Lesezeichen von: Bertolt Brecht. Was das Leben gut macht.

brechtSeit einiger Zeit stehen die Brechtschen Vergnügungen (hier ein Link mit zahlreichen weiteren Links zu Text und Interpretationen) auf meinem Schreibtisch. Eines der schönsten, tollsten, besten und hilfreichsten Geschenke der vergangenen Jahre, wunderbar umgesetzt von einer begabten Freundin. Morgens, wenn ich die Arbeit beginne, fällt mein Blick auf diese Kalligraphie. Und erinnert mich jeden Morgen daran, dass es wenig mehr braucht außer wacher Sinne (was morgens für mich noch schwer ist), um Vergnügungen zu empfinden. Dass die einfachen Vergnügungen die besten sind. Brecht war etwa 56 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb, fast schon am Ende seines Lebens. Ein wenig jünger bin ich noch, nicht viel. Und trotzdem treibt mich immer wieder eine klammheimliche Vergnügungssucht um. Das sind die Tage, an denen ich die Dinge übersehe, die gut sind. Mäkelig bin. Wenn ich meine, es fehle etwas in meinem Leben. Dann tut es gut, dieses Bild morgens und abends zu lesen.
Würde ich meine Vergnügungsliste aufstellen, sie wäre der Brechtschen nicht so unähnlich. Die Zeitung bräuchte ich nicht, diese Kalligraphie aber schon. Sie bereitet mir jeden Tag eine große Vergnügung.
Und welches Dichter-Zitat begleitet Euch am Schreibtisch, am Arbeitsplatz, in der Wohnung, durch die Tage?

Rainer Maria Rilke - Engellieder

Bild: Rose Böttcher

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt …

Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter (1908).

Quelle: http://www.hundertvierzehn.de/artikel/die-welt-von-gestern_130.html

Geduld

Und ich möchte dich,
so gut ich kann bitten,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste
in deinem Herzen,
und zu verstehen.
Die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer fremden Sprache
geschrieben sind.
Forsche jetzt nicht nach Antworten,
die dir nicht gegeben werden können,
weil du sie nicht leben könntest.
Und es handelt sich darum,
alles zu leben.
Vielleicht lebst du dann
allmählich – ohne es zu merken –
eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke war ein Viel-Brief-Schreiber. Rund 7000 Briefe sind erhalten - und beinahe jeder Brief auch ein Gedicht. Sie gelten als Teil seines literarischen Werks, legen Zeugnis ab vom sprachlichen Stilvermögen, aber auch vom menschlichen Einfühlungsvermögen dieses Dichters. Man möchte selbst Empfänger dieser tiefen Lebensweisheiten gewesen sein.

Reich davon sind die zehn “Briefe an einen jungen Dichter”: Franz Xaver Kappus stand an einem Scheideweg zwischen Offiziers- oder Schriftstellerlaufbahn, als er sich hilfesuchend an den acht Jahre älteren Rilke wandte. Der war zu dieser Zeit bereits unter anderem mit dem “Buch der Bilder” hervorgetreten und steckte während des Briefwechsels mitten im “Malte Laurids Brigge”. In ihrem Austausch tat Rilke jedoch viel mehr, als dem Jüngeren literarische Ratschläge zu geben - vielmehr reflektierte er über:

Das Leben - “Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden will.
Denken Sie, lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen, und nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigene Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, - nur seien Sie aufmerksam gegen das, was in Ihnen aufsteht, und stellen Sie es über alles, was Sie um sich bemerken.”

Die Kunst - “Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen.”

Die Liebe - “Auch zu lieben ist gut: denn Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.”

Die Einsamkeit - “Aber vielleicht sind das gerade die Stunden, wo die Einsamkeit wächst; denn ihr Wachsen ist schmerzhaft wie das Wachsen der Knaben und traurig wie der Anfang der Frühlinge. Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. Insich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, - das muß man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.”

Das Suchen und Finden - “Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.”

Suchen und Finden muss man für sich selbst. Aber Rilke und seine Briefe können dabei ein wunderbarer Wegbegleiter, Lotse und Krücke zugleich sein.

Zwischen 1903 und 1908 schrieb Rilke an Kappus insgesamt zehn Briefe. Sie sind bei Wikipedia abrufbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Briefe_an_einen_jungen_Dichter.

Wer das gedruckte Wort vorzieht, für den gibt es die Rilke-Briefe mit einem Vorwort von Kappus bei der Insel-Bücherei:
http://www.suhrkamp.de/buecher/briefe_an_einen_jungen_dichter-rainer_maria_rilke_8406.html

Das Bild zeigt die Handschrift Rilkes, stammt aber von einem Brief an die Verlegersgattin Hedwig Fischer. Es ist entnommen dem Online-Magazin “Hundertvierzehn” des S. Fischer Verlages:
http://www.hundertvierzehn.de/artikel/die-welt-von-gestern_130.html