Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff (2009).

„Jedes Erdgeschoß, jeder Keller ist in einen Souvenirshop umfunktioniert worden. Früher waren das kühle Räume für die Waren mit vielleicht ein paar Bottichen neben dem Eingang oder Wassertröge, in denen glubschäugige Fische schwammen. Heute quellen die Erdgeschosse über, quellen mit unsäglichem Ramsch zum Eingang hinaus, übermannshoch ist das Zeug gestapelt; vor allem beschallt jeder Ladenbesitzer in absolut irrsinniger Lautstärke die Straße. Eine Ohrhölle.“

Für den Roman “Apostoloff” erhielt Sibylle Lewitscharoff 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse. Also lange, bevor sie mit ihren rhetorischen Ausfällen im März 2014 in Dresden für einen Eklat sorgte. Wer ihren preisgekrönten Roman unter dem Eindruck der Dresdner Rede nochmals liest, wird feststellen: Die Grundmisanthropie bis hin zum Weltekel sind schon in diesem Werk zu finden. Geht man davon aus, dass die Ich-Erzählerin des Romans autobiographische Züge trägt, so ist vieles von dem, was die Autorin seither öffentlich äußerte, in diesem Buch bereits angelegt: Eine gewisse Arroganz gemischt mit Minderwertigkeitskomplexen, stets eine explosive Mischung. Verdruckte Sexualität, unausgelebte Sehnsüchte und eine allgegenwärtige Verdrossenheit, sich austobend am Leben und der Welt.

Sibylle Lewitscharoff läuft dann zu Hochform auf, wenn sie ihre Protagonistin über das Mutterland Bulgarien schimpfen lässt: Eine heruntergekommene Ohrhölle, bebunkert mit scheußlichen Fassaden am Schwarzen Meer, bevölkert mit suspekten Gestalten, ein Land, in dem man Charme und Liebreiz lange suchen muss. Zwei längst erwachsene Schwestern lassen sich durch dieses Land, die Heimat des verstorbenen Vaters, chauffieren. Von einem, dessen Vater ausgerechnet den Namen „Kristo Apostoloff“ trägt.

Wie ein guter Apostel will Rumen, der Sohn, Apostoloff jr., durchaus missionieren, sprich, die verlorenen Töchter für dieses Bulgarien einnehmen. Keine Chance, nicht mal durch Liebeständelei: Die zwei Damen, ausgerechnet aufgewachsen und schwäbisch sozialisiert in Degerloch, haben, so unterschiedlich sie sind, eines gemeinsam: Ein Vaterproblem. Dieser, der Bulgare, entschied sich, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Das hinterlässt Lücken, das hinterlässt Fragen. Aber eine Klärung und Analyse der Familientristesse darf man vom Buch nicht erwarten. Dem Unglück wird begegnet durch das Komödiantische und Groteske. Durch Wortkaskaden und Sprachfassaden einer begabten Schwätzerin.

Man kann begeistert sein– eine, die erzählen kann, die fabuliert, dass es eine Lust ist. Man kann aber auch müde werden vom Monologisieren um des gut formulierten Monologs willen. Kein Buch für jede Stimmung. Die sprachliche Bravour bringt die Fassade zum Bröseln, die Mauersteine der Geschichte werden einfach zusammengeschwätzt.

Eloquent und rastlos - ein rhetorischer Sturm.

Im Lichte der späteren Ereignisse haftet dem Urteil von Elmar Krekeler in der Welt am Sonntag über den Roman inzwischen etwas Zwiespältiges an. Er schrieb über Lewitscharoff und Apostoloff: “Wenn sie wütend ist, wenn sie Gift und Galle spuckt, wenn sie rast, dann wird sie immer größer, richtig gut und unheimlich komisch.” Vielleicht gab es zuviel Anerkennung der Kritik für das Wüten der Autorin, die inzwischen darin wenig Grenzen mehr zu kennen scheint. Und verunsichert reagiert, wenn ihr Empörung entgegenschlägt - denn wofür sie sich einstmals hochgelobt glaubte, dafür kassiert sie nun öffentliche Prügel. Sie habe doch nur geäußert, was sie denke, und das müsse doch erlaubt sein - diese Reaktion der Autorin auf den Sturm der Empörung spricht Bände. Sie hat, so scheint es mir, eine wesentliche Grenze nicht erkannt.

Denn es ist die eine Seite, über fiktive Gestalten so zu schreiben: “sie spottet, hetzt, zetert, singt, kichert, schimpft, schwärmt, deklamiert, agitiert und zieht sämtliche Register der aristotelischen Redekunst. Ein Sturm geht auf uns nieder, ein töchterliches Redegeprassel … ” (Maike Albath über “Apostoloff” in der Frankfurter Rundschau). Doch spotten, hetzen, zetern, schimpfen und deklamieren über “echte” Menschen, sich in diesem Modus in gesellschaftliche Themen einzumischen, ist eine ganz andere Kategorie.

Am öffentlichen Umgang mit der Causa Lewitscharoff lassen sich etliche Doppelmoralitäten erkennen - wie einer zum literarischen Star gepuscht und dann wieder fallengelassen wird wie eine heiße Kartoffel. Wie sich die Feuilletonisten meist einheillig einig sind im positivem Urteil und ebenso einhellig der Boulevard in der öffentlichen Verurteilung. Den Unsäglichkeiten der Aussagen der Sibylle Lewitscharoff folgten die  Unsäglichkeiten der medialen Reaktionen.

Doch, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wer aufmerksam las, konnte die Verbitterung und Weltablehnung der Autorin bereits im hochgelobten “Apostoloff” erkennen.

„Ebenso eloquent wie rastlos“, urteilte die Zeit über die Ich-Erzählerin. Sibylle Lewitscharoff habe für diesen Roman allem Anschein nach tüchtig in der Kiste mit Familienstoff gekramt. „So geht die Romanfahrt flott voran, vorbei an ostsozialistischen Scheußlichkeiten sonder Zahl, die Schwarzmeerküste ist eine einzige Enttäuschung, nur den Ikonen von Arbanassi wird ein gewisser Zauber und dem Schafskäse eine einzigartige Qualität bescheinigt. Sibylle Lewitscharoff kann schreiben und schäumen, ohne Frage. Sie formuliert einfalls- und anspielungsreich, bissig, launig verspielt und aus einem Geist, wie er nicht nur in den Bezirken weiblichen Schreibens eher selten vorkommt. Da herrscht ein kaltblütiges Sprachregiment, dem jede Schandtat recht ist, solange sich damit nur Sätze erzeugen lassen, die strotzen vor Witz, Gescheitheit und Schlagfertigkeit.“

Literaturästhetisch betrachtet, so urteilte Eberhard Falcke 2009 in der Zeit, „erscheint das schön und schrecklich, bewundernswert und nervtötend zugleich. Ganz abgesehen davon, dass die erzählerische Opulenz gedanklich doch etwas mager ausfällt und die virtuose Rhetorik zuweilen ein wenig hohl tönt. Wenn zum Beispiel ein Essen mit dem Satz beschrieben wird: »Mit unseren Genicken hängen wir müde über den Tellern«, dann fragt sich doch, wo da die Köpfe geblieben sind.“

Die Köpfe waren beim Quasseln, ist doch klar.

Wilhelm Genazino: Die Obdachlosigkeit der Fische (1994).

Es ist Spätnachmittag, heimkehrende Angestellte strömen in die Geschäfte. Der Gemüseladen ist ziemlich voll. Ein Kind steht an der Tür und spielt mit der Klinke. Nicht lange, dann ruft eine nervöse Frau, wahrscheinlich die Mutter, in Richtung Kind: Laß die Tür in Ruh! Das Kind reagiert nicht. Es öffnet die Tür und streckt die Hände hinaus. Darauf die Mutter: Hörst du nicht? Rein oder raus! Das Kind folgt wieder nicht. Recht hat es! Warum ist es nicht erlaubt, teilweise draußen und teilweise drinnen zu sein? Ist das nicht überhaupt der beste Gebrauch, den man von einer Tür machen kann? Schon möchte ich der Mutter einen Kurzvortrag über die Freiheit in Gemüseläden halten, da fällt mir ein Spruch aus der Schule ein: Richtige Lehrer weisen auch Erwachsene zurecht. Immer habe ich den Spruch belächelt, jetzt schickt er mein Denken auf die Suche nach einem nur für mich konstruierten Notausgang.

Wilhelm Genazino, “Die Obdachlosigkeit der Fische”, Erstausgabe 1994.

Soweit mir bekannt, das einzige Buch Genazinos aus der Perspektive einer Frau: Einer alleinlebenden Lehrerin, Mitte Vierzig, in einer halb drinnen-, halb draußen-Beziehung zu Helmuth, einem Rechtsanwalt, schon mit mehr als einem Bein aus der Schule und dem Lebensalltag draußen, ein Leben, das vom Verlieren und Verschwinden geprägt ist - liegengelassene Orangen, Mützen, andere Alltagsgegenstände, die entgleiten wie klitschige Fische. Eines der melancholischsten Bücher Genazinos - das auch in der Form keinem Roman gleicht, sondern gemäß des sich auflösenden Denkens der Protagonistin viel mehr aus Miniaturen besteht. Tagträumereien, Gedankenverlorenheiten.
Ein graues Leben, das man denn doch lieber von draußen beobachtet. Das Lesen birgt akute Melancholieansteckungsgefahr in sich. Und dennoch: Sprachlich schön-eigenwilliger lässt sich Beobachtung von erdrückenden Alltagsnebensächlichkeiten kaum festhalten.

“Es rühren mich ein paar Grasbüschel, die zwischen Pflastersteinen herauswachsen. Sie sind niedrig und kraftvoll und sehen doch aus wie Überlebende, die niemand kennt.”

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal (2014).

Du duckst dich gern weg, sagte sie überraschend.
Ich ahnte nur ungenau, was sie meinte, aber ich wollte entgegenkommend sein und sagte nur: Ja, geb` ich zu.
Fühlst du dich wohl dabei?
Schwer zu sagen, antwortete ich.
Deine Rückzugsgefechte führen nicht zu einem eigenen Leben, sondern höchstens zu einer Eigenbrötlerei.
Mir war nicht klar, wie ausgerechnet sie als Finanzbeamtin von einem eigenen Leben reden konnte. Aber ich war viel zu verblüfft, um zu widersprechen.
Merkst du, wie die Eigenbrötlerei mehr und mehr zu einer Abkapselung führt, sogar wenn wir im Bett liegen.
Das kann ich nicht nachvollziehen, sagte ich.
Und aus deiner Abkapselung tritt die Einsamkeit hervor und aus dieser ein vorzeitiges Altern.
Hast du diesen Satz auswendig gelernt, fragte ich.
Ich meine es ernst, sagte sie.
Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich jetzt schon gewusst hätte, wie die nächsten Stunden verlaufen würden. Tatsächlich saßen wir inzwischen wie zwei fremde Skulpturen an einem Cafétisch und achteten darauf, dass wir uns nicht anschauten. Am Nebentisch erklärte eine Mutter ihrem Kind, was eine Monatskarte ist.

Wilhelm Genazino, „Bei Regen im Saal“, Hanser Verlag, 2014.

Immer dasselbe: Ein Mann, meist Anfang bis Ende Vierzig, Einzelgänger, ohne berufliche oder private Perspektiven geschweige denn Ambitionen, meist mit einem Bein außerhalb der „normalen“ Gesellschaft stehend, meist mit einem Bein doch auch hineinwollend, mit einem halben Herzen in einer Liebesbeziehung, mit dem anderen halben Herzen nicht dabei, ein beobachtender Spaziergänger, Alltäglichkeiten registrierend und kontrollierend, nicht ohne Aburteilungstendenzen, ja, eigenbrötlerisch bis hin zur Misantrophie. Eine typische Genazino-Figur eben.

Mit großer Verlässlichkeit schickt der Frankfurter Schriftsteller einen dieser Anti-Helden alle ein, zwei Jahre auf den Weg. Man könnte sagen: Kennt man einen, kennt man alle. Und dennoch harre ich geduldig seit dem „Abschaffel“ um wieder einmal „Mittelmäßiges Heimweh“ oder das „Glück in glücksfernen Zeiten“ empfinden zu können, um einen „Regenschirm für einen Tag“ zu haben oder auch, um von „Der Obdachlosigkeit der Fische“ zu erfahren.

Nun also „Bei Regen im Saal“. Reinhard, 43 Jahre alt, (einer der seltenen Fälle, in denen die männliche Hauptfigur einen Vornamen erhält, wenn auch nur einmal nebenbei erwähnt) ist so ein Zwischendrinsteher, der nach den Möglichkeiten zur Durchführung des Lebens sucht.

„Ich war gerne zu Hause, wenn mich meine Müdigkeit ratlos machte. Gleichzeitig belastete mich die Unzufriedenheit mit meiner derzeitigen Lage. Ich sehnte mich nach mehr Normalität. Wie die meisten anderen Menschen wollte ich tagsüber arbeiten und nachts schlafen und am Wochenende ins Kino gehen.“

„Ich meinte auf der Haut zu spüren, wie mich die Abende zermürbten. Ich sehnte mich danach, ein gewöhnliches Leben zu führen. Die meisten Menschen wissen genau, was sie dürfen und worauf sie sich verlässlich freuen können.“

„Eines meiner Probleme war, dass ich mich für fast alles zu alt fühlte. Ich war vierundvierzig oder achtundvierzig, vielleicht aber auch erst einundvierzig. Wie meine Mutter hatte ich angefangen, mein genaues Alter nicht mehr wissen zu wollen. Jedenfalls war mir unklar, was ich inmitten der schnellverderblichen Welt noch anfangen sollte.“

Eines der Probleme der Reinhards und der unbenannten weiteren Genazino-Helden ist es zudem, dass sie meist nicht wissen, was sie wollen (und wenn sie es denn haben, wollen sie es nicht mehr), wohin und zu wem sie gehören (wollen). Oder auch nicht. Und, frei nach Teresa von Ávila, werden auch hier mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen denn über die Unerfüllten…
So schlägt sich Reinhard, studierter Philosoph, als Nachtportier, Barmann und in freier Beratertätigkeit als „Überwinder“ (er, der von Ängsten selbst geplagte, hilft anderen bei der Angstüberwindung) durch, unterhält ein intimes Verhältnis zu Sonja („Wahrscheinlich verdankte ich es ihrem Druck, dass ich noch den Pfad der Ordentlichkeit gefunden hatte.“), prokrastiniert jedoch vor deren Verlangen nach elfjähriger Beziehung nach mehr Verbindlichkeit („Die Technik des schnellen Vergessens erinnerte mich an die Ehe meiner Eltern und beunruhigte mich. Tauchte am Horizont allmählich die Ehe auf?“) und etwaigen Erlebnissen. Eine Paris-Reise ist Überforderung pur. Als Sonja ihn jedoch verlässt, ereilt auch Reinhard die typische Genazino-Zuspitzung der seinen Figuren eigenen chronischen Sinnkrise.

„Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentweisen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht mehr länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte.“

Überlassen wir hier Reinhard seinem Schicksal. Er wird, wie seine Vorgänger, noch einige Buchseiten herumstehen, herumlaufen, herumdenken, herumhadern, um dann von Sonja wieder aufgenommen zu werden. Um auch dann erneut nicht zu wissen, was er vom Leben will. Oder auch nicht.
Genazino lesen, das könnte auch niederdrückend sein. Für manche Leser vielleicht schon. Wer ihn jedoch schätzt, der kennt die Erfahrungen der Halberlebnisse, der Vollkommenheit einer persönlichen Unordnung, der Arbeit, dies braucht, um das Gefühl zu erfinden, halbwegs zur Welt zu gehören, das Gefühl der Verflusung des Lebens. Man kann sich dabei in eine Versenkung hineinlesen und dennoch Momente des Glücks in glücksfernen Zeiten erfahren. Sei es beim Beobachten einer tumben Taube. Sei es beim Genuss eines Mettwurstbrötchens. Oder einfach auch beim Anliegen bei einer Busenbegleitung.

Link zum Buch beim Verlag: http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch.html?isbn=978-3-446-24596-9

Stephan Thome: Grenzgang (2009)

“Die Kuppen ihrer Finger streifen über seine Handflächen, bevor sie sich mit den anderen Fingern verschränken. So stehen sie still für einen Moment, ein Zwei-Personen-Rahmen für den enger werdenden Raum zwischen ihren Körpern. Spielraum.“

Stephan Thome, “Grenzgang”, 2009.

Eine Frau, ein Mann. Mitte 40. Lebensentwürfe gescheitert. Gestrandet in der Provinz. Treffen einander. Irrungen und Wirrungen. Kommen trotzdem zusammen. Ein Ende, das sich nur zögernd happy anfühlt. Aber immerhin das. Und: Das Beste kommt zum Schluß. Das ahnt man schon. Die Beschreibung der Annäherung (daraus das Zitat): Wunderschön, bitterzart. Soviel zum Inhalt.

Auf den ersten Blick kein „Burner“. Doch Stephan Thome hat in seinem Roman das Provinzgetümmel so schön mit feiner Ironie gezeichnet, dass Elmar Krekeler in der Welt gar schwärmte: „In keinem Roman wohnt man so gern wie in diesem.“

Thome schreibt schön, schon in diesem ersten Roman, dem “Fliehkräfte” folgten, im Herbst wird sein dritter Roman beim Suhrkamp Verlag erscheinen.

Die Enge knistert zwischen allen Zeilen. Thome beschrieb neulich im Stern in einer Kolumne sein von Fernweh angetriebenes Leben. Einer, der meist unterwegs zu sein scheint, hat offensichtlich einen besonders unverstellten Blick auf die Heimat. Der Philosoph Thome hat promoviert über „interkulturelle Hermeneutik und die Herausforderung des Fremden“. Schön, dass er das Fremde in der deutschen Provinz als Herausforderung für seinen Debütroman angenommen hat.

Befremdlich für “Zugereiste” vielleicht auch die Tradition des Grenzgangs - bei “Schöne Seiten” findet sich eine besonders lesenswerte, weitaus ausführlichere Besprechung des Romans. UND!!! Caterina hat sogar einen Grenzgang mitgemacht - das ist wahre Literaturleidenschaft…:
http://caterinaseneva.wordpress.com/2012/08/18/stephan-thome-grenzgang/

“Das muss doch seine Mutter geschrieben haben” - Iris Radisch im Video über diesen “Provinzroman”

Kurt Tucholsky - Augen in der Großstadt

Bild

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

„Ich bin ein Berliner!“ Dieser Ausruf hätte genauso gut von Kurt Tucholsky stammen können. Der Dichter kam 1890 in der Metropole zur Welt. Ein geborener Großstadtmensch also im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder machte er sie zum Thema seiner Gedichte - man könnte im Falle der Großstadt-Augen auch schreiben: Seiner Lieder. Dieses Liedgedicht, das mit seinem wiederkehrenden Refrain einen eigenen Rhythmus hat, singt eine bittersüße Melodie vom Großstadtleben, von der Flüchtigkeit der Begegnungen.

Dieses entstand 1930 – in dem Jahr, als Tucholsky sich entschloss, dauerhaft ins Exil zu gehen. 1935 nahm er sich in Schweden - fern von seinem geliebten Berlin - das Leben. So könnte man das Lied auch als herbsüßen Abschied von einer eigenartigen, flatterhaften Geliebten interpretieren: Augen-Blicke in einer hektischen, pulsierenden Metropole, flüchtige Begegnungen, Verheißungen, das sich Finden und Vergehen. Die Großstadt als unbeständige, unnahbare Gefährtin, die Einsamkeit in der Masse.

Tucholsky steht hier auch in einer Tradition der Expressionisten und der Literaten, die die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema machten – exemplarisch dafür der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin.

Wie eine cineastische Untermalung dazu wirkt „Die Sinfonie der Großstadt“ – dieses großartige, experimentelle Filmportrait Berlins von Walther Ruttmann, das 1927 uraufgeführt wurde. Unbedingt sehenswert:

Im Gegensatz zu Tucholsky und Döblin (der 1933 ins Exil ging) passte sich Ruttmann den Zeitläuften an – er drehte ab 1933 für die Ufa unsägliche Propagandafilme wie „Blut und Boden“.