Es ist Spätnachmittag, heimkehrende Angestellte strömen in die Geschäfte. Der Gemüseladen ist ziemlich voll. Ein Kind steht an der Tür und spielt mit der Klinke. Nicht lange, dann ruft eine nervöse Frau, wahrscheinlich die Mutter, in Richtung Kind: Laß die Tür in Ruh! Das Kind reagiert nicht. Es öffnet die Tür und streckt die Hände hinaus. Darauf die Mutter: Hörst du nicht? Rein oder raus! Das Kind folgt wieder nicht. Recht hat es! Warum ist es nicht erlaubt, teilweise draußen und teilweise drinnen zu sein? Ist das nicht überhaupt der beste Gebrauch, den man von einer Tür machen kann? Schon möchte ich der Mutter einen Kurzvortrag über die Freiheit in Gemüseläden halten, da fällt mir ein Spruch aus der Schule ein: Richtige Lehrer weisen auch Erwachsene zurecht. Immer habe ich den Spruch belächelt, jetzt schickt er mein Denken auf die Suche nach einem nur für mich konstruierten Notausgang.
Wilhelm Genazino, “Die Obdachlosigkeit der Fische”, Erstausgabe 1994.
Soweit mir bekannt, das einzige Buch Genazinos aus der Perspektive einer Frau: Einer alleinlebenden Lehrerin, Mitte Vierzig, in einer halb drinnen-, halb draußen-Beziehung zu Helmuth, einem Rechtsanwalt, schon mit mehr als einem Bein aus der Schule und dem Lebensalltag draußen, ein Leben, das vom Verlieren und Verschwinden geprägt ist - liegengelassene Orangen, Mützen, andere Alltagsgegenstände, die entgleiten wie klitschige Fische. Eines der melancholischsten Bücher Genazinos - das auch in der Form keinem Roman gleicht, sondern gemäß des sich auflösenden Denkens der Protagonistin viel mehr aus Miniaturen besteht. Tagträumereien, Gedankenverlorenheiten.
Ein graues Leben, das man denn doch lieber von draußen beobachtet. Das Lesen birgt akute Melancholieansteckungsgefahr in sich. Und dennoch: Sprachlich schön-eigenwilliger lässt sich Beobachtung von erdrückenden Alltagsnebensächlichkeiten kaum festhalten.
“Es rühren mich ein paar Grasbüschel, die zwischen Pflastersteinen herauswachsen. Sie sind niedrig und kraftvoll und sehen doch aus wie Überlebende, die niemand kennt.”
“Zum Glück hat Frankfurt bisher der Versuchung widerstanden, sich Literaturstadt zu nennen. Es gibt (oder gäbe) dafür ein paar deutliche Anreize. Immerhin lockt Jahr für Jahr die Buchmesse hunderttausende von Ausstellern und Besuchern in die Stadt. Verwenden ließe sich auch der Hinweis, dass der vermutlich bedeutendste deutsche Dichter ein Frankfurter war und hier seine Jugend verbrachte und außerdem ein heute noch oft gelesenes Werk über diese Jugend geschrieben hat. Merkwürdigerweise ist Frankfurt - trotz Goethe, trotz Adorno, trotz Schopenhauer, trotz Struwwelpeter (http://saetzeundschaetze.com/2013/07/12/struwweltpeter-von-anfang-an-ein-streitfall/) - eine Stadt ohne literarischen Ruf geblieben. Für Frankfurt beruhigend muss man dazu sagen: Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Literaturstadt, obwohl es da und dort nicht an Versuchen mangelt, die eine oder andere Gloriole in die Welt zu setzen. In keinem einzigen Fall richten sich die Städte nach solchen Marketingansprüchen. Zum Beispiel ist die irische Hauptstadt stolz darauf, gleich drei weltberühmte Autoren (James Joyce, Samuel Beckett, Oscar Wilde) für ihre Heimatdichter halten zu dürfen. Aber Dublins Vitalität weist jeden musealen Anstrich energisch zurück.
Auch in Lissabon regt sich dann und wann das Verlangen, sich die Schleife einer Literaturhauptstadt umbinden zu lassen, weil der kaum zu überschätzende Fernando Pessoa dort geboren wurde und viele Jahre lang in einem bedrückend belanglosen Büro gearbeitet hat. Ähnlich heftig bemüht sich das italienische Triest darum, noch heute davon zu profitieren, dass der grandios bescheidene Italo Svevo ein Sohn der Stadt war und seine Nachkommen noch heute dort leben. Wer Dublin, Lissabon oder Triest heute besucht, atmet erleichtert auf, dass diese Städte trotz aller Anstrengungen ihrem literarischem Ruhm entkommen sind. Niemand spricht von Goethe, niemand von Adorno; alle sprechen von der Bankenstadt, der Autostadt, der Messestadt.”
Wilhelm Genazino, “Tarzan am Main - Spaziergänge in der Mitte Deutschlands”, Carl Hanser Verlag 2013.
Wilhelm Genazino und seine Spaziergang-Meditationen - ein Merkmal seiner Romane. Die Gedanken fließen dahin, während die Füße tragen. Assoziatives Herumstreunen, das ist eine Beschäftigung, die der Schriftsteller auch im “echten Leben” pflegt. Im Sammelband “Tarzan am Main” erzählt Genazino in kurzen Stücken von seiner Wahlheimat, der er seit den 70er-Jahren, aus dem Schwarzwald in die “provinzielle” Metropole kommend, treu geblieben ist. Alltagssituationen, Alltagskomik, Reflektionen über die Entwicklungen und Fehlentwicklungen städtischen Lebens, aber auch Streifzüge durch die eigene Biographie - immer unterhaltsam, immer niveauvoll, immer auch ein wenig misanthrop. Genazino schildert seine ersten Jahre als Redakteur bei der Satirezeitung “pardon”, plaudert aus dem Inneren des Literaturbetriebs, schreibt über seinen Freund Robert Gernhardt.
Alles in allem die geeignete Einstimmung auch für alle Buchmesser-Besucher.
PS: Augsburg, meine Wahlheimat seit den 80erJahren, versucht auch dann und wann - nach langem Widerstreben freilich - sich die Gloriole der Brechtstadt II (nach Berlin) zu verleihen. DAS wird erst ein langer Spaziergang.
“Zuweilen denke ich den einen oder anderen höhnischen Satz. Zum Beispiel diesen hier: Inmitten der leuchtenden Natur liegt das Problempaket Frau und schläft.” Wilhelm Genazino, “Mittelmäßiges Heimweh”.
2006 hält Wilhelm Genazino in Frankfurt fünf Poetikvorlesungen ab. Genazino, Spaziergänger, Kontrolleur des Alltags, Achter der Gegenstände - Orangen, Baumblätter, Plastiktüten, Schuhe, Zwirnfäden sind immer wiederkehrende Motive - erzählt dabei, wie aus Dingen Poesie wird. Oder auch, welche Poesie in den Dingen liegt.
Die dritte Vorlesung, “Die Zeit und die Krümel”, ist zwei bildenden Künstlern gewidmet, die Genazino beflügelt haben: Dem Amerikaner Joseph Cornell und dem Franzosen Christian Boltanski.
Cornell setzt in Objekten um, was Genazino in der Literatur tut: Er achtet die Dinge, er verwandelt sie in Kunst.
“Er wurde Vertreter für Textilien in New York; sein Hauptarbeitsgebiet waren kleine Läden in Manhattan, in denen er genau das aufstöberte, woran sein Herz hing und womit er dann selbst zu arbeiten begann: Spielzeugfiguren, Landkarten, alte Farblitographien, Tennisbällchen, Puppenreste, Glasteile, übriggebliebene Briefe, Krempel aller Art. Und er fand, meines Wissens als erster, eine adäquate Form, mit diesen Übrigbleibseln und Habseligkeiten künstlerisch umzugehen. Seit 1929 baute er für sie flache, handliche Holzkästen, die nach vorne, zur Schauseite hin, mit einer Glasscheibe abgeschlossen sind.”
Wilhelm Genazino, “Die Belebung der toten Winkel”, Frankfurter Poetikvorlesungen, 2006, Hanser Verlag
Verwandte im Geiste: So wie Genazino in Frankfurt verharrt, so kam Cornell (1903-1972), so weit man weiß, nie aus New York heraus.
“Er war rund fünfzig Jahre lang täglich unterwegs und sammelte. (…) Das tägliche Umhergehen in der Stadt war ein Ausfluß seiner Unruhe, auch seiner Unzufriedenheit mit sich selbst.”
Beide machen Alltägliches zu Kunst, ohne die Alltagslebenskunst letztlich zu meistern.
“Verblüffend ist, dass die Gegenstände nur durch ihre Präsentation in einem Holzkasten zu Kunst wurden. Solange sie im Alltag verharrten, gehörten sie diesem an; sobald Cornell sie in seine Kästen einbaute, wurden sie Teile von Träumen, verbildlichten Sehnsüchten. Cornell scheint ein eher schüchterner Mensch gewesen zu sein.”
Manchmal fiel mir ein Satz ein, den ich mir sofort notierte. Ich setzte mich an meinen Tisch und schrieb: Was uns zustößt, enthält kein Urteil über uns. Der Satz beeindruckte mich, aber nach einer Weile bemerkte ich, dass ich wieder nicht wusste, ob der Satz schön, wahr oder nur interessant war. Als es Abend wurde, hatte ich immerhin erkannt, dass der Satz das Denken über meine Lage in zwei Hälften spaltete. Einerseits steckte in ihm die Anerkennung der Situation, aus der es vorerst kein Entrinnen gab; andererseits war der Satz bereits ein Triumpf über das Nicht-entrinnen-Können.
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, 2003
Warum fälsche ich zuweilen etwas ab, was ich doch richtig beobachtet habe? Ich frage mich, ob ich mir über meine Entstellungen Sorgen machen muss oder ob es normal ist, wenn man sich nach innen als Wirklichkeitsveränderer betätigt. Aber solange ich nur für mich entstelle, werden diese Vorgänge als gewöhnlich bezeichnet werden können, hoffe ich. Aufpassen muss ich nur, wenn ich anfange, anderen Menschen gegenüber meine Korrekturen als wahrhaftig darzustellen.
Die Liebesblödigkeit, 2005
Schon überlege ich ängstlich, dass ich mir vor dem Ausbruch einer neuen Liebesbeziehung ein paar Wochen Zeit lassen wollte. Außerdem will ich kein Liebesnomade werden, dafür bin ich zu alt. Die Leute, die im Büro von einer Beziehung in die andere gleiten, sind gewöhnlich unter dreißig. Als bloßer Wandererotiker bin ich inzwischen zu ungeduldig und auch zu unlustig. Ich bin in den letzten Monaten ein wenig erlebensmüde geworden. Gleichzeitig weiß ich, dass ich absterben werde, wenn ich mich nicht in eine neue Frau einwurzeln kann.
Mittelmäßiges Heimweh, 2007
Diese wachsende Unfreiheit in den Verhältnissen nennt man Verstrickung. Leute, die ihre Konflikte nicht lösen können, tragen diese in unbearbeiteter Form weiter mit sich herum, als eine Art metaphysischer Bestürzung. Seit wenigen Augenblicken weiß ich, dass ich zu diesen bestürzten Menschen gehöre. Ich lebe jetzt als bestürzter Mensch weiter.
Das Glück in glücksfernen Zeiten, 2009
Ich musste mich hüten vor zu viel überflüssigen Erlebnissen. Die Hälfte dessen, was ich erlebte, wäre für mich ausreichend gewesen. Aber ich konnte oft nicht schnell genug erkennen, welches Erlebnis entbehrlich war und welches nicht. Mein Hauptanliegen war die allgemeine Lebensersparnis. Um leblose Erlebnisse kam ich am besten herum, wenn ich still irgendwo saß, ein Haus oder eine Wand anschaute und dabei, zum Beispiel, dem kindischen Lärm eines fernen Rummelplatzes zuhörte.
Wenn wir Tiere wären, 2011
Die einzige Angst, die mich zuweilen überfiel, war die Angst vor meiner Verstoßung durch die anderen. Immer mal wieder dachte ich, dass gleich jemand das Zimmer betreten und zu mir sagen würde: Du gehörst nicht mehr zu uns, geh weg. Wenn ich in dieser Angst steckte, dachte ich schnell an Sonja und war mir wieder sicher, dass sie mich niemals verhöhnen oder gar verstoßen würde.
Du duckst dich gern weg, sagte sie überraschend.
Ich ahnte nur ungenau, was sie meinte, aber ich wollte entgegenkommend sein und sagte nur: Ja, geb` ich zu.
Fühlst du dich wohl dabei?
Schwer zu sagen, antwortete ich.
Deine Rückzugsgefechte führen nicht zu einem eigenen Leben, sondern höchstens zu einer Eigenbrötlerei.
Mir war nicht klar, wie ausgerechnet sie als Finanzbeamtin von einem eigenen Leben reden konnte. Aber ich war viel zu verblüfft, um zu widersprechen.
Merkst du, wie die Eigenbrötlerei mehr und mehr zu einer Abkapselung führt, sogar wenn wir im Bett liegen.
Das kann ich nicht nachvollziehen, sagte ich.
Und aus deiner Abkapselung tritt die Einsamkeit hervor und aus dieser ein vorzeitiges Altern.
Hast du diesen Satz auswendig gelernt, fragte ich.
Ich meine es ernst, sagte sie.
Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich jetzt schon gewusst hätte, wie die nächsten Stunden verlaufen würden. Tatsächlich saßen wir inzwischen wie zwei fremde Skulpturen an einem Cafétisch und achteten darauf, dass wir uns nicht anschauten. Am Nebentisch erklärte eine Mutter ihrem Kind, was eine Monatskarte ist. Wilhelm Genazino, „Bei Regen im Saal“, Hanser Verlag, 2014.
Immer dasselbe: Ein Mann, meist Anfang bis Ende Vierzig, Einzelgänger, ohne berufliche oder private Perspektiven geschweige denn Ambitionen, meist mit einem Bein außerhalb der „normalen“ Gesellschaft stehend, meist mit einem Bein doch auch hineinwollend, mit einem halben Herzen in einer Liebesbeziehung, mit dem anderen halben Herzen nicht dabei, ein beobachtender Spaziergänger, Alltäglichkeiten registrierend und kontrollierend, nicht ohne Aburteilungstendenzen, ja, eigenbrötlerisch bis hin zur Misantrophie. Eine typische Genazino-Figur eben.
Mit großer Verlässlichkeit schickt der Frankfurter Schriftsteller einen dieser Anti-Helden alle ein, zwei Jahre auf den Weg. Man könnte sagen: Kennt man einen, kennt man alle. Und dennoch harre ich geduldig seit dem „Abschaffel“ um wieder einmal „Mittelmäßiges Heimweh“ oder das „Glück in glücksfernen Zeiten“ empfinden zu können, um einen „Regenschirm für einen Tag“ zu haben oder auch, um von „Der Obdachlosigkeit der Fische“ zu erfahren.
Nun also „Bei Regen im Saal“. Reinhard, 43 Jahre alt, (einer der seltenen Fälle, in denen die männliche Hauptfigur einen Vornamen erhält, wenn auch nur einmal nebenbei erwähnt) ist so ein Zwischendrinsteher, der nach den Möglichkeiten zur Durchführung des Lebens sucht.
„Ich war gerne zu Hause, wenn mich meine Müdigkeit ratlos machte. Gleichzeitig belastete mich die Unzufriedenheit mit meiner derzeitigen Lage. Ich sehnte mich nach mehr Normalität. Wie die meisten anderen Menschen wollte ich tagsüber arbeiten und nachts schlafen und am Wochenende ins Kino gehen.“
„Ich meinte auf der Haut zu spüren, wie mich die Abende zermürbten. Ich sehnte mich danach, ein gewöhnliches Leben zu führen. Die meisten Menschen wissen genau, was sie dürfen und worauf sie sich verlässlich freuen können.“
„Eines meiner Probleme war, dass ich mich für fast alles zu alt fühlte. Ich war vierundvierzig oder achtundvierzig, vielleicht aber auch erst einundvierzig. Wie meine Mutter hatte ich angefangen, mein genaues Alter nicht mehr wissen zu wollen. Jedenfalls war mir unklar, was ich inmitten der schnellverderblichen Welt noch anfangen sollte.“
Eines der Probleme der Reinhards und der unbenannten weiteren Genazino-Helden ist es zudem, dass sie meist nicht wissen, was sie wollen (und wenn sie es denn haben, wollen sie es nicht mehr), wohin und zu wem sie gehören (wollen). Oder auch nicht. Und, frei nach Teresa von Ávila, werden auch hier mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen denn über die Unerfüllten…
So schlägt sich Reinhard, studierter Philosoph, als Nachtportier, Barmann und in freier Beratertätigkeit als „Überwinder“ (er, der von Ängsten selbst geplagte, hilft anderen bei der Angstüberwindung) durch, unterhält ein intimes Verhältnis zu Sonja („Wahrscheinlich verdankte ich es ihrem Druck, dass ich noch den Pfad der Ordentlichkeit gefunden hatte.“), prokrastiniert jedoch vor deren Verlangen nach elfjähriger Beziehung nach mehr Verbindlichkeit („Die Technik des schnellen Vergessens erinnerte mich an die Ehe meiner Eltern und beunruhigte mich. Tauchte am Horizont allmählich die Ehe auf?“) und etwaigen Erlebnissen. Eine Paris-Reise ist Überforderung pur. Als Sonja ihn jedoch verlässt, ereilt auch Reinhard die typische Genazino-Zuspitzung der seinen Figuren eigenen chronischen Sinnkrise.
„Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentweisen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht mehr länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte.“
Überlassen wir hier Reinhard seinem Schicksal. Er wird, wie seine Vorgänger, noch einige Buchseiten herumstehen, herumlaufen, herumdenken, herumhadern, um dann von Sonja wieder aufgenommen zu werden. Um auch dann erneut nicht zu wissen, was er vom Leben will. Oder auch nicht.
Genazino lesen, das könnte auch niederdrückend sein. Für manche Leser vielleicht schon. Wer ihn jedoch schätzt, der kennt die Erfahrungen der Halberlebnisse, der Vollkommenheit einer persönlichen Unordnung, der Arbeit, dies braucht, um das Gefühl zu erfinden, halbwegs zur Welt zu gehören, das Gefühl der Verflusung des Lebens. Man kann sich dabei in eine Versenkung hineinlesen und dennoch Momente des Glücks in glücksfernen Zeiten erfahren. Sei es beim Beobachten einer tumben Taube. Sei es beim Genuss eines Mettwurstbrötchens. Oder einfach auch beim Anliegen bei einer Busenbegleitung.
Über das abgewandelte Hesse-Zitat kann man geteilter Meinung sein. Aber eines ist gewiss: In den nächsten Wochen wird die Nation wieder einmal gespaltet sein – in die, für die das Runde unbedingt in das Eckige muss, sowie in jene, denen das Ganze am Allerwertesten vorbeigeht. Fußballfans und Fußballhasser. Wer jedoch meint, das ließe sich auch mit Nicht-Lesern und Lesern, Nicht-Schreibenden und Schriftstellern gleichsetzen, der täuscht: Es gibt sie zwar selten, aber es gibt sie, die interessante Paarung aus Schriftsteller und Fußballfan.
Wilhelm Genazino ist so einer. Jedoch: Wenn, dann verfolgt er, der Einzelgänger, das Geschehen nur auf dem Bildschirm, niemals im Stadion, wo sich das „Erlebnisproletariat“ sammelt. Mit anderen schreien, leiden, singen – nein, so kann man sich Genazino wahrlich nicht vorstellen.
Auch Peter Handke visualisiere ich nicht mit Fan-Schal und Tröte in einem Stadion. Doch auch er schrieb nicht nur über die Angst des Tormanns beim Elfmeter, sondern widmete einem Team sogar ein Gedicht: „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 2. 1. 1968“.
Ror Wolf hat sich als Fußballdichter einen Namen gemacht, Eckhard Henscheid lobpreiste in einer Hymne den Bum Kun Cha und von Albert Ostermaier, von seinem Hausverlag als „Expressionist unter den zeitgenössischen Dichtern“ gepriesen, erscheint passend zur WM 2014 eine Auswahl seiner Fußball-Oden: „Flügelwechsel“. Vor allem der Titan wird da besungen:
„wenn er beim eckball wie ein blonde katze aus dem tor stürmt auf einer welle der begeisterung durch die blauen lüfte fliegt“
Aber, damit der Fußball auch literarisch wieder dahinkommt, wo er heim- und hingehört - Nick Hornby schrieb sich mit „Fever Pitch“, das „Ballfieber, die Gesichte eines Fans“ von der Seele. Football is coming home.
Wobei der internationale Fußball ja schon lange nicht mehr englisch spielt, vielmehr kommt einem alles recht spanisch vor. Kein Wunder bei solchen Anhängern: Javier Marías veröffentlichte einen ganzen Band mit Fußball-Stücken: „Alle unsere frühen Schlachten“ – erschienen bei Klett-Cotta. Das liest sich dann beispielsweise so:
„Wenn Sie das hier lesen, sind es nur noch drei Tage, bis mein Verein (Anmerkung: Real Madrid, oleoleole) zum siebten Mal den Europokal gewinnt (und das sechste Mal ist zweiunddreißig Jahre her. Glauben Sie nicht, ich hätte bei dieser Behauptung kein Herzklopfen. Schlimmer noch, die Schreibmaschine ist mir vom Tisch gefallen, ich habe siebenmal auf Holz geklopft, siebenmal die Daumen gedrückt und sieben Stoßgebete an den Heiligen Di Stéfano gesandt.“ (1998)
Oder so:
„Warum haben sie das getan? Die Zeitung bittet mich, über die ästhetischen und stilistischen Aspekte der Weltmeisterschaft zu schreiben, und unsere Spieler laufen gleich beim ersten Match mit einem Spitzbart ein. Wenn das so weitergeht, werde ich nicht nur für Kamerun sein, sondern auch gegen Spanien, der Antipatriot par excellence. Wenn es sich um eine jener verspielten Haartrachten handelt, die Glück bringen sollen, so hätten sie sich auch etwas anderes aussuchen können: Oberlippenbart, langes Haar, Zöpfe wie Baggio oder der Schweizer Sutter oder der amerikanische Torhüter Meola (der aussieht, als wäre er einem Tarantino-Film entsprungen). Sogar Koteletten à la Neskens hätten mehr hergemacht. Nicht nur, dass ich meine Meinung dazu seit Jahren immer wieder von der Erfahrung bestätigt gefunden habe, nämlich: auf Männer mit Spitzbart ist kein Verlass, genauso wenig wie auf Sandalenträger; wenn sie aber gleich beides tragen, muss man sie schonungslos vertreiben: `Fort mit dir, du mönchische Gestalt´ sollte man ihnen etwa zurufen.“ (1994)
Und da heißt es, nur für Frauen sei die Fönfrisur des Mario Gomez ein Thema (aber der darf diesmal ja gar nicht mitspielen). Ein Thema, das im Übrigen auch Bernhard Blöchl in seinem Debütroman „Für immer Juli“ amüsant aufgreift: Gomez und die Frisur.
Zurück zum Fußball: Föhnwelle hatten die Ausputzer früherer Tage gar nicht nötig.
Eine der schönsten „Liebes“-Erklärungen, so versicherte mir ein feinsinniger Fußballfan, habe Wolf Wondratschek dem berühmten „Katsche“ gewidmet. Man lese und lerne:
Gedicht für Georg Schwarzenbeck
Zwei Beine, ohne Interesse an Genialität, vereinfachter Mechanismus, nichts Brasilianisches, kein Sternenlauf, kein Jubel in den Fußgelenken, Standbein, Schussbein, nichts für Genießer, und trotzdem einer, dessen die Menschen, die ihn spielen sahen, gedenken.
Ein großer Dorn, der stach und dicht hielt, der die Anstürmenden ersaufen ließ, das Feuer zertrat, das sie bereit waren zu entfachen. Nichts da, ich arbeite, ich komme aus der Vorstadt, ich bin geboren für das Einfache. Nicht einmal Siege sind es am Ende, die zählen.
Unzuständig für alles Künstlerische! Kein Dribbling, kein nie gesehener Trick, stattdessen Luft für neunzig Minuten, und notfalls für die Verlängerung, wenn die Kollegen Krämpfe quälen. Merkwürdig, daß so einer, eckig wie eine leer gegessene Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund ist.
Wer nicht zur Spezies derer gehört, die schon WM-fiebern, der kann dies wohl kaum nachvollziehen. Allenfalls versuchen, diese Faszination mit psychologischen Hilfsmitteln zu verstehen: „Jedes Fußballspiel ist eine Zelebration des menschlichen Unvermögens“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler und Schriftsteller Klaus Hansen in seinem 2013 im Kunstanstifter Verlag erschienenen Buch „TOOR! Jedem Anpfiff liegt ein Zauber inne“. Zuschauen und mitfiebern, wenn andere sich quälen – es lebe der Sport, dudelte einstmals schon so schön Rainhard Fendrich. Oder, eleganter ausgedrückt mit Hansen:
„Im Fußballspiel hat die freiwillige Selbsterschwerung gewiss einen zivilisatorischen Höhepunkt erreicht.“
Apropos Selbsterschwerung: Die ist vor allem auch dann erreicht, wenn Ballkünstler vor Mikros treten. Das alte Klischee vom dumpfen Sportler. Ja, ich weiß, abgenudelt und ungerecht – es gibt auch viele mit IQ. Soll es geben. Und trotzdem, der Spaß muss sein – hier ein paar Sätze aus dem Abseits.
„Unsere“ Mottos (Mottis? Motten?) für Brasilien:
„Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär“, sagt Hans Krankl. Und wenn das schwer wird, dann hilft nur Motivation à la Lukas Podolski: „Jetzt müssen wir die Köpfe hochkrempeln. Und die Ärmel natürlich auch.“
Recht so, bestätigt Helmut Schön: „Da gehe ich mit Ihnen ganz chloroform.“ Sollte man aber auch alles nicht überbewerten, weil, „das wird alles von den Medien hochsterilisiert“. Bruno Labbadia kennt sich da aus.
Und überhaupt, man übe mit Rehhakles Gelassenheit: „Mal verliert man und mal gewinnen die anderen”. Oder halte es mit Bundes-Berti: „Wie so oft liegt auch hier die Mitte in der Wahrheit“.
Denn nicht jeder schafft, was nur die Lichtgestalt kann: „In einem Jahr hab` ich mal 15 Monate durchgespielt.“ Da hyperventiliert selbst Loddar: „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken!“
Was soll`s. Das ist Schnee von morgen, sagt Jens Jeremies. Und was die WM anbelangt, so bringt Andreas Möller alles auf den Punkt: „Ich hatte vom Feeling her ein gutes Gefühl.“
Geht was daneben, hilft nur eine Maßnahme, wie sie schon Fritz Walter genoss: „Die Sanitäter haben mir sofort eine Invasion gelegt.“ Dabei hatte Olaf Thon den Spieler nur ganz leicht retuschiert.
Ein Pokal sollte her! Sonst sagt Jürgen Wegmann wieder den berühmten Satz: „Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“
Aber eigentlich auch alles wurscht. Hauptsache ist, laut Bundes-Berti: „Sex vor einem Spiel? Das können meine Jungs halten, wie sie wollen. Nur in der Halbzeit, da geht nichts.“ Weil, sonst: „Heute war hinten nichts, in der Mitte nichts und vorne nichts.“ Und so gehört das Schlusswort Friedel Rausch.