„Alle machten sich vom Acker. Nichts hatten sie begriffen. Wer die Welt verstehen wollte, musste zu Hause damit anfangen. In der Heimat. Unserer Heimat. Von Kap Arkona bis zum Fichtelberg. Abhauen war ja keine Kunst. Das hatte sie immer den anderen überlassen. Es hatte nur eine kurze Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken spielte. Aber das war lange her. Sie war geblieben. Freiheit wurde überbewertet.“
Judith Schalansky, „Der Hals der Giraffe, 2011, Suhrkamp
Was wir natürlich schon immer ahnten: Das Tierreich ist kein Ponyhof. Und schon gar nicht dort, wo sich die selbsternannte höchste Spezies tummelt. Und erst recht nicht, wenn der Schauplatz eine im Niedergang befindliche Schule in Ostdeutschland ist und die Masse der Protagonisten aus “Pubertierern” besteht. In diesem Biotop bewegt sich die Biologielehrerin Inge Lohmark. Etwa 35 Berufsjahre auf dem Buckel und zwei politische Systeme. Man kann die Studienrätin aus Ostpommern getrost als Misanthropin bezeichnen. Für sie ist der Mensch „ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis“, ihre Schüler sind „Nachschub fürs Rentensystem“.
Das Leben und die Schule: Aus Inge Lohmark haben sie eine Pädagogin gemacht, die nach dem Leitbild handelt: Es braucht „keine Nähe, kein Verständnis“. Darwinismus im Klassenzimmer. Menschliche Stärke schöpft sie aus der alleinigen Konzentration auf ihre Sache, die Biologie. So kann man das Scheitern der Mutter-Tochter-Beziehung, eine lieblose Ehe, ein politisches Unrechtssystem, das gerade auch in die Schule eingreift, draußen halten. Endstation Vorpommern.
Witzig, lakonisch, staubtrocken schildert Judith Schalansky , wie das Weltsystem der Inge Lohmark ins Wanken gerät. So wird der Roman zum antidarwinistischen Manifest. Lesenswert, befand auch die FAZ: „Judith Schalansky hat einen Roman einen originellen, eigensinnigen und hellwachen Roman geschrieben, mit dem sie sich an die Spitze der literarischen Evolution setzt.“
Und das Buch ist, in seiner gebundenen Ausgabe, auch äußerst sehenswert: Von der Stiftung deutscher Buchkunst wurde der „Hals der Giraffe“ 2012 als schönstes deutsches Buch ausgezeichnet: „Bei diesem Buch passt einfach alles zusammen: das mutig ausgewählte, sehr raue »Bibliotheksleinen«, die grobe, fast ruppig wirkende Schrift für die Deckenprägung und der historisch wirkende Druck der Illustrationen.“
Außerdem von Judith Schalansky hier zu finden:
Der Taschenatlas der abgelegenen Inseln