am kommenden Freitag.
Für den Herbst hat der Verlag »Galiani Berlin« übrigens eine pralle Shakespeare-Bildmonographie, resp. einen Quellenband angekündigt (eigentlich sollte er schon im vergangenen Jahr erschenen). Autor ist Günter Jürgensmeier. Den kenne ich aus dem Arno-Schmidt-Umfeld als einen akribischen und überaus talentierten Quellenforscher und Archiv-Auskehrer. Das Buch wird mit Sicherheit sehr interessant, denn Jürgensmeier verspricht nichts geringeres, als »alles, was es über W.S. gibt« gefunden zu haben. Halt mal die Augen offen, wenn das Buch erscheint. lg_jochen
Gefällt mirGefällt mir
Bücher, die aufdecken wollen und gleichzeitig Klassiker wieder ins Bewusstsein der Leser zerren, reizen mich. Eine Theorie wage ich persönlich nicht, aber ich genieße schlaue Köpfe, die wagemutige Thesen formulieren und Bestehendes ankratzen. Ob profund oder eher phantasievoll, ganz gleich!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Hmm, eine wirkliche Shakespeare-Theorie habe ich nicht. Aber ich liebe es ganz besonders mir die Argumente der diversen Theoretiker dazu anzuhören, durchzulesen und darüber zu schmunzeln. Es scheint die Leute wirklich wahnsinnig zu machen, das es gewisse Dinge gibt, auf die wir keine Antwort haben. Übrigens ein schöner Beitrag. VIele Grüße, Stephanie
Gefällt mirGefällt mir
Liebe Birgit, das Geheimnis der Herkunft der Texte macht für mich den Zauber um Shakespeare mit aus. Es regt zum Träumen und Vermutungen anstellen an. Manchmal bin ich traurig, dass wir nie erfahren werden, wie es wirklich war. Aber würde dieses Wissen nicht den Zauber brechen?
Einen schönen Morgen wünscht dir Susanne
Gefällt mirGefällt mir