Joachim Geil: Ruhe auf der Flucht (2016).

Bild: Michael Flötotto

„Als Jill vor wenigen Wochen sagte, mein Onkel und ihr Vater seien fällig, fragte ich mich, ob sie deren Tod meinte, Der Tod ist ein ausgetretener Pfad, den zu viele beschritten haben, als dass er noch erstrebenswert wäre (allein der Todestourismus in die Schweiz, und gegen die Todesstrafe bin ich auch, obwohl es seit der Zarenkrise wieder viele Fürsprecher gibt, mehr denn je). Er hat seine ruhmreichen Zeiten hinter sich, aber als momentane Beatmung einer großen Flucht ins Endgültige bekommt der Tod einen coolen Reiz.“ 

Joachim Geil, „Ruhe auf der Flucht“, Steidl Verlag, 2016 

Was für ein seltsames, irritierendes, faszinierendes Buch. Genregrenzen? Einfach gesprengt. Erzählebenen? Durchmischt, vermischt, verwoben. Typographisches Einheitsbild? Gesetzte Kunst statt Einheitsbrei.

Ich muss zugeben: Es dauerte ein wenig, bis ich in die „Kellersonderwelt“ dieses Protagonisten hineinfand. Bildstarker Einstieg, dann der erste abrupte Einschub, Jan mit dem Kurzhaarschnitt wechselt an die Stelle des Erzählers Hubert.

Kein stringenter Erzählfaden eben (sondern ein Roman in vier Teilen und neunundfünfzig Verwahrstücken). Also auch keine „Ruhe auf der Flucht“. Man muss beim Lesen so hellwachsein wie der junge Hubert, seines Zeichens Ich-Erzähler (dem die Geschichte jedoch des Öfteren aus der Hand genommen wird), wenn der Onkel vor der Tür steht. Man muss die Geschichte mit den in einer Art Register angehängten Verwahrstücken, Puzzleteilen gleich, zusammenfügen, einen Sinn suchen, zugleich schon ahnend, dass neue Fragen sich öffnen werden. Aber dies vermag ein gutes Buch: Es wirft auch nach dem Lesen neue Fragen auf. Und so schlägt man am Ende den Roman zu, verwirrt, manches bleibt unaufgelöst, aber doch wissend: Da habe ich etwas ganz Besonderes gelesen.

Den Inhalt von Joachim Geils Roman in einer Rezension zusammenzufassen, ist kein einfaches Unterfangen. In einem Interview sagt der Schriftsteller: „In diesem Roman sind alle auf der Flucht“. Selbst die Hauptfigur, die äußerlich sesshaft scheint, flüchtet sich „in Kopfwelten“.

Vordergründig erzählt wird die Geschichte des 36jährigen Hubert, der - immer noch mit dem leiblichen Onkel zusammenlebend - Rachepläne schmiedet: Als Kleinkind ist er nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern zu dem alleinstehenden Mann gekommen. Doch die größte Lust dieses gepflegten, sich so weltmännisch gebenden Kulturmanagers einer pfälzischen Kleinstadt ist es, den Jungen zu misshandeln und zu missbrauchen - das geht so Jahre hinweg, bis Hubert uninteressant - weil zu männlich - für den Peiniger wird.

Parallel dazu wird von Jan erzählt - dessen erste Begegnung mit dem Rahmenhändler Daniel in einer Verführung endet, die einer Vergewaltigung gleicht. Gemeinsam mit dem älteren Mann zieht Jan auf eine irrsinnige Diebestour von Colmar bis Karlsruhe - zwei rätselhafte, aber durchaus anziehende Kunsträuber auf der Walz. Jans Traum: „Ein Weltschrank, wo endlich alles reinpasst.“ Die Welt, in Schubladen geordnet - ein Konzept, dem sich Joachim Geils Buch gekonnt entzieht. Ironie als Stilmittel, um immer wieder Lesererwartungen zu brechen:

 „Daniel nennt es Trip.“

 „Mein Onkel nannte es Hirnwichserei („…ach, sorry, Hubsi, war nicht so gemeint, wahrscheinlich hast du recht.“ Hätte er mehr gewichst und weniger gefickt, wäre ich womöglich das Opfer einer glücklichen Kindheit geworden.“

Erst nach und nach löst es sich auf, dass Jan offenbar nicht der angebetete Nachbarsjunge Huberts ist, sondern dessen Erfindung, sein abenteuerliches Flucht-Alter-Ego? Von denen Hubert mehrere hat - so auch den psychisch kranken Dichter Jakob van Hoddis, ebenfalls ein ewig Flüchtender, der jedoch - ähnlich wie Hubert - dann ausgerechnet an dem Ort, an dem es für ihn zum Schrecklichsten kommt, bleibt.

Während Jan und Daniel ihre Kreise ziehen, führt ein weiterer Erzählstrang auf die Spuren eines Frauenmörders, dessen Taten der Erzähler seinem von Parkinson geschüttelten Onkel unterschiebt. Rache vollendet, scheinbar.

Damit noch nicht genug an phantastischen Erzähleinfällen und -schüben: Afrikanische Flüchtlinge, die wie im KZ gefangen gehalten werden, Vor- und Rückblenden, in denen unter anderem von Jakob van Hoddis, von Georg Heym und Hölderlin erzählt wird, flämische Künstler, die zum Leben erweckt werden: Joachim Geil zeigt eine Lust am Spiel mit Identitäten und Erzählebenen, die beim Lesen zunehmend mehr an eigener Spiellust weckt. Er erzählt von Flucht und Flüchtenden, ein weiteres zentrales Thema ist jedoch auch dieses von Schuld und Sühne: Selbst mit vollzogener Rache ist Hubert nicht befreit - der Racheakt auch ein Akt der Selbst-Verschuldung.

Missbrauchsdrama, düsterer Thriller, Provinzposse, Dystopie und vieles mehr - dieser Roman hält sich nicht an Grenzen, nicht an Formen und Stile und, wie eingangs erwähnt, nicht an Schrifttypen: „Ruhe vor der Flucht“ ist auch optisch ein auffallendes Buch, typographisch mit viel Sorgfalt gemacht, handwerklich perfekt. Ein „Steidl-Buch“ sagt der Autor, der eigentlich einen ganz „normalen“ Roman geplant hatte. Doch da nahm im einerseits der kalligraphisch begabte Protagonist die Feder aus der Hand, andererseits entwickelte sich die Zusammenarbeit mit dem Künstler Reinhard Doubrawa, ein Dialog, der Wort und Bild in den Verwahrstücken zusammenführt.

„Ruhe auf der Flucht“ ist der Schlusspunkt einer Art „Heimattrilogie“, die jeweils im Pfälzischen angesiedelt ist. Vor allem aber sind es Bücher, die um die Themen Vergeblichkeit und Vergeben im menschlichen Leben kreisen.

Schon in seinem Debütroman „Heimaturlaub“, der von einem Soldaten im Zweiten Weltkrieg handelt, als auch in „Tischlers Auftritt“, der die Fragen der 1968er-Generation aufgreift (beide ebenfalls bei Steidl erschienen), stellte Joachim Geil Männer in den Mittelpunkt, die aus den richtigen Gründen das Falsche tun, die Schuld auf sich laden. Mit dem ungewöhnlichen Roman „Ruhe auf der Flucht“ zeigt der in Köln lebende Autor seine unkonventionelle Gestaltungskraft auf. „Ruhe auf der Flucht“: ein empfehlenswertes Buch für Leser, die die Geduld haben, sich einem Buch nicht nur flüchtig, sondern in aller Ruhe zu widmen.

Ein Blick in das Buch lohnt sich sehr:
https://steidl.de/Buecher/Ruhe-auf-der-Flucht-1639425061.html

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

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