Ein Kilogramm Mark Twain: “Meine geheime Autobiographie”

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„Was für einen winzig kleinen Bruchteil des Lebens machen die Taten und Worte eines Menschen aus! Sein wirkliches Leben findet in seinem Kopf statt und ist niemanden bekannt außer ihm. Den ganzen Tag und jeden Tag mahlt die Mühle seines Hirns, und seine Gedanken (die nichts anderes sind als die stumme Artikulierung seiner Gefühle) sind seine Geschichte, nicht jene andern Dinge. Seine Taten und Worte sind lediglich die sichtbare dünne Kruste seiner Welt mit ihren vereinzelten Schneegipfeln und ihren leeren Wasserwüsten, und die machen einen so unbedeutenden Teil seiner Masse aus! – eine bloße Haut, die sie umhüllt. Seine Masse ist verborgen – sie und ihre vulkanischen Feuer, die wüten und brodeln und niemals ruhen, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Diese sind sein Leben, sie sind nicht aufgezeichnet und können nicht aufgezeichnet werden. Jeder Tag würde ein ganzes Buch mit achtzigtausend Wörtern füllen – dreihundertfünfundsechzig Bücher im Jahr. Biographien sind nur die Kleider und Knöpfe des Menschen – die Biographie des Menschen kann nicht geschrieben werden.“

Was für ein Einstieg! Mark Twain, der alte Schelm, schrieb trotzdem „Meine geheime Autobiographie“. Und verfügte, weil er frank und frei schreiben wollte, dass dieses, sein letztes Werk, erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. So mancher der Erwähnten wird sich trotzdem im Grab umdrehen…

Zwar erschienen etliche der autobiographischen Texte schon vorab – gekürzt, verstümmelt, verstellt. Tatsächlich dauerte es etwas mehr als 100 Jahre, bis eine sorgfältig editierte Gesamtausgabe erschien. In Deutschland brachte der Aufbau Verlag 2012 die geheime Autobiographie heraus,  ergänzt durch einen gut aufbereiteten Kommentarband. Allein Mark Twains Erinnerungen ohne Ergänzungsband umfassen rund 700 Seiten – und noch nicht einmal darin hat er alles gesagt.

Eine Rezension werde ich hier nicht bringen: Wenn schon der Autor und Schöpfer seiner eigenen Geschichte eingangs die Grenzen aufweist, wie könnte ich da eine Zusammenfassung von der Zusammenfassung schreiben? Wie kann man ein Leben erfassen? Festhalten? Niederschreiben?
Vor allem ein solches Leben. Zur Erinnerung – als Mark Twain (1835-1910) wesentliche Teile dieser Autobiographie (Kernstück sind die Memoiren aus 1906) niederschrieb und überarbeitete, stand er beinahe schon selbst am Ende seines Lebens. Der große Humorist – am Ende seiner Tage überlebte ihn nur seine Tochter Clara.

Als Mark Twain-Fan kam ich an dieser Ausgabe einfach nicht vorbei. Sie wird mich die nächsten Wochen begleiten, vielleicht auch parallel zu den Arglosen im Ausland, Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Morgens und abends zu lesen – Mark Twains Leben, durchaus nicht nur ein Zuckerschlecken, aber einer, der es am Schopf packt mit grandiosem Humor. Davon kann man lernen.

Übrigens: Aus reiner Neugierde habe ich die Autobiographie auf die Waage gelegt. Was von Mark Twain bleibt: Ein Kilo Papier – und unendlich viel Lesefreude.

Jüdische Lyrikerinnen (1): Mascha Kaléko

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Bild: Iris Jahnke

Herbstabend

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Verlassen stehn Wiese und Weiher,
Es schimmert kein Segel am See.
Am Himmel nur Wildgans und Geier
Verkünden den kommenden Schnee.

Schon rüttelt der Wind an der Scheune.
Im Dunkel ein Nachtkäuzchen schreit.
Ich sitze alleine beim Weine
Und vertreib mir die Jahreszeit …

Im Gasthaus verlischt eine Kerze.
Verspätet spielt ein Klavier.
- Dem ist auch recht bange ums Herze.
Adagio in Moll - so wie mir.

Der Abend ist voller Gespenster,
Es poltert und knackt im Kamin.
Ich schließe die Läden am Fenster
Und nehme die Schlafmedizin.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Dein eignen Schatten nimm
zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruss mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiss deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

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Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html