„Die Kafka ist eine sehr selten gesehene prachtvolle mondblaue Maus, die kein Fleisch frisst, sondern sich von bittern Kräutern nährt. Ihr Anblick fasziniert, denn sie hat Menschenaugen.“
“Die Courths-Mahler ist eine Laus, die in der Sekunde eine Million Eier legt.“
Franz Blei, “Das große Bestiarium der modernen Literatur”, 1922
Teils mit viel Respekt, teils mit großer Giftigkeit: So karikierte Franz Blei, 1871 in Wien geboren und 1942 in New York gestorben, in seinem großen Bestiarium der modernen Literatur die Schriftsteller seiner Zeit. 1922 erschien dieses Buch bei Rowohlt, in dem alle bedeutenden Autoren in spöttischem Ton als exotische Tiere beschrieben wurden (siehe hier das Buch beim Projekt Gutenberg: Das große Bestiarium der modernen Literatur).
Fritz J. Raddatz, “Das Bestiarium der deutschen Literatur”, 2012
Inzwischen trat Fritz J. Raddatz in die Fußstapfen von Franz Blei. Und wie zu erwarten war, ist das neue, ebenfalls bei Rowohlt erschienene “Bestiarium der deutschen Literatur” nicht weniger spritzig als der 90 Jahre ältere Vorgänger. „Verfasst mit dem nachlässigen Glanz liebevoller Parodie, dem scharfen Blick der Satire und eine Fülle phantastischer Pointen“, preist es der Verlag. 76 Größen der deutschsprachigen Literatur sind dargestellt in der Gestalt von Fabelwesen, illustriert von Klaus Ensikat: die verirrte Möwe Jelinek, der bayerische Gockel Achternbusch, der Papierwurm Hochhuth, das Lewitscharoff («Riesenkänguruh» und «Damenimitator»), der Seehase Ruge: Unterhaltsam und mit großem Aha-Effekt, wenn man die Autoren gelesen hat.
Anbei einige Kostproben, der Name ist jeweils mit einem Link zum passenden Beitrag bei Sätze&Schätze hinterlegt:
Bachmann, der
Der Totenkopfschwärmer wird von der österreichischen Landbevölkerung die „Große Somnambule“ genannt. Das leitet sich daher, daß der mancherorts als Unglücksbote verrufene Nachtfalter - der übrigens auch tagaktiv ist - wie betrunken auf Lichtfallen reagiert. Ein berühmter Schweizer Spezialist hat zum Zweck des Anlockens unter einem Laken aus dünner Leinwand das Licht einer Quecksilberdampflampe (wie sie auch auf Theaterbühnen verwendet werden) installiert, dazu eine sonst nur aus Romanen bekannte Schwarzlicht-Neonröhre: und schwirr blobb, schwirr blobb, mit einem an experimentelle Lyrik erinnernden Geräusch, läßt sich die große Somnambule, vom Kunstlicht verführt, nieder.
(Man beachte die “zarten” Anspielungen auf das Verhältnis Bachmann-Max Frisch)
Hacks, der
Gehört zur Gattung der Schreitvögel, die ihren Namen einem majestätisch anzusehenden Gehabe verdanken. (…). Er besitzt auch ganz spezielle sogenannte Puderfedern; wenn sie ausfransen, wird ein feiner Puder daraus, den der Vogel in den Schnabel nimmt und bei seiner Gefiederpflege zur Entfernung von Schleim und Fett benutzt.
(Politische Wende- und Halsstarrigkeit zieht Satire auf sich)
Lewitscharoff, das
Damenimitator. So tauften mit respektloser Ironie jüngere Wissenschaftler dieses Riesenkänguruh, weil auch das männliche Tier mit bemerkenswertem Hüftschwung andere Wildtiere wie Löwen anlocken kann. Dabei entkommt das oft 88 Stundenkilometer schnelle Beuteltier seinem Verfolger stet mit bis zu neun Meter weiten Sprüngen, ermüdet allerdings rasch, ist also ein Kurzstreckensieger. (…) Als ungewöhnlich wird sein soziales Verhalten, vor allem in Gruppen, hervorgehoben; so gräbt das Makropus auch in der Paarungszeit nie einem Männchen das Wasser ab, sondern ernährt sich auch bei trockenem Futter vom Feuchtigkeitsgehalt des eigenen Körpers. Man nennt das auch das „Apostoloff“-Syndrom.
(Als habe Raddatz die “Halbwesen”-Rede vorausgesehen?)
Ruge, der
Erst kürzlich vor Rügen aufgetauchter Seehase, ein seltener Fisch, dessen Rogen „Caviar des Nordens“ genannt, als besonders schmackhafte Delikatesse gepriesen wird; die Laich-Zeit soll zehn Jahre betragen.
(Freundliches Lob kann FJR auch!)
Setz, der
Gehört zu den maskierten Säugetieren, die auch Zibetkatzen, Ginsterkatzen oder Linsangs genannt werden. Der Setz, jahrelang in Europa ausgestorben und erst seit kurzem in der Umgebung von Graz ausgewildert, wird in der einschlägigen Wissenschaft als „Larvenroller“ geführt (Paguma larvata) und als Allesfresser beschrieben.
(Hmm…keine Ahnung, was der bestialische Literaturkritiker DAMIT sagen will…)
Wondratschek, der
Wondra-Schreck. Schrecken verbreitender tschechisch-österreichischer Parasit, fast unsichtbar. Nistet bevorzugt in den mondänen Smoking-Revers und Seidenroben bei Box-Veranstaltungen. Jüngst auch festgestellt als Zerstörer des Samtfutters von Geigenkästen. Italienische Wissenschaftler wollen sogar das Ruinieren der Saiten eines Cellos „Mara“ dem energischen Fresser zuschreiben, weil sie dessen leise, fast lyrisch klingende, melodiöse Laute während der Vernichtungsarbeit belegen konnten.
(Dafür bleiben hier keine Fragen offen!)
Und der Raddatz?
Ein Prachtleierschwanz, der über viele Jahre hinweg Stoff für Legenden geliefert hat. Mit einer Begabung für vielerlei Sprachmelodien von Spott-Tönen bis zu zarten Balzlauten.
Herrlich! Vielen Dank für die Erwähnung des Blei, den kannte ich noch gar nicht.
Herrlich fand ich das Büchlein auch. Und stimmt, der Blei: Der wäre ja dann auch mal was für Euch!
Ich bin ein großer Bewunderer und Verehrer von FJR. In seinen neusten Tagebücher war ich bei der Entstehung des Bestariums dabei. Tolle Idee einen Remake des alten Blei zu erstellen!
Ja! Und er schreibt halt auch so schön spitz!
Liebe Birgit,
ein Beitrag zum genauen Lesen und Gucken - und dann breit Grinsen. Genau das richtige für die kleine Pause zwischendurch. Und, kaum ist die Pause vorbei, schon sitzt da der kleine Troll Begehrlichkeit auf der Schulter und flüstert und flüstert und stört ganz furchtbar jegliche Konzentration.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
freut mich, dass Du eine grinsende Pause hattest. Und: Der kleine Troll Begehrlichkeit - wie schön gesagt. Den kenne ich auch nur zu gut :-)
Viele Grüße, Birgit
Klasse - und mit deinen Co-Kommentaren besonders lustig! :-)
Auch die anderen Portraits sind schön bissig…! Manchmal macht soviel Bosheit einfach Spaß :-)