Japan
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen (2012)
„Und Viktor saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd, der einzige Platz im Haus, wo es warm war. Jeden Tag verfolgte er in der Times die Nachrichten über den Krieg, an Donnerstagen las er die Kentish Gazette. Er las Ovid, besonders die “Tristia”, die Gedichte aus dem Exil. Beim Lesen strich er sich mit der Hand über das Gesicht, damit die Kinder nicht sahen, welche Wirkung der Dichter auf ihn hatte. Er las beinahe den ganzen Tag über, außer wenn er seinen kurzen Spaziergang die Blatchingdon Road hinauf und zurück unternahm oder ein Schläfchen hielt. Gelegentlich ging er den ganzen Weg ins Stadtzentrum in Halls Antiquariat, wo der Buchhändler Mr. Pratley besonders freundlich zu Viktor war, während der die Bände von Galsworthy, Sinclair Lewis und H. G. Wells befühlte.
Manchmal erzählte er den Buben, wenn sie aus der Schule heimkamen, von Aeneas und seiner Rückkehr nach Karthago. Dort sind an die Wände Szenen aus Troja gemalt. Erst dann, konfrontiert mit den Bildern dessen, was er verloren hat, kann Aeneas endlich weinen. “Sunt lacrimae rerum”, sagt Aeneas. Es sind die Tränen der Dinge, liest Viktor dort am Küchentisch, während die Buben ihre Algebra-Aufgaben erledigen.“
Edmund de Waal, “Der Hase mit den Bernsteinaugen”, 2012, Zsolnay Verlag
Die Tränen des Aeneas kann auch Viktor Ephrussi teilen – so unendlich viel hat er verloren im von den Nationalsozialisten angeschlossenen Österreich: Seine Frau, Freunde und Familienmitglieder, sein Vermögen, Haus und Besitz. Aber vor allem auch sein Vertrauen darin, trotz der jüdischen Herkunft als vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft angekommen zu sein. Edmund de Waal erzählt die Geschichte seiner Familie über Generationen und Lebenswege hinweg – von Odessa über Paris und Wien bis hin zu den Exilorten in England und Japan. Leitfiguren dabei bilden 264 Netsuke, Miniatur-Schnitzereien aus Holz und Elfenbein aus Japan.Sie liegen in der Vitrine des britischen Keramikkünstlers Edmund de Waal, Nachkomme der jüdischen Familie Ephrussi.
Auf welchen - teilweise abenteuerlichen - Wegen sie dorthin gelangten, schildert de Waal in diesem Familienalbum. Angekauft von einem kunst- und feinsinnigen Vorfahren im Paris der Belle Epoque wird die Sammlung der filigranen japanischen Kostbarkeiten im Wien der Jahrhundertwende vom Dekorationsobjekt und Liebhaberei zum Kinderspielzeug, das ein arisches Stubenmädchen schließlich versteckt in einer Matratze vor der Beutegier der Nationalsozialisten rettet.
Die Netsuke – der titelgebende Hase mit den Bernsteinaugen ist einer davon – sind der Leitfaden für diese dramatische Familiensaga. Sie sind auch ein Symbol dafür, wie eine jüdische Familie, gleich wo, ob Paris, Wien oder andernorts, und gleich viel, wie hoch der Preis für die Assimilierung war, immer wieder auf Antisemitismus stößt. De Waal unterlegt dies mit fundiert recherchierten Informationen – erschreckend zu erfahren, wie auch anerkannte französische Künstler, beispielsweise die Goncourt-Brüder, verbal gegen das Judentum hetzten.
Die Ephrussi, von denen de Waal erzählt, waren einst an Reichtum und Einfluss den Rothschilds ebenbürtig. Mit dem österreichischen Anschluss setzte der Niedergang ein – das Bankhaus und das gesamte Vermögen wurden arisiert, Teile der Familie ermordet, andere in die ganze Welt verstreut.
„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ gleicht einem literarischen Netsuke: Auf kleinstem Raum komprimiert de Waal die Wanderungen einer Familie durch Europa, kombiniert Kunstreflektionen, Zeitgeschichte und Biographisches, zeigt die Entwicklung des europäischen Judentums exemplarisch an einer, an seiner Familie auf. Dies macht das Buch nicht unbedingt leicht lesbar – aber auch der Wert eines Netsuke erschließt sich nicht auf den ersten Blick.
Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, studierte in Cambridge. Er ist Professor für Keramik an der University of Westminster. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erschien 2011 im Original, die deutschsprachige Ausgabe dann beim Zsolnay Verlag und als Taschenbuch bei dtv.
Die kreativen Arbeiten des Autorenkünstlers de Waal kann man hier bewundern: http://www.edmunddewaal.com/